Zu den aktuellen Problemen des Mathematikunterrichts gibt es eine Reihe vo Diskussionen (Howson / Wilson 1986, Baruk 1989, D`Ambrosio 1990, Heymann 1996a, u.a.). Besonders kritisiert wurden die Defizite im Hinblick auf die Methoden und Techniken der Lehre. Immer noch wird nach Formen gesucht, die dazu beitragen, daß die Lernenden die curricularen Inhalte verschiedener Disziplinen besser beherrschen, wofür unterschiedlichste didaktische Tendenzen und Strategien entwickelt werden, die für spezifische Gebiete wie Geometrie, Arithmetik oder Sachrechnen interessante und innovative Vorschläge mit sich brachten (16) . Es ist legitim und verständlich, daß dies geschieht, darüber hinaus ist es notwendig, weil dadurch auch in der Praxis methodische Defizite in der jüngeren Geschichte der Didaktik überwunden werden könnten. Dabei wird jedoch leider häufig die politische Dimension der Bildung und Erziehung - und damit auch der Pädagogik und Didaktik - ausgeklammert.
Überlegungen und Vorschläge im Rahmen des Konzepts der Educación Popular blenden solche Diskussionsprozesse und konkreten didaktischen Ansätze nicht aus, wenn sie dem Heranwachsenden und seinem Wohl Rechnung tragen. Darüber hinausgehend verfolgen sie aber das Ziel, der Bildung in jedem sozialen Kontext, sowohl in der Ausbildung der Lehrenden an Schule und Hochschule als auch in deren späterer Entfaltung in der Arbeit mit Kindern und Heranwachsenden in den Bildungs- und Gemeindeeinrichtungen die politische Dimension zu verleihen, die ihnen zu eigen ist und die in jeder Disziplin, also auch der Mathematik, präsent ist. Dies ist einer der wichtigsten Aspekte der Educación Popular, den Freire (1981, 111-115) so zusammenfaßt:
"Wenn du Lehrer bist, mußt du früher oder später deine eigenen Erfahrungen politisch reflektieren und dir dabei bewußt werden, daß du immer auch politisch handelst. Das heißt nicht, daß, wenn wir als Pädagogen anfangen zu arbeiten, wir uns unbedingt unserer Rolle als Politiker bewußt sein müßten. Darum halte ich es für so wichtig, daß in einem Seminar zur Ausbildung von Lehrern die politische Dimension von Erziehung und Bildung herausgearbeitet wird. Aber was wird statt dessen in den Seminaren zur Lehrerausbildung getan und besprochen? Man legt die Betonung auf Methoden und Techniken. Je mehr jedoch Methoden und Techniken hervorgehoben werden, desto mehr wird die politische Dimension von Erziehung und Bildung in den Hintergrund gedrängt (...) Wenn ich z.B. als Rechenlehrer in einer Grundschule den Schülern folgende Übungsaufgabe gebe: Du hast 10000 Dollar und bringst sie auf die Bank zu 3% Zinsen. Wieviel Geld hast Du am Ende von sechs Monaten?, meinen einige, das sei lediglich eine Rechenaufgabe, aber tatsächlich hat diese Aufgabe etwas mit Ideologie und Politik zu tun. Es ist eine kapitalistische Frage, insofern du damit den Kindern die kapitalistische Wertvorstellung nahebringst. Ich frage euch: Wo ist die Neutralität der Arithmetik?"
Diese pädagogisch-didaktische und politische Sicht ist sehr weitgefaßt. Das Konzept Freires und der Educación Popular ist nicht nach Bildungsstufen oder didaktischen Tendenzen parzelliert. Es handelt sich hier um eine neue Dimension der pädagogischen Theorie und Praxis. Bildung ist nicht mehr simple Vermittlung allgemeiner oder spezieller Kenntnisse über ein bestimmtes Thema oder Gebiet. Bildung muß als das charakterisiert werden, was sie repräsentiert, und dabei geht es nicht einfach um Pragmatismus oder didaktische Techniken. Educación Popular und die Auffassungen Freires bieten ein mögliches und realisierbares Ideal, Lehrende und Erziehende können pädagogische und politische Aspekte so miteinander verknüpfen, daß deutlich wird, was hinter den Erscheinungen der Gesellschaft und ihren Konflikte steht, daß die Bildung humaner, reflexiver und emanzipatorischer wird (Hentig 1993, Mädche 1995, u. a.).
Educación Popular verbindet Ergebnisse praktischer und theoretischer Überlegungen nicht nur jener Länder, die der Unterdrückung ausgesetzt waren wie die lateinamerikanischen, sondern auch der emanzipatorischen Entwicklungsprozesse von Bildung und Erziehung in anderen Teilen der Welt, wie in Europa und besonders in Deutschland (Wölflingsender 1992). Im folgenden werden einige Gedanken zur Educación Popular dargestellt, ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit der Beschreibung oder der Definition zu erheben, da das nicht nur schwierig, sondern auch anmaßend wäre. Die Auswahl basiert auf Erfahrungen und Gesprächen mit den Lehrenden an Schule und Hochschule in Nicaragua und Venezuela sowie auf den Arbeiten Freires und anderer Pädagogen, die in dieser Richtung praktisch oder theoretisch gewirkt haben.
2.1.2.1 Identifikation der Educación Popular mit den Unterdrückten |
Der historische Entwicklungsprozeß der Educación Popular war und ist, wie bereits angemerkt, immer mit den unterdrückten Gruppen der Bevölkerung verbunden und auf sie orientiert (Freire 1981, Große-Oeringhaus 1983, Gadotti 1997). Wer bildet diese Gruppen?
Es gibt Übereinstimmung darüber (La Belle 1987, López 1986, Figueroa 1989, Freire 1994, Betto, 1996, Torres 1997, Gerhardt 1997 und viele andere), daß die Educación Popular sich als Reaktion auf die bürgerliche Bildung entwickelt hat, die sich seit der Zeiten der Kolonien (Rodríguez 1975) bis zur Gegenwart (Pérez-Luna 1993 und Weinberg 1995) auf die besser gestellten Kreise der Bevölkerung orientierte. Damit entstand die Notwendigkeit, Bildung für die Gruppen der Unterdrückten (Freire 1973, 35), der Vergessenen, Ausgestoßenen und Ausgebeuteten zu ermöglichen, nicht nur, damit sie durch Alphabetisierung Zugang zum Lesen und Schreiben oder zum Rechnen erhalten, sondern damit sie einen Weg finden, sich von der Unterdrückung zu befreien. Von Anfang an identifiziert sich dieser Ansatz mit den Besitzlosen und Marginalisierten (Freire 1981, Pérez-Luna 1993, Bigott 1975 u. 1992). Peresson / Mariño / Cendales, (1985, 54) machen es deutlich:
"Diese Gruppen des Volkes bilden nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung, die die geringsten Einkommen hat und unter vielfältigen Erscheinungsformen der Armut leidet, sie sind zugleich diejenigen, die den Reichtum der Gesellschaft schaffen, der einigen wenigen zugutekommt, und die vom politischen Leben ausgeschlossen, manipuliert und dominiert werden."
Diese Merkmale betreffen eine große Gruppe der Bevölkerung, die nicht an der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht beteiligt ist. Sie wird gebildet von Bauern, Beschäftigten nationaler und internationaler Unternehmen, Arbeitslosen, die immer zahlreicher werden und Verzweiflung, Not und Hunger leiden, den Angehörigen einer Mittelschicht, die im Verschwinden begriffen ist und nach unten absteigt, den Frauen, die vielfach für den Unterhalt der Familie sorgen und um ihre Gleichberechtigung kämpfen.
Es handelt sich also um jene, die ihre Arbeitskraft verkaufen, an der sich einige wenige im In- und Ausland bereichern, und um jene, die wegen der Ausbeutung und der Eigenheiten der Marktwirtschaft nicht einmal diese Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Diese Gruppen werden im übrigen sogar als Hindernis für das harmonische Funktionieren des auf dem freien Markt basierenden Wirtschaftssystem eingestuft (Vivancos / España 1993).
Ziel der Educación Popular ist es nicht nur, "Bildung für alle" (Lenhart 1993) zu erreichen, das sollte heute gar kein Diskussionspunkt mehr sein, denn das ist ein weltweit anerkanntes, wenn auch noch nicht umgesetztes Menschenrecht (Merkel 1997). Sie fordert vielmehr Bildung, die sich mit den unterdrückten Gruppen identifiziert. Das bedeutet Bruch mit der traditionellen bürgerlichen Bildungskonzeption und schafft Voraussetzungen für die Entwicklung emanzipatorischer pädagogischer Bildungskonzepte (Bigott 1992 und Pérez-Luna 1993). Der wichtigste Grund dafür, daß diese Gruppen der Bevölkerung derart definiert werden und die gegen sie gerichtete Bildung überwunden werden soll, ist die Tatsache, daß sie die einzigen sind, die sich von ihrer Unterdrückung befreien können. Es gibt keinen anderen Weg für den Kampf gegen Elend, Ausbeutung und Erniedrigung (Peresson / Mariño / Cendales, 1985). Sie repräsentieren den historischen und sozialen Ausweg, der zu einem menschlicheren, freien, eigenständigen Leben führt. Freire (1973, 35f.) formuliert, was immer noch aktuell ist:
"Diese Pädagogik macht die Unterdrückung und ihre Ursachen zum Gegenstand der Reflexion der Unterdrückten, und aus dieser Reflexion heraus wird ihr notwendiges Engagement im Kampf um ihre Befreiung wachsen. Im Kampf wird diese Pädagogik immer neu geschaffen werden."
Die Überlegungen zu den Zielgruppen und die traditionelle Praxis der Educación Popular in Verbindung mit Alphabetisierungskampagnen und -bewegungen, an denen sich auch Freire zu Beginn der 60er Jahre in Brasilien aktiv beteiligte (Bräuer 1985), hat bei vielen die Meinung hervorgebracht, daß das Konzept der Educación Popular und vor allem ihre Methode auf Erwachsenenbildung und/oder Alphabetisierung ausgerichtet ist (Nuñes 1989). Andere, wie z.B. La Belle (1987), vertreten die Auffassung, daß sie als Form der informellen Bildung gefaßt werden könnte, womit sie ihren möglichen Einfluß und Rückwirkungen auf das formale Bildungssystem ausschließen. Seit ihren Anfängen richtete sich die Educación Popular jedoch kritisch gegen undemokratische Merkmale der formalen Bildungssysteme, die Freire (1973) als Bankiersbildung (17) qualifizierte und für die er zugleich Änderungsvorschläge unterbreitete. Nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in anderen Regionen, u.a. in Afrika (Große-Oeringhaus 1983) gibt es Beispiele, die in der Praxis innerhalb der formalen Bildungssysteme bewiesen, daß Entwicklung und Umsetzung des Konzepts der Educación Popular möglich ist.
Daß dieses Konzept so eng mit der Erwachsenenbildung und der sogenannten informellen Bildung verbunden ist, ist auf seine Identifikation mit jenen zurückzuführen, die das kapitalistische System unzureichend betreute und vermutlich auch in Zukunft betreut. Es hat aber auch mit der Arbeitsmethode zu tun, die sich immer an den Kindern, Erwachsenen, Bauern und indigenen Gruppen der lateinamerikanischen Länder orientierte und die Entstehung von Bildungsparzellen, die neue Diskriminierung mit sich bringen, immer ablehnte. Für die Educación Popular ist es ein Widerspruch in sich, innerhalb einer Gesellschaft parallele Bildungsformen vorzuschlagen, die in der Regel auf ganz bestimmte Kreise ausgerichtet sind, wie z.B. im Fall der Waldorfpädagogik (18) . Ihrem Wesen nach ist die Educación Popular nicht an der Förderung einer Bildung für "Minderheiten" interessiert, die nur begrenzte Gruppen in der Gesellschaft erfaßt, sondern verbindet formales und informelles Bildungssystem, da sie u.a. für die Forderung steht, das Recht auf kritische und qualitativ gute Bildung für alle ohne Unterschied umzusetzen. Die emanzipatorisch-erzieherische Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer in ihrem konkreten Umfeld wird dabei nicht negiert. Freire (1981,96) sagt dazu:
"Unsere Aufgabe ist es, die Freiräume in einer Gesellschaft und in den Institutionen dieser Gesellschaft zu entdecken. Wir müssen uns fragen: Was machen die Freiräume aus, die wir innerhalb des Systems haben und die es uns ermöglichen, etwas zu tun? Der Begriff des Freiraumes führt uns zu dem historisch Möglichen. D. h., wir können nur das tun, was unter den jeweiligen historischen Bedingungen möglich ist und nicht, was wir vielleicht gern tun möchten. Sind wir uns der Situation des Freiraumes bewußt, müssen wir sehr konkret darüber nachdenken, wie wir die Freiräume nutzen und darin arbeiten können, um unsere gegenwärtige Situation zu verändern".
Dieser Ansatz macht eine detailliertere Darstellung der Ziele erforderlich, die mit der Educación Popular verbunden sind.
Der Diskurs über die Educación Popular als kritischer und emanzipatorischer pädagogischer Konzeption, der sich ausbreitet, (Kemmis 1992), und seine Ziele sind unverändert. Sie schöpft aus den praktischen Erfahrungen und den theoretischen Überlegungen (Bigott 1992) wie aus den Arbeiten zu unterschiedlichen Wissensbereichen, wie z.B. zum Mathematikunterricht (Frankenstein 1987 und Skovsmose 1994a), die alle wichtige Impulse zur Systematisierung und Anpassung an historische und soziale Umstände und Kontexte geben. Die Ziele lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Prozeß der Bewußtseinsbildung
Dieses zentrale Ziel der Educación Popular wurde am stärksten diskutiert und unterlag auch Mißverständnissen und Fehlinterpretationen (Wölflingsender 1992, 38). In fast allen seinen Arbeiten erläutert Freire den wesentlichen Punkt der Befreiungspädagogik (Freire 1973 und 1981). Viele Autoren, so z.B. Peresson / Mariño / Cendales, (1985, 59) definieren die Bewußtseinsbildung (19) (concientización) "als einen theoretisch-praktischen Prozeß, durch den die Gruppen des Volkes ein höheres Niveau des Klassenbewußtseins erlangen und schrittweise zu Subjekten und Protagonisten des historischen Projekts werden, das ihren eigenen Interessen gerecht wird".
Diese Gruppen des Volkes sind, wie dargelegt, die unterdrückte soziale Klasse, die der bürgerlichen Klasse gegenübersteht, da sie weder ökonomische noch politische oder militärische Macht haben, nicht über Produktionsmittel und Kapital verfügen und auch keinen Anteil an der Führung der politischen Parteien und der Regierung haben. Ihre Interessen, die der Mehrheit, sind andere als die Interessen der Bourgeoisie, die mit allen Mitteln verteidigt werden. Die Interessen der Gruppen des Volkes manifestieren sich einerseits spontan und andererseits auf lange Sicht (Peresson / Mariño / Cendales 1985 und Gadotti 1997, Freire-Araújo 1997)). Das heißt, alle Angehörigen der unterdrückten Klasse in jeder Gesellschaft sind auf der Suche nach Lösungen für ihre unmittelbaren Probleme, ohne dabei den Ursachen dieser Probleme auf den Grund zu gehen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Verständnis für die Ursachen zu ermöglichen, und in einen Bildungsprozeß, der von der natürlichen Avantgarde - die ebenfalls Teil der Besitzlosen ist - gefördert und unterstützt wird, kann die Frage nach dem Warum gestellt und beantwortet werden. Aufgabe der Educación Popular ist es, diese Bewußtseinsbildung, nämlich daß man zu einer dem Bürgertum gegenüberstehenden Klasse gehört, die legitime soziale und historische Interessen hat, zu fördern. Freire (1981, 67) sagt dazu:
"Marx hat das auch herausgestellt. Das Klassenbewußtsein der Arbeiterklasse, um das es geht, entwickelt sich von außen nach innen, d. h., es entsteht nicht spontan bei den Arbeitern, es fängt vielmehr bei denen an, die befähigt waren, ihre konkrete Situation theoretisch aufzuarbeiten (...) Die Avantgarde hat eine unbestrittene Rolle im Befreiungsprozeß. Sie wird ihn beginnen und auch in bestimmten Perioden führen müssen. Aber den Prozeß zu führen, darf nicht bedeuten, die Volksmassen quasi als Eigentum (der Avantgarden) zu begreifen und sie zu dirigieren."
Trotz ihrer Kämpfe für sozioökonomische Forderungen wie zum Beispiel Arbeitsplätze oder gerechte Tarifverträge und das Recht auf Bildung ist es für die Volksmassen nicht leicht, von spontanem Einsatz für die unmittelbaren Interessen zu politischeren, revolutionären Aktionen überzugehen, die ihre Freiheit ermöglichen können. Bedingt wird das durch ideologische Elemente der herrschenden Klasse (Nuñes 1989 und Hormigón / Kara-Murza 1990), die von der Bourgeoisie genutzt werden, um jeden Versuch des Infragestellens des Systems abzublocken. Das Bildungssystem und besonders das Curriculum (Gimeno, 1989) werden hierbei zu einem der entscheidenden ideologischen Faktoren (Gramsci 1976 und Althusser 1978), ihre Rolle darf nicht wie bisher Entfremdung sein, sondern sie müssen der Befreiung dienen. Haben Mathematik und Mathematikunterricht Anteil an der Stärkung der Interessen des Bürgertums? Kann die Mathematik zu einer Veränderung der Wertvorstellungen in der Bevölkerung beitragen? Kann sie zu einem Weg zur Befreiung vom Zustand der Ausbeutung und Unterdrückung für die lateinamerikanische Bevölkerung werden? Skovsmose (1994a, 27) stellt ebenfalls eine Reihe von Fragen zur ideologischen Funktion der Bildung und speziell des Mathematikunterrichts und leitet damit kritische Reflexionen über notwendige Veränderungen ein:
"Mathemacy, as a radical construct, has to be rooted in the spirit of critique and the project of possibility that enables people to participate in the understanding and transformation of their society and, therefore, mathemacy becomes a precondition for social and cultural emancipation. Could this be more than a half-empty assertion? Freire expands the notion of literacy such that it includes more than just reading and writing abilities: what sort of extension of mathemacy is needed? It was emphasized that literacy is related not just to the inability of subordinated groups to read and write adequately (...) Could mathemacy be involved in actively naming and transforming those ideological and social conditions that undermine the possibility for forms of community and public life organized around the imperatives of a radical democracy?"
Transformation der Unterdrückungsstrukturen durch einen Prozeß der Bewußtseinsbildung
Die Bewußtseinsbildung ist kein imaginärer Prozeß (Freire 1973, 1981 und Wölflingsender 1992), den die Volksmassen innerhalb des existierenden Bildungssystems z.B. in Nicaragua, Venezuela oder Deutschland durchleben. Es ist illusorisch anzunehmen, daß nur durch die Akkumulation von Kenntnissen, die die kapitalistische Schule vermittelt, die Bevölkerung in die Lage versetzt wird, die bestehenden Widersprüche zu erkennen und zu verstehen. So wird auch häufig angenommen (Freire 1981), daß das Volk sich durch und mit der Schule nicht wird befreien können. Diese Position ist Ergebnis der Vorherrschaft einer Ideologie auch in Kreisen der Intellektuellen (Giroux 1994), die die Schule einzig als Ort der Sozialisation für die neue Generation betrachten, und nicht als Hilfe für deren Befreiung (Gadotti 1997). Darum schließt die Educación Popular die Forderung ein, daß die Handlungen der Lehrerinnen und Lehrer im Zusammenspiel mit den Lernenden vor allem auf eine Problematisierung der Bildung gerichtet sein müssen, wodurch die unkritische Aufnahme von Wissen durch dessen tatsächliche Erforschung abgelöst werden kann, die zugleich auch die notwendigen zukünftigen Transformationen nicht aus dem Blick verliert.
Kritische Bildung verfolgt das Ziel, daß die Unterdrückten, die die bürgerliche Schule, also das formale Bildungssystem nutzen, sich der hinter einem okkulten Curriculum verborgenen Elemente bewußt werden (Gimeno 1989), die nur dann transparent gemacht werden können, wenn die die Bildung betreffenden, impliziten politischen Konnotationen thematisiert werden. So erhalten die Besitzlosen die Chance, ihre Lebens- und Klassensituation als Unterdrückte zu reflektieren. Möglich ist eine solche Reflexion aber nur bei enger Verknüpfung zwischen Mensch und Welt und zwischen Theorie und Praxis (Freire 1981). Die Educación Popular interpretiert die Bildung als eine in Form von Veränderungen der Realität, der unmenschlichen Existenzbedingungen der Menschen in Lateinamerika und anderswo notwendige Praxis. Damit öffnet sich den Unterdrückten durch die Argumentation zur Begründung ihrer Ideen, zum Verständnis der sozialen und technologischen Komplexität der Weg zu bewußteren Klassenkämpfen und zu ihrer Unabhängigkeit. So wird Umwandlung sozialer und wirtschaftlicher Strukturen im Interesse der Volksmassen möglich. Mit den Worten von Wölflingsender (1992, 41) ausgedrückt: "Es geht nicht nur darum, den Menschen rasch die Technik des Lesens und Schreibens zu vermitteln, sondern zugleich eine Distanzierung von ihrer alltäglichen Erfahrung der Unterdrückung zu ermöglichen, damit sie lernen, die unhinterfragt akzeptierten unterdrückerischen Normen zu relativieren und schließlich aufzuheben."
Diese Zielstellung der Educación Popular wurde von einigen als ein zu langwieriger, sehr allgemeiner und wenig kämpferischer Prozeß gesehen und manchmal auf die rein kritischen und explikativen Aspekte reduziert (La Belle 1987). Angesichts der Dringlichkeit von Veränderungen ist diese Ungeduld zwar verständlich, sie übersieht jedoch, daß die Educación Popular eine Methode anbietet, die sich im Prozeß ihrer Erarbeitung befindet und die durch alle theoretischen und praktischen Erfahrungen im Bereich der allgemeinen und der fachspezifischen Didaktik bereichert wird. Übersehen werden auch die Erfahrungen der Lehrerinnen und Lehrer in ihren Bildungseinrichtungen und vor allem die Tatsache, daß es sich um einen permanenten historischen Prozeß handelt, der nicht von einer bestimmten Generation oder Epoche beendet wird.
Schlußbemerkungen
Abschließend ist zusammenzufassen, daß das wichtigste Ziel der Educación Popular darin besteht, bei Menschen jeden Alters auf die Entwicklung kritischer Werte hinzuwirken, die zur Heranbildung freier Frauen und Männer beitragen können, die bereit sind, sich für ihre Rechte einzusetzen und sie auch und vor allem in Gesellschaften, die auf Unterdrückung und einer nicht den Volksmassen dienenden Demokratie basieren, wie z.B. in Nicaragua und Venezuela, verteidigen. Die Educación Popular zeichnet sich nicht dadurch aus, daß sie ihre Ziele durch Verbalisierungen oder rein theoretische Diskussionen erreichen will, sie ist eng mit Aktion und Praxis, nicht aber mit temporärem Aktionismus verbunden. Sie zielt auf einen langfristigen Lern- und Lehrprozeß der Bevölkerung in den und außerhalb der bestehenden Institutionen. Darum ist auch die Methode, die sie hervorgebracht hat, weiterhin einem kreativen und praktischen Erprobungsprozeß unterworfen.
In Freires "Pädagogik der Unterdrückten" (1973, 57f) findet sich der kritische Beitrag zur Realität der Bildung, der aus pädagogischer und didaktischer Sicht die Grundlagen für die weitere methodisch-didaktische Konzeptentwicklung der Educación Popular durch Freire selbst und andere Pädagogen aus aller Welt bietet. Resonanz hat diese Entwicklung auch in Deutschland, wo sie an die Protestbewegungen der 60er Jahre anknüpft (Széll 1984, 40; Wölflingsender 1992, 72f und Gadotti 1997, 15).
Freire kritisiert die bürgerliche Bildungsmethode als "Bankiers-Konzept der Erziehung", in der den Lernenden eine passive und den Lehrenden die aktive Rolle zugemessen wird. Diese Schüler-Lehrer-Beziehung, die auch von Simón Rodríguez zu Kolonialzeiten und von anderen zu Beginn des Jahrhunderts kritisiert wurde, reduziert sich nicht auf das Verhalten von Lernenden und Lehrenden im Hinblick auf den Platz, den sie einnehmen, die physische Bewegung oder die Kontrolle und Leitung des Lern- und Lehrprozesses. Vielmehr bezieht sie sich auf die dem Lernprozeß innewohnende ideologische Form (Freire 1973, 41), deren Ziel es ist, die Herrschaft der Unterdrücker über die Unterdrückten zu sichern. Dieser Gesichtspunkt, der möglicherweise der bedeutsamste Ausgangspunkt für alle späteren didaktischen Überlegungen im Werk Freires ist, wird von ihm selbst vereinfacht so dargestellt (1973, 58):
"Die raison d´être einer befreienden Bildungsarbeit liegt andererseits in ihrem Drang nach Versöhnung. Die Bildungsarbeit muß einsetzen bei der Lösung des Lehrer-Schüler-Widerspruchs, bei der Versöhnung der Pole des Widerspruchs, so daß beide gleichzeitig Lehrer und Schüler werden.
Diese Lösung ist im Bankiers-Konzept nicht zu finden. Im Gegenteil - die Bankiers-Erziehung erhält den Widerspruch mit Hilfe der folgenden Einstellungen und Praktiken aufrecht, die die unterdrückerische Gesellschaft als solche widerspiegeln:
a) Der Lehrer lehrt, und die Schüler werden belehrt.
b) Der Lehrer weiß alles, und die Schüler wissen nichts.
c) Der Lehrer denkt, und über die Schüler wird gedacht.
d) Der Lehrer redet, und die Schüler hören brav zu.
e) Der Lehrer züchtigt, und die Schüler werden gezüchtigt.
f) Der Lehrer wählt aus und setzt seine Wahl durch, und die Schüler stimmen ihm zu.
g) Der Lehrer handelt, und die Schüler haben die Illusion zu handeln durch das Handeln des Lehrers.
h) Der Lehrer wählt den Lehrplan aus, und die Schüler (die nicht gefragt werden) passen sich ihm an.
i) Der Lehrer vermischt die Autorität des Wissens mit seiner eigenen professionellen Autorität, die er in Widerspruch setzt zur Freiheit der Schüler.
Der Lehrer ist das Subjekt des Lernprozesses, während die Schüler bloße Objekte sind.
Es ist nicht überraschend, daß das Bankiers-Konzept der Erziehung Menschen als anpaßbare, beeinflußbare Wesen betrachtet. Je mehr die Schüler damit beschäftigt sind, die Einlagen zu stapeln, die ihnen anvertraut sind, um so weniger entwickeln sie jenes kritische Bewußtsein, das entstehen würde, wenn sie in die Welt als Verwandler dieser Welt eingreifen würden..."
Diese Unterdrückungs- und Bankiers-Erziehung ist Resultat der sozialen Umstände, der vertikalen Struktur der Gesellschaft, in der sich zwei Extreme unterschiedlichen Gewichts und mit unterschiedlicher Interessenlage gegenüberstehen. In der Bildung stellen die Lernenden einen dieser Pole, und obwohl sie in der Mehrheit sind, sehen sie sich der Beherrschung und den Entscheidungen des anderen Pols ausgesetzt, der Lehrenden als bewußte oder unbewußte Repräsentanten des Schulsystems, das dem bestehenden politischen und gesellschaftlichen System angepaßt ist (Bigott 1992 und Pérez-Luna 1993). Dieser zweite Pol ist es, der innerhalb der ungleichen Beziehungen alles weiß, die Inhalte und Formen auswählt und Theorien entwickelt, wie die anderen zu lernen haben. Diese wiederum hören zu, nehmen auf, wiederholen und werden bewertet entsprechend den Kriterien des Systems, die seinen Interessen angepaßt sind. Prämisse dieser Ordnung ist die Überzeugung, daß das bestehende soziale, ökonomische und politische System das adäquate ist und nur optimiert und verbessert werden muß, damit alle unter gleichen Bedingungen, die der von den herrschenden Kreisen gestützte Rechtsstaat angeblich garantiert, von ihm profitieren. Nach Freire und der Educación Popular basiert diese Bankiers-Erziehung auf der Annahme, daß der Lernende ein Objekt des Lernens, ein leeres Gefäß ist, das mit Kenntnissen gefüllt werden muß. Negiert wird hier das historische Subjekt, das fähig ist, ausgehend von seinen meist komplexen und schwierigen Erfahrungen und Erlebnissen zu reflektieren und Veränderungen im Interesse des Gemeinwohls anzustreben. Abb. 2 resümiert die Charakteristika der Bankiers-Erziehung nach Freire (1974, 114):
Wie zu sehen ist, geht es nicht nur darum, die Rolle von Beherrschung und Anpassung im Lern- und Lehrprozeß nachzuweisen, sondern auch darum zu zeigen, daß dieses Bankiers-Konzept implizit auch eine andere Methode ermöglicht, nach der Lernende, Lehrende und andere Mitglieder der Gemeinschaft (Gadotti 1997) demokratisch und verantwortungsbewußt die Züge von Unterdrückung beseitigen und die Führung des Lern- und Lehrprozesses gemeinsam so übernehmen, daß die kritischen Fähigkeiten aller Beteiligten gestärkt werden und Emanzipation möglich wird.
Die Hinterfragung des traditionellen Bildungsmodells und der Rolle der Lehrerinnen und Lehrer, die Forderung nach einem aktiveren, humanen und partizipativen Lern- und Lehrprozeß findet sich auch bei zahlreichen aktuellen Autoren wie z. B. Bunk / Fischer / Michelsen (1996), Hentig (1993), Lacueva (1993), Oberliesen (1993, 1995), Skovsmose (1994a), Volk (1993b, 1996a), Winter (1984), Wittmann (1996, 1997) und vielen anderen, bei denen sich Übereinstimmungen zu einigen der pädagogischen Ansätze der Educación Popular und Freires finden. Die Educación Popular versteht Bildung und Erziehung für jedes Bildungssystem, jede Altersstufe und jedes Fach als investigativen (Tunucci 1983), aktiven, partizipativen und libertären Prozeß (Jara 1989), der jeden einzelnen einbezieht mit seinen Möglichkeiten, Fähigkeiten und dem Recht zu lernen, zu lehren und zu reflektieren. Barrieren durch eine reproduktive und instruktive Bildung und ideologische Mechanismen, die zur passiven Akzeptanz dessen führen, was von den Inhabern des Wissens gesagt wird, müssen dabei überwunden werden.
Die traditionelle Methode der Educación Popular (Jara 1989, Nuñez 1989, ALFORJA (20) 1995, Wagemann 1994, u.a.) hat ihre Wurzeln in Freires Arbeit "Pädagogik der Unterdrückung", die 1969 erschien. Gadotti (1997, 32) sagt von sich, "ich glaube, die Zukunft des Werkes von Paulo Freire ist eng verbunden mit der Zukunft der Educación Popular als generelle Bildungskonzeption". Daher verweist eine Auseinandersetzung mit der Educación Popular immer auf die ursprünglich von Freire (1969, 109, 1973, 91f) entwickelte und in der Praxis umgesetzte Methode und umgekehrt.
Im folgenden werden kurz die drei Hauptphasen dargestellt, so wie sie in Lateinamerika gesehen werden (Bigott 1992). Sie lassen sich selbstverständlich noch in Unteretappen unterteilen, wie Széll (1984, 30) ausführt. "Die Wiedergabe der verschiedenen Phasen und Stufen ist bei den einzelnen Autoren, die sich mit Freire beschäftigen, keineswegs einheitlich, da -wie gesagt- Freire selbst keine eindeutigen Abgrenzungen liefert". Der Prozeß der Theoretisierung und Systematisierung dieser Methode ist noch nicht abgeschlossen (Gadotti 1997, 32). Es zeigt sich auch eine gewisse Verbindung zu dem Ende der 70er Jahre von Junk entwickelten Begriff der Zukunftswerkstätten, auf die Széll (1984, 39) und Wölflingsender (1992, 76) verweisen, und zu den Ideen von Klafki (1985, 1991 und 1995a und 1995b) zu Schlüsselproblemen, die im Bereich der Didaktik für verschiedene Fachgebiete große Bedeutung erlangt haben (Münzinger 1995a und 1995b).
Die Methodik der Educación Popular unterliegt ständigen Veränderungen und Anpassungen an die sich ebenfalls ändernden Bedingungen in den jeweiligen Ländern. Die folgenden Anmerkungen basieren auf den Beiträgen der im Zusammenhang mit dem Konzept der Educación Popular bereits erwähnten Autoren und besonders auf den Arbeiten Freires.
Sozialer Kontext und Umwelt als Ausgangspunkte
Educación Popular will immer von den realen, existentiellen und konkreten Problemen der Bevölkerung ausgehen, denn diese widerspiegeln die gemeinsamen oder partikularen Bedürfnisse der Gruppe und ihrer einzelnen Mitglieder. Jeder von ihnen lebt in einer für ihn positiven oder negativen objektiven Realität. Die Wirklichkeit des einzelnen kann mit der der anderen Angehörigen einer sozialen Gruppe übereinstimmen, weil sie unter gleichen Bedingungen leben, so daß sich die Erlebnisse der Individuen häufig treffen. Die Alltagswirklichkeit ist verknüpft mit der Arbeit, den unmittelbaren Bedürfnissen, den Sorgen und den möglichen Vorteilen gegenüber anderen Gruppenangehörigen. Man könnte davon sprechen, daß für alle eine gewisse Homogenität zutrifft, auch wenn jede Person als Individuum entsprechend ihrer Möglichkeiten über spezifische Mechanismen verfügt oder diese sucht, um das jeweilige Problem selbständig anzugehen. Die Probleme betreffen jedoch in der Regel objektiv alle Mitglieder der Gruppe, da sie zum gleichen Kontext gehören. Das sind Probleme im Zusammenhang mit Organisation, Wirtschaft, Umwelt, Politik, Technologie und Gesellschaft, die vom allgemeinen zum besonderen und umgekehrt wirken. Es sind Probleme mit der Arbeit und der Produktion, die ihnen im Vergleich zu den Eigentümern der Produktionsmittel wenig Vorteile bringt, da sich diese Gruppen, wie bereits dargestellt, einer konkreten und realen Ausbeutung ausgesetzt sehen, und nicht einer imaginären. Dieser Zustand benachteiligt sie nachhaltig, statt ihnen zu nützen.
Zur Realität der sozialen Gruppen gehört auch eine Vielzahl subjektiver Elemente, die stärker differenziert sind als die objektiven. Jeder Angehörige der Gruppe verfügt über eigene Erfahrungen, Träume, Glauben und Hoffnungen, die sich aus seiner Beziehung zur konkreten Realität und ihren Konflikten ergeben. Jeder einzelne besitzt Grundkenntnisse aus dem Kontakt zur Welt und aus der Beziehung zu anderen Individuen. Und jeder einzelne ist häufig als Produkt der Entfremdung durch die ideologische Maschinerie der Unterdrücker, die die konkrete Realität verfälschen und fiktiv machen, in bestimmter Form sozialisiert. Niemand ist ein unbeschriebenes Blatt, bei dem die Sozialisation durch die Vermittlung von Kenntnissen und Werten, die von anderen und manchmal von fremden Regionen bestimmt sind, überhaupt erst beginnen muß. Jedes Mitglied einer solchen Gruppe verfügt also über Wissen, das nicht systematisch sein muß, aber in jedem Falle ein Ausgangspunkt für den Lern- und Lehrprozeß sein kann.
Die objektive und die subjektive Praxis stellen den Ausgangspunkt dar, und nicht irgendwelche Festlegungen in Lehrbüchern und/oder Lehrplänen. Hier finden sich die spezifischen Untersuchungsprobleme und -objekte, durch deren Bearbeitung eine Bewußtseinsbildung erreicht und Veränderungen zum Wohle der Beteiligten und nicht im Interesse einer abstrakten Gesellschaft angeregt werden können. Für die Educación Popular muß also jeder Lern- und Lehrprozeß "einen besonderen Anfangspunkt (auswählen), das heißt, einen Aspekt dieser sozialen Praxis, der als adäquater Kern dient, um einen Weg des Lernens zu beschreiten, der dieser spezifischen Gruppe gerecht wird" (Jara 1992, 8).
Die Methode der Educación Popular geht also davon aus, daß Bildung problematisierend sein und so eine "Alternative" zur bürgerlichen Bankiers-Bildung bieten muß. Sie wird verstanden als ein in Bewegung befindlicher Prozeß, dessen Ausgangspunkt die Realität und dessen Endpunkt deren notwendige Veränderung ist. Freire sagt (1973, 67): "In der problemformulierenden Bildung entwickeln die Menschen die Kraft, kritisch die Weise zu begreifen, in der sie in der Welt existieren, mit der und in der sie sich selbst vorfinden. Sie lernen die Welt nicht als statische Wirklichkeit, sondern als eine Wirklichkeit im Prozeß sehen, in der Umwandlung".
Freire (1969, 109f.) bezeichnete den Anfangspunkt innerhalb der fünf Phasen des Alphabetisierungsprozesses als "generatives Wort" (21) , später erklärte er, der Lern- und Lehrprozeß müssen von "generativen Themen" oder generativen Problemen ausgehen, die wie gesagt für die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen von Bedeutung sein und in Abhängigkeit von den speziellen Beteiligten und der jeweiligen Epoche ausgewählt werden müssen, denn sie leben in einer klar definierten, unzweideutigen Welt. Die generativen Probleme nach Freire (1973, 84), "beziehen sich stets dialektisch auf ihren Gegensatz. Sie sind nirgends anders als in der Mensch-Welt-Beziehung aufzufinden. Der Gesamtkomplex interagierender Themen einer Epoche bildet ihr «thematisches Universum»". Letzteres wird durch Themen übergreifenden Charakters konstituiert, so z.B. Umweltprobleme, Lebensrisiken in den heutigen Gesellschaften oder Sicherheit; das aktuelle universelle Thema für die Educación Popular ist jedoch die Befreiung, d.h. das Thema der Herrschaft, das die Ursachen für eine Vielzahl konkreter und einzelner Probleme der spezifischen sozialen Gruppen und Gemeinschaften aufdecken kann. Die Schule steht also einer Reihe von Themen universellen, kontinentalen, regionalen und lokalen Charakters gegenüber, die die wichtigste Quelle für die kritische Analyse im Lern- und Lehrprozeß sind.
Aktionsorientierter Prozeß der theoretischen Verarbeitung praktischer Erfahrungen
Die Educación Popular stützt sich in ihrer methodologischen Konzeption entsprechend den pädagogischen Vorstellungen Freires (1981, 1985 y 1994a) auf die dialektische Erkenntnistheorie (Wölflingsender 1992, 42):
"Freires dialektische Erkenntnistheorie liefert die Basis der methodologischen Konzeption der Volkserziehung. Unter Methodologie der Volkserziehung ist die konkrete Verbindung zwischen der Theorie und der pädagogischen Praxis der Volkserziehung zu verstehen, die dynamische und dialektische Beziehung zwischen den politischen Zielen, die verfolgt werden, und der Realität, von der man ausgeht."
Passive Beobachtung der Realität reicht nicht aus, um sie zu verstehen und zu verändern. Sie ist außerordentlich komplex und durch die Einwirkung der Menschen ständigen Veränderungen unterworfen. Die bisherigen historischen Veränderungen waren meist auf das Wohl einiger weniger orientiert (Hickling-Hudson, 1994) und basierten auf der Ausbeutung menschlicher und natürlicher Ressourcen, auf der Ausbeutung großer Gruppen von Unterdrückten, die wenig Nutzen aus der Gesellschaft ziehen (Strahm 1986, Wagemann 1994 und Deml 1996).
Ausgehend von der direkten Beziehung zu objektiver und subjektiver Realität strebt die Educación Popular einen systematischen Prozeß theoretischer Konstruktion an, wobei der Schwerpunkt auf der Relation Praxis-Aktion-Abstraktion liegt. Vom vorhandenen Wissen der Subjekte, aus ihrem visuellen, auditiven, perzeptiven, imaginativen, spekulativen Kontakt mit der Natur kommt man durch einen aktiven und reflexiven Prozeß zu tiefgreifenden theoretischen Erkenntnissen, die die Aufdeckung von Ursachen und die kritische Erarbeitung von Konsequenzen, ihre Nutzung und Anwendung ermöglichen. Dadurch kann tiefer in Probleme eingedrungen werden, indem direkte und permanente Kontakte zwischen den aktiv und kreativ an Lernen und Lehre Beteiligten hergestellt werden.
Den Lernenden wird die Theorie nicht als etwas Fertiges, Abgeschlossenes, Definitives vermittelt, das sie anzunehmen haben, weil es so in verschlossenen Labors festgestellt wurde. Gemeinsam wird an Fakten und Dingen gearbeitet, die unter Nutzung der Vorkenntnisse und praktischer Erfahrungen geklärt werden und konkrete Lösungsvorschläge für die unmittelbare Realität und Auswirkungen auf die Zukunft hervorbringen. Die dadurch erarbeiteten Definitionen und Konzepte werden nicht einfach auf andere Situationen übertragen, so wie die in den Lehrbüchern auftauchenden Begrifflichkeiten nicht automatisch auf lokale und spezifische Situationen angewandt werden können. Es handelt sich vielmehr um einen relativen Erkenntnisprozeß, der klar definierten und nicht allgemeingültigen historischen und konkreten Realitäten angepaßt ist, auch wenn es natürlich zwischen dem Anfangswissen und dem durch spezifische Aktionen erworbenen neuen Wissen eine enge Verbindung gibt.
Die Gegenüberstellung von vorhandenem Wissen (Lehrbücher, Artikel, persönliche oder kollektive Wertungen, Lern- und Lehrerfahrungen usw.), den praktischen Erfahrungen an anderen Orten und dem im investigativen Lern- und Lehrprozeß erworbenen neuen Wissen sollte immer mit einer fragenden und aufmerksamen Haltung der Beteiligten verbunden sein, damit alle gemeinsam und jeder für sich vom Lernprozeß für die persönliche Entwicklung profitieren, aber auch, um bessere Lebensbedingungen für alle zu erreichen. Nur durch aktive Reflexion auf die objektive und subjektive Realität ist dieses wichtigste Ziel der Bildung noch nicht erreicht und der Lern- und Lehrprozeß unvollständig.
Die Nutzung der Theorie als unverzichtbares Element für die Umgestaltung der Realität
Über diese Phase der Educación Popular wird am meisten diskutiert, da im Hinblick auf die zwei oben genannten Phasen festgestellt werden kann, daß es hier bereits eine Reihe interessanter theoretischer und praktischer Versuche gibt, die sich zwar nicht auf die Educación Popular berufen, aus methodischer Sicht jedoch durchaus Parallelen dazu aufweisen (Klafki / Münzinger 1995). Weltweit sind Arbeiten zur allgemeinen und Fachdidaktik zu verzeichnen; besonders in Deutschland (Jank / Meyer 1994) wurde in den letzten Jahren eine große Zahl vor allem methodischer Ansätze erarbeitet (Peterssen 1997), die auf den in diesem Jahrhundert entwickelten pädagogischen Prinzipien basieren und vor allem in der Grundschule auch umgesetzt werden. In Lateinamerika gibt es vielfältige Erfahrungen im Bereich der informellen Bildung (La Belle 1987), aber auch innerhalb des Bildungssystems, hier vor allem die praktische Arbeit der Organisation Fe y Alegría (1987 und 1988, Orbegozo 1995).
Wichtigster Aspekt der Educación Popular ist die Veränderung der Realität, und das ist auch das am schwersten zu verwirklichende Ziel der Pädagogik der Befreiung. Gemessen an den Kriterien der bürgerlichen traditionellen Pädagogik wären auch andere Interpretationen möglich (Jara 1989), wenn man z.B. davon ausgeht, daß es sich hier um platten Aktionismus handelt, der natürlich ungeeignet wäre und den die Educación Popular auch nicht gutheißt. Diese Phase ist eng verbunden mit den Begriffen Bewußtseinsbildung und politisches Handeln.
In dem Maße, wie die Beteiligten im Lernprozeß in Kontakt mit der Realität und ihren Widersprüchen treten, entwickeln sie Kategorien, die kurz-, mittel- und langfristige Veränderungen entsprechend der Erfordernisse erst ermöglichen. Diese Bewußtseinskategorien sind durch die Bankiers-Erziehung nicht zu erarbeiten, sondern durch eine Bildung, die eine Kreisbewegung mit Ausgangspunkt in der Realität zuläßt, über diese Realität theoretisiert, ohne zu stark zu abstrahieren, und mit soliden und kritischen Interpretationen in diese Realität zurückkehrt. Dieser Prozeß ist in ständiger Bewegung und führt zu unmittelbaren lokalen Veränderungen, vor allem aber zur Veränderung des von den Unterdrückern manipulierten Bewußtseins, das zu politischem Bewußtsein wird und sich im politischen Handeln der Individuen niederschlägt. Peresson / Mariño / Cendales (1985, 90) stellen dazu fest:
"Auf der Grundlage dieses methodischen Prinzips macht die Educación Popular Schluß mit der Trennung zwischen Lernen und sozialer Praxis; mehr noch, letztere wird zum Ausgangspunkt und zum Zielpunkt der Erziehung und zum Ort ihrer Überprüfung. Durch die Verknüpfung von Reflexion und sozialer Praxis formt die Educación Popular eine Persönlichkeit, die zugleich Arbeiter, Intellektueller und Politiker ist".
Im Schema der Abb. 3 ist die zyklische Methode zur Bewußtseinsbildung in der Educación Popular dargestellt. Der Schlußpunkt 2 beendet den Prozeß nicht unbedingt, sondern kann zum neuen Ausgangspunkt des Zyklus Aktion-Reflexion-Aktion und/oder Praxis-Theorie-Praxis werden. Auf diese Weise wird das durch theoretische Überlegung auf der Grundlage der Praxis erworbene Wissen nicht einfach im Gedächtnis abgelegt, bis es mal wieder genutzt werden kann, oder von den Herrschenden nach ihren Vorstellungen modelliert, wie es beim Schlußpunkt 1 der Fall war. Im Gegenteil, das Wissen dient nicht nur dazu, genauer zu verstehen, was in der Realität vor sich geht, sondern fungiert auch als intellektuelle, technische und wissenschaftliche Kraft, damit die Volksmassen die Produktion, die Produktionsmittel und die Reichtümer, die ihnen historisch gehören, übernehmen und leiten können, und zum Durchsetzen kleiner und großer Forderungen, die auf die Lösung unmittelbarer Probleme und die Verbesserung der Lebenssituation abzielen.
Ohne Bewußtseinsbildung sind relevante Antworten auf die Frage nach dem Warum sozialer, wirtschaftlicher, politischer und ökologischer Fakten nicht möglich, nur die Untersuchung der wirklichen Ursachen dieser Phänomene führt zu ihrer Klärung. In der traditionellen bürgerlichen Bildung führt der Schlußpunkt trotz der Entwicklung eines methodischen Prozesses, der ebenfalls die ersten beiden Phasen einschließt, neben der Übernahme und Ansammlung von Kenntnissen fast immer zur Erhaltung der Strukturen der Anfangsrealität.
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2.1.2.4 Dialog und befreiende Arbeit als grundlegende Dimensionen der Educación Popular |
Der oben beschriebene Zyklus von Erziehung-Bewußtseinsbildung bedient sich des Dialogs und der kreativen Arbeit als Dimensionen, die eine der Bankiers-Erziehung zuwiderlaufende Tendenz darstellen. Der Dialog bildet dabei in der Methode Freires (1973, 1985) das Rückgrat der Educación Popular. Daher wird sie von einigen Autoren auch im Gegensatz zur impositiven (22) als die "dialogische Methode" (Wölflingsender 1992, 40) bezeichnet. Freire (1985, 55) meint dazu:
"The educator whose approach is mere memorization is antidialogal; his act of transmitting knowledge is inalterable. For the educator who experiences the act of knowing together with his students, in contrast, dialogue is the sign of the act of knowing. He is aware, however, that not all dialogue is in itself the mark of a relationship of true knowledge."
Das Wort wird so zum unverzichtbaren Werkzeug auf der Suche nach der Wahrheit und für die Beziehungen zwischen Lernenden und Lehrenden in einer bestimmten Situation. Die Umsetzung von Lern- und Lehrhandlungen in einer Gruppe oder Klasse sollte nicht ausschließliche Aufgabe einer Person sein, die der Meinung der anderen keinen Raum läßt und das Wort nutzt, um ihnen sein Wissen aufzuzwingen. Es geht nicht darum, daß die einen den anderen passiv zuhören, sondern daß durch Dialog das Wissen in Zusammenarbeit und Kooperation zwischen allen Beteiligten erarbeitet wird. Das bedeutet nicht endlose intellektuelle Diskussionen über die Praxis. Es geht auch nicht um den ständigen Diskurs einiger Gruppenangehöriger über das, was sie getan haben und was noch zu tun sei, da dies das antidialogische Lernen fortsetzen würde. Es geht um wirkliche Kommunikation zwischen den Mitgliedern eines Kollektivs, die ein Problem mit dem Ziel bearbeiten, die Lösung zu finden, wofür der Beitrag jedes einzelnen erforderlich ist. Ohne Dialog ist das wichtigste Ziel der Educación Popular, die Veränderung der Realität, nicht zu erreichen. Peresson / Mariño / Cendales (1985, 93) meinen dazu:
"Partizipative Untersuchung, Dialog und Auseinandersetzung werden zur Hauptmethode der Bildung im gemeinsamen Streben nach Verständnis der Realität und nach Veränderung. In diesem Dialog ist niemand im Besitz der Wahrheit, sondern alle nähern sich ihr in kollektivem Streben und durch die soziale Praxis an".
Die soziale Praxis, auf die sich die Educación Popular beruft, beinhaltet die zweite oben erwähnte Dimension, die kreative und bewußtseinsbildende Arbeit. In diesem Jahrhundert wurde eine Vielzahl von Beiträgen zur Entwicklung dieses Bereichs der Pädagogik und der Didaktik geleistet, die zur Herausbildung einer arbeitsorientierten Bildung geführt haben (Peterssen 1997). Allerdings trägt nicht jede Form der Arbeitserziehung zur Bewußtseinsbildung und Befreiung bei. Es ist bekannt, daß die Herrschenden an Leuten interessiert sind, die die immer stärkere Technisierung der Gesellschaft beherrschen und vorantreiben (Oberliesen 1994a). In der Educación Popular gab es bereits vor einiger Zeit Kritik am Fehlen einer Erläuterung dieses Phänomens und der Konsequenzen, die sich daraus ergeben, in den ersten Arbeiten Freires (García-Huidobro 1983). Freire hatte aber bereits mit seiner Arbeit "Cartas a Guinea-Bissau" begonnen, sich intensiver mit der Beziehung zwischen Bildung und Arbeit zu beschäftigen, und wie Rodríguez schon im Jahr 1842 darauf verwiesen, daß Arbeit in der Schule nicht nur aus didaktischer Sicht wichtig ist, sondern den Menschen die Möglichkeit bietet, durch einen Prozeß der Bewußtseinsbildung tatsächlich über ihre Arbeitskraft selbst zu verfügen und nicht weiter Sklaven zu sein (Rodríguez 1975).
In entsprechenden Beiträgen in den Fachzeitschriften wird deutlich, daß die in der Bankiers-Bildung vorgenommene Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit im aktuellen didaktischen Diskurs vor allem für die Grundschule immer mehr überwunden wird und es immer mehr konkrete Erfahrungen auf diesem Gebiet in unterschiedlichen Wissensbereichen, u.a. in der Mathematik gibt, die dem Frontalunterricht entgegenstehen. Auch die Educación Popular hat mit dieser Dichotomie gebrochen und geht in ihrer Konzeption durch die Einbeziehung der politischen und dialogischen Dimension (Gadotti 1997) darüber hinaus, wenn nach Peresson / Mariño / Cendales (1985, 87) die Forderung gestellt wird, Bildung müsse "den Personen eine wissenschaftliche Ausbildung vermitteln, die sie in die Lage versetzt, die Technologie zu beherrschen, und ihnen andererseits als kollektiven Arbeitern die Instrumente in die Hand geben, die sie brauchen, um den gesamten Produktionsprozeß zu erfassen, wodurch es ihnen möglich wird, die Kontrolle der Produktion in ihrer Fabrik zu übernehmen". Diese revolutionäre Forderung ist nicht illusorisch, sondern das eigentliche Ziel, für das die Educación Popular in Lateinamerika steht und arbeitet (Bigott 1992 und Torres 1997, u.a.).
Im folgenden Schema (Abb. 4) ist das Konzept der Educación Popular zusammengefaßt (Freire 1973, 114, García-Huidobro 1983, 32, Mädche, 1995, 202). Es steht in direktem Zusammenhang mit dem in Abb. 3 dargestellten Schema zur zyklischen Methode des Lern- und Lehrprozesses. Generell gibt es keine linearen Verbindungen zwischen den Komponenten, sondern die Beteiligten, die dialektische dialogische Methode, das Lernobjekt und das Ziel der Veränderung bilden eine Kontext der Interaktion.
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In der Konsequenz liegt der Schwerpunkt der Educación Popular in der Förderung kritischer, vor allem kollektiver Kompetenzen (Gemeinschaftskompetenzen) bei den Lernenden, wobei die Bildung so weit wie möglich mit deren spezifischer kontextueller Realität verknüpft wird, ohne bei einem möglicherweise eingeschränkten Realitätsbegriff stehen zu bleiben. Mit diesen Punkten und den Auswirkungen für den Mathematikunterricht beschäftigen sich die beiden folgenden Abschnitte (2.2 und 2.3).
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