2.3.3 Beispiele für einen an generativen Themen orientierten Unterricht (Educación Popular) und seine Verbindung mit projektorientiertem Unterricht

2.3.3.1 Projektorientierter und an generativen Themen orientierter Unterricht

Educación Popular ist auf die Schülerinnen und Schüler, auf die Realität, kreatives Schaffen und soziale und politische Veränderungen gerichtet. Hier sind Ähnlichkeiten mit projektorientiertem Unterricht zu sozialwissenschaftlichen Themen (Groß 1996), im Bereich der Naturwissenschaften (Münzinger 1995b) und speziell der Mathematik (Münzinger 1979 und Ludwig 1996) feststellbar. Sowohl die Methode in der "Educación Popular" als auch die projektorientierte Methode stellen eine enge Verbindung zur Praxis her, wobei die Beteiligten und der soziale und demokratische Gehalt der Bildung immer einbezogen werden (44) . Projektorientierter Unterricht ist in Lateinamerika nicht von der "Educación Popular" verdrängt worden, sondern vielmehr als Arbeitsmethode in die Konkretisierung des Unterrichts eingegangen (Fe y Alegría: Pädagogische Kongresse I und II, 1987 und 1988). 

In Deutschland ist die theoretische und praktische Entwicklung bereits weit vorangekommen, selbst von den Behörden (Frey 1990, Bildungskommission 1995 und Lehrplan Schleswig-Holstein 1997) wird diese Methode empfohlen als geeignete Form für die Behandlung bestimmter Themen in spezifischen Fächern in der Grund- und Sekundarstufe, aber auch fächerübergreifend für allgemeinere Themen, zu denen konkrete Erfahrungen aus der Arbeit von Lehrenden und Lernenden an verschiedenen Schulen bestehen (Huth / Lindenmeier / Menze 1987). Die Projektmethode ist damit Bestandteil der Bildungstätigkeit in Deutschland. Frey (1993, 10) bemerkt dazu:

,,Zur Zeit sind die Projektwochen beliebt und zum Teil gut eingeführt. Projektwochen und Projekttage sind ein Anlaß, um die Projektmethode einzusetzen. Oft einfacher und mit geringerem Aufwand zu machen, sind Lernprojekte in vier bis zwölf Stunden innerhalb des normalen Stundenplans. Es gibt eine Reihe von Standardtthemen in den Richtlinien und Lehrplänen, die projektmethodisch bearbeitet werden können".

Konzept und Merkmale der Projektmethode sollen hier aus zwei Gründen nicht theoretisch erarbeitet werden: Erstens müßte vieles aus dem Abschnitt über die Educación Popular wiederholt werden, und zweitens ergäbe sich eine - wenn auch interessante - Auseinandersetzung (Huth 1988, Hänsel 1995 und Groß 1996), die den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde (45) . Von besonderer Bedeutung ist in diesem Kontext die Tatsache, daß es eine Reihe von Erfahrungen speziell aus dem Mathematikunterricht gibt (46) , die ihrerseits die Arbeiten zur Projektmethode und zur Educación Popular in Nicaragua und Venezuela verstärken können.

Hier sollen drei lateinamerikanische Beispiele der "Educación Popular" vorgestellt werden, die seit langem innerhalb der formalen Bildungssysteme unter anderem im Mathematikunterricht umgesetzt werden und in denen das Projektlernen mehr als Methode denn als didaktisches Konzept eine Rolle spielt. Dabei handelt es sich nicht um einen Algorithmus für die Lösung eines bestimmten Problems, denn er enthält eine relevante didaktische Konnotation, die nicht auf Schritte (Hänsel 1995) oder mechanische Stufen zu reduzieren ist, als ginge es nur um Hinweise für die simple Konstruktion von materiellen Dingen. Zu berücksichtigen ist auch, daß die Projektmethode von der "Educación Popular" mit einer gewissen Ablehnung betrachtet wurde, was sich in der Position von Huth (1988, 120) niederschlägt:

"Pragmatistische Erziehungstheorie sowie Projekt-Methode haben zwar Drill und Autorität abgelöst - das ist unzweifelhaft ein Gewinn - angesichts des Standes der Produktivkraftentwicklung war das überfällig. Die Projektmethode ist systemimmanent konzipiert, der Klassencharakter der bürgerlichen Schule wird nicht in Frage gestellt"

Im Sinne von Groß (1996) wurde sie als Methode genutzt, die eine Annäherung und Verbindung des Menschen mit der Realität ermöglicht, um sie zu erkennen, zu interpretieren und zu verändern (Freire 1996), einer Realität, die ihre eigene Praxis ist, mit der er lebt, die er aber nicht als die einzig gültige akzeptieren muß, sondern mit der man sich auseinandersetzen muß, um sie im Interesse aller zu verändern. Die Methode, die diese drei Erfahrungen kennzeichnet, beinhaltet also neben der pädagogischen auch eine unverzichtbare politische Dimension (Groß 1996), auf die Freire (1980, 145) wiederholt verweist:

"In einem solchen Projekt, in dem die militanten Lehrer unbedingt im gleichen Maße wie die Bevölkerung an der produktiven Arbeit teilnehmen müssen, sollten die Lehrer versuchen, Unterrichtsgruppen von jeweils 15 bis 20 Teilnehmern zusammenzustellen. Diese Gruppen würden sich im Gespräch über ihre tägliche Erfahrung mit ihrer produktiven Praxis auseinandersetzen und dadurch unzählige mit dieser Praxis zusammenhängende Themen analysieren können" (Freire 1980, 145).

Die Überwindung sozialer, wirtschaftlicher, politischer und ökologischer Probleme der Bevölkerung in Nicaragua, Venezuela und Deutschland liegt nicht nur in der Verantwortung der Parteien und Staatsbediensteten, sondern sollte von allen, die am Lernen und Lehren beteiligt sind, demokratisch diskutiert und analysiert werden mit dem Ziel, mit den potentiell Betroffenen kurz- und mittelfristig Lösungen zu fordern, vorzuschlagen und/oder umzusetzen. Die Kinder und Jugendlichen zum Beispiel haben das Recht auf eine weniger unsichere Zukunft. Ihnen muß jedoch die Möglichkeit gegeben werden, ihre Pflichten zu übernehmen und zu lernen, sich dafür einzusetzen. Gohl und Oberliesen (1995, 72) formulieren das so: "Auf allen Ebenen der Gesellschaft - Politik, Wirtschaft und öffentlichem Leben - bilden sich Strukturen heraus, die allen Mitgliedern der Gesellschaft größtmögliche Partizipation an den Entscheidungsprozessen über die Entwicklung auf allen gesellschaftlichen Gebieten ermöglichen, insbesondere in Fragen der Technologieentwicklung (Produktion / Konsumtion) und der Überwindung der ökologischen Krise".

Die folgenden drei Beispiele zeigen die Möglichkeit der Verbindung von "Educación Popular" und Projektmethode und widerspiegeln einige der Charakteristika, die im theoretischen Teil der vorliegenden Arbeit aufgeführt wurden und auch in der konsultierten Literatur als didaktische und pädagogische Hinweise zu finden sind (47) .

 

2.3.3.2 Educación Popular in Kombination mit der Projektmethode in drei Beispielen aus Lateinamerika

 

Die drei Beispiele stammen nicht nur aus unterschiedlichen Ländern und sozialen Zusammenhängen, sondern wurden auch auf verschiedenen Ebenen des Bildungssystems umgesetzt. Das erste Beispiel kommt aus einem universitären Kontext, das zweite aus dem Bereich von Klasse 1 bis 9 und das dritte wurde in einer Bildungsgemeinschaft der Grundschule durchgeführt. In allen drei Fällen wurde die Forschungsmethode der Partizipation -Aktionsforschung (48) in Verbindung mit der "Educación Popular" und dem Projektlernen als Möglichkeit der Orientierung des Lernprozesses auf die Verknüpfung von Theorie und Praxis, auf die Einbeziehung verschiedener Institutionen, Arbeitsgruppen, Fächer und Lehrender sowie einen auf dem Dialog der Beteiligten basierenden Kooperations- und Kommunikationsprozeß verwendet. Die drei Beispiele wurden über einen langen Zeitraum hinweg und unter Beteiligung zahlreicher Pädagogen entwickelt. Sie bieten Stoff für eine Reihe von Schlußfolgerungen zu Fragen der Methodik, Erfolge und Probleme, hier soll jedoch nur ein kurzer Kommentar zu ihrer Bedeutung für den Mathematikunterricht abgegeben werden.

Beispiel Costa Rica:

Valverde (1986, 135) beschreibt, daß an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Costa Rica 1976 "curriculare Veränderungen vor allem auf der Grundlage methodischer Aspekte vorgenommen wurden. Der Lehrplan für 1976 stützt sich auf den vorherigen von 1973, unterscheidet sich von diesem jedoch durch eine klarere pädagogische Bildungsdefinition, die unter dem Stichwort Werkstatt (taller) (49) gefaßt wird und u.a. die Möglichkeit bietet, Kräfte, Ideen und Aktionen zu einem bestimmten Basisthema entsprechend den Erfordernissen der Gruppe und auf der Grundlage eines Konsenses der Mehrheit der Beteiligten zu konzentrieren. Dabei handelt es sich nicht um den üblichen Laborunterricht in Physik, Chemie oder Biologie oder sporadische außerschulische Aktivitäten, die parallel zu Problemen und Themen des Unterrichts abgehandelt werden, sondern um einen Versuch, anhand eines generativen Themas zu lehren und zu lernen, an dem sich ein multidisziplinäres pädagogisches Team (Abb. 8) beteiligen kann.

Diese Lehrplananpassung wurde nicht willkürlich vorgenommen, vielmehr "geht sie auf den konkreten Einfluß der Bewegung für die "Educación Popular" an dieser Fakultät zurück" (Valverde 1986, 135). Die Lernenden übernehmen hier im Unterschied zur bisherigen Praxis im Bildungssystem eine aktive Rolle. Viele Lehrkräfte ersetzten ihre Vorlesungen und die Überwachung von Praktika durch gemeinsame Forschung mit den Lernenden zu Themen, die für die Gemeinschaft von Bedeutung waren, sowie die gemeinsame Entwicklung programmatischer Inhalte, die durch die Projektmethode mit der Realität verknüpft wurden. Valverde (1986, 138) beschreibt in Form einer Graphik die am Werkstatt-Prozeß beteiligten Elemente, deren Ausgangspunkt das generative Thema ist. Dieses wiederum ergibt sich aus den biosozialen und psychosozialen Erfordernissen der Individuen bzw. Gruppen von Individuen, die im Lernprozeß zusammengeführt werden.

 

 

(Abbildungsverzeichnis)

 

Zur Arbeitsmethode sagt Valverde (1986, 138): "Ausgehend vom generativen Problem beschäftigt sich jedes der theoretisch-praktischen Projekte mit einem spezifischen Feld der Realität, das aus Sicht der Gruppe, der Kommune, der Region oder des Landes Aufmerksamkeit verdient. So könnte auf einer Ebene der Werkstatt an theoretisch-praktischen Projekten im Bereich Wohnung, Gesundheit und Arbeit agiert werden. Innerhalb der Werkstatt sind diese Gebiete nicht getrennt, sondern bilden gemeinsam die Realität." Innerhalb der einzelnen Projekte gibt es Unterprojekte, die an verschiedenen Institutionen und in den unterschiedlichen Jahrgangsstufen von Grund- und Sekundarschule bearbeitet werden können. Im Falle der drei generativen Themen Wohnung, Gesundheit und Arbeit und der Vielzahl hieraus abzuleitender Unterthemen ist Mathematik erforderlich, vor allem aber bieten sie für den Mathematikunterricht Probleme und Ideen, mit deren Hilfe spezifische Inhalte in Mathematik oder in der Kombination mit anderen Fächern behandelt werden können. Hier bieten sich Themen für den Unterricht von den ersten Jahren der Grundstufe bis zur Ebene der weiterführenden Bildung.

 

Beispiel Venezuela:

Von 1984 bis 1988 wurde die folgende Erfahrung an der Schule Colegio Presidente Kennedy (Fe y Alegría) (50) im Stadtteil Bolívar de Petare von Caracas entwickelt. Im Hinblick auf die Projektorientierung gab es hier ähnliche Charakteristika wie im Beispiel aus Costa Rica (Fe y Alegría: Pädagogische Kongresse I und II, 1987, 1988). Dabei wurden verschiedene Varianten des Projektlernens entsprechend der Dauer, dem Problem und/oder den Lerninhalten und -zielen miteinander kombiniert. Einige wurden in bestimmten Fächern behandelt, z.B. in Mathematik (Lineare Optimierung und Basisernährung der Lernenden), in Physik (Projekt Atlas) oder Biologie (Produktion und Verkauf von Nahrungsmitteln); Sprachen (Durchführung einer Unterrichtsperiode), Mathematik und Sprache (Lektüre der Zeitung in der 6. Klasse). Andere waren weiter gefaßt und so befaßten sich zum Beispiel alle Fächer in der 9. Klasse mit Projekten wie dem Bau einer Turnhalle für die Schule oder der Schaffung einer Produktions- und Konsumkooperative.

Vor allem aus politischen Gründen wurden diese Erfahrungen aus vier Schuljahren von den Lehrplan-Verantwortlichen nicht aufgegriffen, für alle Beteiligten waren sie jedoch von unschätzbarer Bedeutung. Undemokratische Bildungsformen wurden attackiert und in vielen Fällen überwunden, so z.B. Stundenpläne, Teilfächer, Distanz zwischen Lehrenden und Lernenden, von der Realität abgewandte Inhalte, auf den Lehrenden konzentrierter Unterricht, in den Lehrplänen vorgegebene Ziele, geringe Partizipation und fehlende Motivation angesichts einer Bildung, die den sozialen Interessen der Beteiligten nicht Rechnung trägt. Schwierigkeiten ergaben sich aus den vom Bildungsministerium in Lehrplänen vorgegebenen Inhalten. Dies war eine Hauptsorge der Lehrenden, obwohl die Intention gerade darin bestand, sich von solchen Programmen zu lösen und Unterrichtsformen zu finden, die auf den eigenen Untersuchungen und einem gemeinsam diskutierten didaktischen Modell sowie auf den Erfahrungen aus vorangegangenen Schuljahren basieren. Das genannte Modell kann folgendermaßen zusammengefaßt werden (Fe y Alegría: Pädagogischer Kongreß I, 1987, 8):

,Nach Auswahl der Problemfelder und Entwurf der entsprechenden Forschungsprojekte unter Berücksichtigung dieser Felder, des Personals und der vorhandenen Mittel wird ein Lehrer ausgewählt, der diesen und nur diesen Kurs leitet, der die Aufgabe übernimmt, während des gesamten Projekts mit den Schülern zu arbeiten (...) Der Lehrer ist, so wie wir es in diesem Schuljahr gehandhabt haben, Teil eines Teams von beratenden Lehrkräften, die gemeinsam mit ihm die Forschungsprojekte planen und ihn bei der Erarbeitung von Lehrmaterial und der Bereitstellung von spezifischen Informationen für die Schüler zu den Fächern, in denen sie Spezialisten sind, unterstützen, Literatur empfehlen sowie die Leitung oder Ko-Leitung von Aktivitäten in den Bereichen übernehmen, die der für das Projekt verantwortliche Lehrer nicht beherrscht."

Trotz aller Widerstände und Schwierigkeiten, die auf die Vernachlässigung der Bildung durch den venezolanischen Staat zurückzuführen sind, wurden Erfolge erzielt. In der Mehrzahl der Projekte gelang es, nicht nur die Dynamik des Lern- und Lehrprozesses zu verändern, sondern auch das Leben an der Schule und in der sie umgebenden Gemeinschaft nachhaltig zu beeinflussen. Eine Sporthalle konnte errichtet werden, für die Gemeinschaft wurden nützliche Produkte hergestellt, eine Bibliothek eingerichtet, Spielzeuge produziert, die Eltern in die Aktivitäten einbezogen, Schulmilch verteilt, kulturelle Aktivitäten einbezogen und eine Bäckerei für die Schule und die Gemeinschaft errichtet. Es wurden also konkrete Dinge erreicht, bei denen es zu Beginn des Projekts Defizite gab, vor allem aber wurde die Atmosphäre an dieser Schule, die sich in einem konfliktreichen und armen Viertel der Stadt Caracas befindet, menschlicher und aufklärerisch.

Bei allen Beteiligten waren Bewegung, Leben und Verantwortungsbewußtsein zu spüren. Das pädagogische Team wuchs gemeinsam mit den Lernenden und der Gemeinschaft, ohne die politische Funktion der Bildung zu übergehen, denn die mit den Lernenden u.a. mit Hilfe der Mathematik diskutierten Fragen trugen in sich auch politischen Charakter. Eine der Koordinatorinnen, Ana María Sariego, verwies darauf (Pädagogischer Kongreß I, 1987), daß "Bildung in der und für die Arbeit, produktive Bildung anzustreben ist. Das soll keine Modeerscheinung sein. Es ist einfach die logische Konsequenz eines Reflexionsprozesses, der, ausgehend von der Educación Popular auf das Streben nach einem besseren Leben für das Volk gerichtet ist".

Die Mehrzahl der in diesem Kontext entwickelten Projekte stützte sich auf solide Grundlagen im Zusammenhang mit einer arbeitsorientierten Bildung, für die eine Kombination aus Fertigkeiten und technischen Kenntnissen erforderlich ist (Duismann / Oberliesen / Sellin 1995) und die allen Beteiligten, vor allem aber den Lernenden, Raum gibt für Aktionen und produktives Handeln. Mathematikunterricht war dabei nicht als Werkzeug, sondern didaktisch in die Arbeit der Lernenden und Lehrenden eingefügt, immer präsent (Skovsmose 1994, Strasser 1996). Im Vortrag "Produktive schulische Arbeit und Organisation der Schüler" (Pädagogischer Kongreß 1988, 12) werden die Grundprinzipien für die Strukturierung der Projekte benannt:

"(1) Der Mensch versteht die Dinge besser, wenn er kreativ tätig ist. (2) Die schulische Arbeit muß sozial produktiv sein, die Kreativität anregen und zur persönlichen Entwicklung der Schüler beitragen. (3) Handarbeit und Kopfarbeit müssen in der Schule eng miteinander verbunden werden. (4) Die produktive Arbeit muß auf die Sicherung der organisatorischen und ökonomischen Selbstverwaltung der Arbeitsgruppen gerichtet sein."

 

Beispiel Dominikanische Republik:

Der dritte systematische Versuch dieser Art wurde zwischen 1988 und 1990 in Barahona (Dominikanische Republik) durchgeführt. Das zentrale Ziel bestand darin, "die Verbindung von Educación Popular und formaler Bildung in marginalisierten Bereichen herzustellen und so der Schule und der Gemeinschaft eine aktive Rolle bei sozialen Veränderungen und der Organisation der Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen" (Bartolomé und Acosta 1992, 151).

Die generative Einheit erwuchs aus einer Untersuchung der Unterrichtspraxis in Zusammenarbeit mit anderen Lehrenden und Lernenden und, sofern möglich, mit anderen Mitgliedern der Gemeinschaft. Dies ermöglichte es der Forschungsgruppe von Centro Póveda (51) , (Bartolomé und Acosta 1992, 161) "anhand der problematischen Lebenswirklichkeit der Gemeinschaft zu arbeiten, nicht nur zu Beginn des Lern-Lehrprozesses, um ihn zu "motivieren", sondern als durchgehender roter Faden des gesamten Prozesses".

Umgesetzt wurde dieses Projekt auf zwei Ebenen, der Organisation und der Arbeit, die ständig miteinander in Verbindung standen. Auf der einen Seite standen die Lehrer, die nach der Erläuterung des Forschungsprojekts auf Grund ihres direkten Kontakts mit den Schülerinnen und Schülern in den verschiedenen mehr oder weniger komplexen und strukturierten Aktivitäten und Projekten die größte Verantwortung trugen. Die andere Seite bildeten die Diskussionen im Centro Póveda. Hier wurden die Lernenden über die gemeinsamen Aktionen informiert und die Diskussionen ausgewertet. Diese Form der Arbeit, die für die partizipative Forschung (52) charakteristisch ist, gab den Lehrenden einerseits die Möglichkeit, die Erfahrungen (Dewey 1967) und Meinungen der Lernenden aufzugreifen und sie andererseits in die Erarbeitung von Lerneinheiten auf der Grundlage eines systematischen, in der Forschungsgruppe diskutierten Plans einzubeziehen. Ohne die Planung konkreter Projekte ist die Entwicklung solcher Lern- und Lehreinheiten nicht möglich. Die generative Einheit wurde hier ebenfalls auf der Grundlage der Diskussionen, die jeder Lehrende mit seinen Lernenden geführt hatte, von einem Pädagogenteam erarbeitet. Bartolomé und Acosta (1992, 164) erläutern das Modell und die Organisation des Projekts wie folgt:

"Ausgehend von dem angebotenen Material, das später in kleinen Gruppen nach Klassenstufen diskutiert wird, erarbeiten die Lehrer Lerneinheiten anhand dieses Blickwinkels, wodurch die Organisation des Lernens und des Unterrichts umstrukturiert und ihre Beziehungen zur Gemeinschaft durch die ‘Forschungsprojekte’, die von ihren Schülern umgesetzt werden, signifikant verändert werden."

Für die Forscher des Centro Póveda in Barahona war die anschließende Diskussion (1990) von großer Bedeutung. Behandelt wurden hier folgende Punkte: Organisation der Lernatmosphäre, kritische Anwendung verschiedener Techniken des Lern- und Lehrprozesses, und vor allem die Notwendigkeit, unter Einbeziehung der Meinung der Lernenden und Nutzung der Ressourcen, die Umwelt, Gemeinschaft und alle Beteiligten bieten, aus kritischer Sicht Lerneinheiten zu planen. Dabei sollten alle Fächer in den Lerneinheiten zu einem Problem oder Kernthema zusammengeführt werden, zum Beispiel zum Thema Landwirtschaft, das für die beteiligten Schulen naheliegend war. Hier verfügt man über eine natürliche Informations- und Problemquelle, die im Mathematikunterricht behandelt werden kann wie in dem Projekt "Landwirtschaft im Mathematikunterricht" (Münzinger 1977). Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, daß die Erfolge dieser drei Beispiele nicht bedeuten, daß Mathematikunterricht nur noch diesem Weg folgen soll. Sie sind vielmehr Bestandteil einer nicht auf Laborexperimente reduzierten Suche nach Möglichkeiten zur Verbesserung des Mathematikunterrichts. Niss (1979, 158) erinnert daran wie folgt:

"Zum Abschluß will ich noch eine Warnung aussprechen: Problemorientierte Projektarbeit ist kein Allheilmittel, das alle Probleme der mathematischen Erziehung mit einem Schlag löst. Viele Experimente müssen noch riskiert werden, viele Erfahrungen gesammelt, viele Fehler gemacht und korrigiert werden, ehe wir zu dauerhaften Ausbildungsprogrammen mit den gewünschten Eigenschaften finden. Das alles aber ist notwendig".

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Endnote:

(44) Vgl. dazu auch die Literaturangaben in der Einleitung.

(45) Nach Groß (1996) könnte eine solche Auseinandersetzung auf drei Punkte gerichtet sein: Ursprung, Definition - Charakteristika und Umsetzung. Petersen (1997, 126) sagt zum Beispiel, "man begreift es entweder als umfassendes didaktisches Konzept oder als eingeschränktes methodisches Konzept".

(46) Vgl. z. B. Münzinger (Hrsg.) und Mitarbeiterin (1997); Münziger (1979); Ludwig (1996-97).

(47) Es gibt eine Reihe weiterer konkreter Erfahrungen mit kritischem Mathematikunterricht, die unmöglich alle in der vorliegenden Arbeit beschrieben werden können, so zum Beispiel folgende: a) In Venezuela waren die Berufsfachschulen (escuelas técnicas industriales) sehr erfolgreich, die sehr viel Projektunterricht anboten. Sie wurden jedoch 1970 abgeschafft, da ihre politische Ausrichtung dem Staat ein Dorn im Auge war. Parallel zum Abitur wurde hier ein Beruf erlernt, so daß die Lernenden entweder studieren oder aber eine qualifizierte Arbeit leisten konnten. Der Mathematikunterricht stand hier in enger Verbindung mit der Arbeit in den Werkstätten und es gab eine ständige Kombination von Theorie und Praxis. b) Eine interdisziplinäre Gruppe hat in Dänemark seit 1988 ein Bildungsprojekt unter dem Titel "Mathematics Education and Democracy in Highly Technological Societies" entwickelt. Hier werden die pädagogischen Prinzipien von Paulo Freire mit dem Mathematikunterricht verbunden (vgl. Skovsmose (1994, 31-57), Nissen (1993, 97-111), Vithal / Christiansen / Skovsmose (1995,199-223). c) Macedo Borba hat in Brasilien zum Konzept der Ethnomathematik geforscht und dabei direkten Kontakt zu den armen Bevölkerungsschichten in Sao Paulo hergestellt. d) In Spanien erarbeiteten Brihuega / Cuelmo / Sanz / Salvador auf der Grundlage generativer Probleme und Projekte einen Curriculumvorschlag für den Mathematikunterricht in Verbindung zu anderen Fächern. Freire und die Educación Popular werden auf den 97 Seiten des Curriculum-Modells nicht erwähnt, der Wert der Arbeit besteht darin, daß eine konkrete Erfahrung aus einer Schule in Moratalaz, einem Randbezirk von Madrid, systematisiert wurde. "Das Projekt geht von den Vorkenntnissen der Schülerschaft über ihre physische, soziologische und urbane Umwelt aus und verfolgt das Ziel, das Verständnis darüber, der Probleme und möglicher Lösungen, zu vertiefen. Um dies zu erreichen, werden auf der Grundlage einer aktiven und partizipativen Arbeitsmethode mathematische Konzepte, Strategien und Werkzeuge entwickelt und genutzt" (1992, 59). Die dafür vorgesehenen elementaren mathematischen Themen sind Geometrie, Statistik, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Problemlösung.

(48) Diese Methode wird im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit umfassend dargestellt.

(49) In den lateinamerikanischen Ländern wird das Wort Werkstatt (taller) u.a. verwendet, um Lernaktivitäten in kurzen Perioden zu kennzeichnen (Workshop). Ansonsten bedeutet es Werkstatt für Holz, Elektroarbeiten, Schlosserei usw. In dem Beispiel aus Costa Rica steht es im Zusammenhang mit der Konzeption des projektorientierten Unterrichts.

(50) Fe y Alegría (Vertrauen und Freude) ist eine Bildungsorganisation, die 1955 in Venezuela entstand und die Kinder und Jugendlichen in armen Vierteln der Großstädte, in ländlichen Gebieten und von indigenen Gruppen betreut. 1993 gab es in Venezuela 110 Zentren und 4 Radiosender. Diese Bewegung für Bildung hat sich inzwischen auf 12 lateinamerikanische Länder ausgeweitet (vgl. Pernalete 1993, 19). Siehe Riojas (1975, 152ff.).

(51) Das Centro Poveda (das die Untersuchung koordinierte) "arbeitete bereits seit mehreren Jahren mit dieser Gruppe von Lehrenden aus Barahona zusammen" (Bartolomé und Acosta 1992, 158).

(52) Siehe Abschnitt 3.1.2.

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