5 Konzeptionelle und curriculare Probleme des Mathematikunterrichts in Nicaragua und Venezuela und Lösungsansätze

 

5.1 Grundphänomene der curricularen Praxis

Die erste Frage innerhalb des zweiten Teils der Befragung führte zur Nennung von sechs (Abb. 27) übereinstimmenden Kategorien in beiden Ländern. Die von der Mehrheit der Teilnehmer diskutierten Aspekte sind folgende: Linearität des Mathematikunterrichts, Memorieren und Mechanisierung, Evaluation (Bewertung und Beurteilung) der Mathematikkenntnisse, unzureichende Geometrieausbildung, Existenz der modernen Mathematik und geringe Bedeutung des Mathematikunterrichts in den Augen der Lernenden. Im folgenden werden die genannten Aspekte, dem qualitativen und komparativen Kriterium folgend, das die jeweiligen Aussagen der Expertinnen und Experten ins Verhältnis setzt zur Pertinenz der qualitativen Analyse, detailliert dargestellt.

 

 

(Abbildungsverzeichnis)

 

 

5.1.1 Erfordernis einer Veränderung des praktizierten linear-vertikalen Schemas im Mathematikunterricht

These 30:

In allen Stufen des nicaraguanischen und venezolanischen Bildungssystems wird im Mathematikunterricht das gleiche linear vertikale Schema in folgender Sequenz angewendet: Definitionen, Proposition, Beweis, Beispiele, Übungen oder Probleme, Aufgaben und Evaluation. Die Innovation von methodischen Strategien für den Mathematikunterricht ist dringend erforderlich (s. K29).

In Abb. 27 wird sichtbar, daß dieses strukturalistische Schema des Mathematikunterrichts sowohl im Hinblick auf die Anzahl der Expertinnen und Experten als auch auf das Gewicht der Aussagen in Nicaragua stärker kritisiert wird als in Venezuela, wobei in beiden Ländern darauf verwiesen wird, daß dieses Schema explizit oder implizit in allen Stufen des Bildungssystems, vor allem ab Klassenstufe sieben der Sekundarschule Verwendung findet.

Dieses zweite Schema, das der traditionellen Form des Mathematikunterrichts vor allem in höheren Klassenstufen, im Abitur und in der Universitätsausbildung entspricht, widerspiegelt sich in den Lehrplänen und Lehrbüchern für die Grundschule und vor allem auch für die siebente, achte und neunte Klasse (181) . Hier soll keine detaillierte Untersuchung der historischen Ursprünge des linear-vertikalen Schemas für den Mathematikunterricht vorgenommen, sondern die Meinung der Expertinnen und Experten im Hinblick auf die Anwendung dieses oder eines ähnlichen Schemas im Mathematikunterricht in Nicaragua und Venezuela dargestellt werden. Zusammen mit dem linear-horizontalen Schema der Lehrpläne, das in K29 der Frage A3 (D3) analysiert wird, entsteht daraus ein vertikal-horizontales Modell, das als Hauptziel auf die Evaluation der Mathematikkenntnisse ausgerichtet ist, was Inhalt der dritten Kategorie im Rahmen dieser Frage ist. Im folgenden werden einige übereinstimmende kritische Anmerkungen dazu aufgeführt:

 

5.1.2 Monotonie im Lern- und Lehrprozeß

These 31:

Der Mathematikunterricht in Nicaragua und Venezuela ist geprägt von einem memoristischen, mechanischen, algorithmischen Herangehen an Definitionen, Formeln und Verfahren sowie die Wiederholung endloser Listen von Beispielen, was Monotonie im Lern und Lehrprozeß zur Folge hat.

Diese Schlußfolgerung ergibt sich aus der Analyse der Aussagen von 83% der Expertinnen und Experten aus Nicaragua und 92% aus Venezuela (s. Abb. 27). In Venezuela ist dies die bedeutendste Kategorie innerhalb der vierten Frage, in Nicaragua nimmt sie Rang drei ein. Die Verzerrungen im Mathematikunterricht führen also zu großer Beunruhigung bei den Befragten. Signifikant ist dabei, daß diese Form der Bildung in beiden Ländern kritisiert wird, daß sie nach Ansicht der Expertinnen und Experten direktes Ergebnis der Linearität ist, die in der vorangegangenen Kategorie untersucht wurde, und daß es sich um eine Bildung handelt, die Dialog und Problematisierung von Konfliktsituationen nicht gestattet (184) .

 

5.1.2.1 Mathematikunterricht auf der Grundlage eines memoristischen Ansatzes

Stark etabliert ist die Auffassung, daß Schulmathematik bedeutet, Definitionen und Behauptungen (Propositionen oder abgeschlossene Theoreme) zu kopieren, Übungen ohne Nachdenken zu machen und das alles schließlich zu memorieren, um dann geprüft zu werden und nachzuweisen, daß man in der Schule Mathematikunterricht hatte. Wenn den Lernenden bereits ausgearbeitete mathematische Inhalte vermittelt werden und ihnen nicht die Möglichkeit gegeben wird, über Ursachen, Bedeutung und Konsequenzen dieser Inhalte zu reflektieren, bleibt kein anderer Ausweg, als viele von den Lehrenden, Lehrbüchern und der scheinbar absoluten Wahrheit der Mathematik als wahr angenommene Definitionen und Propositionen zu memorieren. "Die Kinder, die Schüler im allgemeinen müssen alles, was die Lehrer an die Tafel schreiben, abschreiben und memorieren, das tun, was Lehrer und Lehrbücher vorgeben, und im Ergebnis werden ihre eigenen Gedanken und ihre Kreativität beschnitten" (ID). Das heißt, Memorieren ist nicht nur ein methodischer und didaktischer Fehler, sondern eine explizite oder implizite Auffassung eines entfremdenden Bildungssystems (185) , das nicht an freien und nachdenkenden Menschen interessiert ist. Diese Konzeption trifft für unsere beiden Bildungssysteme zu. "Wenn man sich die Lehrbücher und -pläne anschaut, den Unterricht beobachtet, die Evaluationen und alles, was mit dem Mathematikunterricht zu tun hat, sieht, stellt man fest, daß die Grundlage des Lernens in Venezuela das allumfassende Memorieren ist" (WB).

Man könnte die Frage stellen, wann und wie diese Form der Bildung beginnt. Auf der Grundlage ihrer alltäglichen Erfahrungen und Beobachtungen meinen die Expertinnen und Experten, daß die Kinder, die noch keinen Kontakt mit der offiziellen Bildung hatten (sei es die Schule oder Vorschulklassen für Kinder, die noch nicht im Schulalter sind), viele Dinge aus ihrer Umgebung und ihrer eigenen Welt wissen, interessante und in vielen Fällen sogar komplizierte Fragen stellen, und insgesamt ein großes kreatives Potential und Denkfähigkeit zeigen. Wenn sie dann mit der systematischen Bildung in Berührung kommen, in der Schule oder außerhalb, internalisieren sie nicht die Notwendigkeit, sondern die obligatorische Pflicht, Dinge auswendig zu lernen, sich dem memoristischen Ansatz unterordnend. Das heißt, "die Sechsjährigen wissen schon viel, aber wenn sie in der Schule sind, beginnen sie zu memorieren, weil der Lehr- und Lernprozeß memoristisch ist, und nicht kritisch" (IG), und "sehr kleine Kinder hatten schon Berührung mit Personen, die ihnen Lesen und Addieren beibringen, Multiplikation und Division memorieren sie dann, ohne daß sie es intellektuell aufnehmen können. Das fügt einer mathematischen Bildung auf der Grundlage von Kreativität und Reflexion großen Schaden zu" (ME).

Die Befragten waren auch einhellig der Meinung, daß das Memorieren einem kritischen Erlernen der Mathematik aus zwei Gründen schadet. Erstens weil "man sich nach meiner Erfahrung an die interessanten Aktivitäten erinnert, wo man handelt und praktisch agiert, während Memoriertes und Gesehenes schnell vergessen wird" (BM), und zweitens, weil wir unsere Schüler von klein auf daran gewöhnt haben, isolierte mathematische Inhalte zu betrachten, sie zu sammeln und später in Prüfungen auch so abgefragt zu werden (vgl. K32). Lehrende und Lernende sind in dieser Bildungsrealität darauf eingestellt, daß sie jedes neue Schuljahr auch so beginnen. Mit anderen Worten, "unser Mathematikunterricht ist auf Memorieren und Evaluation ausgerichtet, und darauf stellen sich Lernende und Lehrende ein. Es ist für sie weniger wichtig, die Konzepte richtig zu beherrschen als sie auswendig zu wissen, weil das ausreicht, um die Prüfung zu bestehen" (NN).

 

5.1.2.2 Die Algorithmisierung des Mathematikunterrichts in Nicaragua und Venezuela

Zunächst ist hervorzuheben, daß der Begriff Algorithmus eng verbunden ist mit der Mathematik, dem Mathematikunterricht und vor allem mit der sogenannten Angewandten Mathematik in der Informatik, denn ein Teil ihrer Grundlagen basiert auf den "mathematischen Algorithmen". Innerhalb des Mathematikunterrichts sind zwei Ansätze zu beobachten: einerseits ist es eine Aktivität, die im Kontext der Identifizierung eines Problems, der Entwicklung eines Systems, der Mathematisierung und der Interpretation nach Lösung des Problems (186) , eine Ordnung der notwendigen Aktivitäten im Rahmen des Konzepts der mathematischen Modellierung bildet (187) , andererseits wird es als die einzige, isolierte und ausschließliche Aktivität des Mathematikunterrichts betrachtet. In Venezuela und Nicaragua sieht man Mathematikunterricht unter diesem Gesichtspunkt, was von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Befragung stark kritisiert wurde, ohne die Bedeutung des Begriffs Algorithmus in der Mathematik und seine Vermittlung zu negieren. "Wenn die mathematischen Konzepte klar sind, können sich adäquate Fähigkeiten entwickeln, ohne daß man viele Algorithmen auswendiglernen muß, denn diese sind vielmehr ein Werkzeug für das Konzept" (EC).

Der Mathematikunterricht in Nicaragua und Venezuela ist allerdings zu einem Kompendium von Algorithmen geworden, was für einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer für Unterweisung im Rezeptstil steht, bei denen es sogar zu Übereinkünften zwischen Lernenden und Lehrenden kommt, nach denen die Lehrenden ohne Deduktion oder Erklärung für jeden Inhalt einen Algorithmus anbieten, den die Schüler auswendiglernen müssen.

"Los alumnos ven en todos los niveles operaciones y sobre todo algoritmos que aparentemente no tienen mucho sentido y una persona que no le ve sentido a una cosa independientemente que la utilice o la necesite algún día no le dará ninguna importancia" (MF). "Los alumnos ya están acostumbrados a que uno les de recetas, no asimilan y tampoco buscan las razones y raíces de las cosas. En matemática es muy importante entender la esencia del contenido" (ID).

Um diese Tendenz zurückzudrängen, ist ein auf Forschung beruhendes Bildungsprojekt erforderlich, welches das Ziel verfolgt, Informationen über die unterschiedlichen Tendenzen des Mathematikunterrichts zu sammeln, Diskussionen zwischen den Beteiligten anzuregen und vor allem auf eine kritische Bildungskonzeption zu orientieren, denn einer der Gründe für die Algorithmisierung des Unterrichts in unseren Ländern geht auf das Fehlen einer kritischen Lehrergruppe zurück, die sich der Durchsetzung von schädlichen Tendenzen für unsere Bildung widersetzen (188) . Anders ausgedrückt: "Es gab derart viel Formalismus, daß man, um einem Schüler zu sagen, wieviel ¼ ist, alle Arten von Äquivalenz erklären mußte. Jetzt sind wir beim anderen Extrem angelangt, nämlich der Algorithmisierung der Mathematik, der Vergabe von Rezepten" (EC).

 

5.1.2.3 Mechanisierung des Mathematikunterrichts

Ein drittes in der Befragung genanntes Merkmal des Mathematikunterrichts in Nicaragua und Venezuela ist die Mechanisierung. Vor allem im Fach Mathematik hat sich die Methode der blinden Wiederholung von mathematischen Verfahren und Formeln etabliert, in der Ansicht, dies sei die adäquate Art und Weise, mathematische Kenntnisse zu festigen. Die Gefahr dieser Art von Bildung besteht darin, daß die Kinder von klein auf lernen, Kenntnisse blind zu akzeptieren, kritiklos und ohne Nachdenken darüber, warum bestimmte Erscheinungen auftreten, nicht nur aus der Sicht der Erkenntnis an sich, sondern auch vom Standpunkt der Problematik des Menschen als Teil einer Gesellschaft und seines Einflusses auf die Umwelt. Wenn unsere Lernenden in der Schule die mathematischen Inhalte, die die Lehrkraft an die Tafel schreibt, mechanisch wiederholen, entstehen bereits die Grundlagen für Unterwerfung und Akzeptanz der sozialen Widersprüche (189) .

"Hay una mecanización de la enseñanza muy grande y esto se ve en los mismos libros, donde las preguntas de los cuestionarios se corresponden automáticamente con los párrafos del texto y los alumnos sin leer consiguen las respuestas de manera automática, de igual manera ocurre con la matemática. La idea es que los alumnos extraigan de manera creativa aspectos importantes del texto y que piensen sobre las razones de lo que está escrito allí" (WB).

Die Expertinnen und Experten stimmen außerdem in der Forderung überein, den Lernenden unter Vernachlässigung von Lehrplänen und -büchern wenige Inhalte interessant zu präsentieren, unter Nutzung didaktischer und pädagogischer Prinzipien, die auf die Interessen und Schwierigkeiten der Kinder ausgerichtet sind und nicht auf den Glauben, daß mathematische Inhalte gelernt werden müssen, weil die kapitalistische Gesellschaft das fordert. "Die Inhalte müssen den Schülern didaktisch interessant präsentiert werden, denn der Mathematikunterricht ist jetzt sehr trocken, mechanisch und manchmal sinnlos und verfolgt zum Teil seltsame Ziele" (MG).

 

5.1.2.4 Wiederholung endloser Übungslisten

Dieses vierte Merkmal ist direktes Ergebnis der drei zuvor genannten und wurde von den Befragten ebenfalls in Zweifel gezogen. In beiden Ländern ist dies im Mathematikunterricht am häufigsten zu finden und am stärksten akzeptiert. Traditionell wird die Übung als didaktische Strategie zur besseren Aufnahme der Kenntnisse, vor allem zur Festigung und Konsolidierung mathematischer Konzepte betrachtet. In der pädagogischen Praxis gibt es jedoch eine Form der Übungen, die bei den Lernenden negative Reaktionen hervorruft, da sie sich endlosen Übungslisten gegenüber sehen, ohne Hilfestellung und ohne daß sie Fortschritte machen. "Es ist schlimm, wie der Mathematikunterricht abgehalten wird, die Schüler bekommen Listen mit 50 Übungen, die sie ohne Hilfe lösen sollen, und wenn sie bei Nummer fünf sind, möchten sie nicht mehr weitermachen" (FG) (190) .

Natürlich ist für die Lösung von Übungsaufgaben im Unterricht oder als Hausarbeit zunächst Erklärung und Beispielrechnung anhand ähnlicher Übungen erforderlich. Viele Lehrende machen das auch, das Problem liegt aber darin, daß man glaubt, dies sei die geeignete Form, Mathematik zu lernen und daher mehr Übungen größere Festigung mathematischer Kenntnisse bedeuten. Tatsächlich aber machen die Lernenden die Übungen einfach nicht mehr, im Unterricht reicht die Zeit nicht, und auf diese Weise wachsen in unseren Lernenden Berge von unbewältigten Aufgaben und Frustrationen (191) .

"Los alumnos llegan a clase entienden casi todo los que el profesor explica en el pizarrón y después no pueden hacer los primeros ejercicios y por supuesto los siguientes porque ellos van en orden de dificultad. Se dan generalidades de cómo estudiar matemática pero no existen técnicas adecuadas para el trabajo y la solución de ejercicios y esto hay que tratarlo de desarrollar en los estudiantes para que no se acumulen frustraciones desde la primaria hasta la universidad, debido especialmente todo esto por no poder hacer los ejercicios por su propia cuenta" (MC).

 

5.1.3 Auswirkungen des auf Strafe und Selektion beruhenden Bildungssystems

These 32:

Die einem linearen Bildungsschema entsprechende und in unserem Bildungssystem sehr verbreitete, auf der Konzeption der lateinamerikanischen Bildung von Strafe und Selektion beruhende Evaluation der Mathematikkenntnisse ist zu einem schwerwiegenden Problem des Mathematikunterrichts geworden und hat vielfältige negative Auswirkungen sowohl auf Lernende als auch auf Lehrende.

Die dritte Kategorie (D4) innerhalb der vierten Frage (B1) verweist in Abb. 27 darauf, daß das Thema der Evaluation von Mathematikkenntnissen nach Aussagen (an erster Stelle Nicaragua und an zweiter Venezuela) ähnlich hohe Aufmerksamkeit fand, wobei die Beteiligung im erstgenannten Land etwas höher war. In ausführlichen und auf zahlreichen Argumenten basierenden Ausführungen bestätigen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meine 1992, 1993 und 1995 im nicaraguanischen Bildungssystem gemachten Beobachtungen sowie die Erfahrungen aus meiner Lehrtätigkeit in der Grund- und Sekundarstufe Venezuelas in den 80er Jahren. Die allgemeine Evaluation der Lernergebnisse (192) , und speziell der Ergebnisse des Mathematikunterrichts, ist in beiden untersuchten Bildungssystemen zu einem gravierenden Problem geworden, "das der (in der vorigen Kategorie diskutierten) memoristischen Form unseres Unterrichts ohne ausreichendes Nachdenken durchaus entspricht" (ME) und "ein Bildungsprozeß ist, der auf Selektion orientiert, auf das Lernen isolierter Dinge" (NN), ein Thema, das sich durch den gesamten Prozeß der Untersuchung des Mathematikunterrichts in Nicaragua und Venezuela zog.

Ein in gewisser Weise internalisiertes Argument, das von den Expertinnen und Experten stark kritisiert wurde, zielt darauf ab, daß "wir uns zur Überprüfung, ob die Schüler die mathematischen Kenntnisse wirklich verinnerlicht haben, daran gewöhnt haben, eine Evaluation der Lernergebnisse vorzunehmen. Wie läßt sich feststellen, ob die Ergebnisse signifikant sind oder nicht?" (FV). Obwohl die negativen Konsequenzen der Evaluation in humaner und antidemokratischer Hinsicht bekannt sind (193) , besteht die Überzeugung, daß nach Abschluß eines Themas automatisch die Evaluation kommen muß. Sie findet in gleicher Weise statt, wie die mathematischen Themen im Unterricht abgehandelt wurden. In den Arbeiten der Lernenden sind die gleichen Schritte zu finden, die im Unterricht vollzogen wurden. Wenn eine andere Methode verwendet wurde, wird nach dieser Methode evaluiert. Es gibt also Korrespondenz zwischen diesen beiden Aspekten. So können in der Bildung Erfolge erzielt werden, aber wenn nur die Form der Evaluation geändert wird, ohne den Lernprozeß zu modifizieren, kann es zum Mißerfolg kommen. In einer "kooperativen und/oder Gruppenarbeit (194) wird das ständige Agieren der Schüler evaluiert, Teil- oder Abschlußprüfungen haben dagegen wenig Bedeutung" (WB). Wenn in der Schule Alltagsprobleme besprochen werden, die Diskussion und Kontroverse auslösen, wird der Lernprozeß des Lernenden sich ändern, und dann muß natürlich auch die Evaluation der Mathematikkenntnisse anders vorgenommen werden. Im folgenden sind die Ergebnisse aus der Analyse der Informationen der Expertinnen und Experten zusammengefaßt.

 

5.1.3.1 Die Evaluation der Mathematikkenntnisse und Erfolge und Fortschritte der Lernenden

Die Evaluation soll die Erfolge und Fortschritte der Lernenden im Mathematikunterricht bestimmen. Nach Auffassung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist das nicht mittels einer oder mehrerer Prüfungen festzustellen, da zahlreiche Faktoren das Ergebnis beeinflussen und verfälschen können. Zwei Faktoren beeinflussen den Lernprozeß im Mathematikunterricht entscheidend, einerseits ist er aus der Sicht der Lehrenden, ihrer Bereitschaft und der von ihnen verwendeten Methoden zu sehen. Andererseits sind die Schwierigkeiten der Lernenden beim Lernen zu berücksichtigen. "Die Evaluation ist ein Mechanismus zum Prämieren des Schülers und außerdem für den Lehrer die einfachste Form, in Gute und Schlechte zu unterteilen, da er keine Zeit hat, die qualitativen Fortschritte aller Schüler mittels anderer Bildungsaktivitäten festzustellen" (IG).

 

5.1.3.2 Kritik an der formalen Evaluation

In der Mehrzahl der Wortmeldungen wurde die formale Evaluation scharf kritisiert, da "sie unserem Bildungssystem und unseren Schülern großen Schaden zufügt" (MC). Die Schüler sind mehr daran interessiert, durch die Prüfung zu kommen, als am Fach selbst, denn die Bildung insgesamt zentriert sich auf das Lernen von Teilwissen und seine Verifizierung durch Teil- oder Abschlußprüfungen. Die Teilnehmer plädieren für eine stärker qualitative als quantitative Evaluation, d.h. eine kontinuierliche oder formative, die summarische Einschätzung soweit wie möglich vermeidende Evaluation, die nicht entsprechend der Ziele und der Schwierigkeit der Inhalte, aber vor allem nicht anhand subjektiver Kriterien der Lehrenden und der Gesellschaft organisiert wird. Auf allen Ebenen des Bildungssystems, selbst in der Universität, "gibt es Regeln, nach denen kurze und systematische Prüfungen erforderlich sind, wir Lehrenden müssen sie durchführen, sonst gibt es Konflikte und Probleme. Aber diese Strukturen, Normen und Regeln sind ein Hindernis für den Fortschritt" (AF).

 

5.1.3.3 Angst vor der Evaluation der Lernergebnisse in Mathematik

Die Evaluation der mathematischen Inhalte wird für viele Lernende zu einem "Leidensgang", die Angst davor haben, eingeschätzt, geprüft und bestraft zu werden. Nach Beobachtungen der Expertinnen und Experten führt diese psychologische Hemmschwelle bei vielen Lernenden dazu, daß sie, obwohl sie ausreichend Kenntnisse haben, bei einer schriftlichen oder mündlichen Prüfung ernsthafte Schwierigkeiten haben, das zu formulieren, was die Prüfer wissen wollen. Die Stimmung der Lernenden wird davon beeinflußt, in der Sekundarstufe noch stärker als in der Grundschule.

"La evaluación formal se ha convertido en una forma de penalizar a los alumnos, de castigarlos, produciendo angustia, molestia y preocupación en mucha gente, algunos sufren o no quieren ir más a la escuela porque salieron mal en una determinada prueba y porque la escuela los rechaza de esta manera, así odian a la escuela y al sistema de enseñanza, mientras que otros por su interés aprueban la asignatura sin dominar bien los contenidos matemáticos" (PP).

 

5.1.3.4 Widerspruch zwischen aktueller Evaluation der Lernergebnisse in Mathematik und Differenzierung in der Bildung

In der aktuellen Form der Überprüfung von Lernergebnissen müssen sich alle Lernenden gleichermaßen mit vielen mathematischen Kenntnissen auseinandersetzen, diese Kenntnisse werden aber gleichzeitig nur teilweise und isoliert evaluiert, was dem Wesen der Mathematik, ihrem Nutzen und ihrer Bedeutung widerspricht. Wenn zum Beispiel die Wurzeln einer Gleichung zweiten Grades ermittelt werden sollen, was im übrigen mit einem Taschenrechner schnell und problemlos geht, müssen die Lernenden mit zwei Zahlen antworten; der mathematische Wert, der Prozeß, die Anwendbarkeit, das Verhältnis zu anderen Fächern usw., die sich aus dieser Gleichung zweiten Grades ergeben und für einige Lernende von Interesse sein können, interessieren nicht. "Die Lehrer sind darauf spezialisiert, sehr sorgfältig und aufmerksam ausgewählte Fragen zu stellen, ohne pädagogische Aspekte und individuelle Unterschiede zu berücksichtigen, wodurch das gesamte Handeln des Schülers während eines Schuljahrs auf eine trockene und abstrakte Note reduziert wird. Jedem Schüler sollte aber gesagt werden, wie seine Leistungen qualitativ eingeschätzt werden. Jeder muß entsprechend seinen Lernmöglichkeiten Fortschritte machen, und niemand sollte unter Druck gesetzt oder bestraft werden" (TG).

 

5.1.3.5 Verstärkung der memoristischen Bildung

Die Evaluation der mathematischen Lernergebnisse bestärkt die oben kritisierte memoristische, algorithmische, mechanische und auf Wiederholungen beruhende Bildung. Da der Blick vor allem auf das Erreichen eines Erfolgs gerichtet ist, der anhand einer Skala gemessen wird, die zwischen Guten und Schlechten, Erfolgreichen und Gescheiterten, Herausragenden und Mittelmäßigen unterscheidet, ist die Hauptsorge der Lernenden in einer Gesellschaft, in der die Starken über den Schwachen stehen, einfach darauf gerichtet, die richtigen Mechanismen zum Überstehen aller Prüfungen zu finden.

"Los alumnos van aprobando la asignatura porque ellos se aprenden algunas cosas claves de memoria y de esta manera también se les evalúa, sin que hayan entendido correctamente el concepto" (AF). Y además: "la evaluación termina siendo un reflejo de lo que es el proceso de enseñanza y aprendizaje de la matemática y en nuestro país es muy memorística porque la enseñanza y el aprendizaje también lo son" (WB).

 

5.1.3.6 Notwendigkeit von Veränderungen in der Evaluation der Lernergebnisse in Mathematik 

In beiden Ländern waren die Expertinnen und Experten, die sich zu diesem Thema äußerten, der Meinung, daß Veränderungen in der täglichen Arbeit als Lehrende im Hinblick auf die Nachteile der aktuellen Form der Evaluation dringend erforderlich sind (195) . Die Voraussetzungen und das Verantwortungsbewußtsein von Lernenden und Lehrenden sind noch nicht so weit, daß auf die Evaluation im Mathematikunterricht völlig verzichtet werden kann. Durch eine aktive und formative Evaluation, die die summarische ablösen und ersetzen soll, kann den Lernenden größere Verantwortung übertragen werden. Wichtig dafür sind Werte wie Ehrlichkeit, Vertrauen und Verantwortungsbewußtsein. Veränderung der Evaluation impliziert die Transformation der Lehrenden durch einen Modellwechsel, was zugleich mit Veränderungen in seiner Ausbildung verbunden ist. Eine auf anderen Methoden basierende Bildung läßt auch andere Mechanismen der Evaluation zu und würde die formalen Prüfungen automatisch ersetzen. Selbsteinschätzung und Koevaluation sind Formen, die wegen fehlender Ehrlichkeit nicht funktionieren, viele überschätzen oder unterschätzen sich auch.

Eine Orientierung des Mathematikunterrichts auf stärker partizipative und soziale Prinzipien impliziert auch das Nachdenken über neue Methoden zur Einschätzung der Lernenden (196) . Diese Evaluation muß dynamischer, kontinuierlicher und vor allem menschlicher sein. Zwei der Teilnehmer äußern sich dazu wie folgt:

"Tenemos que pensar en una evaluación que sea el resultado de nuestra enseñanza y si esta la cambiamos entonces por supuesto que cambiaría la forma de evaluar. Pero esa forma memorística y mecánica de evaluar tiene que eliminarse. Si queremos hacer fracciones de igual denominador, tenemos que hacer problemas aplicados sobre situaciones concretas, y posteriormente trataremos de hacer una evaluación orientada en este tipo de enseñanza" (ML). "Ahora que ustedes hablan de la evaluación, yo creo que también necesitamos una reforma o un cambio profundo en esta dirección, ya que se continua con una evaluación muy formal y hasta violenta en contra de los alumnos" (PP).

 

5.1.4 Geringe Berücksichtigung der Geometrie

These 33:

Die Ausbildung in Flächen und Raumgeometrie ist in allen Bereichen des venezolanischen und nicaraguanischen Bildungssystem unzureichend, da ihr in den letzten Jahren zuwenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

Die vierte Kategorie der Dimension 4, die sich aus der Analyse der von den Expertinnen und Experten gegebenen Informationen ergibt, bezieht sich auf die Geometrieausbildung in den drei Stufen des nicaraguanischen Bildungssystems. In Abb. 27 wird ein bedeutender Unterschied zwischen Nicaragua und Venezuela im Hinblick auf die Anzahl von Aussagen und Expertinnen und Experten deutlich, was die Vermutung zuläßt, daß im zweitgenannten Land das Thema mehr Aufmerksamkeit hervorruft, da die Expertinnen und Experten der Geometrie eine größere Bedeutung zumessen, obwohl ""in der Grund- und Sekundarstufe in Nicaragua kaum Geometrie unterrichtet wird, weil wir Lehrer nicht ausreichend dafür ausgebildet oder nicht an geometrisches Denken in der Behandlung der Mathematik gewöhnt sind" (ML). Die Flächen- und Raumgeometrie ist in beiden Ländern jedoch in der Diskussion (197) .

Man kommt zu dem Schluß, daß dies eines der vom Bildungsministerium, in der Lehrerausbildung und von ihnen selbst an den Schulen am stärksten vernachlässigten Themen der Mathematik ist. Das heißt, "den Schülern entgeht eines der schönsten Dinge der Mathematik, die Geometrie, die für das Leben wirklich interessant ist, aber sie wird leider nicht behandelt" (TG), und andererseits gibt es konkrete Initiativen der Expertinnen und Experten in dieser Richtung, die unabhängig vom Bildungsministerium sind. Hier folgen die Ergebnisse der Diskussion:

 

5.1.4.1 Einschränkung der Geometrieausbildung durch die moderne Mathematik

Venezuela und Nicaragua wurden von den neuen Strömungen in der Mathematikausbildung seit Ende der 60er Jahre beeinflußt (198) . Dies führte zur Einführung der sogenannten modernen Mathematik (S. K34) und damit zur quantitativen und qualitativen Einschränkung der Geometrieausbildung auf den verschiedenen Ebenen unseres Bildungssystems. Seit mehr als drei Jahrzehnten ist die Schulbildung in diesem Bereich unzureichend (199) , "wer nie ein gleichseitiges Dreieck konstruiert oder einen gegebenen Winkel gezeichnet und gespiegelt hat, hat eine Kultur der Nichtgeometrie. Auf privaten oder öffentlichen Treffen zu Themen des Mathematikunterrichts wird immer wieder darauf verwiesen, daß eines der Hauptprobleme darin besteht, daß die Geometrie aus den Schulen verschwunden ist. Das geht so weit, daß selbst an Mathematikschulen die euklidische Geometrie nur unzureichend behandelt wird. Am pädagogischen Institut wird kaum Geometrie behandelt, nur formale Geometrie, aber das Schlimmste ist, daß in der Grund- und Sekundarschule die Lehrer gar keine Geometrie behandeln, und das ist ein großes Problem und geht darauf zurück, daß sie am Pädagogischen Institut auch keine Geometrie hatten" (EC). Die Expertinnen und Experten vertreten die Ansicht, daß eine Verbesserung des Mathematikunterrichts ohne Verbesserung der Geometrieausbildung kaum möglich ist. Meiner Meinung nach bedeutet dies nicht nur, neue Ideen für die Vermittlung der Geometrie in der Schule unter Einbeziehung der von den Expertinnen und Experten analysierten unkritischen Kriterien auszuprobieren, sondern schließt die Möglichkeit ein, im Kontext des Mathematikunterrichts die Verbindung der Geometrie zu signifikanten und konkreten Lebenssituationen zu vermitteln (200) .

In den Lehrplänen finden sich durchaus Themen der Geometrie, aber in den Lehrbüchern tauchen sie kaum auf. Da die Zeit meist nicht reicht, um sie in der Schule zu behandeln, fordern die Lehrenden von den Lernenden vor allem in der Grundschule, daß sie die Aufgaben als Hausarbeit erledigen, was dazu führt, daß diese nur abschreiben, was in den Büchern steht.

"La geometría en secundaria se ha convertido en un trabajo más para la casa, donde los muchachos sencillamente copian de los libros sin pensar y razonar. Se dice: investiguen rotación, traslación y simetría. Entonces el muchachito agarra un triángulo y lo traslada y pone un par de letras, luego otro triángulo similar con otras letras, entrega su trabajo pero jamás en su vida va a volver a ver estos conceptos mal aprendidos" (NN).

 

5.1.4.2 Geometrie als attraktives Thema für Kinder und Jugendliche

Die Vermittlung von Geometrie bietet gewisse Vorteile. So beobachten die Expertinnen und Experten zum Beispiel, daß "die Kinder, die mit ihren Händen geometrische Dinge bearbeiten, berühren, messen, erfolgreicher sind. Wer mißt und konstruiert, kommt schneller zu Erkenntnissen über geometrische Beziehungen. Das ist ein sehr schöner Beginn der Geometrie" (GM). Themen aus der Geometrie könnten so behandelt werden, daß die Kinder etwas konstruieren, auf die Straße, in den Park, in die Natur gehen, um zum Beispiel die Dicke und Höhe der Bäume zu messen. "Fast die gesamte Geometrie kann auf der Grundlage von Konstruktionen vermittelt werden. Ein großer Teil der Geometrie kann behandelt werden, indem die Kinder zum Konstruieren, Berühren und Messen angeleitet werden" (AR). Die Verknüpfung von Geometrie mit anderen Themen der Mathematik, die möglicherweise trocken und abstrakt sind, kann zu einem besseren Verständnis solcher Themen führen, die möglicherweise keine Beziehungen zu konkreten Anwendungen haben. Mehr als 30 Jahre wurde Geometrie, Mathematik in Verbindung mit einem geometrischen Konzept, nicht unterrichtet. Wenn also "einem Kind Systeme von Gleichungen nahegebracht werden, kann es kaum eine geometrische Interpretation dieser Situation vornehmen, es ist nicht in der Lage zu sehen, daß dafür eine geometrische Darstellung existiert, es hat nie gehört, daß der Umfang eine Summe von Punkten ist, die den gleichen Abstand zu einem als Mittelpunkt bezeichneten Punkt haben" (AR). Nilda Noda sagt dazu:

"No se concibe la geometría como la posibilidad apropiada para ayudar a otros conceptos matemáticos como en el caso del álgebra en la resolución de sistemas de ecuaciones en el 9º grado. Cuando uno tiene que ver parábolas, por ejemplo cuando el vértice no está centrado en el origen y uno les dice que se trasladó la parábola, entonces la expresión se convierte en un lenguaje desconocido" (NN).

Die Vermittlung von Geometrie allein ist nicht die Lösung für die Probleme des Mathematikunterrichts in beiden Ländern, aber mit Hilfe der Geometrie können Algebrathemen, wie z.B. die Lösung eines Systems von Gleichungen oder das Ziehen von Quadratwurzeln besser erklärt und verstanden werden: "ein Beispiel dafür ist die Verbindung zwischen der Lösung eines Systems von Gleichungen und dem geometrischen Schnitt aus den Geraden, die dieses System bilden" (WB).

 

5.1.4.4 Hilfe zur kritischeren Messung und Konstruktion

Die Vermittlung mathematischer Inhalte aus geometrischer Sicht bietet den Lehrenden und Lernenden die Möglichkeit, konkrete Objekte zu konstruieren und zu verändern, was dem Nachdenken über die Struktur, ihre Merkmale, die Bedeutung und die Auswirkung auf Gesellschaft und Umwelt dient. "Zumindest in den ersten 9 Jahren fehlt die Geometrie, in der der Schüler Dinge seiner Umgebung kritisch mißt und konstruiert." (EC).

 

5.1.4.5 Konkrete Ideen für die Verbesserung der Geometrieausbildung

Interessant an diesem Thema war bei der Befragung, daß Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Einrichtungen, die untereinander kaum Kontakt hatten, auf eigene Initiative und mit eigenen Mitteln bereits erste interne Veränderungen vorgenommen haben, um der Geometrieausbildung an ihren Schulen neue Impulse zu geben. "Wir versuchen, die Lehrer davon zu überzeugen, daß sie mehr Geometrie behandeln, damit ihr Unterricht interessanter wird, daß sie Dreiecke aus Zeitungen ausschneiden, Diagonalen an Türen zeichnen, um zu zeigen, wo überall geometrische Elemente zu finden sind. So wollen wir gegen unseren formalen und strengen Mathematikunterricht angehen, der partizipative, kooperative und interessante Arbeit kaum zuläßt" (CM).

 

5.1.5 Schwierigkeiten der Lernenden mit Elementen der "neuen Mathematik"

These 34:

Für einige der teilnehmenden Expertinnen und Experten finden sich in der venezolanischen und nicaraguanischen Schulmathematik Einflüsse der "modernen Mathematik", die vor allem den Grundschülern Schwierigkeiten bereiten.

Das Thema der modernen Mathematik soll hier nicht umfassend betrachtet werden, da dies zu komplex und umfangreich wäre (201) . Außerdem war die Zahl von Expertinnen und Experten, die sich dazu äußerten, nicht groß, ohne hier die Meinung von ca. 30% der Befragten geringzuschätzen, die in gleicher Zahl von Expertinnen und Experten und Aussagen in beiden Ländern und in Äußerungen von großem Wert darauf verweisen, daß die Überreste der modernen Mathematik nach wie vor Einfluß auf die Lehrenden ausüben, vor allem im Herangehen an den schulischen Mathematikunterricht, was dazu führt, daß sowohl der Lernprozeß als auch die mathematischen Inhalte an sich trocken und abstrakt sind.

Die Expertinnen und Experten vertreten die Auffassung, daß es in beiden Ländern aus historischer Sicht keinen formalen Widerstand gegen die Durchsetzung der modernen Mathematik in der Grund- und Sekundarschule gab, sondern daß sie vielmehr als Ausweg aus der damaligen problematischen Situation betrachtet wurde (202) . Ebenso wie heute gab es damals Mängel im Mathematikunterricht, der ausschließlich auf die Qualifikation und Entwicklung von Kompetenz zu mathematischen Themen gerichtet war, die auf komplizierten Berechnungen (203) beruhten. Der Glaube, durch die Einführung des strukturalistischen Ansatzes in der Schulmathematik, der bereits vor der Schulreform an den Universitäten Zugang gefunden hatte, den Mathematikunterricht verbessern zu können, führte in einigen Ländern, so auch in Nicaragua und Venezuela, zur kritiklosen Akzeptanz dieses (vor allem französischen) Einflusses, der neue Lehrpläne, Lehrbücher, Unterrichtsformen bedeutete und bei Lehrenden an Grund- und Sekundarschulen Verwirrung stiftete. In anderen Ländern wie Holland (204) zum Beispiel gab es Widerstand, und diese Reform wurde nicht durchgesetzt. Das heißt, "die Lehrer haben moderne Mathematik selbst erst vor kurzem verstanden und in Venezuela ist die strukturalistische Sicht in der Mathematik noch nicht überwunden" (JM). Ebenso in Nicaragua. "In den Lehrplänen finden sich noch viele Themen der modernen Mathematik, die von den Schülern abgelehnt werden" (TG).

Schließlich stimmen die Expertinnen und Experten aus beiden Ländern darin überein, daß auf Grund der Durchsetzung der modernen Mathematik in der Bildung einige Themen geopfert wurden, so z.B. Proportionalität, Problemlösungen, Geometrie, Anwendungen. Dazu kommt, daß viele Lehrende die moderne Mathematik bewußt oder unbewußt ablehnen, obwohl sie sich in gewisser Weise gezwungen fühlten, diesen Unterricht zu erteilen.

"En 1969 se da una reforma curricular de la matemática donde se habló de la matemática moderna y a raíz de allí se olvidó unos de los aspectos fundamentales como es la resolución de problemas y la geometría que eran una parte habitual e importante de los cursos de bachillerato " (EC). "La introducción de la matemática moderna en la escuela le hizo mucho daño al aprendizaje de la misma, hasta el punto que mucha gente inclusive profesores la han rechazado porque no la entendieron o porque no le veían su utilidad práctica e inmediata, se sacrificaron algunos temas como la proporcionalidad" (BM ).

 

5.1.6 Unbeantwortete Fragen der Lernenden nach dem "Warum" bestimmter Inhalte des Mathematikunterrichts

These 35:

Angesichts der unnützen mathematischen Inhalte des Lern- und Lehrprozesses in Nicaragua und Venezuela fragen sich die Lernenden: Wozu ist das gut? Eine überzeugende Antwort darauf erhalten sie nicht.

Die Ergebnisse in Abb. 27 widerspiegeln qualitativ, daß in beiden Ländern (deutlich mehr in Nicaragua) vor allem die Lernenden davon sprechen, daß Mathematik ihnen nichts nützt, obwohl ihnen immer wieder gesagt wird, sie wäre wichtig für die Zukunft, ohne das im Lern- und Lehrprozeß zu belegen. Diese sechste der zweiten Kategorie vermittelt einen klaren Eindruck der Unzufriedenheit von Lernenden wie Lehrenden im Hinblick auf den direkten und kurzfristigen Nutzen der Schulmathematik. Wenn sich auch nur 52% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus beiden Ländern (46 bzw. 58%) zu dieser Kategorie äußerten, so waren die Feststellungen doch umfangreich und vor allem selbstkritisch. "Manchmal fragen die Schüler, wozu viele Dinge in der Mathematik nützen, und wir haben keine Antwort, weil sie uns ja auch nicht viel nutzen" (AB).

Die gutgemeinte Frage vieler Lernender taucht meist im Unterricht auf. Die übliche Antwort der Lehrenden ist, daß sie ihnen später nützen wird, was dem Gedanken Nahrung gibt, in unseren Ländern werde Bildung für eine unsichere Zukunft gemacht, in der Mathematik auf jeden Fall gar keine Rolle spielt (205) . "Die Schüler müssen endlose Übungen machen, und danach bleibt nur Frustration, weil sie nicht wissen, was sie damit sollen" (IG). Das Bedauerliche an dieser Situation ist, daß die Lehrenden ihnen, da sie in diese abstrakte, von der Wirklichkeit entfremdete Welt gestellt sind, keine einfache und verständliche Antwort geben können. Einer der Expertinnen und Experten faßt das Verhalten wie folgt zusammen: "Wenn bei Behandlung irgendeines Mathematikthemas die Frage kommt, wozu es gut ist und wir keine befriedigende Antwort haben, antworten wir, daß es für ihre Zukunft als Studenten und/oder als Fachleute dienlich sein kann" (BM), "ohne ihnen genau zu erklären, wann und in welcher Situation" (TG).

Hier einige der Antworten, die die Expertinnen und Experten den Lernenden auf die Frage nach dem Sinn der Schulmathematik geben:

Diese Antworten, die so absurd sind wie die Inhalte selbst, belegen die Auffassung der Lehrenden über die Mathematik in der Schule, zeigen aber auch die Kritik und Selbstkritik in den Äußerungen der Expertinnen und Experten, denn sie meinten z.B. "wir unterrichten eine Mathematik, die nichts mit den Interessen der Kinder zu tun hat, aber wir könnten sie so verändern, daß viele dieser Inhalte direkt behandelt werden und die Schüler so Freude an der Mathematik entwickeln und ihre Bedeutung verstehen" (BM). Wichtig an diesen Meinungsäußerungen ist die Tatsache, daß die Bedeutung der Mathematik, ihre unmittelbare Nützlichkeit im Moment des Lernens in gemeinsamer Arbeit und bei der Behandlung anderer Probleme, die nicht in Lehrbüchern oder -plänen auftauchen, durchaus sichtbar werden.

Die Gegenüberstellung der zwei Meinungsbilder zeigt deutlich, daß die Expertinnen und Experten nicht nur eine Diagnose der möglichen Antworten von Mathematiklehrenden für ihre Schülerinnen und Schüler vornehmen, sondern selbst zu einer Art des Mathematikunterrichts neigen, die eine Antwort auf die gemeinsame Frage so vieler Lernender in beiden Ländern im Kontext der gleichen Inhalte und der Entwicklung des Lern- und Lehrprozesses ermöglicht.

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Endnote:

(181) Vgl. Lehrpläne und Lehrerhandbuch, Dritte Phase der Escuela Básica in den Fächern Mathematik und Physik in Venezuela (1987) und Lehrpläne der Primar- und Sekundarstufe in Nicaragua (1991).

(182) Siehe Freudenthal (1973 und 1978).

(183) Vgl. Polya (1972); Rodríguez-Gómez (1988 und 1992) und Schoenfeld (1985).

(184) Vgl. Freire (1980).

(185) Vgl. Freire (1985, 115f.).

(186) Für eine weitere Erklärung der Begriffe Algorithmus, Mathematisieren, Modell, Modellieren siehe unter anderem z. B. Skovsmose (1994a).

(187) Für eine detaillierte Information über das Konzept des Modells im Mathematikunterricht siehe Blum / Niss (1991, 37 - 68).

(188) Für eine Kritik am Formalismus im Mathematikunterricht siehe Skovsmose (1994b, 53-55).

(189) Siehe Freire (1973 und 1985).

(190) Siehe aktuelle Schulmathematikbücher in Nicaragua und Venezuela.

(191) Siehe die Analyse über das Thema im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit.

(192) Siehe für einen weiteren Überblick über die gegenwärtige Diskussion in Deutschland: Bambach / Bartnitzky / Ilsemann / Otto (1996) und Lind (1991), insbesondere beim Mathematikunterricht.

(193) Siehe Wagenschein (1970) und Freire (1985). Keitel (1986, ) schreibt z. B.: "Isn’t it this schizophrenia which makes us tell the student that everybody has a good chance to learn mathematics, knowing at the same time that examinations by their very construction have to ensure a certain percentage of failures? Isn’t it schizophrenia that we invite them to do creative mathematics and yet let work for examinations? I think that children who suffer from school mathematics are not really suffering from mathematics but from this schizophrenia, which affects them quite considerably".

(194) Über Gruppenarbeit siehe z.B. Meyer (1972 und 1990), McMeekin (1994) und Klafki (1992); über kooperatives Lernen im Mathematikunterricht siehe z. B. Röhr (1995a, 1995b und 1997). Über Partnerarbeit siehe z. B. Nuhn (1995).

(195) In dem Buch "Evaluación de los aprendizajes matemáticos" befinden sich umfassende Beiträge über andere Möglichkeiten, die mathematischen Arbeiten der Lernenden zu beurteilen. Es ist sehr wichtig zu wissen, daß die Evaluation doch nach qualitativen Prinzipien erfolgt (siehe Mosquera / Quintero 1996).

(196) Siehe die Kapitel 6 und 10 des Buches "Theorie und Praxis des kooperativen Unterrichts", Band I von Ulshöfer (1971, 85 und 154) und Röhr (1995a, 1997).

(197) Über das Thema Geometrieunterricht gibt es eine umfassende Literatur, auf die hier unmöglich hingewiesen werden kann. Siehe z. B. Kaiser-Meßmer / Blum / Schober (1992, 167).

(198) Vgl. Orellana-Chacin (1990).

(199) Man kann häufig beobachten, daß in verschiedenen Fachzeitschriften von der Grundschule bis zum Abitur dem Thema des Geometrieunterrichts ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet und Raum für interessante Beiträge gelassen wird, insbesondere ausgehend von den konkreten Erfahrungen mit den Lernenden.

(200) Vgl. z. B. Gerdes (1990).

(201) Zumpe (1984, 29-37) gibt eine umfangreiche Beschreibung und Analyse über die Implementierung der Neuen Mathematik in der Grundschule auf Grund der Diskussionen in den siebziger Jahren.

(202) Für eine weitere und komplexe Information über die Reform des Mathematikunterrichts in Venezuela von 1958 bis 1978 werden die Autoren Orellana-Chacín (1980) und Rodriguez-Gomez (1979) empfohlen.

(203) In der Zeitschrift "Erziehung" Nº 103-104 (April 1963) des venezolanischen ME wird ausführlich die Situation des Mathematikunterrichts in der Schule des Landes beschrieben. Dort heißt es, daß der damalige Mathematikunterricht nur abstrakt und ohne Beziehung zur Welt, den Bedürfnissen des Landes und der Bevölkerung abgehalten wurde.

(204) Vgl. Freudenthal (1963, 1973). Die Opposition zur Standardisierung der neuen Mathematik wird von verschiedenen Sektoren und in verschiedenen Orten unterstützt. Zumpe (1984, 29) bestätigt in ihrer Forschungsarbeit über "Der Neue Mathematikunterricht in der Grundschule" z. B.: "mit der Implementation des neuen Mathematikunterrichts wuchs auch die Kritik an dieser Unterrichtsreform, sowohl aus fachdidaktischer wie auch aus fachwissenschaftlicher Sicht".

(205) Vgl. Servais (1976).

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