2.4 Zusammenfassung und Folgerungen für didaktische und curriculare Innovationen des Mathematikunterrichts |
Bei allen Unterschieden zwischen den drei oben beschriebenen Erfahrungen im Hinblick auf Länder und Ebenen des Bildungssystems war der gemeinsame Nenner die "Educación Popular". In Abb. 9 ist die didaktische Methode dargestellt. Es zeigt sich ein komplexes Modell (auch im Mathematikunterricht), in dem fünf untereinander verbundene Phasen enthalten sind:
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Ausgangspunkt ist die soziale Komplexität, die für die "Educación Popular" das wesentliche Motiv der Bildung ist und tiefgreifende, permanente Veränderungen erfordert, zu denen Bildung vieles beitragen kann. Alle am Bildungsweg Beteiligten verfügen über eine Gesamtheit biographischer und Bildungserfahrungen sowie über individuelle und kollektive Merkmale, die im Zusammenspiel von lokal-kommunalem und schulischem Kontext die Vorbedingungen der Gruppe bilden, unter denen der Lern- und Lehrprozeß im Mathematikunterricht beginnt. Entsprechend diesen Bedingungen und der generativen Themen benennt die Gruppe die spezifischen Probleme, die behandelt werden sollen. Zur Lösung des oder der Probleme werden unter Nutzung der Aktionsforschungsmethode in der Schule und außerhalb Lern- und Lehraktivitäten entwickelt. In der fünften Phase, die fast zeitgleich abläuft, wird ein Ergebnis erzielt, das sich nicht nur in quantitativen und/oder materiellen Resultaten niederschlägt, sondern auch in kritischen Veränderungen des Verhaltens und der Einstellung der Beteiligten, die sowohl für die Bildung aller als auch für Aktionen bei möglichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen kurz-, mittel- und langfristig von entscheidender Bedeutung sind.
Dieser zyklische Prozeß der "Educación Popular", der sich vor allem auf das Werk von Freire stützt und auch für den Mathematikunterricht Gültigkeit hat, weist Parallelen zu den bereits bekannten fortschrittlichen pädagogischen Konzeptionen auf (Schulz 1990), die nach Brügelmann / Danckwerts (1997, 27) wie folgt zusammengefaßt werden können:
-"die "Arbeits-" oder Produktionsschule", z.B. bei Makarenko, die SchülerInnen in Ernstsituationen fordert und ihnen ermöglicht, handlungs- und produktorientiert zu lernen,
-die "Projektmethode" nach Dewey, die nicht nur methodisch die Formen des Lernens verändert, sondern die Lernenden auch in die Mitverantwortung und Reflexion ihrer Arbeit einbindet,
-die "Kooperative" nach Freinet, die Lernen als soziale Tätigkeit im Austausch mit anderen (z.B. über Korrespondenz) und damit als Lernen von- und miteinander begriff".
Diese Form der aktiven und antiautoritären Bildung (Prinzipien der Educación Popular) ist auch in konkreten historischen Erfahrungen der Umsetzung einer pädagogischen Konzeption in Deutschland zu finden (53) , speziell bei den aktiven Schulen in Hamburg und der Arbeitsschule in München. Ihr theoretisch-pädagogisches Prinzip war die Überwindung der Schule. Es ist nicht Anliegen der vorliegenden Arbeit, historische Übereinstimmungen und Unterschiede dieser pädagogischen Bewegungen festzustellen, wichtig ist aber die Feststellung, daß Versuche einer Umsetzung libertärer Pädagogik - heute stärker politisch und didaktisch reflektiert (Schulz 1996b) - im Hinblick auf die für die Praxis notwendigen Methoden für die drei Ebenen des Bildungssystems (Freire 1973, Mellin-Olsen 1987, Kemmis 1988 und 1993, Pérez-Luna 1993, Volk 1995, Oberliesen, 1994, Skovsmose 1994, Schulz 1995, u.a.) auch weiterhin Gültigkeit hat. Die Dringlichkeit von Problemlösungen für die Bildung selbst und für ihre Rolle bei der Aufklärung der Schwierigkeiten der Gesellschaft insgesamt erfordert emanzipatorische pädagogische Prinzipien, die an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten bereits umgesetzt wurden. Wolfgang Schulz (1990b, 404) meint in seinem kritischen Beitrag zum Konzept des praktischen Lernens (Fauser / Flitner / Korand / Liebau / Schweitzer 1988) unter Berücksichtigung der Erfahrungen zum Mathematikunterricht von Kämmerer (1987):
"Die Frage der Schülerinnen und Schüler nach der Bedeutung, die Energieverschwendung im Haushalt neben der z. B. in der Industrie habe, bzw. ob Energiesparen im Alltag nicht nur "ein Tropfen auf den heißen Stein" sei, ist eine lebenspraktische Frage, deren Komplexität weder im politischen, noch im mathematischen, noch im physikalischen Fachunterricht anders als aspekthaft behandelt werden kann. Sie wird hier - realistischerweise - nicht unter den Bedingungen eines einfachen vorindustriellen Lebens aufgeworfen, sondern unter denen der Überflußgesellschaft mit ökologischem Risiko"
Schulz Sichtweise zeigt, daß bei der Betrachtung des Mathematikunterrichts auf der Grundlage der Untersuchung des Kontextes, in dem die Schülerinnen und Schüler leben, ihrer konkreten Lebenswirklichkeit, und mit Blick auf den globalen Kontext nicht nur die Tatsachen im Umfeld der Schule und der Gemeinschaft beobachtet und beschrieben werden, sondern der Prozeß des Arbeitens unweigerlich zu einer Stärkung des Bewußtsein der am Aktiv- und Arbeitslernprozeß Beteiligten führt (Tonucci 1983 und Schönknecht 1997), ebenso wie zu einer engeren Verbindung zwischen Theorie und Praxis im Mathematikunterricht und den naturwissenschaftlichen Fächern (Münzinger / Liebau 1987). (54)
Das Leben der Lernenden in Venezuela und Nicaragua offeriert eine Vielzahl von Erfahrungen und Situationen, die voller Mathematik sind, aber nicht der hübschen vorgefertigten, wo die Ergebnisse schon bekannt sind, die erwartet werden nach dem Stellen und Lösen der künstlichen Probleme (Polya 1978), die meist von den Lehrenden schon vorgedacht sind und für die Lernenden wenig Bedeutung haben, weil sie mit ihrer Welt und ihren Interessen nichts zu tun haben. Es geht um eine andere Sicht auf die Mathematik und den Unterricht, die in methodischer Hinsicht über das hinausgeht, was aus den Lehrbüchern und Lehrplänen bekannt ist. Es geht um die Mathematik, die notwendig ist zum Erkennen, Interpretieren, für theoretische Lösungen und die kollektive Suche nach institutionellen Lösungen für konkrete Probleme der Bevölkerung. Bei Volk (1994, 7) heißt es: "Das erzieherische Handeln im Mathematikunterricht soll, jedenfalls, Fähigkeiten üben und herstellen, mit denen man in aktuellen und in abzusehenden Situationen des täglichen Lebens begründete Orientierungen einsichtig entwickeln und verfolgen kann". Es geht aber auch um eine einfache, angenehme Mathematik, die der Bevölkerung, vor allem den Kindern und Jugendlichen, Freude und Spaß bereitet (Freudenthal 1981 und 1982).
Mathematikunterricht könnte in Venezuela, Nicaragua und Deutschland in vielen Aspekten ähnlich sein, von der Behandlung elementarer Inhalte wie die vier Grundrechenarten (Keitel 1979) in der Grundschule bis hin zu komplexen Themen (Volk 1993a und 1995). Unterschiede ergeben sich aber auf Grund der Typologie der Probleme, der geographischen Zuordnung, des Situationskontextes, der Interessen, der Lebens- und Lernbedingungen, der vorhandenen Ressourcen, der ethnischen Konflikte (Schurrer 1996), der Art des Erkenntnisgewinns (DŽAmbrosio 1986) und der konkreten Erfahrungen der Menschen in kultureller Hinsicht (Frankenstein 1994).
Eine der Bestrebungen der libertären Schule besteht darin, den Lernenden die Gelegenheit zu geben, auch bei der Erarbeitung mathematischen Wissens aktiv und konkret teilzunehmen. Möglich wird dies durch die Vielfalt konkreter Materialien in der Natur oder im Ergebnis der Arbeit von Lehrenden und Lernenden, die für den Unterricht in diesem Fach genutzt werden können.
Der Gedanke des aktiven, praktischen und sozialen Mathematikunterrichts (Wittmann 1988b und Winter / Schwartz 1981) ist in diesem Kontext eng verbunden mit der humaneren praktischen Arbeit der Lernenden. Dies ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung, einmal wegen des Lehrens und Lernens mittels produktiver praktischer Aktivitäten, bei denen eine Vielzahl kognitiver, emotionaler, ästhetischer und kritischer Aspekte (Freire 1981, Klafki 1985 und 1991, Oberliesen 1994 und Schulz 1996b) enthalten sind. Andererseits kann kreative Arbeit in Kooperation (Röhr, 1995a) und Harmonie mit den anderen, ohne Sektierertum und Konkurrenzkampf, zur Entwicklung bestimmter unabhängiger Fähigkeiten und zu Lernerfolgen führen, die in der traditionellen Schule Egoismus, Isolierung und Konsumdenken Vorschub leisten. Für Oberliesen (1994a, 87) bedeutet die aktive und partizipative Arbeit der Kinder und Jugendlichen nicht nur Umgang mit bereits fertigen Dingen:
"Hierin sind sicher auch Grunderfahrungen im Umgang mit verschiedenen Materialien und Werkzeugen eingeschlossen: Die Bearbeitung von Werkstoffen mit verschiedenen Werkzeugen sowie deren Unterscheidung ermöglichen generell bedeutende Vorerfahrungen für ein sich entwickelndes Verständnis von Arbeit und produktionsorientiertes Tätigsein".
Das heißt, Schule wird zur Werkstatt und zum Labor, bringt Ideen, konkrete Gegenstände und Wissen hervor, ist nicht losgelöst von Kritik, Politik und Unterhaltung als menschlichen Kompetenzen, die für ihre eigene Existenz unverzichtbar sind. Das Konzept des aktiven und sozialen Lernens orientiert nicht nur auf die Partizipation der Lernenden bei der Erarbeitung mathematischer Kenntnisse, sondern beinhaltet auch die soziale Interaktion mit den übrigen Gruppenmitgliedern. Das heißt, gemeinsame Arbeit und Diskussion von Lösungen und Fragen spielt eine Schlüsselrolle im Lern- und Lehrprozeß. Krauthausen (1994, 17f.) beschreibt es so:
"Wenn hier vom selbständigen Konstruieren des Schülers, der Reflexion des Schülers über das eigene Lernen gesprochen wird, so ist damit ausdrücklich auch immer der soziale Aspekt des Lernprozesses mitgemeint. Lernen in diesem Sinne vollzieht sich also nicht singulär, isoliert, sondern in der ständigen Auseinandersetzung mit anderen "Mitlernenden".
Aktiver, praktischer und sozialer Mathematikunterricht fordert von den Lehrenden, Studentinnen und Studenten der Erziehungswissenschaft, sich mit diesen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, damit sie im Kontakt mit den Schülerinnen und Schülern eine innovative Konzeption des Mathematikunterrichts umsetzen, die dem Ziel dient, im Sinne einer besseren Gesellschaft unmittelbare und zukünftige Kompetenzen bei und mit den Schülerinnen und Schülern hervorzubringen. Bei Wittmann (1996, 78) heißt es dazu:
"Wenn der Lehrer in einem klein- und gleichschrittigen Unterricht alles genau vormacht und die Grundschüler nur rezipieren und reproduzieren können, wird es sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich sein, sie später als Lehrlinge, Studenten oder Mitarbeiter zu eigenaktiver Tätigkeit zu bewegen. Diesen simplen Zusammenhang sollte man sich überall in der Gesellschaft gründlich bewußt machen."
Diese Vorstellungen von einem Mathematikunterricht, so wie sie auch von der Educación Popular gefordert und in diesem Kapitel beschrieben werden, kann man in die Praxis umsetzen, wenn man mit den Lehrenden in beiden Ländern in einen Prozeß der Reflexion und Transformation eintritt. Aus Kapitel 2 kann man daher ableiten, daß es eine Reihe von Beiträgen sowohl über die Idee der Educación Popular als auch über die emanzipatorischen Strömungen im Mathematikunterricht gibt, die in einer empirischen Untersuchung auch in dem sozialen Kontext der beiden lateinamerikanischen Länder Ausgangspunkte und Impulse für eine Erneuerung des Mathematikunterrichts geben könnten. In Kapitel 3 wird der forschungsmethodische Ansatz und das Untersuchungskonzept eingehend diskutiert, weil die explorative empirische Studie das Hauptelement dieser Forschungsarbeit darstellt.
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Endnote
:(53) Zur weiteren Information über die wichtigsten Erfahrungen der Umsetzung libertärer Pädagogik in Deutschland, die zu den interessantesten weltweit gehören, wird das Buch "El maestro-compañero y la pedagogía libertaria" (Schmid 1973) empfohlen, das sich vor allem auf die Hamburger Schule bezieht (Hamburger Modell), aber die inoffizielle pädagogische Reform zwischen 1919 und 1933 sehr gut darstellt. Die Herausgeber der spanischen Ausgabe von 1973 äußern die Auffassung, daß die im dritten Kapitel enthaltene Kritik "zumindest anachronistisch" ist.
(54) Vgl. z. B. Köhler / Schreier: Sachunterricht Natur 1-4, mit Bezug auf die didaktischen Prinzipien bei Schulz (Kompetenz-Autonomie-Solidarität), dargestellt in der Arbeit: Unterrichtsplanung 1980.