Die Zusammenfassung basiert auf den theoretischen Überlegungen, die im Kapitel 2 dargelegt sind, sowie den in den Kapiteln 4, 5, 6 und 7 analysierten Aspekten der empirischen Untersuchung in Nicaragua und Venezuela. Bestandteil dieser Untersuchung waren 25 Expertinnen- und Experteninterviews und 5 Curriculumkonferenzen, an denen insgesamt 49 Expertinnen und Experten teilnahmen. Dabei wurde die Methode der Partizipations-Aktionsforschung - angewandt, die im dritten Kapitel ausführlich beschrieben ist. Die zugrundeliegende pädagogische Konzeption ist die der "Educación Popular", die im ersten Teil des zweiten Kapitels erarbeitet wurde.
Die hier dargestellten Ergebnisse können wegen der Charakteristika und Anforderungen der angewandten Forschungsmethode in gewissem Rahmen verallgemeinert werden. Die Forschungsarbeit stellt ein Pilotprojekt dar, das einen Überblick über die Probleme des Mathematikunterrichts in beiden Ländern sowie grundlegende Linien für eine Innovation und Weiterentwicklung des Unterrichts auf der Grundlage kritischer und emanzipatorischer Bildungskriterien beinhaltet. Nach der theoretischen Überprüfung und der objektiven Analyse der Diskussionen kann als Zusammenfassung kein Bündel praktischer Maßnahmen zur Anwendung in den beiden genannten und/oder anderen Bildungssystemen angeboten werden. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren zwar Expertinnen und Experten, die Intention der Arbeit bestand aber nicht darin, von der Warte theoretischer Analysen und der Erarbeitung einer Thesenliste aus abstrakte Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Dies ist auch aus der Sicht der Partizipations-Aktionsforschung nicht das Anliegen.
Das Forschungsfeld zum Mathematikunterricht in Kombination mit der "Educación Popular" ist mit der vorliegenden Arbeit nicht abgeschlossen, im Gegenteil, sie ist ein Beitrag, der viele Fragen aufwirft und Untersuchungen zum Zustand des Mathematikunterrichts sowie den erforderlichen Maßnahmen seitens aller Beteiligten des Bildungssystems anregt. Aus den Kategorien, die in den Kapiteln 4, 5, 6 und 7 dargelegt sind und die jede für sich Ausgangspunkt einer theoretischen und/oder empirischen Untersuchung sein könnte, ergibt sich eine Vielzahl von möglichen weiteren Forschungen.
Ein systematischer Vergleich zwischen beiden Ländern wurde hier nicht vorgenommen, ebensowenig wurden die Charakteristika der Bildungssysteme und die Mathematikleistungen untersucht, da dies nicht Anliegen und Ziel der vorliegenden Arbeit war. Da am Ende der Kapitel 4 (4.4), 5 (5.4) und 6 (6.4) die Teilergebnisse qualitativ und quantitativ unter Hinweis auf Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen beiden Ländern detailliert ausgeführt sind, wird im vorliegenden Kapitel auf Spezifizierungen verzichtet und der Schwerpunkt auf Gemeinsamkeiten sowie die in Kapitel 7 dargestellten Ergebnisse der Analyse der fünf Curriculumkonferenzen gelegt. Die Schlußfolgerungen umfassen vier Aspekte, in einem fünften Aspekt werden auf der Grundlage der Analyse der Aussagen 10 perspektivische Vorschläge aufgeführt, die für beide Länder gelten.
8.1 Die Charakteristika, die Ursachen und die wichtigsten Faktoren, die den Mathematikunterricht in Nicaragua und Venezuela beeinträchtigen |
8.1.1 Die gegenwärtige Situation des Mathematikunterrichts in Nicaragua und Venezuela |
Die Situation des Mathematikunterrichts stellt sich in beiden Ländern ähnlich problematisch dar. In beiden Fällen ist eine reale Krise spürbar. Diese Tatsache schlägt sich in der Gesellschaft insgesamt, besonders aber bei den in die Bildung Involvierten nieder. Die an dieser Untersuchung beteiligten Lehrenden stellten übereinstimmend fest, daß es eine Reihe von Mißständen gibt, die Überlegungen und Entscheidungen aller Beteiligten erfordern, um kurz- und mittelfristig Lösungsansätze anbieten zu können.
In beiden Ländern gab es Äußerungen zu den unzureichenden Mathematikleistungen, die sich entsprechend einer bestimmten Werteskala in den Zensuren der Lernenden an Schule und Hochschule im Vergleich zu anderen Fächern niederschlagen. Dies zeigt sich auch in der abnehmenden Fähigkeit, einfache Probleme durch Überlegung zu lösen, in dem geringen Kenntnisniveau bei grundlegenden Inhalten, Interpretation und Anwendung von Regeln, in Schwierigkeiten bei der Erarbeitung und Anwendung von Algorithmen, Formeln und mathematischen Modellen sowie in den Problemen der Schülerinnen und Schüler bei der Übertragung von Alltagssituationen in mathematische Begriffe und umgekehrt.
In beiden Ländern sind sowohl bei den Lernenden an Schule und Hochschule als auch in der Bevölkerung insgesamt Ablehnung, geringe Neigung und gesellschaftliche Vorurteile gegenüber der Mathematik und dem Mathematikunterricht festzustellen. Die Expertinnen und Experten sehen darin eine psychologische und soziologische Konsequenz der negativen Erfahrungen, die Schülerinnen und Schüler in der Schule machen. Sie kommen häufig zu dem Schluß, daß sie für die Mathematik "nicht taugen", und brechen deshalb den Kontakt und die Beschäftigung mit der Mathematik definitiv ab. Viele erklären, Mathematik sei das schwierigste Fach für sie gewesen. Damit verstärkt sich die Auffassung, daß in diesem Fach die meisten Wiederholungsprüfungen nötig sind und daß Ängste und Probleme hier am größten sind. Diese Haltung ist in der Bevölkerung, besonders in den Familien, weit verbreitet und wird zu einem Faktor, der kontraproduktiv wirkt, denn vor allem in der zweiten und dritten Etappe der Grundschule, wo die meisten Probleme auftreten, sollten die Kinder von der Familie Unterstützung erhalten. Die Überheblichkeit einiger Lehrender und der negative Einfluß der Medien sind weitere Ursachen für die ablehnende Haltung gegenüber der Mathematik und deren geringe Kultivierung.
In der Grundschule wird der Mathematikunterricht sehr vernachlässigt. Relativ häufig geben Lehrende dieses Fach zugunsten anderer Fächer einfach auf oder bieten Inhalte an, die konzeptionell und didaktisch nicht geeignet sind. In anderen Fällen werden grundlegende Inhalte, wie z.B. Geometrie, in der Grundschule kaum behandelt. In Venezuela ist die Geometrie aus den Lehrplänen und Klassenzimmern verschwunden. In Nicaragua findet sie zwar für die Behandlung anderer mathematischer Inhalte Beachtung, findet jedoch als spezifisches Thema in den Mathematiklehrplänen ebenfalls kaum Niederschlag.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vertraten die Auffassung, daß Geometrie ein unverzichtbarer Teil der Lehrerausbildung sein sollte, da sie Teil der mathematischen Sprache ist. Geometrie kann im Kontext vieler Inhalte präsent sein, so z.B. in der Arithmetik, der Algebra, einigen Themen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die mit Hilfe der Geometrie leichter zu behandeln sind. Für die Schülerinnen und Schüler wäre es z.B. interessant, aus geometrischer Sicht die binome Formel oder den Schnittpunkt von zwei Funktionen zu betrachten und ihre gemeinsame Teilmenge zu ermitteln. Die Behandlung und Erläuterung von Problemstellungen wie Flächen, Flüssigkeitsbehälter wie Wassertanks, Nahrungsmittelbehälter, Fragen der linearen Optimierung u.a.m. machen aus didaktischer Sicht die Geometrie erforderlich. An der Fakultät für Erziehungswissenschaft in León gibt es seit 1994 Initiativen zur Einbeziehung der Geometrie und aktiver und praktischer Didaktikmethoden zu ihrer Behandlung in die Ausbildungspläne für Grundschullehrende.
Im Hinblick auf die Nutzung von Taschenrechnern und anderen technischen Mitteln, die in den letzten Jahren Einzug in die Bildung gehalten haben, gab es in beiden Ländern starke Kritik, die darauf abzielt, die Verwendung solcher Mittel im Unterricht zu reduzieren, so weit sie nicht unter didaktischen Gesichtspunkten erfolgt. Obwohl in beiden Ländern noch keine empirischen Untersuchungen zu den Vor- und Nachteilen vorliegen, überwog hier die Ansicht, daß aus der Benutzung von Taschenrechnern anstelle einer Hilfe für die Lernenden eine negative Abhängigkeit erwächst, die zu dem Extrem führt, daß selbst einfache Rechenaufgaben damit gelöst werden, weil die Lernenden im Kopfrechnen unsicher sind. Übereinstimmung gab es darüber, daß Taschenrechner als didaktisches Instrument von der siebenten Klasse an und für entsprechende Aufgaben genutzt werden können, wofür allerdings vorbereitende Untersuchungen im Bildungsprozeß erforderlich sind. Einhellig war auch die Meinung, daß beim Umgang mit großen und komplizierten Zahlen die technischen Hilfsmittel genutzt werden sollten.
Schließlich tragen die Strafform der Bewertung von Lernergebnissen, Überreste der modernen Mathematik und die unkritische Übernahme von Standardinhalten der Schulmathematik aus anderen Kontexten zur Verschärfung der Krise im Mathematikunterricht der beiden untersuchten Länder bei.
8.1.2 Die sozioökonomische Lage der Lernenden, Lehrenden sowie die geringen Mittel für das Bildungswesen als wichtige Faktoren für den Mathematikunterricht |
Die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung ist in beiden Ländern sehr schwierig, und dies trifft auch für Lernende und Lehrende zu, was sich auf die Bedingungen des Mathematikunterrichts auswirkt. Auf Grund der wiederholten militärischen Auseinandersetzungen, der politischen und ökonomischen Umbrüche, die dieses Jahrhundert in Nicaragua bestimmten, sind hier die sozioökonomischen Schwierigkeiten stärker spürbar als in Venezuela, wo die Armut sich seit Mitte der achtziger Jahre verschärfte. Der Mangel an elementaren ökonomischen Mitteln ist ein ernsthaftes Hindernis dafür, daß die Lernenden regelmäßig die Schule besuchen, das Gelernte verinnerlichen, zu Hause adäquate Lernbedingungen vorfinden, unabdingbare Mittel wie Hefte, Stifte und Bücher zur Verfügung haben. Viele Lernende müssen die Schule verlassen, um zu arbeiten, viele fühlen sich zurückgesetzt gegenüber der Minderheit, die ausreichende Mittel zur Finanzierung ihrer Ausbildung an Privatschulen und Universitäten besitzen, an denen für die Mehrheit der Armen kein Platz ist. Ausweichmöglichkeiten wie polytechnische Schulen (Fachschulen) sind selten oder wurden durch rein akademische oder technokratische Einrichtungen verdrängt, wodurch sich die Chancen auf berufliche Bildung für jene Teile der Bevölkerung, die nur über geringe materielle Mittel verfügen, weiter verringern.
Die sozioökonomische Lage führt auch dazu, daß die Lehrenden in Armut leben und der Lehrerberuf für Abiturienten wenig anziehend ist. Daher gibt es wenig Enthusiasmus und Interesse, wobei es gegen die Ausbildung zum Mathematiklehrer besonders große Vorbehalte gibt. Das Fehlen von Stimuli und Motivierung bringt einen Verlust an Ansehen, Kürzungen der notwendigen Ausbildungszeit, geringe Selbstachtung, negative Einstellungen zur Lehrtätigkeit und ein Übermaß an Arbeit für den Einzelnen mit sich. Die Mehrheit der Lehrenden sind überlastet durch die Arbeit an zwei oder drei Bildungseinrichtungen, wo sie darüber hinaus vor allem in den Grundschulen Klassen mit vierzig und mehr Lernenden betreuen. Hinzu kommt der eingeschränkte Zugang zu Lehrmaterial und Fachliteratur auf Grund der Preise sowie das Fehlen elementarer Mittel wie Tafel, Kreide und geometrische Instrumente. Diese Bedingungen haben dazu beigetragen, daß private Bildungseinrichtungen aus dem Boden schossen, was sich wiederum negativ auf jene auswirkte, die nicht über die lebensnotwendigen Mittel verfügen.
8.1.3.1 Zu Lehrbüchern und Fachliteratur
In beiden Ländern gab es ähnlich starke Kritik an den Bildungsministerien, die der Erarbeitung von den Bedingungen des jeweiligen Landes angepaßten Lehrbüchern und anderen Lehrmaterialien unter innovativen didaktischen Gesichtspunkten zu wenig Aufmerksamkeit widmen. In Nicaragua ist dabei der Einfluß ausländischer Lehrbücher stärker als in Venezuela, wo jedoch Lehrbücher vermarktet werden, die im Hinblick auf Didaktik, Präsentation und Inhalte von schlechter Qualität sind. Übereinstimmend wurde in beiden Ländern festgestellt, daß von der siebenten Klasse an das bekannte Lehrbuch von Aurelio Baldor genutzt werden sollte, trotz seiner Mängel und der didaktischen und konzeptionellen Kritik der Expertinnen und Experten. Im Unterschied zu den anderen Mathematiklehrbüchern beinhaltet dieses aber zumindest ein Konzept der Geometrie, der Algebra und der Arithmetik, das sich - ganz zu seinem Vorteil - vom Strukturalismus der modernen Mathematik gelöst hat.
Ein weiterer Aspekt, der ebenfalls direkt mit dem sozioökonomischen Faktor in 8.1.3.1 verbunden ist, ist die Tatsache, daß die Mehrheit der Lernenden die auf dem Markt vorhandenen und von den Bildungsministerien empfohlenen Lehrbücher auf Grund der hohen Preise nicht kaufen kann. Dadurch werden die sozialen Differenzen im Klassenzimmer zusätzlich akzentuiert, denn wer über Einkünfte verfügt, hat auch größere Möglichkeiten, die entsprechenden Lehrmittel zu erwerben. Die Schulen verfügen nicht über entsprechend ausgestattete, aktuelle Bibliotheken, wo zumindest die wichtigsten empfohlenen Lehrbücher zu finden wären.
Im Unterricht wird mit den Lehrbüchern darüber hinaus kaum gearbeitet, vielmehr sollen die Lernenden sie zu Hause nutzen, obwohl die Bücher für das Selbststudium oder die Gruppenarbeit nicht didaktisch angepaßt sind. Dennoch sind die Lehrbücher das grundlegende Lehrmittel für die Lehrenden in beiden Ländern, wobei in ihnen vorgegebene Inhalte und Didaktik reproduziert werden. Daher sind viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Untersuchung daran interessiert, Lehrbücher und/oder -materialien für den Mathematikunterricht zu erarbeiten, was trotz der Widrigkeiten bei Erarbeitung und Publikation auf mittlere und lange Sicht hoffen läßt. Den Universitäten, konkret den pädagogischen Fakultäten fällt die Verantwortung zu, adäquate Vorschläge für die Entstehung von Lehrbüchern für die Lernenden und den dazugehörigen didaktischen Hinweisen für die Lehrenden zu unterbreiten.
8.1.3.2 Zu den Methoden des Mathematikunterrichts
Die Diskussionen und die Analyse der Aussagen der Expertinnen und Experten erlauben die Schlußfolgerung, daß die Lern- und Lehrmethoden, die im Mathematikunterricht in Venezuela und Nicaragua verwendet werden, von ausschlaggebender Bedeutung für die Situation in diesem Bereich sind. Zusammenfassend lassen sie sich so charakterisieren, daß die Lernenden kaum agieren und der Unterricht lehrerzentriert ist. Der Inhalt wird von der Tafel abgeschrieben, gearbeitet wird fast ausschließlich auf der Grundlage der Lehrbücher bzw. -pläne. Häufig wird mit Modellen gearbeitet, die in den Lehrplänen vorgeschlagen werden, so daß die Standardübungen und -probleme einfach kopiert werden. Einfache, sparsame Mittel, mit deren Hilfe neue Inhalte eingeführt oder Themen vertieft werden könnten, werden nicht genutzt. Das Lernen besteht vor allem im Memorieren, in der Wiederholung von Formeln, Verfahrensweisen und Algorithmen, die in Überprüfungen von den Lernenden reproduziert und dann vergessen werden. Im Vordergrund stehen Methoden der Formalisierung der mathematischen Konzepte, Verständnis und Beherrschen der Bedeutung und des Sinns der Mathematik werden unzureichend gefördert. Es werden wenig Handlungsbezüge hergestellt. Die Vermittlung von mathematischen Kenntnissen erfolgt in erster Linie auf einer kognitiven Ebene. Affektive Momente des Lernprozesses werden kaum berücksichtigt und bewußt angesprochen.
Sowohl in der Grundschule als auch in der Sekundarstufe wird auf die Abfolge von mathematischen Inhalten mehr Wert gelegt als auf Innovation von Inhalten und Methoden entsprechend der Gruppe, mit der man arbeitet und speziellen Problemen, die diese Gruppe aufweist. Das heißt, das Herangehen an den Mathematikunterricht basiert auch weiterhin auf Strukturalismus, und dementsprechend ist die Methode frontal und vertikal. Sie wird traditionell von der ersten Etappe der Grundschule an bis hin zur Ausbildung der Lehrkräfte an den Universitäten praktiziert. Gestärkt wird diese Praxis durch die vorhandenen Lehrbücher, Lehrpläne und Hinweise von externen Curriculum-Beratern, die häufig keine praktischen Erfahrungen im Umgang mit Schülerinnen und Schülern und keinen Kontakt zum Bildungsalltag haben. Im Mathematikunterricht schlägt sich stärker als in anderen Fächern die Reproduktion des Verhaltens und der Methoden der Lehrenden bei der Behandlung mathematischer Inhalte nieder. Bei der Realisierung von Innovationsansätzen wirkt sich darüber hinaus die leider existierende Trennung zwischen Theoretikern und Praktikern negativ aus, z.B. greifen Lehrende an der Schule mit dem Verweis auf mangelnde Praxis nicht gern neue Ideen aus dem universitären Bereich auf. Umgekehrt fehlt vielen Universitätslehrenden tatsächlich die unmittelbare praktische Erfahrung, aus der heraus aber Innovationsmöglichkeiten nur zu entwickeln sind.
8.1.3.3 Die Lehrpläne (Unterrichtsprogramme) für den Mathematikunterricht in der Grund- und Sekundarstufe
Ein dritter Faktor von beträchtlichem Gewicht sind die Lehrpläne für die Grund- und Sekundarstufe. Das Bildungsministerium als Vertreter des Staates und seine Berater geben die Inhalte, die Lehrmethoden und die Bewertungsstrategien in Form von nationalen Lehrplänen vor. Zahlreiche Charakteristika des Bildungsprofils in diesen Lehrplänen weisen einen Bezug zu anderen Ländern auf. In diesen Lehrplänen ist der Mathematikunterricht auf Objektivierung ausgerichtet. Sie bilden den Leitfaden, den die Lehrenden umzusetzen haben, wobei die Freiheit für Kreativität und Innovation im Sinne eines angenehmeren, sinnvolleren, produktiveren Mathematikunterrichts für die Schülerinnen und Schüler und die Gesellschaft insgesamt auf der Strecke bleibt.
Darüber hinaus sind die Lehrpläne mehr oder weniger häufigen Veränderungen unterworfen, die allerdings nicht die Inhalte und methodischen Strategien berühren, sondern sich auf oberflächliche Überarbeitungen reduzieren und in Hinweisen an die Lehrenden münden, wie sie zu agieren haben, um bei den Lernenden größere Effizienz zu erreichen, ohne dabei durch Untersuchungen in der Praxis Vor- und Nachteile solcher Hinweise und Modifikationen zu überprüfen. Im Mittelpunkt der Lehrpläne steht ausschließlich die mathematische Leistung als Ausdruck eines Herangehens, das auf Konkurrenz beruht, ein Herangehen, das in Nicaragua und Venezuela in Wirtschaft, Technologie und Gesellschaft immer beherrschender wird. Der Staat, die Universitäten, viele Forscher und schließlich auch die Lehrenden richten ihre Aufmerksamkeit auf die effektive Reproduktion von mathematischen Kenntnissen, ohne Berücksichtigung der beteiligten Personen.
Die Kritik an den Lehrplänen in beiden Ländern ging so weit, daß sogar die Eliminierung einiger Teile daraus vorgeschlagen wurde, so z.B. der ersten Säule, die die Systematisierung der Abfolge und der Ziele beinhaltet, sowie der letzten Säule, die die Bewertung der ersteren betrifft. Substantiell verbessert werden sollten die Inhalte und die methodischen Strategien, wobei die Meinung der Lehrenden einbezogen werden sollte. Diese Veränderungen müßten ergänzt werden durch Veränderungen in der mathematischen, pädagogischen und didaktischen Ausbildung der Lehrenden sowie durch die Erarbeitung von Lehrmaterialien, die einer neuen Vision des Mathematikunterrichts, seiner Didaktik und Lehre besonders in der Grundschule Rechnung tragen.
Bei aller Bedeutung der hier benannten und analysierten Kategorien hat sich jedoch gezeigt, daß die Untersuchung dieser Einzelfaktoren nur einen Teilaspekt des Problems wiedergibt. Offensichtlich haben andere neuralgische Punkte, die über methodisch-technische Teilfragen hinausgehen, ebensoviel oder sogar mehr Bedeutung und bestimmen die vorherigen sogar. In den folgenden beiden Abschnitten werden diese Punkte, deren zusammenhängende Untersuchung weitere Diskussionen zum Mathematikunterricht einleiten könnte, zusammengefaßt.
8.2 Für eine neue didaktische Orientierung des Mathematikunterrichts im Rahmen einer emanzipatorischen Bildungstradition |
Obwohl in einer Untersuchung die verschiedenen Strömungen des Mathematikunterrichts nicht ausreichend vertieft werden können, hat sich doch in der empirischen Studie in Nicaragua und Venezuela eine kritische Haltung gegenüber dem Glauben offenbart, daß die Lernenden die Fähigkeit erwerben, ihre Mathematikkenntnisse auf andere Situationen im Lernen und speziell im Alltag zu übertragen. Auf der Grundlage ihrer praktischen Erfahrungen gelangten die Expertinnen und Experten zu der Auffassung, daß eine solche automatische Übertragung in der Bildungsrealität beider Länder in den letzten Jahren nicht möglich war. Automatisch und unmittelbar übertragbar sind elementare mathematische Kenntnisse und Verfahren aus der Grundstufe wie zum Beispiel die Prozentrechnung, die vier Grundrechenarten und einige Meßsysteme. Diese Kenntnisse sind jedoch Bestandteil des Alltags der Menschen, selbst wenn sie nie eine Schule besucht haben.
Der didaktische Gedanke der Übertragung mathematischer Kenntnisse auf andere Situationen mißt dem praktischen und aktiven Lernen der Schülerinnen und Schüler sowohl in der Mathematik als auch außerhalb der Mathematik große Bedeutung bei. Ausgangspunkt ist die Annahme, daß die Lernenden die notwendigen Vorkenntnisse besitzen und sie daher automatisch für das Erlernen neuer Inhalte einsetzen können. In der Praxis müssen die Lehrenden jedoch bei der Einführung neuer mathematischer Kenntnisse häufig von einem sehr niedrigen kognitiven Niveau ausgehen, in einigen Fällen sogar bei Null anfangen.
Auf kreative und produktive Arbeit der Lernenden gerichtete Unterrichtsmethoden dagegen, die das Lernen mit ihren spezifischen Lebensumständen verbinden, ermöglichen eine größere Annäherung und Akzeptanz des Fachs und führen in der Konsequenz zur Festigung nicht nur der mathematischen Kenntnisse, sondern auch der Verfahrensweisen zu Behandlung und Lösung von Problemen.
In den Diskussionen spielte häufig die Frage eine Rolle, wie in der Praxis gemeinsam mit den Lernenden und anderen Beteiligten von den ersten Schuljahren an neue Ansätze des Lehrens und Lernens eingeführt werden können, bei denen die Kinder und Jugendlichen in humaner und nützlicher Form, wie Freire und Freudenthal für den Mathematikunterricht fordern, nicht nur sozial wenig sinnreiche und emotional wenig anregende mathematische Definitionen und Behauptungen auswendig lernen müssen.
Die mathematischen Modelle und die Sprache dieses Fachs sollten also parallel zu Präsentation und Interpretation von zu untersuchenden Erscheinungen eingeführt werden, die in der Regel nicht mathematischer Natur sind. Hier ist nochmals an den von Skovsmose (1994) vorgeschlagenen dreidimensionalen Vektor zu erinnern, der sich aus mathematischen, technologischen und reflexiven Kenntnissen zusammensetzt. Die Kinder müssen, wie z.B. D’Ambrosio (1990) und Gerdes (1990) mit ihrer Ethnomathematik fordern, aus der Schule heraus, auf die Straße, in den Park, aufs Land, damit sie anfangen, Fragen zu sozialen und natürlichen Dingen zu stellen, die sie betreffen.
Beim Problematisieren sozialer oder natürlicher Phänomene entstehen direkte Verbindungen der Mathematik zu anderen Kenntnissen, die parallel in anderen Fächern vermittelt werden. Dadurch wird nicht nur der Nutzen der Mathematik unmittelbar deutlich, sondern auch ein wissenschaftliches Herangehen an Konflikte aufgezeigt. Es kommt zu einem bewußtseinsbildenden Prozeß, der für Freire von grundlegender Bedeutung für jeden Bildungs- und Aufklärungsprozeß ist. Dies gilt auch für die Mathematik, wie Schulz in der Erläuterung des Konzepts des praktischen Lernens oder Volk mit seinem Konzept des Mathematikunterrichts für das Alltagsleben als Weg zur Stärkung des kritischen Bewußtseins der Schülerinnen und Schüler unterstreichen.
Nach den Erfahrungen einiger Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Interviews und/oder Curriculumkonferenzen ließe sich durch eine Verringerung des Formalismus und der übertriebenen Objektivierung im gegenwärtigen Mathematikunterricht mindestens 45% Zeit einsparen, die für die Vermittlung der gleichen Inhalte in anwendungs-, handlungs- und projektorientiertem Unterricht genutzt werden könnte, wobei die unterschiedlichen innovativen Ansätze dieser drei didaktischen Richtungen getrennt oder miteinander verbunden umgesetzt werden könnten.
In beiden Ländern wurden einige von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an ihren jeweiligen Einrichtungen durchgeführte Arbeiten besprochen. Formell wird z.B. das Thema der elementaren beschreibenden Statistik von der zweiten Etappe der Grundschule an in relativ abstrakter Form von Definitionen und Annahmen behandelt. Wenn man jedoch auf die Straße, in die Wohngebiete geht, lassen sich grundlegende Probleme wie Unterernährung, Ernährung, Armut, Gewicht und Alter der Kinder und der älteren Menschen, Einkommen und Arbeitslosigkeit mit Hilfe der Mathematik untersuchen. Auf diese Weise würde die Mathematik, die praktisch nicht genutzt und deren Bedeutung für das Alltagsleben kaum erkannt wird, auch für breite Bevölkerungsschichten zugänglich und sinnvoll werden.
Wenn Mathematik in Verbindung mit der Wirtschaft und beginnend bei elementaren Inhalten der Algebra, den ganzen und rationalen Zahlen durch die Behandlung von Problemen, wie z.B. der Verbrauch von Grundnahrungsmitteln, vermittelt wird, läßt sich der notwendige Prozeß einer mathematischen Alphabetisierung einleiten. Aus didaktischer Sicht müßte der Ausgangspunkt dafür die Vorstellung von Mathematik bei den Lernenden und der Bevölkerung insgesamt sein. Bei Inflation gehen die Kinder mit Hundertern und Tausendern um, hier können Fragestellungen wie Einnahmen und Ausgaben der Familie oder der Wert anderer, stärkerer oder schwächerer Währungen behandelt und einige Begründungen für solche sozioökonomischen Erscheinungen behandelt werden. In höheren Klassenstufen kann über Auslandsverschuldung diskutiert werden, wobei auch nicht unbedingt elementare mathematische Inhalte einbezogen werden müssen. Auch bei der Behandlung des Themas Matrizen oder Funktionen in Kombination mit elementaren ökonomischen Fragen liegen Erfahrungen vor, die von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern diskutiert wurden.
Ein weiteres, in Venezuela wie Nicaragua mehrfach genanntes generatives Thema ist die Verbindung von Mathematikunterricht und Umwelt. Voraussetzung für diese Verbindung ist eine offene und eindeutige Diskussion über Ursachen und Folgen des gewaltsamen Umgangs mit der Natur. Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch unbegrenzte Abholzung oder Abbrennen von Wäldern, Monokultur u.a. haben in beiden Ländern zur Zerstörung einen großen Teils der Natur geführt, die irreversible Konsequenzen hat, wie z.B. die Verringerung der Wasserreserven und das Verschwinden traditioneller Produkte in bestimmten Regionen. Wird dies im Unterricht besprochen, ist eine Diskussion über die politischen Strukturen des Landes nicht zu umgehen.
Mehrfach wurde auch auf die Notwendigkeit verwiesen, Zeitungen im Unterricht zu nutzen und mit ihrer Hilfe eine Vielzahl mathematischer Themen zu behandeln, ohne dabei die Widersprüche und Falschmeldungen zu übersehen, die sich häufig in ihnen finden. Sie bieten aber eine Fülle von Beispielen und Problemen, für deren Verständnis und Lösung unterschiedliche mathematische Konzepte erforderlich sind. Sie zu analysieren und Lösungsmöglichkeiten vorzuschlagen, bedeutet darüber hinaus, sich mit den Bedingungen, in denen z.B. die Bauern in der Region leben, und damit auch mit den Entscheidungen von Grundbesitzern, Unternehmern und Regierung zu beschäftigen.
In beiden Ländern wurden Versuche unternommen, Erziehung zur Arbeit in den Bereichen Elektroinstallation, Holzbearbeitung oder Technologieanwendung zu etablieren. In einigen Schulen waren dafür sogar Einrichtungen vorhanden, die nicht mehr genutzt wurden. Hier können Mathematikthemen wie Geometrie, Funktionen, Gleichungen und Gleichungssysteme in Verbindung mit spezifischen Arbeiten in diesem oder in anderen Fächern wie Physik behandelt werden. Dabei geht es nicht nur darum, über physikalische oder mathematische Aspekte der Elektrizität zu diskutieren, sondern auch danach zu fragen, warum viele Menschen keinen Strom haben, während andere ihn verschwenden, ohne über die Kosten und Rückwirkungen auf die Natur nachzudenken. Ein weiteres Thema mit starkem Bezug zur Mathematik sind Produktion und Kosten von Technologien in den sogenannten "black boxes", die zu einer verstärkten Abhängigkeit von den Technologiezentren führen. Die Suche nach alternativen Energiequellen, die billiger sind und die geographischen Gegebenheiten beider Länder nutzen, sollte ebenfalls unbedingt im Mathematikunterricht diskutiert werden.
Im Verlauf der Diskussion wurde erneut deutlich, daß alle Beteiligten in der Bildung (Lernende, Lehrende und Gemeinschaft), die Inhalte, die Methoden und die Ziele des Mathematikunterrichts gleichermaßen von Bedeutung sind und nicht isoliert voneinander betrachtet werden können. Es gibt im Gegenteil ein weiteres Element, das die Rahmenbedingungen setzt und ihnen Existenzberechtigung verleiht - die politische Dimension der Bildung und auch des Mathematikunterrichts.
8.3 Die politische und demokratische Dimension des Mathematikunterrichts im Zusammenhang mit der "Educación Popular" |
Die im theoretischen wie empirischen Teil der vorliegenden Untersuchung erarbeitete Grundthese hebt auf die politische und demokratische Dimension des traditionellen Konzepts der "Educación Popular" ab, die auch für den Mathematikunterricht wirksam ist. Unterstützung wurde dafür bei progressiven Strömungen im Bildungsbereich gesucht, die sich in verschiedenen Ländern entwickeln, aber auch in den Aussagen der Expertinnen und Experten und in den Curriculumkonferenzen. In den Einzel- und Gruppengesprächen wurden folgende Fragen wiederholt formuliert: Hat die gesamte venezolanische bzw. nicaraguanische Bevölkerung Zugang zu mathematischen Kenntnissen? Lassen die Machtstrukturen beider Gesellschaften die Herausbildung und Nutzung authentischer Demokratie zu und befördern die Bildungssysteme eine solche Entwicklung? Entwickelt sich ein wirklich demokratischer Lern- und Lehrprozeß im Mathematikunterricht,in dem ohne Repression die Wahrheit gesucht und gesagt werden darf und notwendige politische Veränderungen eingefordert werden können?
Im Ergebnis der Diskussionen wurde festgestellt, daß Demokratisierung des Mathematikunterrichts sehr viel mehr als Zugang zur Mathematik für die gesamte Bevölkerung bedeutet. Dieser Gedanke umfaßt drei miteinander verbundene Variablen. Zum einen steht außer Frage, daß die gesamte Bevölkerung ein Recht auf Bildung und damit auch auf mathematische Bildung hat. Zum zweiten muß die Schule mit Hilfe der Mathematik die bestehenden Machtverhältnisse der Gesellschaft immer wieder in Frage stellen, damit authentische Demokratie erreicht und bewahrt werden kann. Und zum dritten müssen aus didaktischer Sicht die Unterrichtsformen gefunden werden, in denen sich der Lern- und Lehrprozeß für alle und mit allen entwickelt. Diese Anforderungen führen zu der These, daß Didaktik und Demokratisierung des Mathematikunterrichts nicht voneinander zu trennen sind.
In der empirischen Untersuchung zeigte sich deutlich, daß viele Menschen ständig mit Mathematik zu tun haben, aber nur wenige angenehme Erfahrungen mit ihr verbinden und noch weniger sie für die Anerkennung ihrer Rechte in einer wirklich demokratischen Gesellschaft einsetzen.
Es geht nicht nur darum, allen Mathematikunterricht anzubieten, sondern Mathematik in demokratischer Form zu lehren und zu lernen, d.h. durch den Unterricht zur Befreiung des Menschen im weitesten Sinne beizutragen, wozu auch das Zurückdrängen jener Form von Bildung gehört, die auf Konkurrenzdenken und Zwang basiert. In diesem Kontext steht nach Ansicht der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch das Ziel, durch den Mathematikunterricht dazu beizutragen, daß die Menschen verstehen, daß sie ausgebeutet werden und daß das Elend Produkt der soziopolitischen Strukturen des Staates ist. Darum wird die Forderung nach mehr und besserer Mathematikausbildung, nach einer neuen und demokratischen Didaktik für alle erhoben.
50% der Bevölkerung in beiden Ländern hat keinen Zugang zur Schulbildung und damit zu mathematischem Wissen. Eine Lösung könnte die Vermittlung von Kenntnissen über die Medien sein, die in Nicaragua und Venezuela schon getestet wurde. Das Wichtigste ist jedoch, daß Mathematik nicht länger etwas Negatives für die Lernenden ist. Der Kontakt zur und die Erfahrungen mit der Mathematik müssen angenehm und lustvoll sein, damit sie Teil ihres Lebens werden kann, ihnen anstelle von Angst Nutzen bringt sowohl während der Ausbildung im formalen Schulsystem als auch im Alltagsleben. Es gibt keinen Grund, ein Kind unter dem Erwerb von mathematischen Kenntnissen "leiden" zu lassen, die von Erwachsenen mit den Interessen der Lernenden entgegengesetzten Intentionen festgelegt werden.
Wenn den Lernenden gesagt wird, sie müßten bestimmte mathematische Inhalte lernen, weil die Lehrpläne und die Gesellschaft das vorsehen, nicht zum Wohle aller, sondern zur Erhaltung der sozialen Ungleichheit, dann handelt es sich offensichtlich um eine undemokratische Schule. Wenn den Kindern gesagt wird, sie müßten die Polynome lernen, weil sie das später für das Verständnis anderer mathematischer Themen brauchen und weil das in der Prüfung kontrolliert wird, dann handelt es sich um eine undemokratische Bildung. Wenn im Sinne von Wagenschein das Recht der Kinder und Heranwachsenden darauf, mathematische Inhalte zu verstehen, nicht respektiert wird, kann von Demokratisierung des Unterrichts nicht die Rede sein. Die Behandlung mathematischer Inhalte mit Hilfe von Spielen, Unterhaltung, Geschichte, Natur, ihre unmittelbare und alltägliche Nutzung und vor allem Einfachheit in der Vorstellung und Erarbeitung von Konzepten kann nach Meinung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer dazu beitragen, die gewünschten Bildungsziele zu erreichen, die bisher durch eine Didaktik mit undemokratischen Zügen behindert werden.
In den Verfassungen beider Länder und in den Bildungsrichtlinien ist als Hauptziel die Herausbildung eines demokratischen Bewußtseins festgeschrieben. In der vorliegenden Arbeit ist die Schlußfolgerung zu ziehen, daß Demokratisierung des Mathematikunterrichts Demokratisierung der Bildung insgesamt impliziert. Dies setzt Bemühungen um eine demokratischere Gesellschaft und damit politische Veränderungen voraus. Sie sind möglich, wie aus der empirischen Untersuchung und den Zielsetzungen der "Educación Popular" hervorgeht, denn die Lehrenden können und müssen solche politischen Überlegungen von der Grundschule an bis zur Ausbildung an der Universität initiieren. Die angebliche Neutralität des Mathematikunterrichts ist ein subjektives Kriterium, das im Widerspruch zu den Zielen der Bildung und auch des Mathematikunterrichts steht. Die Auffassung der Expertinnen und Experten in Venezuela und Nicaragua dazu läßt sich so zusammenfassen: "Wenn wir von Demokratie und Demokratisierung des Mathematikunterrichts sprechen, müssen wir von Politik und Machtverhältnissen sprechen" (JM).
Um eine Demokratisierung des Mathematikunterrichts zu erreichen, müssen pädagogische und didaktische Konzepte wie die von Freire (1973) und Schulz (1980) gestärkt werden, sie sind Ergebnis langjähriger Forschungen und Überlegungen, für sie stehen die Lernenden als Grund der Bildung im Mittelpunkt, und die Demokratisierung ist für sie ohne die Existenz und/oder die Bemühungen um eine wahrhaft demokratische Gesellschaft undenkbar. Das schließt die Erarbeitung einer Didaktik für Gruppen von bis zu 60 Schülern pro Klasse ebenso ein wie Bemühungen zu verhindern, daß sie die Schule verlassen, weil sie die Mathematik nicht beherrschen, und damit ohne das Wissen bleiben, das sie brauchen, um ihre Realität zu verstehen und zu verändern.
In den Diskussionen spielte die Entwicklung einer solchen Didaktik für alle eine große Rolle, ist es doch eines der Ziele der "Educación Popular", die Bildung aus dem geschlossenen Kreis von Lehrplänen herauszuholen, eine Mathematikdidaktik mit progressiven methodischen Merkmalen zu entwickeln und insgesamt in der Bildung den lokalen wie universellen Weltproblemen größeres Gewicht zu verleihen.
Sie ist zwar nicht das Allheilmittel für alle gesellschaftlichen Probleme in der Gegenwart, aber sie trennt die Bildung und speziell den Mathematikunterricht nicht von der sozialen, ökonomischen, kulturellen und ökologischen Verantwortung, die deren politische Dimension ausmachen. Bildung, um so weniger mathematische Bildung, ist eben nicht neutral. Aus diesem Grund ergeben sich aus der "Educación Popular" unvermeidlich Auseinandersetzungen mit der Macht und mit jenen, die den gegenwärtigen Zustand der Ungerechtigkeit im kleinen, im Klassenzimmer, und im großen, in der Gesellschaft, verewigen wollen. Mit den Mechanismen der Unterdrückung zu brechen, ist nur möglich, wenn das kritische Bewußtsein der Menschen geschult wird, wenn mit der Kultur der Unterdrückung und des Schweigens gebrochen wird. Diese Bewußtseinsbildung muß vor allem in der und durch die Bildung, in jedem Fach und damit auch im Mathematikunterricht ermöglicht werden.
8.4 Grenzen und Reichweite der Studie und zentrale Schlußfolgerungen |
Bereits vor Beginn ebenso wie im Verlauf der vorliegenden Arbeit wurde davon ausgegangen, daß die Ergebnisse der Arbeit, die zu einem Teil erst im Forschungsprozeß gewonnen wurden, immer geographisch auf die Regionen León in Nicaragua und Caracas in Venezuela beschränkt sein würden, d.h. auf die beiden Orte, in denen die empirische Untersuchung durchgeführt wurde und in denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in verschiedenen Bildungseinrichtungen tätig waren bzw. noch sind, auch wenn diese eine Gruppe von kritischen Individuen mit zahlreichen akkumulierten Erfahrungen darstellen, die Innovationen auf dem Gebiet des Mathematikunterrichts initiieren können und dies auch mit weitreichenden Rückwirkungen in den genannten Ländern tun. Ihr Wirken auf verschiedenen Unterrichtsebenen erlaubt eine Multiplikation der gemeinsam während der empirischen Untersuchung erarbeiteten konstruktiven Auffassungen, die vom 4. bis zum 7. Kapitel in verschiedenen Kategorien dargestellt sind. Einige dieser Kategorien sollten gesondert weiter und tiefgreifend untersucht werden.
Einen Mathematikunterricht in Übereinstimmung mit der Educación Popular zu entwickeln, wird nur dann möglich sein, wenn die in verschiedenen Schulinstitutionen der beiden Ländern realisierte Erziehungspraxis berücksichtigt wird. Aus diesem Grund kann diese Arbeit keine endgültigen Lösungen für keine Ebene des Bildungssystems beider Länder und für kein anderes lateinamerikanisches Land anbieten. Sie liefert keine generalisierenden Innovationslinien, sondern solche, die an den entsprechenden soziokulturellen Kontext und die Auffassungen der 41 direkt beteiligten Teilnehmerinnen und Teilnehmer gebunden und insofern begrenzt sind. Eine weitere Einschränkung stellten die mangelnden logistischen Bedingungen für eine umfangreichere Studie in den Schulzentren dar.
Der positive Umstand, daß diese Studie vor allem Materialien und einen Informationsaustausch in drei verschiedenen Ländern - Venezuela, Nicaragua und Deutschland - verarbeitet, ermöglichte die Berücksichtigung eines breiteren Spektrums pädagogischer und didaktischer Strömungen, die in ihrer Mehrheit einen auf die Kinder und Jugendlichen zentrierten Mathematikunterricht fordern und jeweils eine emanzipatorische und politische Konnotation implizieren, die die Übernahme politischer, wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Verantwortung verlangt, was nicht nur für die beiden lateinamerikanischen Länder charakteristisch sein sollte. Deshalb kann diese Arbeit aber auch Rückwirkungen auf andere Orte als Nicaragua und Venezuela nach sich ziehen. Es geht nicht um eine in sich abgeschlossene Forschung mit definitiven Lösungen, sondern um die Formulierung einer Reihe von Fragen, die in den Kapiteln 4 bis 7 dargestellt sind und die auch nach Abschluß dieser Forschungsarbeit weiterhin Gegenstand der Untersuchung bleiben sollten.
Aus der empirischen Untersuchung lassen sich die folgenden Vorschläge in Richtung auf eine curriculare Innovation in der emanzipatorischen Bildungstradition der Educación Popular ableiten, die den Versuch unternehmen, die Bildungspolitik mit neuen curricularen Konzeptionen zu verbinden.
Zum Abschluß dieses Pilotprojektes kann zusammenfassend festgestellt werden, daß sich die den Mathematikunterricht betreffenden Probleme ähneln. Das wird durch die Ergebnisse der Expertinnen- und Expertenbefragung und die Curriculumkonferenzen zu den Problemen des Mathematikunterrichts in Venezuela und Nicaragua bestätigt. Es existieren zwar auch wesentliche Unterschiede hinsichtlich der sozioökonomischen, politischen und kulturellen Kontexte. In allen Fällen hat sich aber ein sozusagen traditioneller Mathematikunterricht etabliert, der in dieser Studie auch insbesondere mit Bezügen auf gesellschaftliche und ökonomische Situationen durch die Expertinnen und Experten in Frage gestellt wurde. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit von tiefgreifenden curricularen Veränderungen, die wesentlich über eine Reform des Lern- und Lehrfeldes hinausgehen. Es haben sich in den vergangenen Jahren in beiden Ländern sowohl in der Praxis als auch in der Theorie emanzipatorische Bildungsansätze entwickelt, die konzeptionell dem staatlichen Bildungssystem entgegenstehen. Viele der teilnehmenden Expertinnen und Experten in dieser Studie fungieren als sehr wichtige und entscheidende Personen dieser bereits initiierten Bewegung. So wird mit dieser Arbeit nicht nur eine Beschreibung des Ist-Zustands, der gegenwärtigen Situation des Mathematikunterrichts, gegeben, sondern es werden auf Grund der Erfahrungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die auf verschiedenen Ebenen des Bildungswesens, insbesondere auch in der Lehrerausbildung, tätig sind, erste Tendenzen für curriculare Änderungsvorschläge erarbeitet. Dabei wird die Idee der Educación Popular als kritische pädagogische Basis im Entwicklungsprozeß dargestellt, die die individuellen und kollektiven Initiativen dieser Lehrenden unterstützt. Die Educación Popular repräsentiert leider nicht die vorherrschende Bildungskonzeption in den lateinamerikanischen Ländern. Vielmehr ist sie Teil eines wachsenden Prozesses der kritischen Auseinandersetzung unter den Lehrenden, die wünschenswerte emanzipatorische Veränderungen und Perspektiven des Bildungssystem und in diesem Fall des Mathematikunterrichts diskutieren.
Auf Grund der empirischen Untersuchung läßt sich abschließend konstatieren, daß es ausgehend von der Idee der Educación Popular möglich ist, beispielhaft in den beiden Ländern folgende Ansätze für einen Mathematikunterricht zu entwickeln - die aber auch auf andere Ländern mit ähnlichen Merkmalen transferiert werden könnten: Zentrierung und Orientierung an den Kindern und Jugendlichen; Berücksichtigung des soziokulturellen Kontextes des jeweiligen Landes oder der Region; Förderung von demokratischen Methoden mit Akzentuierung auf affektive und motorische Fähigkeiten und Tätigkeiten; Demokratisierung des Mathematikunterrichts, um allen Zugang zu diesem zu verschaffen; Unterstützung bei der Aufklärung zentraler gesellschaftlicher Probleme; Förderung von individuellen und kollektiven Kompetenzen sowie einer Bewußtseinsbildung in bezug auf das Erkennen gesellschaftlicher Zusammenhänge. Diese komplexen Aufgaben können nur realisiert werden, wenn die politische Dimension der Bildung und auch des Mathematikunterrichts nach dem Verständnis von Paulo Freire in der Lehrerausbildung und in der Unterrichtspraxis der Schule etabliert wird. Schließlich stellt diese Arbeit innerhalb der sogenannten Globalisierung des Unterrichts einen Beitrag zur Entwicklung einer Idee einer neuen Mathematikdidaktik dar, wie sie zur Zeit auch in anderen Teilen der Welt entwickelt und diskutiert wird.