6 Emanzipatorischer Mathematikunterricht - Lösungsansätze für Nicaragua und Venezuela |
6.1 Mathematikunterricht als Stabilisator der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse |
Die erste Frage im letzten Teil der Befragung führte zu zwei Kategorien (s. Abb. 33). Die erste Kategorie bezieht sich auf den Beitrag des Mathematikunterrichts zu sozialen Veränderungen und ist noch einmal unterteilt, zum einen geht es um die Problemstellung der mathematischen Inhalte und zum anderen um den Lern- und Lehrprozeß. Die zweite Kategorie steht im Zusammenhang mit dem politischen Bewußtsein der Lehrer. Einige Expertinnen und Experten konzentrierten sich auf die zweite Kategorie, andere legten stärkeres Gewicht auf die erste. Die Antworten zu beiden vermitteln einen ersten Eindruck davon, daß der Mathematikunterricht und die darin Agierenden, hier die Lehrenden, im Moment nicht zu den notwendigen sozialen Veränderungen in beiden Ländern beitragen. Im folgenden sind die Argumente aus den Meinungsäußerungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu beiden Kategorien zusammengefaßt.
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6.1.1 Mangelnde Thematisierung einer gesellschaftskritischen Sichtweise im Mathematikunterricht |
These 45: |
Aus Sicht der Quantität der Aussagen zeigt sich in Abb. 33, daß hierzu Übereinstimmung in beiden Ländern herrscht, die Beteiligung in Nicaragua aber deutlich stärker ist. Die Differenz im Hinblick auf Häufigkeit der Aussagen und Zahl der Expertinnen und Experten könnte dahingehend interpretiert werden, daß die venezolanischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich reservierter zeigten und sich vor allem zum Verhalten der Lehrenden äußerten (vgl. K46). In den Äußerungen wird aber offensichtlich, daß der gegenwärtige Mathematikunterricht weit davon entfernt ist, bei den Lernenden Verständnis für die Probleme von Gesellschaft und Umwelt zu erzeugen. Walter Beyer faßt die Meinungen der Expertinnen und Experten wie folgt zusammen:
"La Matemática que enseñamos y la forma como la enseñamos ni agrega ni quita nada al estudiante, es duro pero cierto porque me dedico a este trabajo. Insisto que la Matemática como se enseña hoy en día no crea un individuo crítico, ni persé contribuye a que la gente razone críticamente, porque como decíamos antes lo memorístico y abstracto, desvinculado del mundo de los niños y de los jóvenes no puede nunca obtener hombres críticos" (WB).
6.1.1.1 Falsche Orientierung des Mathematikunterrichts
Der Mathematikunterricht ist auf die Interessen der Bourgeoisie oder des Kleinbürgertums ausgerichtet. Sie profitieren davon, daß im Mathematikunterricht Alltagssituationen kaum behandelt und Probleme der Individuen in der Region oder der Gemeinschaft nicht analysiert werden. "Die Art, wie wir unterrichten, trägt entschieden nicht dazu bei, soziale Probleme kritisch zu betrachten, wir unterrichten Mathematik im Sinne anderer Interessen, wenn Alltagsprobleme nicht behandelt, konkrete und reale Situationen nicht diskutiert werden, wir unterrichten Mathematik nicht in diesem Sinn" (CM). Es gibt also einen direkten Zusammenhang zwischen dieser Art des vom Alltag getrennten Mathematikunterrichts und dem geringen Beitrag zum Verständnis der Widersprüche in der konkreten Welt und konkreter Personen. "Solange wir Mathematikunterricht geben, der von der Welt und den konkreten Problemen der Schüler und der anderen Mitglieder der Gemeinschaft nichts wissen will" (AF), zeigen wir, daß es nicht der richtige Zugang zum Mathematikunterricht sein kann, wenn die Interessen der Besitzlosen weiterhin übergangen werden.
6.1.1.2 Die Strukturierung einer fragwürdigen Tradition
Das zweite übereinstimmende Argument in beiden Ländern bezieht sich auf die Strukturierung einer Tradition im Mathematikunterricht (die bereits abgehandelt wurde), die vom Glauben an Logik und Formalismus der mathematischen Begriffe bis zum objektivistischen Ansatz der von den Expertinnen und Experten heftig kritisierten Lehrpläne reicht. Eine rigide, umfassende Objektivierung läßt kritische Reflexion kaum zu. Zum ersten Teil meint Boanerges, daß "dem Mathematikunterricht eine gedankliche Logik zugrundeliegt, die mit der Realität wenig zu tun hat, denn da gibt es Situationen, die ambivalent sind und in dieses logische und exakte Denkschema von Sein oder Nichtsein, das wir angenommen und über Jahre praktiziert haben, nicht hineinpassen" (BM). Nilda Noda verweist darauf, daß "bei der gegenwärtigen Ausrichtung der Curricula kritisches und befreiendes Lernen nicht möglich ist, das Curriculum trägt nicht einmal zur Interpretation, geschweige denn zur Lösung der sozialen und politischen Probleme bei" (NN).
6.1.1.3 Der Mathematikunterricht als Beitrag zu sozialen Veränderungen
Zu dem Schluß, daß Mathematikunterricht einen Beitrag zu sozialen Veränderungen leisten kann, kamen die Expertinnen und Experten bei der ersten Kategorie. Notwendig ist jedoch ein Prozeß von Veränderungen in der Praxis und im Denken derjenigen, die in diese Thematik eingebunden sind. Zunächst muß "versucht werden, die Orientierung der Zielstellung auf rein akademische Anforderungen und die technologische Ausrichtung der Kenntnisse zu überwinden" (TG). Soziale, politische und ökonomische Inhalte dürfen nicht davon getrennt werden, dann kann die Befreiung von der Diktatur eines sinnentleerten und entfremdeten Mathematikunterrichts gelingen. "Ich denke schon, daß Mathematikunterricht möglich ist, der zu diesem Prozeß sozialer Veränderung etwas Wichtiges beiträgt. Die Kinder brauchen Wissen über die Realität und Kenntnis der sozialen Erscheinungen. Im Mathematikunterricht kann man viel tun, er muß zur Demokratie, zum Verständnis der Realität hinführen" (JM), vor allem zu einer Demokratie, die allen dient.
These 46: |
Die zweite Kategorie der siebenten Oberkategorie (Abb. 33), in der bezüglich der Zahl der Aussagen und der Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine leichte Tendenz zugunsten Venezuelas zu verzeichnen ist, beschäftigt sich ausschließlich mit dem geringen Beitrag der Mathematiklehrenden in der Sekundarstufe und an den Universitäten zu notwendigen sozialen Veränderungen in beiden Ländern. Ihre Haltung wurde von den Expertinnen und Experten aus Nicaragua und Venezuela in den folgenden vier miteinander verknüpften Punkten zusammengefaßt:
6.1.2.1 Rolle einer kritischen Sicht und sozialer Veränderungen in der Ausbildung der Mathematiklehrer an den Universitäten
Die Ausbildung der Mathematiklehrenden in Nicaragua und Venezuela wurde von den Expertinnen und Experten bereits unter mehreren Gesichtspunkten kritisiert (vgl. 4.3.1 bis 4.3.5). Hier richtet sich die Kritik verstärkt auf den Aspekt der kritischen und politischen Bildung, der Bestandteil der Lehrerbildung sein sollte. "In den Universitäten wird wenig getan, darum entwickelt sich kaum eine kritische Haltung zu dem, was im Land passiert, und wir Universitätsdozenten sollten dieses Defizit kritisch aufarbeiten" (CM).
Natürlich richtet sich diese Forderung nicht nur an die Universitätsdozenten, vielmehr sollte dort der Prozeß beginnen, mathematische, pädagogische und didaktische Kenntnisse mit der Orientierung auf das wichtigste Ziel der Bildung zu verbinden, nämlich zum Wohlergehen der Mehrheit in jeder Hinsicht beizutragen, was in beiden Ländern noch nicht erreicht wird. "Ich weiß nicht, wem die Entscheidung zufallen muß, Mathematikunterricht im Sinne der Mehrheit durchzusetzen, auf jeden Fall muß der Unterricht Verbindung zur Welt haben, und hier hängt viel davon ab, welche Auffassung der Universitätsdozent von der Gesellschaft und vom Mathematikunterricht hat" (EC). Es gibt nicht viele Universitätslehrende, die sich der emanzipatorischen Bildung verpflichtet fühlen, viele bewegen sich in einem geschlossenen Kreis und meinen, daß sich ihre Aktivitäten als Dozenten und Forscher auf die Inhalte an sich beschränken sollten (vgl. K47 in Abb. 34). "Es gibt nur wenige Universitätslehrer, die emanzipatorische Bildung vermitteln, nötig ist ein Diskussionsprozeß und Wandel auch an den Universitäten" (IG).
Die Auswirkungen dieses Verhaltens widerspiegeln sich direkt bei den Absolventen. "Unsere Absolventen sind unkritisch und nicht in der Lage, zu interpretieren, was im Land vor sich geht. Es gibt aber auch kein Interesse an kritischen Lehrern" (MG). Damit sich das Verhalten der Lehrenden ändert, muß u.a. ihre Rolle als Lehrerbildner stärker und tiefgreifender diskutiert werden. "Eine der Aufgaben von Schule und Mathematikunterricht zielt darauf ab, daß die Schüler über ihre Probleme und das Land nachdenken, und das muß in der Universität anfangen" (MF). Walter Beyer, der über langjährige Erfahrungen als Universitätsdozent verfügt, gibt schließlich selbstkritisch folgenden Hinweis:
"Yo creo que incluso en nuestra universidad tampoco hay una enseñanza crítica, se egresa con una pobreza cultural e intelectual que no le permitirá ser crítico. No se hace ni siquiera problemas concretos de aplicación inmediata de fórmulas, mucho menos se usa la Matemática para el entendimiento de las situaciones políticas, económicas y sociales de nuestra población, menos un aprendizaje para la formación crítica y la transformación social" (WB).
6.1.2.2 Interesse an Veränderungen trotz Informationsmangel
Obwohl die Lehrenden an Schule und Hochschule Interesse an den Geometriegeschehnissen im Land haben, fehlen ihnen offensichtlich Informationen und Erfahrungen, hinzu kommt eine gewisse Bequemlichkeit. Eine zweite Argumentationslinie der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist auf die rezeptive Haltung der Mathematiklehrenden an Schule und Hochschule gerichtet, für die ähnliche Gründe angeführt werden, wobei in Venezuela die Fragestellung ein stärkeres Gewicht hatte. Hervorgehoben wurden dabei folgende Aspekte:
6.1.2.3 Gefordert ist ein aktiver und partizipativer Forschungsprozeß
Ein weiteres gemeinsames Argument steht im Zusammenhang mit den technischen Schwierigkeiten, die bei der Umsetzung konkreter Aktivitäten im Mathematikunterricht auftreten. "Das Schwierige ist, Material zu entwerfen, das den Anforderungen eines solchen kritischen Mathematikunterrichts entspricht" (SR). Eben deshalb ist ein Prozeß der Kommunikation, Reflexion und aktiver und partizipativer Forschung erforderlich. Das heißt, "um die Frage zu klären, wie solche Materialien erarbeitet und genutzt werden können, sind praktische Aktivitäten des Bildungsministeriums und der Bildungsforscher für den Mathematikunterricht an Schulen und Universitäten des Landes nötig" (DG). Dadurch könnte auch der Improvisation und dem Empirismus ein Ende bereitet werden, die bei Versuchen in dieser Richtung im Moment herrschen.
"No hay una buena formación crítica y científica y lo que hacemos es trabajar empíricamente, a la deriva, sin rumbo definido y lo bueno que se investiga no sale a relucir fuera de las universidades, sino que se queda concentrado en grupos pequeños con intenciones a largo plazo, no conozco en la práctica un proyecto bien planificado y sistematizado sobre la enseñanza de la matemática en forma crítica, pero me gustaría mucho participar en ello" (IG).
6.1.2.4 Förderung der Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung
Die Lehrenden sind zwar den Richtlinien des Bildungssystems unterworfen, ihre Haltung müßte sich jedoch ändern im Hinblick auf die Bereitschaft zur Übernahme von größerer Verantwortung und zur Motivation der Schüler in diesem Sinne.
"Creo que sí podemos tener un tipo de educación crítica y liberadora, pero ella no es conveniente al sistema político y es peligrosa porque puede generar problemas a los capitalistas y a los políticos corruptos, quienes no desean que la gente se dé cuenta de lo que está sucediendo, no dicen que es el sistema que queremos y que deseamos. Estamos formando para mantener este subdesarrollado y esto le conviene a mucha gente que siguen robando a este país, desde las transnacionales europeas hasta los corruptos de nuestro país" (ID).
"En vista de que "la lógica nos indica que estamos haciendo algo incorrecto con la enseñanza de la matemática" (TG), entonces, "tenemos que iniciar un proceso de concientización, de trabajo grupal con los maestros para que estos puedan convertirse en los forjadores de nuestro país, de lo contrario seguiremos con una enseñanza represiva y desligada de los problemas fundamentales de la sociedad. Hay que ganarse a muchos docentes para esta nueva concepción de la enseñanza de la matemática crítica" (NN).