2.2.4 Die Schule, die Straße und das Land als Raum des Arbeitslernprozesses |
Zu Recht wird in jüngster Zeit immer wieder darauf verwiesen, daß Schule Teil des Raumes sein sollte, in dem die Kinder einen großen Teil ihres Lebens verbringen und wo sie genau so viele oder sogar mehr Erfahrungen machen können als zu Hause (von Hentig 1993, Freire 1981 und Schulz 1995). Hier beginnen sie, Beziehungen zu anderen Kindern und Erwachsenen zu entwickeln. Eingeengt werden diese Möglichkeiten zum Teil durch die festgelegten Strukturen eines streng fixierten und manchmal unbeweglichen Bildungssystems mit seinen festen Stundenplänen, durch nach Klassenstufen eingeteilten Räumen und Lehrenden und den getrennten Fächern (Gohl / Oberliesen 1995), durch Lehrbücher, die von den Lehrenden nach ihren eigenen Kriterien und unter dem Einfluß der Verlage ausgewählt werden, sowie durch eine vertikale, undemokratische Hierarchie. Eine solche Schule bringt Ängste, Befürchtungen und Unsicherheit hervor, und zugleich ist sie eine undurchsichtige Angelegenheit voller Fragen und Angebote, die die Kinder lange vor der ersten Berührung mit ihr lockt. Völlig zu Recht sprach Simón Rodríguez davon, daß die Schule das zweite Heim im Leben der Kinder sei , und in Nicaragua und Venezuela, wo die meisten Lehrenden Frauen sind, sagt man, die Lehrerin sei die zweite Mutter der Kinder.
Freire (1973) fordert auch, daß die Lernenden im Mittelpunkt der Bildung stehen, mit ihrer individuellen Persönlichkeit, ihren Interessen, Hoffnungen und Erfahrungen. Schule soll der Ort sein, an dem die Charakteristika der Kinder und Jugendlichen sich entfalten können, immer jedoch im Zusammenspiel mit denen der anderen. Nach den Worten Schulz’ (1994) bedeutet das, daß Schule vor allem auf die Schülerinnen und Schüler ausgerichtet sein muß. Hentig (1993, 216) dagegen verweist auf folgendes Problem:
"Die Bezeichnung «Schule als Lebens- und Erfahrungsraum» ist freilich schon viel zu geläufig, um Nach- und Neudenken auszulösen. Hört man genau hin, ist sie mehr als eine Beziehung - sie ist eine beträchtliche Zumutung. In einem Lebensraum muß man leben können - als Mensch und nicht als die Kunstfigur Schüler oder Lehrer."
Diese pädagogische Auffassung räumt dem Lernenden erstrangige Bedeutung ein, aber auch der Schule, einer humaneren Schule, in der alle Potenzen der Schülerinnen und Schüler gefordert werden, in der alle Beteiligten ein Lernen und Lehren mit allen Sinnen, wie häufig formuliert wird, verwirklichen. Der gegenwärtige Zustand der Schule in Nicaragua und Venezuela erfordert die Umsetzung dieser pädagogischen und auch politischen Ideale (Freire 1981 und Schulz 1995), denn die Lernbewegung der Lernenden ist an jeder Schule eine Forderung an jeden Lehrenden, der sich der Gegenwart und Zukunft ihres Landes verpflichtet fühlt.
Im Bildungsaktionsplan des venezolanischen Ministeriums (1995) und bei Arríen (1996) für Nicaragua wird darauf verwiesen, daß die Kinder die Schule täglich nur 5 Stunden besuchen. Diese Zeit reicht nicht aus, um den Schülerinnen und Schülern genügend Raum zu geben für einen Unterricht, der z.B. auf die Lösung von Problemen in Gruppenarbeit im Mathematikunterricht (Polya 1978, Schoenfeld 1980 und Rodríguez-Gómez 1989, Zech 1996) und auf Projektarbeit (Münzinger 1977) orientiert, da hierfür Zeit und Geduld benötigt werden.
In der wenigen Zeit, die ihnen zur Verfügung steht, konfrontieren die Lehrenden ihre Lernenden mit einer Vielzahl unnützer mathematischer Informationen, wie Wittmann (1988a) beschreibt, damit der Forderung Genüge getan ist, alle im Lehrplan vorgesehenen Inhalte zu vermitteln. Obwohl die Schulen als geschlossene Einrichtungen konzipiert sind, bieten sie auf der anderen Seite keine Voraussetzungen für eine auf Werkstätten und produktiver Arbeit der Lernenden beruhende Bildung und Erziehung. So wird von einigen die Forderung gestellt, Laboratorien mit bestimmten Instrumenten und Materialien einzurichten, die dann ebenso wie die Lehrbücher den Lernenden wenig Raum für eigene Überlegungen und die Arbeit mit den eigenen Händen lassen.
Auf der Straße, auf dem Land, im Viertel, zu Hause, in der Gemeinschaft als Ort des täglichen Lebens und voller Konflikte finden sich geeignete Plätze für einen Lern- und Lehrprozeß in und außerhalb des formellen Bildungssystems. Das bedeutet allerdings nicht, daß mit der Entwicklung des Lernens auf der Straße und in Privathäusern der Staat aus seiner Verantwortung für die Bildung der Bevölkerung entlassen ist und keine Schulen mehr bauen, erhalten und mit den erforderlichen Lernmaterialien ausstatten muß, von denen Freire spricht (1994c, 95):
"Autonomie bedeutet nicht, daß sich der Staat aus seiner Pflicht zurückziehen kann, Bildung in ausreichender Qualität und Quantität entsprechend des sozialen Bedarfs anzubieten (...) Einige Gruppen der Bevölkerung gehen in diese Richtung, ohne sich der Gefahr bewußt zu sein, die dies einschließt: dem Staat Gelegenheit zu geben, sich wie Pilatus die Hände zu waschen gegenüber einer seiner wichtigsten Verpflichtungen: der Verpflichtung gegenüber der Bildung des Volkes."
Vielmehr geht es um eine umfassende und innovative Didaktik (Schulz 1990b), in der die Ziele, Inhalte und Methoden der Bildung lebendig und konkret sind (Krauthausen 1997) und nicht nur durch visuelle und verbale Botschaften vermittelt werden. Im folgenden werden einige Kriterien für einen Mathematikunterricht gemäß den bisher diskutierten Gesichtspunkten, speziell im Bereich der Didaktik, aufgeführt.
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