Bei Vertretern des Bildungswesens in Nicaragua und Venezuela, aber auch in Deutschland geben einige Auffassungen über die Rolle der Grundschule bei der Vorbereitung der Kinder und Jugendlichen auf die Gesellschaft der Gegenwart Anlaß zur Besorgnis. Als Intentionen ihrer Tätigkeit heben sie Folgendes hervor: Integration in und mit unterschiedlichen Lebensformen innerhalb und außerhalb der Schule; Einführung in spezifische Kenntnisse der Naturwissenschaften, Mathematik, Sozialwissenschaften u.a. zum besseren Verständnis der Welt, in der sie leben; Stärkung demokratischer Verhaltensweisen für ein harmonisches Zusammenleben in ihrer Umgebung und mit der Umwelt. Es geht also nur um die Vermittlung einer Reihe von Fertigkeiten und Fähigkeiten für die Assimilation und Akzeptanz einer sozialen Komplexität, für die sie nicht verantwortlich sind und nicht verantwortlich gemacht werden sollten. Häufig werden sie systematisch einem ständigen Einfluß von Informationen, Erfahrungen und unterschiedlichen Realitäten ausgesetzt, die nicht dazu dienen, die wesentlichen Widersprüche ihrer Lebensrealität zu erkennen (Lacueva 1993, Rolf / Zimmermann 1994, Oberliesen 1994a, Arríen 1996), sondern eher eine Ablenkungs- bzw. Verschleierungsfunktion erfüllen. In einigen Fällen geschieht das künstlich, indem die tatsächliche Realität der Individuen und spezifischen Orte verborgen wird. Die Lebenswirklichkeit ist allerdings sehr komplex und hat in jedem Land andere Konnotationen. In einem Bildungsprozeß sollten aber die Konfrontationslinien in bezug auf die jeweiligen Lebenswirklichkeiten herausgearbeitet werden, um Änderungen der Realität herbeiführen zu können. Die existierenden Realitätsebenen sollen im folgenden in drei Kategorien klassifiziert werden, die selbstverständlich miteinander verknüpft sind.
2.2.3.1 Gesellschaftliche Realität in Ländern Nicaragua und Venezuela |
Die Realität beider Länder ist besonders in den großen Städten in bezug auf Not und Schwierigkeiten wie Hunger, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Verachtung, Vernachlässigung und Erniedrigung ähnlich. Es ist die harte Realität der Straße vor allem für Kinder und Frauen, die Opfer von Verachtung und Ausbeutung sind.
In den Gegenden außerhalb der Städte gibt es vor allem für die Kinder auf dem Land und in kleinen Ortschaften bessere Möglichkeiten, mit der natürlichen Umwelt zu leben, hier ist mehr Raum und Freiheit als in den Städten, aber dennoch ist die Realität hart. Den Menschen wird die Umwelt entzogen oder zerstört, ihr Eigentum wird ihnen subtil oder gewaltsam genommen, sie werden beeinflußt, das Land oder die Gegend, in der sie geboren wurden, zu verlassen - manchmal unter dem Vorwand der Tourismusentwicklung - was zu unkontrollierbaren Migrationen führt. Der Grundbedarf der Kinder und Jugendlichen ist nicht gesichert, sie werden verantwortungslos marginalisiert und sogar mißhandelt.
Kinder in Lateinamerika haben ein hartes Leben, sie werden zu unmenschlicher Arbeit und Ausbeutung herangezogen. Es gibt niemanden, der sie beschützt. Es gibt zu wenig Schulen, und diejenigen, die zur Schule gehen können, haben Schwierigkeiten,sie regelmäßig zu besuchen. Die medizinische Betreuung ist unzureichend, Freizeit und Freiheit für ein würdiges und annehmbares Leben haben sie nicht. In Nicaragua gibt es laut Arien (1996, 27) " zu viele Kinder, etwa zwei Drittel der Schulanfänger, die vor Abschluß der vierten Klasse die Schule verlassen. Solange das so ist, wird der Analphabetismus ansteigen und wir werden keine Zukunft als Nation haben" (27) . In Venezuela ist das Leben der Kinder trotz der etwas besseren Situation des Landes unerträglich. Cova (1996, 55) merkt dazu an:
"In einem Zeitraum von ca.. 15 Jahren hat sich die soziale Infrastruktur des Landes in überraschendem Maße verschlechtert. Diese Infrastruktur, die aus den Erdöleinnahmen finanziert wurde und mehreren Generationen von Venezolanern bessere Lebensbedingungen und die Möglichkeit sozialen Aufstiegs bot, sichert heute einer großen Zahl von Venezolanern nicht einmal elementare Leistungen."
Viele Kinder in beiden Ländern müssen arbeiten, um nicht vom Stehlen zu leben. Nur so können sie in einer ungerechten Welt überleben, über die in der kapitalistischen Schule nicht diskutiert wird, weil die Interessen und Bedürfnisse der Mehrheit in ihr keine Rolle spielen. Schule und Mathematikunterricht müssen sich aber diesem politischen Problem widmen (Freire 1980). Es reicht nicht aus, daß den Schülerinnen und Schülern guter Mathematikunterricht angeboten wird, der didaktisch interessant und effektiv ist. Bei der Behandlung des Themas Weltbevölkerung, das in vielen Lehrbüchern auftaucht, muß auch danach gefragt werden, wie die Menschen an verschiedenen Orten der Erde leben und warum die Mehrheit in so schwierigen Bedingungen lebt (Strahm 1986, Bliss 1993, Latouche 1993 und Rahnema 1993) (28) . Das ist auch Teil des Mathematikunterrichts, denn er kann dazu beitragen, die Ursachen, Konsequenzen und Lösungsansätze des Bevölkerungswachstums, der Verteilung des Reichtums, der lokalen, nationalen und internationalen Marktbedingungen und anderer direkt mit dem Thema verknüpfter Fragen zu klären.
Die Bildungsinhalte, -ziele und -methoden sollten mit den Interessen und Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler und der Bevölkerung insgesamt verbunden sein, mehr als mit den Bedürfnissen des Staates, einer abstrakten Gesellschaft und der Klassenschule. Die Klassengesellschaft vermittelt das, was ihren Interessen dient, nicht aber die Gründe und Ursachen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Phänomene, die viele verdeckte Wahrheiten aufdecken könnten. Das zu untersuchen, was draußen im Alltag geschieht, kann zum Bruch mit der Funktion und der Rolle der Schule als Element der Beibehaltung der Dualität Unterdrückte-Unterdrücker führen. Pérez-Luna (1993, 31) stellt dazu fest, "die Schule wird zu einer Institution der sozialen Legitimation, indem sie die legitimiert, die lehren, den Kodex, nach dem sie es tun, wofür und für welche Herrschaftsbeziehungen sie es tun".
Wenn der Unterricht in Mathematik oder anderen Fächern in direktem Kontakt z.B. mit Kaffee- und Baumwollplantagen in Nicaragua oder den Ölquellen am Maracaibo-See in Venezuela abgehalten würde, könnten z.B. die Auswirkungen dieser Produktion auf die Umwelt und die Nutznießer untersucht werden, die mit Sicherheit nicht die Kinder in Nicaragua und Venezuela und auch nicht die in den Industrieländern sind. Wenn das Thema des übermäßigen Konsums in einigen Ländern, die Herstellung unnützer Produkte unter Verschwendung von Rohstoffen aus den Ländern, die nicht im Besitz der Technologien sind, im Mathematikunterricht behandelt wird, müssen die Folgen für die betroffenen Länder analysiert werden, wie Strahm (1986) vorschlägt. Das Problem der Auslandsverschuldung mathematisch zu diskutieren, wer davon profitiert und wer benachteiligt wird, könnte für die Schülerinnen und Schüler sehr interessant sein und zur Bewußtseinsbildung bei den Betroffenen beitragen, damit sie in der Wahrnehmung ihrer demokratischen Rechte gestärkt werden. Es gibt eine Vielzahl weiterer Beispiele (29) , die mit einiger Entschiedenheit und Phantasie umgesetzt werden könnten, um das traurige Bild des Mathematikunterrichts zu überwinden und den Lernenden einen menschlicheren und realistischeren Unterricht zu bieten (Volk 1995, 60).
Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die soziale und intellektuelle Verbindung der Lernenden zu ihrer Welt, zur Familie, zur Schule und zu den Freunden. Hier finden sie Gesellschaft, Sicherheit und Wertschätzung. Ihre Träume und Ängste unterscheiden sich von denen der Erwachsenen, die sie manchmal nicht verstehen, weil sie die Erlebnisse, Sorgen und Erfahrungen der Erwachsenen noch nicht gemacht haben, auch wenn sie mit ihnen zusammenleben. Sie vergleichen ihre Erfahrungen mit denen Gleichaltriger, weil hier die Identifikation von Raum, Spielen und Gemeinsamkeiten leichter ist. Danner (1985, 80) sagt, "das Kind erfährt und interpretiert Wirklichkeit auf seine spezifische Weise: in Offenheit, Unbestimmtheit und Unverbindlichkeit der Sinngebung; in zeitlicher, räumlicher und leiblicher Präsenz; in Bezogenheit und Angewiesenheit auf andere; in einem Freiraum des Ausprobieren-Dürfens".
Im Kontakt mit anderen zeigen sich ihre Potenzen, und Spiele lieben alle Kinder auf der Welt. Oberliesen (1994a, 76) stellt dazu fest: "Spielen gehört zweifellos zu jenen Formen kindlicher Tätigkeiten, über die sie sich ihre materielle und soziale Umwelt aneignen und verarbeiten, hierin entwickeln sie ihre Phantasie und ihr Selbstbewußtsein." Ratespiele, Arbeiten mit den Händen, Kontakt zur Natur brauchen sie, hier entfalten sie ihre physischen, handwerklichen und geistigen Fähigkeiten. Sie bauen und zerstören im guten Sinne des Wortes, die dem Akt innewohnende Gewalt manifestiert sich kaum als Grundverhalten. Mit den ersten Kontakten zur Umwelt fangen sie an, Erfahrungen zu sammeln, die geprägt sind durch das enge Verhältnis zum geographischen, historischen und sozialen Ort, an dem sie sich befinden. Sie kommen nicht als unbeschriebenes Blatt in die Schule, sondern verfügen über Informationen und Erfahrungen, Ängste, Vorstellungen und Hoffnungen, die die Schule nicht übergehen darf. Lacueva (1993, 62) schreibt dazu:
"Jeder Junge, jedes Mädchen hat, schon wenn es in die Vorschule kommt, eine Geschichte hinter sich, die fortgeschrieben wird, während er oder sie die Schule besucht. Eine Geschichte, in der die Schule natürlich eine Rolle zu spielen hat, in der aber auch die Familie, das Viertel, die Spielkameraden, das Fernsehen und darüber hinausgehend die Einflüsse ihrer sozialen Klasse und anderer sozialer Klassen in einem kulturellen Umfeld aus Häusern, Maschinen, humanisierter Natur, Gesetzen, Normen und Bräuchen ihren Platz haben."
Kinder bringen in die Schule ihre Verhaltensweisen und Gewohnheiten mit und finden dort eine andere Atmosphäre vor, die ebenso komplex oder komplexer ist als die, die sie aus dem Kindergarten und dem Umfeld von Familie und Freunden kennen. Sie finden einen Raum und eine Autorität vor, die letztendlich über einen großen Teil ihres Lebens entscheidet. Aufgabe der Lehrenden als Vertreter eines Systems ist es, die für die neue Generation angenommenen grundlegenden Verhaltensweisen zu schulen und Kenntnisse zu vermitteln, ohne dabei auf die Gefühle, Schwierigkeiten und Erlebnisse der Gruppe und jedes einzelnen Gruppenmitglieds einzugehen. Dabei gerät manchmal in Vergessenheit, daß die Kinder in der Interaktion mit anderen Kindern und den Erwachsenen ausreichend Zeit und Raum brauchen, nicht nur für die Aneignung von Kenntnissen und Anpassung an eine bestimmte Gesellschaft, sondern vor allem für das Leben selbst, für Freizeit und Zusammenleben mit den anderen. Mit Beck (1994, 18) kann zusammengefaßt werden:
,,-Kinder bringen sich selbst mit in die Schule - Raum und Zeit für individuelle und kooperative Aneignung - Raum und Zeit für gemeinsames Erleben - Raum und Zeit für gemeinsames Spiel -Raum und Zeit für Unglücklichsein - Raum und Zeit für ,,echtes" Leben - Kinder brauchen Zeit für Außenkontakte - Raum und Zeit für Liebe - Kinder brauchen Raum und Zeit für freie Texte - Kinder brauchen Raum und Zeit für ihre Beziehungen".
Die dritte Realität, mit der die Kinder und Jugendlichen in aller Welt in der Gegenwart konfrontiert sind, ist die von den Informations- und Propagandamedien vermittelte, die ohne Unterschied von Klasse, Rasse oder Religion jeden Winkel erreicht. Es hat fast den Anschein, als sei das Konsumsystem im Interesse der Entfremdung, Kolonisierung und Prosperität daran interessiert, allen die gleiche Botschaft zu senden. Es ist geradezu unglaublich, wie sich die Abhängigkeit von Familien und Jugendlichen vom Fernsehen verstärkt hat, allen Bemühungen einiger Eltern und Lehrenden zum Trotz. Scholz (1985, 58) stellte zum Beispiel fest:
"Für die Hälfte meiner Schüler trifft zu, daß das Fernsehgerät bereits zum Familienmittelpunkt geworden ist. Selbst minimale traditionelle Familiengewohnheiten wie feste Essenszeiten, Ruhe- und Schlafenszeiten sind dem Fernsehprogramm angepaßt worden."
Mit dem Aufschwung der sogenannten "neuen Medien" ist die Lebensrealität der Kinder nicht mehr nur mit dem Fernsehen (mit seiner Vielzahl negativer Effekte) verknüpft, sondern auch mit dem PC und all seinem Zubehör. Immer mehr Menschen leben in dieser Welt, ohne über die Konsequenzen nachzudenken oder die Möglichkeiten sinnvoll zu nutzen. Oberliesen (1994a, 79) meint dazu:
"Für die Kinder der 90er Jahre steht rund um die Uhr eine Fülle von auditiven und audiovisuellen Medien in verschiedenen Versionen und Programmen zur Verfügung, angefangen von einer Vielzahl verschiedener über Kabel, terrestrisch oder über Satelliten angebotenen Fernseh- und Rundfunkprogramme (...) Kinder werden in einer mediatisierten Wirklichkeit in besonderer Weise in eine Rolle gedrängt, die ihnen immer weniger Möglichkeiten bietet sich mit der sie umgebenden und sie einbegreifenden "Objekt- und Ideenwelt" konstruktiv auseinanderzusetzen."
Die Medien, speziell das Fernsehen, vermitteln Werte, Glauben, Verhaltensweisen, Haltungen und häufig eine bereits bearbeitete, um nicht zu sagen verfälschte oder manipulierte Realität unter dem Banner der Moderne, des freien Marktes, des Fortschritts und der Entwicklung (30) . Die immer einflußreicheren Informationstechnologien, die von Regierungen, nationalen und transnationalen Firmen kontrolliert werden, dienen letztendlich dem Ziel, Verhaltensweisen der Menschen zu verändern (Illich 1995), um Marktanteile zu erobern, Gewinne zu steigern und die Bevölkerung dergestalt zu steuern, daß sie unter der Wirkung der Werbung Mechanismen sucht, um all diese angeblichen Bedürfnisse zu befriedigen (31) . Dabei spielt der ethische und moralische Preis keine Rolle, ebensowenig eine so beunruhigende Frage wie "wer entwickelt wen?" (Schroeder 1993). Wichtig ist nur die Ablenkung von den wirklichen Grundbedürfnissen der Menschen. Für die herrschenden Kreise ist Mathematikunterricht, der diese Realitäten stärker hinterfragt, durchaus gefährlich.
Giroux (1994, 119f.) vermittelt einen Eindruck von dieser weltweiten Realität und Kultur der Kinder und Jugendlichen, die in der Schule noch immer nicht in die Erziehung und Bildung einbezogen, sondern übergangen wird, obwohl sie breiten Raum in ihrem Leben, ihren Träumen und Hoffnungen einnimmt. Unterschiede zwischen den Ländern und Regionen der Welt gibt es hier nicht, was auch auf Technologieentwicklung und Globalisierung zurückzuführen ist (32) ; wie versteckt der Winkel auch sein mag, die Botschaft ist immer die gleiche, denn alle haben ja das gleiche Recht zu kaufen:
" Auf die Interessen und den Geschmack dieser Generation reagierend hat z.B. "Mc Donald’s" HipHop-Musik und -bilder zur Werbung für Hamburger und Fritten eingeführt, ebenso Coca-Cola mit seinen frenetischen Werbungen für Coca-Cola Classic" (Hollingswort, 30). Benetton, Reebok und andere Firmen haben das Gleiche getan, um die Konsumwünsche, -identitäten und -ziele einer Generation von Jugendlichen zu prägen (...) Was die Pädagogen tun müssen, ist die Umwandlung des Pädagogischen in Politik, d.h. sowohl die Bedingungen, unter denen Lehre stattfindet, als auch den Sinn des Lernens für eine Generation verdeutlichen, die das Leben in einem völlig anderen Umfeld als den von der Schule präsentierten modernen Versionen erlebt."
(33)Familie und Schule akzeptieren diese Botschaft, diese internationale Realität als etwas Feststehendes, als von der Wissenschaft untersuchte und von der Mathematik häufig sogar bekräftigte Wahrheit. Wenige wagen es zu protestieren, denn das wäre Widerspruch gegen ein scheinbar funktionierendes Wirtschafts- und Lebensmodell, das aber dennoch immer mehr in Frage gestellt wird. Wer könnte die gereinigte, wie aus zweiter Hand kommende Realität anzweifeln? Wer ist gezwungen, irgendwo auf der Welt mit den Kindern und Jugendlichen über deren Realitäten zu diskutieren?
2.2.3.4 Kontrolle des Staates über die Einhaltung des Auftrags der Schule |
Man meint, die Schule hätte keine aufklärerische Funktion, sondern sollte andere Ziele verfolgen, so z.B. die Vermittlung von Fähigkeiten zum Nutzen der Entfaltung der Kinder in diesen objektiven und imaginären Realitäten. Die heutige Bankiers-Erziehung ist nicht in der Lage, das, was in Gesellschaft und Realität der Kinder und Jugendlichen vor sich geht, wirklich in Frage zu stellen und aufzudecken. Es gibt viele Gründe, die das verhindern. In den Lehrbüchern findet sich bereits vorgefertigtes Wissen und eine Botschaft, die nicht den Bedingungen der jeweiligen Region, des jeweiligen Landes entspricht, die Lehrpläne geben einen Unterricht vor, der den Interessen des Systems folgt, und die Ausbildung von Lehrenden an den pädagogischen Einrichtungen ist sehr akademisch und wenig investigativ. In Venezuela und Nicaragua haben die Lehrenden kaum Raum für Innovationen. Unabhängig von den Vorgaben der Bildungsministerien sollten sie mindestens ein Drittel ihrer Zeit darauf verwenden, gemeinsam mit anderen Lehrenden über alternative Unterrichtsaktivitäten, über die Gegenwart und Zukunft der Kinder und ihres Landes zu reflektieren.
Die Pädagogik- und Didaktiktheoretiker liefern Rezepte und Hinweise für das Vorgehen der Lehrenden, die methodische Irrtümer ausschließen und die strukturelle Ordnung nicht in Gefahr bringen. Wichtig scheint nur die Frage nach dem Wie der Vermittlung mathematischer Kenntnisse zu sein, auch wenn viele davon überzeugt sind, daß alle Menschen ein Recht auf dieses Wissen haben (Wagenschein 1970a und 1970b). Darum wird intensiv diskutiert und am "didaktischen Wunder" gearbeitet, um bei den Lernenden zwei Ziele zu erreichen, einerseits die Effizienz ihrer Leistungen und andererseits ihre kohärente Entwicklung im gegenwärtigen Produktionsprozeß.
Die Schule vermittelt den Kindern und der Bevölkerung durch vielfach durch Zensur gefilterte Botschaften den Glauben an die Existenz einer harmonischen Welt, die allen gleiche Bedingungen bietet. Information und Analyse von Fakten und Daten beeindrucken und bewegen niemanden, denn sie bleiben bei reiner Beschreibung und sind Teil der Normalität geworden. Manchmal ist die Botschaft unterschwellig und unbewußt, in anderen Fällen ganz bewußt gesetzt, denn der Staat überwacht mit Hilfe der ihm zur Verfügung stehenden Kontrollmechanismen den Inhalt der Lehrpläne, der Lehrbücher und des Unterrichts (Freire 1985, Pérez-Luna 1993, Kemmis 1992b und Giroux 1994) bis hin zum Zeitpunkt und Kontext, in dem bestimmte Kenntnisse vermittelt werden sollen. Diese Kontrolle erfolgt sehr subtil und vorsichtig, und die Fachministerien oder private und öffentliche Institutionen finanzieren sogar spezielle Studien (34) , um festzustellen, inwieweit sich die Schule von ihrer Funktion bei der Reproduktion der sozialen Ungleichheit entfernt.
In Nicaragua (Arríen 1996) und Venezuela (Cova 1996) findet sich die Auffassung, daß die Schule ihre traditionelle Rolle bei der Ausbildung der künftigen Arbeitnehmer als Bestandteil der Maschinerie von Produktion und Konsum weiter spielen sollte. Giroux (1994, 110) stellt dazu folgende Überlegung an:
"Die Lehrer klammern sich an das der Moderne eigene Argument, daß das technologische Wachstum weitergehen muß und sind nicht bereit, auf die seit langem gültige Formel zu verzichten, Schulzeugnisse stellten den besten Weg zur Sicherheit und Klassenmobilität dar. Neue ökonomische Bedingungen stellen die Effizienz der Massenschule, die die von den Unternehmern in der Vergangenheit nachgefragten gut ausgebildeten Arbeitskräfte lieferte, in Frage. Angesichts dieser Veränderungen besteht offenbar die dringende Notwendigkeit, daß Lehrer und andere Kulturarbeiter das Ziel der Schule hinterfragen."
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(27) Green (1996, 3) weist zum Beispiel auf folgendes hin: "There are 4.2 million people in Nicaragua, about 50% live in Managua, the capital. 70% of the population live under the poverty line. One million children don't go to school. 36% of adolescents don't make it though highschool. Infant mortality is at 53 per thousand. 27% of prison inmates are between 15 and 19 years of age. There is now 60% unemployment. There has been a marked decline in literacy and people in rural areas have lost their literacy skills. In answer to a question of what we can do to support the work of Cantera in Nicaragua, Montserrat stated that more important than any material aid is the work of each individual with respect to their own home community. To deal with our own developmental issues and bring about change is the greatest gift of solidarity."
(28) Vgl. Kröpfl / Kronsteiner / Thoma (1997, 23 - 46) und Merkel (1997).
(29) In zahlreichen Arbeiten zum Mathematikunterricht finden sich vielfältige und interessante Beispielvorschläge, die - Modifizierung und Anpassung an die spezifischen Bedingungen vorausgesetzt - im Unterricht angewandt werden können.
(30) Vgl. hierzu beispielsweise bei Sachs einen detaillierten kritischen Beitrag verschiedener Autoren zum Problem bezüglich "The Development" (1992, englische Ausgabe) mit dem Titel "Wie im Westen so auf Erden" (1993a, deutsche Ausgabe).
(31) Die venezolanischen Psychoanalytiker Edmundo Chrinos und José Luis Bethancourt haben in ihren Analysen eine direkte Beziehung zwischen dem Kriminalitätsanstieg im Land und der im Fernsehen ausgestrahlten Werbung gefunden.
(32) Siehe Martin / Schumann (1997).
(33) Obwohl sich dieses Zitat von Giroux (1994, 119f.) auf die USA bezieht, ist anzumerken, daß die Jugendlichen in Nicaragua und Venezuela, gleich welchen Alters, vom Konsum dieser und weiterer Produkte abhängen, da sie den Botschaften der transnationalen Konzerne täglich ausgeliefert sind.
(34) In Venezuela waren Weltbank, IWF und BID gemeinsam mit dem Bildungsministerium an der Untersuchung und Analyse der Situation im Bildungswesen beteiligt. Auch in Nicaragua ist die Weltbank in diesem Bereich aktiv, nicht so sehr, um die Bildungssituation zu verbessern, sondern um Impulse für eine Ausbildung zu geben, die den Interessen dieser internationalen Institutionen und der politisch und wirtschaftlich Herrschenden des Landes dienlich ist.