5.3 Veränderte methodische Konzeptionen

Zu dieser komplexen Frage wurden 6 Kategorien ermittelt, die das Streben nach einer neuen Methodik des Mathematikunterrichts als Kontrapunkt zur bereits analysierten gegenwärtigen Situation und als Weg zur Demokratisierung verdeutlichen. Dabei handelt es sich um folgende Kategorien (s. Abb. 29): Notwendigkeit einer neuen, auf Aktion und Vorkenntnissen der Lernenden beruhenden Methodik, Nutzung des Taschenrechners, Beziehung zu anderen Fächern, projektorientierter, anwendungsorientierter und handlungsorientierter Mathematikunterricht. In dieser Reihenfolge werden die Kategorien im folgenden qualitativ und quantitativ analysiert.

 

 

(Abbildungsverzeichnis)

 

 

5.3.1 Notwendigkeit einer neuen Mathematikmethodik und einer aktiven Didaktikforschung

These 39:

Die methodische Konzeption des Mathematikunterrichts ist ein wichtiger Faktor, der den Lern und Lehrprozeß stark beeinflußt. Daher untersuchen einige Lehrende didaktische Strategien mit dem Ziel der Innovation, ohne dabei für die Lernenden notwendige Grundkenntnisse aus den Augen zu verlieren.

Wie aus Abb. 29 ersichtlich wird, sprach sich die Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einer ähnlichen Zahl von Aussagen für Bemühungen um eine neue Mathematikmethodik aus. Im Kontext der folgenden fünf, aus der sechsten Frage abgeleiteten Kategorien wird das im Detail betrachtet.

 

5.3.1.1 Die Notwendigkeit einer neuen Mathematikmethodik

Es wurde bereits darauf verwiesen, daß die Methodik des Mathematikunterrichts in beiden Ländern auf den Lehrenden zentriert ist, der im Mittelpunkt des gesamten Unterrichtsprozesses steht, daß frontal und mit Druck unterrichtet wird, daß keine adäquaten Mittel und Werkzeuge verwendet werden, daß keine wissenschaftliche Didaktikkonzeption vorhanden ist und der Unterricht der Improvisation sowie dem Einfluß von Ideen und Erfahrungen, die der nicaraguanischen und venezolanischen Realität fremd sind, unterworfen ist. Die Abmachung zwischen Lehrenden und Lernenden ist sehr einfach: während ersterer an die Tafel schreibt und pausenlos redet, hören letztere zu und schreiben passiv Definitionen, Beispiele, Übungen und Demonstrationen ab. Diese Situation hat Lehrende aus verschiedenen Bereichen des Bildungssystems in beiden Ländern veranlaßt, über die Durchsetzung einer neuen Methodik nachzudenken und zu diskutieren, die den Lernenden den ersten Rang in diesem Prozeß zuweist. "Wir schaffen Bewußtsein dafür, daß eine neue Mathematikmethodik entwickelt werden muß, damit mehr Aktion und Partizipation seitens der Schüler möglich wird" (MG).

Es reicht nicht aus, die Mathematik als Materie zu beherrschen, man braucht auch Techniken und Ideen, um sie zu vermitteln. Der Mechanizismus im Mathematikunterricht läßt kein Nachdenken, keine Kritik zu über das, was abläuft, über die Formen der Vermittlung bestimmter Inhalte, die von der Wirklichkeit völlig losgelöst sind. Die unzureichende methodische Ausbildung und die fehlende Anwendung und Innovation anderer Methodikformen hat auch mit den bereits genannten widrigen Umständen zu tun, aber der Mangel an Mitteln zum Kauf von Büchern oder die große Stundenzahl und die Anzahl der Lernenden pro Klasse sind laut Aussage der Expertinnen und Experten keine unüberwindlichen Hemmnisse für Veränderungen im Mathematikunterricht (226) . Wie kann die Erziehungswissenschaft unter diesen Bedingungen erneuert werden?

Nach Meinung der Expertinnen und Experten liegt einer der didaktischen Fehler darin, daß den Lernenden die Gründe für die Existenz bestimmter Regeln und Behauptungen nicht einfach und anhand von konkreten Beispielen und Materialien erklärt werden. Die Lernenden sind gezwungen, ohne Erklärung häufig sinnlose mathematische Sachverhalte aufzunehmen, ohne daß ihre Fähigkeit, mit eigenen Mitteln zu lernen, eingesetzt wird. Das heißt:

"Resulta más fácil decirle al alumno las cosas directamente, sin profundizar. Yo también estoy de acuerdo con que los alumnos aprendan las razones por las cuales ocurren los fenómenos mediante la ejemplificación y la presentación del conocimiento de manera sencilla.. Deberíamos conocer bien el conocimiento matemático, pero también ser creativos y redactar nosotros mismos nuestros propios problemas, en los cuales esté implícita la realidad que nos rodea. Ayudar al alumno para que él también construya sus problemas y sus posibles soluciones con cosas concretas" (ME).

 

Viele Lehrende, die mit diesem Problem vertraut sind, versuchen den Formalismus im Mathematikunterricht zu überwinden, damit die Lernenden die Konzepte besser verstehen, verfallen dann aber in konzeptionelle Fehler, die allerdings nicht so schwerwiegend sind. Man kann viele interessante Beispiele bringen, damit die Lernenden ein Konzept aufnehmen und verstehen, ohne es auswendigzulernen. Diese Konzepte sollten durch Spiele und Experimente eingeführt werden, so daß die Lernenden messen, agieren, Ergebnisse vergleichen und abstrakte und formale Einführungen nicht nötig sind (227) . Ich teile die Schlußfolgerungen der Expertinnen und Experten, daß eine Definition mit einem gewissen Grad an Ungenauigkeit eingeführt werden kann, wenn die Lernenden sie dadurch besser verstehen und anwenden können. Wenn die Lernenden den Sinn dessen, was sie tun, verstehen, spielt mathematische Strenge und Genauigkeit nicht notwendig eine Schlüsselrolle im Erlernen und Anwenden der Konzepte. Es gibt eine Reihe komplexer und einfacher mathematischer Konzepte, die auf verschiedenen Wegen nachgewiesen werden können, die auch aus didaktischer Sicht attraktiv und akzeptabel sind. Walter Beyer meint dazu:

"Se dice con frecuencia: calcular el área de un triángulo, pero se define el triángulo como aquella figura construida por las tres rayitas, entonces estrictamente hablando el triángulo tampoco tendría área y sin embargo si hablamos de ella. Pero cuando se hacen demostraciones más entendibles, que son didácticamente aceptables, decimos que desde el punto de vista matemático no está bien. ¿Por qué debe ser eso así? ¿Quién ha dicho o determinado que lo correcto es lo impuesto por el formalismo matemático? ¿Hasta qué punto tiene uno que aferrarse a dar una definición formal y no se les brinda a los muchachos una didáctica más atractiva, independientemente de que se le sacrifique a la definición y la demostración un poco de formalidad?" (WB).

 

5.3.1.2 Die Notwendigkeit aktiver Forschung in der Mathematikdidaktik

In einem zweiten Punkt gelangen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu Übereinstimmung: Dem Mathematikunterricht in Nicaragua und Venezuela mangelt es an didaktischer Forschung, die aus den täglichen Erfahrungen und Beobachtungen im Lern- und Lehrprozeß resultierende Fragen der Lehrenden systematisch beantwortet. "Hier in Nicaragua gibt es keine Forschung im Bereich Mathematikdidaktik, wir sind völlig abgeschnitten von dem, was dazu in anderen Ländern gemacht wird. Wir brauchen Informationen und Weiterbildung, um auf unserem Gebiet Forschung zu initiieren" (TG).

Die Vernachlässigung dieses Themas durch die Universitäten beider Länder und weiterer Einrichtungen wurde von den Befragten heftig kritisiert, zugleich regten sie an, daß die Lehrenden selbst einen aktiven und partizipativen Forschungsprozeß zur Didaktik an ihren Schulen initiieren sollten (228) .

"No se concibe la enseñanza de la matemática como ciencia y tampoco existe el investigador que analice los problemas y dé las soluciones. Hay que desarrollar un proceso de investigación activa, donde uno haga cosas con sus alumnos las aplique y se dé cuenta si al cabo de cierto tiempo funcionan o no, pero lamentablemente aquí en Venezuela se observa que la gente que investiga en educación matemática son pocos y tienen un trabajo doble y no son estimulados" (IG).

Auch in Nicaragua "haben wir uns häufig mit anderen Lehrern zusammengesetzt, um über unsere Gedanken zur aktiven Methodik im Mathematikunterricht zu diskutieren. Sie braucht aber eine Forschungsgrundlage, in unserem Fall zu Aktion und Partizipation, wir arbeiten in den sogenannten Strukturen aktiver Bildung" (RP).

 

5.3.1.3 Beherrschung einiger grundlegender mathematischer Inhalte aufgrund von Erläuterung durch die Lehrenden

In beiden Ländern wurde auch darauf verwiesen, daß wegen des sequentiellen Charakters der Mathematik im Hinblick auf ihre Konzepte die Lehrenden über didaktische Strategien in Abhängigkeit von Inhalten und Zielgruppe verfügen müssen, um den Lernenden die notwendigen mathematischen Konzepte verständlich zu machen (229) . "Es gibt Schüler, die in den Vorkenntnissen Lücken aufweisen, aber selbst wenn wir uns bemühen, diese auszugleichen, sind wir doch nicht in der Lage, die gesamte Mathematik noch einmal durchzunehmen, die für die neuen Kenntnisse erforderlich ist" (MC).

Das heißt, obwohl die Expertinnen und Experten dafür sind, den Lernenden und Lehrenden mehr Eigenständigkeit und Freiheit zu gewähren, halten sie einen Bezugsrahmen für erforderlich, um ein Mindestmaß an Kohärenz bei den mathematischen Inhalten zu sichern. Diese Gemeinsamkeit der Schulmathematik ist den Curriculum-Planern, Lehrbuchautoren und anderen Beteiligten insofern entglitten, als man in das Extrem verfiel, daß Lernende Mathematik nicht lernen können, ohne jeglichen mathematischen Inhalt behandelt zu haben, was als "notwendige Vorkenntnisse für folgende Themen" apostrophiert wurde. Im Widerspruch dazu hat sich im Schulalltag die Praxis durchgesetzt, daß die Lernenden endlose Aufgaben selbst erarbeiten und "als Forschungshausarbeit" vorlegen müssen, wobei der Grad der Komplexität wie z.B. bei den rationalen Zahlen, der Geometrie, Radikalen oder Statistik keine Rolle spielt. Die Lernenden schreiben ab und verstehen nicht, und die Lehrenden haken die Inhalte als behandelt ab.

"Sucede que muchos colegas no tienen tiempo o no dominan contenidos matemáticos básicos y por lo tanto envían un trabajo para la casa sin ver completamente las características de esos temas, esto trae como consecuencia que los alumnos dejen de ver aspectos de la matemática básicos que sí le son de importancia dentro de la misma matemática o para su aplicación" (FV).

 

5.3.2 Benutzungseinschränkung des Taschenrechners

These 40:

Die Benutzung des Taschenrechners (230) ist in den ersten zwei Etappen der Grundschule nicht angezeigt, unter didaktischen Gesichtspunkten jedoch möglich.

Taschenrechner werden von Kindern sogar in der ersten Phase der Grundschule benutzt. Es wäre daher kontraproduktiv, die Benutzung im Unterricht oder bei mathematischen Aktivitäten zu verbieten. In den Argumentationen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigt sich, daß es keine einheitliche Meinung darüber gibt, ab wann die Benutzung des Taschenrechners im Mathematikunterricht gestattet und ob in der Grundschule bei den Grundrechenarten darauf verzichtet werden sollte.

"La calculadora no se debería usar por lo menos hasta cierto grado, ya que los muchachos olvidan rápidamente la solución mental de problemas sencillos que solamente tienen que ver con operaciones muy elementales como la resta y la suma con cantidades pequeñas y fáciles de manipular, como por ejemplo sumar ½ + ½ o multiplicar 10x10" (BM).

Dieser Aspekt wurde von den Lehrenden stark diskutiert. Einige sprachen sich dagegen aus, weil die Nutzung eines Taschenrechners die Festigung von Fähigkeiten beim Kopfrechnen (231) oder bei der schriftlichen Lösung einfacher Aufgaben behindert. Andere meinen im Gegenteil, daß er aus didaktischer Sicht adäquat genutzt werden sollte, da Mathematik über das einfache Rechnen hinausgehe. "Die Nutzung von Rechnern und Computern ist eine technologische Entwicklung, die wir nicht übergehen können. Heutzutage sollten Aufgaben nicht ohne Taschenrechner gelöst werden, und die Schüler sollten darüber ohne Verbote verfügen" (JM). Im folgenden sollen vier allgemeine Schlußfolgerungen aus der Diskussion gezogen werden:

"Mit dem Gebrauch von Taschenrechnern können wir die Behandlung von Themen einschränken, die man schnell mit dem Rechner bearbeiten kann, wie z.B. die Radikalen oder binome Formen. Wichtig ist es, den Einsatz des Taschenrechners mit manuellen Arbeiten und Kopfrechnen zu verbinden, ohne ihn in Operationen zu mißbrauchen, bei denen man einen Taschenrechner eigentlich nicht benötigt. Der Einsatz der Technik sollte die Arbeit mit schwierigen Operationen unterstützen" (MC).

"Hay que hacer una crítica también al abuso de la tecnología, no es que yo esté en su contra, sino que los alumnos, inclusive los niños, llegan a un punto en que ellos no pueden ni siquiera multiplicar dos números por más que sean muy sencillos. Ellos están siempre con la calculadora en la mano. Me pregunto si no hay un momento en el cual pueden aprender bien a trabajar con las operaciones elementales sin hacer uso de la calculadora" (ME).

 

5.3.3 Verknüpfung mit anderen Fächern

 

These 41:

Der Mathematikunterricht muß stärker in Verbindung mit anderen Fächern betrachtet werden, denn es gibt enge Verbindungen zwischen der Mathematik und anderen Wissensgebieten, was leider nicht ausreichend genutzt wird.

Das Thema Mathematikunterricht in Verbindung mit anderen Fächern wird, obwohl es mit der zweiten und vierten Kategorie zusammenhängt (Projekte und Anwendungen), separat untersucht, da die Expertinnen und Experten, die sich dazu äußerten, von eigenen konkreten Erfahrungen sprachen. 42 bzw. 38% der Expertinnen und Experten aus Nicaragua und Venezuela haben mathematische Sachverhalte im Kontext mit anderen Fächern, besonders den naturwissenschaftlichen, behandelt (233) . In Abb. 29 ist zu sehen, daß sowohl die Teilnehmerzahl als auch die Anzahl der Aussagen in beiden Ländern fast identisch ist, diese Frage den fünften Platz innerhalb aller Kategorien der sechsten Dimension einnimmt, was nicht bedeutet, daß sie im Gesamtzusammenhang der Untersuchung und für die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Befragung keine Bedeutung hätte. Es folgen die qualitativen Ergebnisse der Analyse.

Erfahrungen in bezug auf diese Tendenz des Mathematikunterrichts gibt es in allen Klassenstufen, besonders in der Grundschule können viele Verbindungen zu anderen Fächern hergestellt werden. Die Lehrpläne und die Bildungsauffassung verhindern jedoch, daß die Lehrenden diese Verbindungen suchen. "Es gibt keine Verbindung zwischen den verschiedenen Zielsetzungen. Ich kann für die Grundschulklassen solche Zielsetzungen verbinden und Kontakte zu anderen Fächern wie Spanisch herstellen" (GM). Andererseits sind die Lehrenden nicht dafür ausgebildet, Lehrmaterialien zur Verknüpfung mit anderen Fächern zu erarbeiten, "dieser aktive Lehrer, der vieles tun kann, mit anderen Fachlehrern diskutieren, Programme ändern und neue Aufgaben stellen, den haben wir noch nicht ausgebildet" (AB). Gefordert ist die Umsetzung rein mathematischer Inhalte auf Kosten einer guten Ausbildung für die gesamte Schülerschaft, die erreicht werden könnte durch die Kombination mit Themen außerhalb der Mathematik, die für die Lernenden von Interesse sind.

Ein gemeinsamer Kritikpunkt der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus beiden Ländern ist die Tatsache, daß es Fächer wie Physik gibt, die viel Mathematik beinhalten, wo in einigen Lehrbüchern (234) aber ausschließlich mathematische Stoffeinheiten enthalten sind, obwohl man beide Fächer zumindest in diesem Teil miteinander kombinieren könnte. "Die Lehrer behandeln in Physik Gleichungen und nutzen dabei nicht die Vorkenntnisse aus dem Mathematikunterricht, und umgekehrt ist die Kinematik ein ausgesprochen mathematisches Thema, aber die Gleichung muß noch einmal erklärt werden, bevor man zur Physik kommt" (FG). Wissen wird in der Schule nur punktuell vermittelt, ohne Verbindung, obwohl in der Natur Verbindungen existieren. Wenn vom Wachstum eines Baums die Rede ist, ist die Mathematik präsent. Geht es um das Problem der Einnahmen und Ausgaben einer Familie, ist viel Mathematik im Spiel, um nur zwei Beispiele zu nennen.

"El conocimiento se está dando en parcelas, la física que se sirve de la matemática así como otras asignaturas son enseñados de una manera independiente, sin relación estrecha entre ambas. En muchos asignaturas se necesita de la matemática, pero no se enseña con la matemática, a ella se le aparta. La enseñanza es totalmente fragmentada, por un lado la matemática y por otro lado las otras asignaturas, las cuales a su vez tampoco tienen contacto entre sí" (ID).

Die Erarbeitung eines Mathematik-Curriculums auf der Grundlage interdisziplinärer Aktivitäten ist eine dringende Aufgabe, denn "ein mathematisches Konzept steht nicht isoliert, sondern ist mit anderen Objekten verbunden. Es braucht Lehrer mit integrativen Fähigkeiten, die nicht nur die mathematischen Konzepte beherrschen, sondern auch andere Bereiche und Fächer wie Geographie, Biologie oder Physik, die Zeitung lesen, die auf dem Laufenden und besser ausgebildet sind, kritisch und gut vorbereitet" (NN). Andere Lehrende meinen, daß nicht gefordert werden muß, das gesamte Schulwissen zu beherrschen, da das den Gedanken eines multidisziplinären Curriculums von Anfang an zum Scheitern bringen würde. "Bei verschiedenen Gelegenheiten habe ich vorgeschlagen, Mathematik im Zusammenspiel mit anderen Fächern zu unterrichten, wobei die Eigenheiten der Materie und der Lehrer natürlich respektiert werden müssen" (IG). Nach den Erfahrungen der Expertinnen und Experten zu urteilen, ist die praktische Umsetzung dieser didaktischen Konzeption unter den Bedingungen und Merkmalen des nicaraguanischen und venezolanischen Bildungswesen machbar. Abschließend ist ohne Überheblichkeit zu sagen, daß die Mathematik immer mit der Welt des Menschen zu tun hat, denn:

"Hay muchos objetivos de la enseñanza en general que se relacionan unos con otros que se presentan en la biología, la química, la literatura, la lengua, la geografía, la anatomía, la astronomía, la economía, la química, la física, el arte, la sociología, en fin casi todo el conocimiento escolar tienen directa o indirectamente relación estrecha con la matemática y esto lo hemos practicado formal o informalmente en nuestra enseñanza matemática " (AB).

 

5.3.4 Projektorientierung

These 42:

Obwohl projektorientierter Mathematikunterricht interessant und möglich ist, gibt es keine ausreichenden Informationen und Erfahrungen zu dieser pädagogischen Tendenz. Außerdem fehlen die notwendigen Voraussetzungen für seine Umsetzung. Einige Lehrende haben zu bestimmten Inhalten intuitiv und unsystematisch projektorientiert gearbeitet.

Nach den quantitativen Ergebnissen dieser zweiten Kategorie der sechsten Dimension, die in Abb. 29 dargestellt sind, fand das Thema des projektorientierten Mathematikunterrichts in beiden Ländern ähnlich große Resonanz, was die Aussagen und Teilnehmerinnen und Teilnehmer betrifft. Es gab keine kategorische Ablehnung einer Umsetzung im Unterricht, aber alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer äußerten Bedenken im Hinblick auf die praktische Arbeit, vor allem im Zusammenhang mit traditionell in den Lehrplänen und im Verhalten der Lehrenden etablierten mathematischen Inhalten. Die Analyse der Informationen aus der Befragung ergab folgende Ergebnisse.

Aus demokratischer Sicht könnte projektorientierter Unterricht das Lernen erleichtern, das Bewußtsein der Lernenden für ihre direkten und indirekten Probleme stärken und darüber hinaus die Mathematik für Mehrheiten attraktiver und interessanter machen (335) , wenn nicht mehr isolierte Inhalte abgearbeitet werden. "Projekte sind zweifellos eine wunderbare Sache für den Mathematikunterricht, ich habe auch mit anderen Lehrern darüber gesprochen, die das interessiert, weil mathematische Kenntnisse und für die Schüler wichtige Probleme miteinander verbunden werden" (AB). In Verknüpfung mit der mathematischen Modellkonzeption können durch Projekte Themen aus der Mathematik oder anderen Fächern miteinander verbunden, ein Modell aus realen Zahlen abgeleitet und erreicht werden, daß die Wirklichkeit so zum mathematischen Modell wird, daß man später mit abgeschlossenen Information zu ihr zurückkehrt und sich auf diese Weise der Kreis schließt (236) . "Beim Thema Ernährung gibt es viel Mathematik, und sie besteht nicht nur darin zu rechnen. Ausgehend von diesem Thema kann das mathematische Modell der linearen Optimierung entwickelt werden, mit Gleichungen, Ungleichungen und ihrer graphischen Darstellung, was für die Schüler sehr interessant wäre. An solch einem Projekt könnte man mehrere Wochen arbeiten" (AF).

Die Expertinnen und Experten teilen die Meinung, daß in Lateinamerika, wo es für die Bevölkerung Probleme jeglicher Art gibt, die sie selbst in der formalen oder informellen Schule lösen könnte, diese pädagogische Bildungskonzeption dazu beitragen könnte, Grundlagen für die erwünschte Curriculum-Entwicklung unter emanzipatorischen Aspekten zu legen. "Sie muß eingeführt und in der Praxis umgesetzt werden, denn in Lateinamerika gibt es viele Probleme, die mathematisch behandelt werden könnten, es gibt viele Beispiele aus dem Alltag, der konkreten Welt des Individuums dafür. Dadurch wären die Leute weniger unwissend und könnten verstehen, was geschieht" (AL).

Ein weiterer Vorzug des projektorientierten Unterrichts liegt darin, daß Lernende, denen Mathematik keinen Spaß macht und die sie nicht lernen wollen, zu einem besseren Verhalten gegenüber der Vielzahl von Problemen der Gesellschaft, die von der Bildung nicht zu trennen sind, veranlaßt werden können, und zwar durch soziale Verantwortung, Kameradschaft und Kooperation.

 

5.3.4.1 Einige Projektbeispiele

Für die Mehrzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist die Tendenz der Projektorientierung im Mathematikunterricht nicht unbekannt, in beiden Ländern "hat es in der Vergangenheit Initiativen gegeben, die wir nicht ignorieren dürfen" (TG). In Venezuela gibt es praktische Erfahrungen über mehr als 5 Jahre am Colegio Kennedy (237) (Fe y Alegría). In Deutschland gibt es dazu ebenfalls wichtige Erfahrungen. Im Gespräch mit den Expertinnen und Experten tauchten viele Projektideen auf, die im Mathematikunterricht umgesetzt werden könnten, von denen hier nur einige genannt werden sollen:

 

5.3.4.2 Mangel an systematischen Erfahrungen zum projektorientierten Unterricht in beiden Ländern

Ein dritter Punkt, der von den Expertinnen und Experten übereinstimmend zur Sprache gebracht wurde, ist das Fehlen konkreter, systematisierter und umfassend ausgewerteter Erfahrungen. Das bedeutet nicht, daß das pädagogische Konzept den Lehrenden unbekannt ist, sondern daß die Bildung bisher auf pädagogische Prinzipien der Anleitung und des Individualismus orientiert. "Wir haben keine Erfahrungen mit dem projektorientierten Mathematikunterricht, auch die Möglichkeit eines solchen Unterrichts haben wir nicht in Betracht gezogen, weil wir von der Universität her vor allem den Frontalunterricht kennen" (MA).

In Nicaragua und Venezuela hat es in pädagogischen Einrichtungen, Schulen und interessierten Gruppen keine großen Bemühungen gegeben, Arbeitsmaterialien mit konkreten Beispielen und Hinweisen zu erarbeiten, die bei der Behandlung anderer Probleme behilflich sein könnten. Die Lehrenden halten an Büchern und Lehrplänen fest, und da dort projektorientierter Unterricht nicht vorkommt, wird er auch nicht praktiziert. Wer versucht, innovativ zu arbeiten, wird mit Mißtrauen betrachtet, in einigen Fällen sogar als Extremist, der die etablierte Bildungsordnung stürzen will.

"No tenemos mucha experiencia con la enseñanza basada en proyectos, ya que si bien es cierto que alguna gente ha realizado algunas cosas, todo ha sido muy pobre y se ha quedado en iniciativas propias, estamos afectados aún por las costumbres tradicionalistas y por el temor a los cambios porque podríamos ser vistos como personas extrañas, quedándonos en lo puramente intuitivo sin un respaldo científico" (FV).

 

5.3.4.3 Bei der Entwicklung mathematischer Inhalte können Schwierigkeiten auftreten

Wie können mathematische Inhalte und Konzepte mit einem solchen Projekt verbunden werden? Diese Frage stellen viele, die mit Mathematik zu tun haben. Sie zu beantworten, ist ohne Untersuchung kaum möglich. Die Expertinnen und Experten nannten folgende Schwierigkeiten, die sich hier ergeben könnten: es können mathematische Inhalte auftauchen, die nicht Teil der Lehrpläne sind und daher noch nie behandelt wurden; die Notwendigkeit bestimmter Vorkenntnisse, die das Projekt behindern, wenn es nicht ausreichend vorbereitet wurde; während oder nach Beendigung des Projektes müssen mathematische Inhalte, die notwendig sind und/oder sich aus dem Projekt ergeben, erläutert werden. Einigkeit herrscht darüber, daß die Lehrenden möglicherweise im Laufe des Projekts auftauchende mathematische Sachverhalte voraussehen müssen, um didaktische Probleme zu vermeiden.

Ein Beispiel für projektorientierten Unterricht in beiden Ländern war die Themenstellung, die Regenmenge in der jeweiligen Region, in der die Lernenden leben, zu bestimmen (auf Grund der Wasserprobleme in Venezuela und Nicaragua ein wichtiges Thema). Dieses Projekt kann von der vierten bis zu oberen Klassenstufen behandelt werden und dementsprechend unterschiedliche mathematische Inhalte integrieren. So können Statistik, Flächen, Geometrie, Rechnungen und Analysen z.B. bei der Feststellung der Wassermenge in Behältern einbezogen werden (239) .

 

5.3.4.4 Technische und strukturelle Schwierigkeiten bei der Umsetzung

Die Expertinnen und Experten aus beiden Ländern nannten eine Reihe von Schwierigkeiten, die sich bei der Umsetzung dieser Art von Unterricht ergeben können. Das heißt nicht, daß sie die pädagogische Konzeption ablehnen, sondern daß die Realität, in der sie arbeiten, feindlich, hart und voller Gewalt ist. Von Seiten des Staates ist keine Hilfe zu erwarten, um so weniger für Innovationen, die ihn in Frage stellen könnten.

Für die Lehrenden ist Frontalunterricht oft die einzige mögliche Unterrichtsform, weil der Unterricht unter Bedingungen stattfindet (die im ersten Teil analysiert wurden), die eine starke Einschränkung der Arbeitsformen nach sich ziehen, und weil andere Unterrichtsformen wie z.B. Projektorientierung nur unter anderen Ausgangsbedingungen möglich werden. Im folgenden sollen einige Einschränkungen sowie Mindestbedingungen für den Unterricht skizziert werden:

Trotz dieser fast endlosen Kette von Hindernissen für den projektorientierten Unterricht, die weiter diskutiert werden könnten, gibt es Bereitschaft und Interesse daran, den Mathematikunterricht in eine Richtung zu entwickeln, die Partizipation der Lernenden erfordert und ermöglicht.

"Si creo que la enseñanza de la matemática hay que desarrollarla de esa forma, pero no pasar de manera radical de una cosa a otra ya que las consecuencias serían peores, aunque sabemos que la forma lineal que hemos analizado anteriormente no es la más indicada y no da buenos resultados, pero tampoco sabemos cuáles serán los resultados de un enseñanza basada en proyectos, ya que hay mucha ignorancia al respeto" (NN).

Deutlich wurde auch, daß solche Aktivitäten in den ersten Grundschuljahren, von der Grundschule bis zur vierten Klasse, ohne große Mittel möglich sind, wie Pérez Penado erläutert:

"A nivel de proyectos hemos venido desarrollando algunas cosas con maestros del preescolar y de la primaria, lo que nosotros le llamamos metodología activa y participativa. Este año en cuarto grado tenemos algunas cosas a nivel de proyectos. Nos hemos reunido y hemos trabajado en conjunto, pensando en la posibilidad de desarrollar una enseñanza participativa tomando en cuenta nuestras reales condiciones existenciales. Esto lo hemos realizado hasta el cuarto grado, claro que muy modestamente, ya que no tenemos los suficientes recursos humanos bien informados, pero sí tenemos el pensamiento de continuar en esta dirección. Sería saludable generalizarlo y profundizar en ello" (PP).

 

5.3.5 Anwendungsorientierung

These 43:

Anwendungsorientierter Mathematikunterricht wird in Venezuela und Nicaragua kaum praktiziert, obwohl die Expertinnen und Experten diese didaktische Orientierung unter den Bedingungen des Bildungssystems in beiden Ländern für umsetzbar halten (240) .

Ziel der vorliegenden Arbeit war nicht, die verschiedenen aktuellen Strömungen der internationalen Mathematikdidaktik, wie die der Anwendungsorientierung im Mathematikunterricht zu behandeln, die international, aber vor allem in Deutschland (241) untersucht wurde und wo bedeutende qualitative und quantitative Fortschritte erzielt wurden. Während der empirischen Untersuchung in Nicaragua und Venezuela wurde Interesse an dieser didaktischen Konzeption deutlich, über die es in beiden Ländern kaum Forschungen oder Erfahrungen gibt, obwohl zahlreiche Lehrer damit direkt oder indirekt zu tun hatten. Abb. 29 zeigt, daß diese Kategorie der sechsten Fragestellung bei einer Beteiligung von 92% der Expertinnen und Experten in Nicaragua und 100% in Venezuela sowie einem fast identischen Gewicht der Aussagen den zweiten Rang einnimmt. In beiden Ländern gibt es also großes Interesse an der Entwicklung eines anwendungsorientierten Mathematikunterrichts (242) .

Unter dieser Konzeption verstehen einige Expertinnen und Experten ebenso wie ich die Durchführung des Mathematikunterrichts in untrennbarer Kombination mit nichtmathematischen Feldern, im Gegensatz zum reinen, isolierten und als Wert an sich verstandenen Mathematikunterricht. Für viele Lehrende beschränkt sich dieses Konzept jedoch auf die Anwendung theoretisch erarbeiteter mathematischer Inhalte zur Lösung mathematischer oder anderer Probleme. Für andere wiederum bedeutet es, reine mathematische Inhalte zu konkreten Problemen oder nichtmathematischen Feldern in Beziehung zu setzen, die sich nicht notwendig im Unterricht selbst niederschlagen muß, wobei es ideal wäre, ein Maximum an Inhalten der Schulmathematik in dieser Richtung zu behandeln. Drei Beispiele sollen diese Sichtweisen illustrieren:

a) "No tiene sentido decirle a los alumnos que esos conocimientos les irán a servir para más adelante, en otras asignaturas o en la misma matemática, lo importante es mostrarles inmediatamente como elemento integrante de la enseñanza de la matemática que sí tiene aplicación y que además podrá servir como eje central alrededor del cual giraría la enseñanza" (AB).

b) "Actualmente los maestros y profesores ni siquiera enseñan matemática aplicada, muy raramente el docente hace aplicaciones después de terminar las clases de matemática, tales como problemas concretos de su entorno como la devaluación, la inflación, compra y venta..." (MM).

c) "Los temas matemáticos sí se pueden trabajar usando las aplicaciones en diferentes campos en la medida que los estamos desarrollando o después del proceso de enseñanza y aprendizaje, así los alumnos podrían ver la aplicabilidad de los contenidos en la solución de problemas como de Biología por ejemplo" (MC).

Die Bedeutung dieser drei Meinungen, die denen anderer Expertinnen und Experten ähnlich sind, liegt darin, daß nicht nur der konzeptionelle Unterschied deutlich wird, sondern daß in allen Fällen Mathematik in Verbindung zu anderen Anwendungen unterrichtet werden sollte. Dies ist ein erster wichtiger Schritt zur Emanzipation des Mathematikunterrichts, und die Argumente zu seiner Unterstützung widerspiegeln auch die Ziele, die mit dieser didaktischen Konzeption erreicht oder verfolgt werden sollten. Die Zusammenfassung der Zielsetzungen ausgehend von den Aussagen der Expertinnen und Experten umfaßt die folgenden Aspekte.

 

5.3.5.1 Wirklichkeit und Mathematik werden durch geeignete Modelle in Verbindung gebracht

Ein Merkmal des Mathematikunterrichts ist, wie bereits dargestellt, die Behandlung der Inhalte losgelöst von ihrer Bedeutung und von der Wirklichkeit (243) . Die Expertinnen und Experten sind der Ansicht, daß es theoretisch möglich ist, eine Beziehung herzustellen, daß aber das geeignete Modell zum Mathematisieren der Realität und daran anschließend zur Rückkehr zu mathematischen Inhalten des Unterrichts nicht leicht zu finden ist. Obwohl das nicht ganz richtig ist, hat das Fehlen einer anwendungsorientierten Didaktik dazu geführt, daß Lehrende keine geeigneten Mechanismen (mehr oder weniger allgemeine Verfahren oder Schemata) für die Mathematisierung der Realität zur Verfügung haben. Das heißt, um "die Realität zur Mathematik in Beziehung zu setzen, muß man mit einem Anwendungsproblem beginnen und im Rahmen der schrittweisen Lösung Konzepte entwickeln. Auch wenn es in der Mathematik Dinge gibt, die nicht direkt anwendbar sind, kann man ein allgemeines oder spezielles Modell für die Mathematisierung solcher Situationen entwerfen" (MF). Aus wissenschaftlicher Sicht ist von Bedeutung, daß die Lernenden dadurch lernen würden, allgemeine oder spezifische Modelle zu erarbeiten, die ihnen als Beispiel nicht nur für die Lösung mathematischer Probleme dienen, sondern auch zur Interpretation anderer sozialer oder natürlicher Erscheinungen, mit denen sie konfrontiert sind.

 

5.3.5.2 Beispiel für den unmittelbaren oder späteren Nutzen

Anwendungsorientierter Mathematikunterricht eröffnet die Möglichkeit, im Lern- und Lehrprozeß konkrete Beispiele anzubieten, die im täglichen Leben genutzt werden können. Wird ein Modell zur Lösung eines Problems konstruiert, festigt sich bei den Lernenden der Gedanke, daß ihnen dies auch nach Abschluß eines bestimmten Themas dienlich sein kann. "Häufig gibt es unmittelbare Anwendungsmöglichkeiten, und man kann Beispiele aus dem Alltag bringen, die für gleiche oder ähnliche Situationen eine Orientierung bieten. Dadurch könnten wir vom Einstiegsniveau des Verstehens zum höheren Niveau der Anwendung vorankommen" (EC).

 

5.3.5.3 Mathematische Vorkenntnisse nutzen

Häufig wird kritisiert, daß die Lernenden die Kenntnisse, die sie zuvor erworben haben, nicht anwenden (244) . Nach meiner Erfahrung und laut Aussagen der Expertinnen und Experten ist es für die Kinder und Jugendlichen nicht leicht, selbständig abstrakte Konzepte auf eine komplexe reale Situation anzuwenden, wenn sie keine Erfahrungen darin haben oder ihnen die Fähigkeit dazu fehlt. Vorkenntnisse könnten eine gewisse Sicherheit vermitteln, wenn sie sich problematischen Situationen gegenüber sehen und gemeinsam mit den Lehrenden versuchen, diese zu mathematisieren. Automatische Nutzung ist aber nicht zu verlangen, da hier die Probleme mit der Transfer (245) von Wissen auftreten können. "Die Vorkenntnisse werden von den Schülern nie im Leben angewandt, auch mit ihrer Gesellschaft sind sie nicht verbunden, da sie nicht wissen, wie diese Verbindung hergestellt wird, und wir Lehrer ziehen daraus auch keinen didaktischen Nutzen." (IG).

 

5.3.5.4 Mehr Interesse und Freude an der Mathematik

In dem Maße, wie die Lernenden sich direkt mit dem Unterricht auseinandersetzen, kann das geringe Interesse an der Mathematik überwunden werden, wenn die Beispiele von ihnen selbst kommen oder die Lehrenden für sie interessante Beispiele anbieten. Es ist ein Fehler, Menschen dazu zu zwingen, etwas zu lernen, was ihnen keine Freude oder sogar Angst macht. Möglicherweise eröffnen Anwendungen als didaktisches Konzept ausreichend neuen Spielraum, bei all den Beispielen von einer Vielzahl von Autoren (246) aus aller Welt. "Ich habe meine Schüler mit konkreten Situationen konfrontiert, z.B. Messungen außerhalb des Klassenraums vorzunehmen oder unter Anwendung von Mathematik Probleme zu lösen wie den Bau eines Tunnels, und beobachte im Hinblick auf die Motivation der Schüler und Freude an der Mathematik eine sehr positive Entwicklung" (FV).

 

5.3.5.5 Kreatives Handeln und Argumentationsfähigkeit

Die Analyse der Blockade, die der traditionelle Mathematikunterricht bei den Kindern auslöst, führte zur Suche nach einer didaktischen Konzeption, die Kreativität und Qualitäten wie demokratische Argumentation als allgemeines Erziehungsziel fördern kann. Die Erfahrungen der Expertinnen und Experten belegen erfolgreiche Veränderungen im kreativen Handeln der Lernenden, wenn ihnen im Lern- und Lehrprozeß Anwendungsprobleme (nicht notwendig anwendungsorientierter Unterricht) präsentiert werden. Dann entwickeln sich in der Klasse Debatten für oder gegen bestimmte Verfahren oder Wege zur Problemlösung. Das heißt, "eine große Menge von Inhalten tritt gleichzeitig auf, die Schüler bieten Ideen an, und es entsteht eine Diskussion über Verfahrensweisen, Schwierigkeiten bei ihrer Umsetzung, aber vor allem denken sie darüber nach, was sie tun oder erreichen wollen" (BM).

 

5.3.5.6 Stärkung der Fähigkeiten der Lernenden

Nach Auffassung der Expertinnen und Experten läßt sich in diese didaktische Tendenz auch die Konzeption des lösungsorientierten Mathematikunterrichts einbinden (247) . Sie wird bereits häufig genutzt und ist mit anwendungsorientiertem Unterricht gut zu verbinden, da man bei beiden von dem Prinzip ausgeht, daß der Mathematikunterricht auf die Lösung von Problemen orientiert sein sollte, und durch eine Gesamtheit heuristischer Strategien die Lösung zu erreichen ist. "Es ist besser, wenige, aber gefestigte Kenntnisse zu haben, und das erreicht man durch anwendungsorientierten und problemlösungsorientierten Unterricht, die eng miteinander verbunden sind" (TG).

Natürlich gibt es eine Reihe von mathematischen Inhalten, vor allem in der Algebra, für die schwer interessante Anwendungsbeispiele zu finden sind, die mit realen Situationen zu tun haben. Das ist eine Sorge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und sicher auch vieler anderer Lehrenden. Es gibt also Themen, für die kaum konkrete Beispiele aus der Realität zu finden sind, und das geht wahrscheinlich auf die Eigenheiten der Mathematik selbst zurück, die uns hier ihre Unabhängigkeit und Abstraktheit präsentiert.

"Los conceptos matemáticos son producciones de la mente, uno no ve ningún círculo rodando por allí, sino que hay cosas que se asemejan a un círculo y de allí nuestra representación pero sí hay células y animalitos que se ven en los microscopios, los gusanos se mueven pero no los números, ellos quieren ver algo tangible y tocable, aquí se podría enseñar la matemática desde el punto de vista de las aplicaciones para que los alumnos puedan obtener otra imagen de esos objetos matemáticos difícilmente perceptibles" (AL).

 

5.3.5.7 Kritische Schlußfolgerung zur vierten Kategorie

Welche Ziele verfolgt der Mathematikunterricht, der diesen Prinzipien folgt? Drei allgemeine Linien lassen sich zusammenfassen, in erster Linie die Ablösung eines abstrakten und systematischen Herangehens des Mathematikunterrichts, an zweiter Stelle die Suche nach dem Nutzen und der Anwendbarkeit mathematischer Inhalte, und an dritter Stelle das Streben nach attraktiverem, für die Lernenden angenehmerem Unterricht. Einige Fragen bleiben jedoch offen: wie kann Realität nicht nur erkennt und beschrieben, sondern auch kritisch interpretiert werden? (Müller 1991 und Winter 1985) (248), Welche Rolle spielt die Mathematik in der Gesellschaft aus kritischer Sicht? Wie kann der Mathematikunterricht zu politischen und sozialen Veränderungen beitragen? Welche Bedeutung hat die Mathematik für den Schutz (und die Zerstörung) der Umwelt? Wie kann der Mathematikunterricht zur Überwindung von Hunger und Armut unterdrückter Völker wie in Nicaragua und Venezuela beitragen? Diesen Aspekt behandeln die internationalen Autoren in ihren Beispielen und Überlegungen zum anwendungsorientierten Mathematikunterricht kaum. Man kann nicht zufrieden sein mit der Erarbeitung eines mathematischen Modells zur Bestimmung a) der Effizienz von Autobahnkreuzen in einer Großstadt wie Caracas, b) des Bevölkerungswachstums in León oder c) der Kartoffelmenge, die ein Hamburger Kind für 2,50 DM kaufen kann, wenn ein Kilo 1,75 DM kostet. Die vorliegende Untersuchung hat versucht, über Diskussionen um eine gute Mathematikdidaktik zur Erhöhung der Kompetenz der Lernenden hinauszugehen, bei denen es keine Rolle spielt, ob 50 oder 5 in einer Klasse lernen. Es geht um mehr als effizienten Mathematikunterricht. Es geht vor allem darum, dem Mathematikunterricht einen politischen und emanzipatorischen Impuls zu geben. "Der Begriff Mathematik steht allein, aber es gibt eine Vielzahl von Anwendungen und Beispielen, was man damit tun kann. Diese hängen vor allem von der Kultur des Landes, seinen Problemen und der politischen Auffassung der Lehrer ab" (WB). Es bleibt ein Vakuum, das der Mathematikunterricht mit seinen Anwendungen nicht ausfüllt: Was tun angesichts dieser Situation?

 

5.3.6 Handlungsorientierung

These 44:

Die Notwendigkeit eines handlungsorientierten Mathematikunterrichts (249), in dem die Lernenden im Gegensatz zur impositiven und theoretischen Mathematik durch aktive, praktische und sinnvolle Arbeit lernen, mit Alltagssituationen (Alltag / Umwelt) umzugehen.

Hier handelt es sich um eine der wichtigsten Thesen der Untersuchung in Nicaragua und Venezuela, wobei im Hinblick auf Teilnehmerinnen und Teilnehmer wie Aussagen Venezuela stärker vertreten ist als Nicaragua (s. Abb. 29). Die sechste Kategorie der Dimension 6, die im Kontext aller Kategorien nach Projekten und Anwendungen Rang drei einnimmt, bezieht sich auf eine Tendenz handlungsorientierten Unterrichts, in dem Situationen aus Alltag und Umwelt Priorität genießen. Der Begriff Handlung/Aktion ist aus pädagogischer Sicht sehr weit gefaßt (250) , die Aussagen sind aber nach Aktivitäten geordnet, bei denen die Lernenden Kontakt zu ihrer Umwelt, der Welt außerhalb des Klassenzimmers aufnehmen und über die Geschehnisse kritisch nachdenken und sie problematisieren. Zwei Expertinnen und Experten deuten diese pädagogische Aussage folgendermaßen:

a) "Un enfoque que se le ha de dar a la enseñanza de la matemática debería ser tal que los alumnos vean los contenidos estrechamente vinculados con su vida cotidiana mediante el contacto directo con la realidad y que además puedan ser significativos para los alumnos" (MC).

b) "La enseñanza de la matemática de manera aislada, seca y abstracta es alienante y en muchos casos carece de sentido, ella se presenta en relación con el medio ambiente de diferentes formas, no solamente desde el punto de vista natural, sino más aún sobre la influencia que nosotros hacemos sobre él, alterándolo y modificándolo, en muchos casos con prejuicios irreparables para todos" (AL).

Diese Auffassungen einer methodischen Konzeption des Mathematikunterrichts, der im Gegensatz zum "traditionellen" oder frontalen Unterricht steht, haben ihre Grundlage in den Merkmalen der aktiven und partizipativen Pädagogik (251) . Die Meinungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Befragung entsprechen diesen Merkmalen, die bereits in vorangegangenen Analysen genannt wurden. Acht Schlußfolgerungen ergeben sich aus der Diskussion dieses Themas in Nicaragua und Venezuela.

 

5.3.6.1 Die Lernenden im Mittelpunkt des Unterrichts

Die Interessen der Lernenden stehen im Unterricht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, ihre Wirklichkeit und ihre Umwelt. Man muß nach ihren Konflikten mit der Wirklichkeit und ihren Meinungen über die Beziehung des Menschen zur Umwelt fragen. Dadurch werden die Lehrenden vom Mittelpunkt zu Beteiligten eines Prozesses.

"A nivel superior se da una lista de problemas que están separados del mundo y de la realidad de los estudiantes, en la secundaria se sigue lo que los maestros y profesores opinan en sus clases y en la escuela primaria presentamos una enseñanza matemática pensada y dirigida hacia los intereses de los adultos. No se toca la realidad del niño y esto forma parte de la filosofía de nuestra enseñanza desligada del mundo" (IG):

 

5.3.6.2 Veränderung des Etablierten- an der Wurzel statt an der Oberfläche

Um diese Form aktiven und partizipativen Unterrichts durchzusetzen, muß radikal mit den etablierten Lehrplänen und Programmen gebrochen werden, die hinter dem Rücken der Lernenden erdacht und erarbeitet wurden. Dieser Punkt wurde bereits umfassend analysiert, hier soll nur darauf verwiesen werden, daß Lernende und Lehrende anfangen, über das tägliche Leben, über Umweltprobleme nachzudenken, wenn die Lehrpläne die Fragen und Probleme dieser Gruppe einbeziehen. Dafür gibt es kein Ideal. Ausgangspunkt ist der demokratische Dialog in der Schule und nicht die Durchsetzung von Lehrplänen. "Um einen für die Schüler sinnvollen und interessanten Mathematikunterricht zu geben, müssen wir von den systematischen Inhalten in den Lehrplänen wegkommen. Viele der Alltagsprobleme der Schüler finden sich dort nicht und können auch nicht festgeschrieben werden, denn die Gesellschaften sind in Bewegung" (TG).

 

5.3.6.3 Stärkung der individuellen Unterschiede, aber auch der Kollektivität

Handlungsorientierter Mathematikunterricht trägt zur Stärkung der individuellen Fähigkeiten und Unterschiede der Lernenden bei, auch wenn im Kollektiv gearbeitet wird. Die Gefahr einer individualisierten Bildung, die dem emanzipatorischen Ansatz zuwiderläuft, besteht dabei nicht. Wenn die Kinder in Gruppen an konkreten Aufgaben arbeiten, können alle entsprechend ihren Möglichkeiten und Interessen etwas einbringen, das Kollektive potenziert und unterstützt das Individuelle. Das bedeutet, daß "die Schulmathematik stärker mit der Welt der Kinder verbunden sein muß, wobei unter Welt der Kinder alles fällt, was sie individuell und kollektiv erleben" (JM), weil "mathematisches Wissen nicht isoliert ist von konkreten Lebenssituationen der Individuen als Menschen mit eigenen, aber auch kollektiven Merkmalen" (MC).

 

5.3.6.4 Kritische Reflexion der mathematischen Aktivitäten des Kindes

Die Kinder können sich ihrer mathematischen Welt kritisch und nachdenklich nähern. In Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit wurde ausgeführt, daß sie direkt von einer Vielzahl endogener und exogener Faktoren betroffen sind, die aus sozialer Ungerechtigkeit erwachsen, man sollte mit ihnen auch über Katastrophen, gewaltsame Todesfälle sprechen, denn sie kennen das vielleicht sehr viel besser, als wir uns vorstellen können (252) . Das Leben lateinamerikanischer Kinder impliziert aber auch ihre Arbeit und ihre Spiele. Es gibt viele Aspekte der Mathematik, die ihnen helfen können, Konflikte zu überwinden, statt sie mit einer Mathematik unter Druck zu setzen, die nicht ihre Sprache spricht. "Ich glaube einfach nicht, daß ein Kind, das stundenlang auf der Straße Schuhe putzt, Zeitungen verkauft und mit Geld umgeht, Mathematik nicht verstehen soll. Im Gegenteil, es beherrscht seine Mathematik, die die Straße und die Gesellschaft mit ihren Konflikten ihn lehrt, eine andere Mathematik muß man ihm nicht beibringen" (IG).

 

5.3.6.5 Entstehung von Mathematiklabors durch die Zusammenarbeit von Lernenden und Lehrenden

Mit von ihnen selbst in Aktivitäten in der Natur und im Alltag erarbeiteten Materialien können Lernende gemeinsam mit den Lehrenden eigene Mathematiklabors ausstatten. Sowohl in Venezuela als auch in Nicaragua gibt es großes Interesse daran (253) . Hier lassen sich technische Bildung und die sogenannte Erziehung zur Arbeit gut mit der Mathematik verbinden (254) . Zwei nicaraguanische Expertinnen und Experten führen dazu aus:

"Hace mucha falta sistematizar la idea del laboratorio de matemática, ya que él sería un lugar adecuado para experimentar desde el punto de vista metodológico en la enseñanza de la matemática y hacer cosas prácticas en combinación con talleres técnicos..." (AF). No se concibe que en matemática pueda existir un laboratorio para hacer prácticas con pesas y medidas y materiales para el uso de la geometría, nos limitamos a una enseñanza con tiza y pizarrón solamente sin hacer cosas útiles en combinación con la naturaleza" (TG).

 

5.3.6.6 Eine Alternative zu Bankiersmethode und Frontalunterricht, die den Lernenden größere Freiheiten einräumt

Einer der Mängel der heutigen Bildungsrealität, des Bankierskonzeptes (255) und des Frontalunterrichts (256) besteht darin, daß die Lernenden nicht selbständig ihre eigenen Arbeiten und Bildungsaktivitäten durchführen können. Die Lehrenden bereiten ihren Unterricht inhaltlich und methodisch vor und setzen ihn um, wobei die Fähigkeiten und Kapazitäten der Lernenden aus ihrem Kontakt mit der realen und ihrer imaginären Welt blockiert werden. Ein auf Aktion und Partizipation beruhender Mathematikunterricht bietet den Schülerinnen und Schülern die Freiheit und Selbständigkeit, ihre Potenzen und Fähigkeiten ohne Angst vor den Grenzen auszuloten. "Der Mathematikunterricht wird für physisch und geistig passive Schüler geplant, ohne das einzubeziehen, was diese frei und selbständig einbringen könnten" (RP).

 

5.3.6.7 Gruppenarbeit im Mathematikunterricht

Mathematikunterricht in der bisher beschriebenen Zielsetzung kann nicht ohne Gruppenpartizipation (257) und den Bruch mit der formalen frontalen Methode umgesetzt werden. Die Lernenden bewegen sich in Gruppen auf dem Land oder in einer Gemeinschaft, arbeiten in Gruppen an konkreten Projekten und beziehen dabei andere Mitglieder der Gemeinschaft ein. "Konkrete Alltagssituationen kommen im Unterricht nicht vor. Es gibt eine gewisse Orientierung auf signifikantes Lernen, bei dem Schüler und Lehrer gemeinsam Fragen und Probleme der im Konsens initiierten Lernprojekte suchen und beantworten" (MM).

 

5.3.6.8 Einbeziehung der Gemeinschaft in den Unterricht

Die Gemeinschaft spielt wie bereits ausgeführt für die Bildung der Kinder und für ihre eigene Bildung, ihre eigene mathematische Alphabetisierung, eine große Rolle. Wenn es gelingt, die Gemeinschaft in die Erarbeitung neuer Angebote zu ihrem Nutzen einzubeziehen, wäre eine großer Fortschritt für die Bildung erreicht. In den beiden Ländern, in denen diese Studie durchgeführt wurde, gibt es Traditionen gemeinsamer Arbeit beim Bau, in Kooperativen, bei der Herrichtung von Freizeitstätten usw. Die Schule und die Mathematik können an diese Traditionen anknüpfen. "Ich teile die Meinung, daß man Dinge machen sollte wie die Bestimmung der Mengen von Sand und Zement für einen optimalen Baustein, da ist Mathematik, aber auch andere Dinge, die die Gemeinschaft zusammen mit Schülern und Lehrern tun kann" (EC).

 

5.3.6.9 Behandlung von komplexeren Inhalten in den verschiedenen Klassenstufen

Abschließend ist hervorzuheben, daß Mathematikunterricht mit den Merkmalen aktiver und partizipativer Bildung sich nicht auf die Grundschule beschränkt, sondern die Behandlung komplexer Inhalte zuläßt. Um die Realität zu verstehen und zu entschlüsseln - was erklärtes Ziel dieser Bildungskonzeption ist -, sind komplexere mathematische Kenntnisse erforderlich als bis zur 9. Klasse der Grundschule unterrichtet werden, so z.B. die lineare Optimierung (258) , Exponentialfunktionen, Differentiale, Integrale, Matrizen, geometrische und arithmetische Progressionen, Statistik usw. "Es gibt Konzepte wie Grenze, Kontinuität, Integral, Differential, u.a., die ausgehend von Lebenserfahrungen formuliert werden können" (MC). "Das Problem, daß sich die Ressourcen in wenigen Händen konzentrieren, kann als Anfangsproblem formuliert werden, wenn es um mathematische Themen wie Folgen oder geometrische und arithmetische Progressionen geht" (MF)(259) .

5.3.6.10 Schlußfolgerung

Handlungsorientierter Mathematikunterricht ist ein wichtiger Schritt, um die Prozeßbeteiligten (Lehrende, Lernende, Eltern und Gemeinschaft) zu gemeinsamem Handeln in Aktivitäten (vor allem Projekten) innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers zu veranlassen, so daß Lernen und Lehren für alle Beteiligten interessant und angenehm wird. Diese Konzeption bietet zweifellos eine Vielzahl menschlicherer, demokratischerer Möglichkeiten und ist vor allem auf die Kinder und Jugendlichen gerichtet, die unter dem traditionellen frontalen Unterricht gelitten haben. Sie bricht mit einer auf die Lehrenden zentrierten und orientierten Bildung. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist ihre direkte Beziehung zu Umwelt und Gesellschaft, denn der Mensch bewegt sich in dieser Welt und nicht in einer abstrakten oder imaginären, die Gegenstand des traditionellen oder anwendungsorientierten Unterrichts ist. Das Leben der Kinder und Jugendlichen sind die Gesellschaft und die Umwelt, und die Schule ist Teil davon, sie kann nicht losgelöst und abstrakt sein wie die traditionelle mathematische Bildung. Diese didaktische Konzeption öffnet Wege für die Aufklärung und Erläuterung der Gründe, die hinter einfachen oder schwierigen Problemen stehen und Teil dieser lebendigen Welt sind. Auch der Weg zu Selbständigkeit und Mündigkeit der Lernenden als zukünftige Betroffene der sozialen und ökologischen Probleme kann eingeschlagen werden. Die Erfahrungen aus dieser Form des Mathematikunterrichts reichen nicht aus, um die Freiheit der Menschen zu erreichen und die Widersprüche in Gesellschaft und Umwelt zu erklären. Es fehlt der politische Aspekt des Mathematikunterrichts, der nicht nur für die Erklärung und Selbstbestimmung unverzichtbar ist, der nicht nur Minderheiten helfen soll, sondern in erster Linie einen Beitrag zur Lösung der Probleme der Mehrheit leisten soll (260) .

 

5.4 Zusammenfassung

Aus der Analyse der Antworten auf die drei Fragen des zweiten Teils der Befragung zu den aktuellen Methoden des Mathematikunterrichts sowie zu demokratischeren, aktiveren und partizipativeren Methoden ergaben sich 15 wichtige Variablen (K30 - K44), die für beide Länder zutreffen (Abb. 30). Im Sinne einer Schlußfolgerung werden im folgenden die Thesen anhand des Gewichts der Aussagen und der Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der gleichen Reihenfolge wie in der vorangegangenen Analyse zusammengefaßt. In Klammern erscheint der Rang nach Aussagen in Nicaragua an erster Stelle, für Venezuela gilt die zweite Ziffer.

 

(Abbildungsverzeichnis)

 

5.4.1 (k30) Das herrschende lineare Schema der Präsentation und Arbeit im Mathematikunterricht muß durchbrochen werden, da es die Innovation didaktischer Strategien in Übereinstimmung mit der Gruppe, den Inhalten, den Interessen der Lernenden usw. verhindert. Diese Meinung wurde in Nicaragua mit mehr Aussagen von 92% der Beteiligten vertreten als in Venezuela von 62% (6. und 11.).

5.4.2 (K31) Der memoristische, mechanische und algorithmische Ansatz von Definitionen, Formeln und Verfahren, die nicht erarbeitet und verstanden werden, sowie das Abarbeiten endloser Listen von monotonen Übungen verursachen negative Auswirkungen auf den Mathematikunterricht. Diese Meinung wurde von 83% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Nicaragua und von 92% in Venezuela vertreten (7. und 3.).

5.4.3 (K32) Die Evaluation der Lernergebnisse im Mathematik in Übereinstimmung mit dem linearen Unterrichtsschema, die in unserem Bildungssystem stark verwurzelt ist, wurde zu einem schwerwiegenden Problem, das Lernende wie Lehrende in vielfältiger Weise beeinträchtigt. Das Gewicht der Aussagen, die diese Kategorie stützen, ist in beiden Ländern ähnlich, die Beteiligung lag bei 83% in Nicaragua und 69% in Venezuela (4. und 6.).

5.4.4 (K33) 33% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Nicaragua vertreten die Auffassung, daß die Vermittlung von Flächen- und Raumgeometrie in den letzten Jahren vernachlässigt wurde, in Venezuela ist das Gewicht der Aussagen und der Anteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit 62% höher (14. und 10.).

5.4.5 (K34) In beiden Ländern ist der Einfluß der "modernen Mathematik" im schulischen Mathematikunterricht noch spürbar, das meinten in Nicaragua 33% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, in Venezuela 31%, womit diese Kategorie den letzten Platz im zweiten Teil der Befragung einnimmt (15. und 15.).

5.4.6 (K35) Die Expertinnen und Experten verweisen auf die häufig gestellte Frage der Lernenden nach dem Nutzen bestimmter Inhalte, die von Lehrenden und Lehrbüchern nicht beantwortet wird. Diese Meinung fand in Nicaragua mit 58 % Beteiligung stärkeren Widerhall als in Venezuela mit 46%. (11. und 13.).

5.4.7 (K36) In den drei Bereichen des Bildungssystems wird nach wie vor Frontalunterricht gegeben, die Meinung der Lernenden an Schule und Hochschule, die während des Unterrichts zu schweigen haben, ist nicht erwünscht. Diese Meinung wurde in beiden Ländern ähnlich stark vertreten von 83 bzw. 85% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Nicaragua und Venezuela (8. und 9.).

5.4.8 (K37) 100% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus beiden Ländern vertreten die Ansicht, daß der Mathematikunterricht auf allen drei Ebenen des Bildungssystems antidemokratisch ist und ein Demokratisierungsprozeß in zwei Richtungen erforderlich ist. Einerseits muß ein größerer Teil der Bevölkerung Zugang zur Mathematik erhalten und davon profitieren können, andererseits muß der Lehr- und Lernprozeß selbst demokratisiert werden, z.B. auf der Grundlage von Projektarbeit im Unterricht. Im Hinblick auf die Anzahl der Aussagen wurde diese Meinung in Nicaragua stärker vertreten als in Venezuela (1. und 8.).

5.4.9 (K38) Für 100% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus beiden Ländern ist es möglich und erforderlich, im Mathematikunterricht Partizipation, Aktion, Kooperation und Dialog als Grundelemente der Demokratisierung des Unterrichts durchzusetzen. Das Gewicht der Aussagen aus Nicaragua war zu diesem Punkt etwas größer als in Venezuela (2. und 5.).

5.4.10 (K39) 92% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Nicaragua und 100% in Venezuela sind bei ähnlichem Gewicht der Aussagen der Meinung, daß eine methodische Konzeption auf der Grundlage von Forschungen dringend erforderlich ist, die auch den Austausch von Informationen und Innovationen aus demokratischeren Strategien für den Mathematikunterricht einschließt (10. und 7.).

5.4.11 (K40) In beiden Ländern wurde - bei 33% Beteiligung in Nicaragua und 46% in Venezuela - die Ansicht geäußert, daß in den ersten zwei Phasen der Grundschule Taschenrechner nur unter didaktischen Gesichtspunkten und nach vorheriger Untersuchung zu diesem Thema eingesetzt werden sollten (13. und 14.).

5.4.12 (K41) 41% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Nicaragua und 38% in Venezuela meinen, der Mathematikunterricht sollte sowohl in der Grund- als auch in der Sekundarstufe in Verbindung mit anderen Fächern, und zwar nicht nur den naturwissenschaftlichen, erteilt werden. Diese Meinung wurde durch eine ähnliche Zahl von Aussagen in beiden Ländern gestützt (12. und 12.).

5.4.13 (K42) In Nicaragua analysierten 75% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer den projektorientierten Mathematikunterricht, in Venezuela waren es 92%, wobei die Schlußfolgerung gezogen wurde, daß er trotz der technischen Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung ein adäquater Weg zur Behandlung der Probleme ist, die Lehrende wie Lernende interessieren oder betreffen (3. und 1.).

5.4.14 (K43) Anwendungsorientierter Mathematikunterricht ist die in beiden Ländern bekannteste didaktische Tendenz, die häufig mit Frontalunterricht kombiniert und oft auf die Anwendung mathematischer Kenntnisse bei der Lösung rein mathematischer Probleme reduziert wird. Diese Kategorie wurde von 92% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Nicaragua und 100% in Venezuela analysiert (5. und 2.).

5.4.15 (K44) In beiden Ländern war eine Hinwendung zu handlungsorientiertem Mathematikunterricht als der didaktischen Tendenz zu verzeichnen, die die Behandlung von Alltagssituationen (Alltag/Umwelt) durch die aktive Partizipation aller Beteiligten ermöglicht. Diese These wurde in Nicaragua von 75%, in Venezuela von 100% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterstützt (9. und 4.).

Die Oberkategorie 4 oder D4 (K30-K35) zur ersten Frage, die sich aus den Kategorien zu aktuellen Methoden des Mathematikunterrichts in beiden Ländern zusammensetzt, erlangte ein Gewicht von 34% der Aussagen in Nicaragua und 31% in Venezuela (Abb. 31 und 32). Die Oberkategorie 5 oder D5 (K32-K38) beinhaltet die Thesen zur Demokratisierung des Mathematikunterrichts; darauf bezogen sich in Venezuela 20% und in Nicaragua 30% der Aussagen. Das Gewicht von Oberkategorie 6 oder D6 (K39-K40), wo die Aussagen zur Notwendigkeit eines mehr auf die Lernenden als auf Lehrende konzentrierten Unterrichts zusammengefaßt sind, liegt bei 36% in Nicaragua und 49% in Venezuela. Die prozentualen Ergebnisse lassen im Zusammenhang mit der qualitativen Analyse den Schluß zu, daß es Übereinstimmungen zwischen beiden Ländern im Hinblick auf die aktuellen Methoden des Mathematikunterrichts, die Notwendigkeit der Demokratisierung und der Innovation didaktischer Tendenzen gibt. In Abb. 32 wird deutlich, daß zwar nicht in jeder Oberkategorie ein besonderes Ergebnis in bezug auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu verzeichnen war, in der vierten und sechsten Oberkategorie aber jeweils einer von ihnen herausragt.

 

 

(Abbildungsverzeichnis)

 

 

 

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Endnote:

(226) Diese Aussagen stimmen mit der Meinung von Tedesco (1994) überein. Er schreibt, daß nur große Geldinvestitionen die Erziehungsprobleme der Länder nicht überwinden können. Diese Aussage basiert auf einer Studie über die großen Investitionen, die die Vereinigten Staaten für die Erziehung 1960 bis 1988 einsetzten. Die Folge war nicht automatisch eine Steigerung der Qualität der Erziehung dieses Landes (vgl. Tedesco 1994, 4f.).

(227) Vgl. Wagenschein (1970a).

(228) Vgl. Carr / Kemmis (1988) und Altrichter / Posch (1990).

(229) Siehe z. B. Manterola (1989) und Franke (1997).

(230) Vgl. Krauthausen (1993).

(231) Vgl. Krauthausen (1993, 190).

(232) Siehe Krauthausen (1993).

(233) Für ausgewählte Literatur über außermathematische Beispiele siehe Kaiser-Messmer / Blum / Schober (1992, 161 - 164) und über Umwelterziehung im Mathematikunterricht siehe Marmé (1995, 32 - 46) und König / Marmé (1997).

(234) Siehe Physik- und Mathematikschulbücher der 9. Klasse in Venezuela und Nicaragua.

(235) Siehe Abschnitt 2.3.3.2 der vorliegenden Arbeit.

(236) Siehe Abschnitt 2.3.1.3 der vorliegenden Arbeit.

(237) Vgl. Fe y Alegría 1987 und 1988.

(238) Über das Thema Umwelterziehung im Mathematikunterricht werden insbesondere die Hefte 6 (1994) und 1 (1995) des ZDM empfohlen. Vgl. Volk (1995, 500 - 503).

(239) Vgl. Baumann / Dürr / Henn / Weyrauch (1994).

(240) Siehe Anwendungsorientierung im Mathematikunterricht in Abschnitt 2.3.1.3.

(241) Siehe zur weiteren Information über die verschiedenen Forschungsarbeiten und Autoren, die sich mit dem Thema beschäftigen, die "Dokumentation Ausgewählte Literatur zum Anwendungsorientierten Mathematikunterricht, Teil 1 (1987-1989) und Teil 2 (1982-1989).

(242) Vgl. Volk (1993a, 133ff.).

(243) Siehe Abschnitt 2.3 der vorliegenden Arbeit.

(244) Die Lernenden scheinen große Schwierigkeiten damit zu haben, die mathematischen Kenntnisse in äußeren und inneren mathematischen Situationen anzuwenden. Die Einsichten über Transferkonzepte von Kenntnissen konnten in der vorliegenden Untersuchung nicht vertieft werden. Dennoch läßt sich bei Betrachtung der Praxis in beiden Ländern erkennen, daß die Lernenden diese Fähigkeit nicht während ihrer schulischen Ausbildung entwickeln. Weitere empirische Untersuchungen zu Variablen wie Schulstufe, mathematische Inhalte, Lern- und Lehrrealität, Ort der Forschung usw. wären zu diesem Thema notwendig.

(245) Siehe Zech (1996, 215ff.)

(246) Siehe die Beschreibung des Curriculumprojektes im Mathematikunterricht bei Kaiser-Messmer / Blum / Schober (1992, 117 - 146).

(247) Dieses Feld zeigt eine Tendenz für den Mathematikunterricht, die z. T. mit der Anwendungsorientierung im Mathematikunterricht in Verbindung steht. Nach Polya (1978), Schoenfeld (1985) und Rodríguez-Gómez (1988) ist sie dagegen zentriert in der inneren Mathematik und in geringerem Grad in Beziehung mit anderen Fachgebieten.

(248) Siehe "Der Positivismus in der lateinamerikanischen Erziehung" im Abschnitt 2.1.1.2 der vorliegenden Arbeit.

(249) Das von den Expertinnen und Experten reflektierte Konzept der Aktion im Mathematikunterricht könnte eine Handlungsorientierung darstellen. Man findet in der deutschsprachigen Literatur viele Beiträge mit ähnlichen Titeln, wie "Praktisches Lernen" (mathematik lehren 72, Oktober 1995), "Mathematik im Alltag", (mathematik lehren 26, Feb. 1988 und auch 25, Dez. 1987); "Konkreter Mathematikunterricht" bei Baireuher (1990, 10). Die Beispiele in den genannten Arbeiten ähneln sich, so daß man zu der Annahme verleitet wird, es handele sich um eine einheitliche Terminologie. Trotzdem existieren konzeptionelle Unterschiede. In dieser Arbeit wird die griechische Bedeutung von "Praxis" sowie das lateinische "actio" zugrundegelegt, was im Deutschen oft als "Handeln" übersetzt worden ist (vgl. Diccionario hispánico universal 1979 und Huschke-Rhein 1993). Volk (1993a, 133- 146) formuliert eine sehr interessante Kritik an der Anwendungsorientierung und gibt im Rahmen seiner Überlegungen zum Konzept der Handlungsorientierung ein konkretes Beispiel: "Die Sondertarife der Bahn für Jugendliche". Siehe außerdem Meyer-Lerch (1988); Volk (1979b); Röschel (1996) u.a. Für eine tiefergehende Behandlung des Konzepts von handlungsorientiertem Unterricht werden die Arbeiten von Becker (1995), Gudjons (1994; 1997) und Nuhn (1997) empfohlen.

(250) Jank / Mayer (1994, 337 - 384) erläutern in "Didaktische Modelle" im einzelnen das Konzept der Handlungsorientierung. Obwohl sich die vorliegende Studie mit diesem pädagogischen Konzept beschäftigt und sich oft auf dieses bezieht, wird hier nicht intendiert, diesbezüglich eine internationale konzeptionelle Auseinandersetzung zu entwickeln.

(251) Vgl. Freire (1973, 1985).

(252) Siehe mathematik lehren 70 (1995), über das Thema: "Vom Leben und Sterben".

(253) Eine Gruppe von Dozentinnen und Dozenten der Mathematikabteilung der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät an der UNAN-León (Nicaragua, 1993) hat einen Vorschlag für ein Mathematikunterrichtslabor entworfen. Die Dozenten Guido und Flores haben auf dem Gebiet der Differentialrechnung und Geometrie jeweils konkrete Vorschläge mit ihren Studentinnen und Studenten erarbeitet. In Venezuela haben Araujo (1992) und Moreno (1991) auch über die Bedeutung und die Möglichkeit eines Mathematikunterrichtslabors für die Mathematiklehrerausbildung nachgedacht.

(254) "Mathematik, Naturwissenschaft und Technik sind jene Disziplinen, die die theoretischen Voraussetzungen und das Instrumentarium für den im "Projekt der Moderne" unternommenen Versuch der rationalen Weltbeherrschung geschaffen haben. Die gesellschaftliche Hochachtung dieser Disziplinen trotz inzwischen offenkundiger widersprüchlicher und selbstzerstörerischer Folgen ihrer Produktivität ist deshalb ungebrochen" (Duismann / Keitel / Rieß / Sellin 1986, 258).

(255) Siehe den Abschnitt 2.1 über die "Educación Popular" der vorliegenden Arbeit.

(256) Vgl. Arvidson (1972, 68ff.).

(257) Vgl. Beuthan (1996).

(258) Vgl. Meyer (1992); Schupp (1997); Mora (1992).

(259) Nach der von Heymann veröffentlichten Arbeit hat sich in Deutschland eine Kontroverse über die Menge von Mathematik, die ein Bürger in der heutigen Gesellschaft braucht, entwickelt. Diesbezüglich werden die Arbeiten von Herget / Kaiser (1996) und die erschienenen Beiträge des Zentralblattes für Didaktik der Mathematik (Jg. 29, Heft 2, 1997, 38 -61) empfohlen.

(260) Siehe Abschnitt 2.3 der vorliegenden Arbeit.

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