2.2 Educación Popular als Chance, Gemeinschaftskompetenz und Mitverantwortung in der komplexen Gesellschaft der Gegenwart zu fördern |
|
Erziehung dient der Entwicklung einer Reihe von kritischen Kompetenzen bei den Kindern und Jugendlichen, die sie als Individuen prägen, vor allem aber als Mitglied der Gemeinschaft, zu der sie gehören (Freire 1981). Häufig wird davon gesprochen, daß das Ziel von Bildung und Erziehung die Förderung von Fähigkeiten und Fertigkeiten wie Selbstreflexion, Eigenverantwortlichkeit, Selbstbewußtsein, Selbsterkenntnis, eigenständiges Lernen, Selbstdisziplin, Selbstkontrolle, also einer immer längeren Liste (23) von Autonomien sein sollte, die der Komplexität der Gesellschaft Rechnung trägt. Diese individuellen Kompetenzen werden in einigen Fällen unter dem Begriff der Selbstkompetenz gefaßt. Dieser steht im pädagogischen und didaktischen Diskurs jedoch nicht allein, sondern immer im Zusammenhang mit umfassenderen Erziehungsansätzen von Autoren wie López (1986), Klafki (1991), Schulz (1994), Freire (1994) u.a. Die Fixierung auf deterministische und spezifische Vorstellungen davon, was Lernende in der Schule erreichen sollen, bei denen Individualität mehr im Vordergrund steht als Gemeinschaftlichkeit, kann zur Entstehung eines Konstrukts wie dem des Selbstkonzepts führen, das auf den Lernenden als isoliertes, individuelles Element und nicht als unlösbarer Teil einer Gruppe mit gleichen Bedürfnissen und Interessen ausgerichtet ist (Freire 1985 und López 1986).
Mit dieser ersten Bemerkung soll darauf verwiesen werden, daß Educación Popular einem didaktischen Konzept folgt, das die individuellen Interessen in die kollektiven einbetten will und nicht umgekehrt, denn die Untersuchung sozialer Phänomene, denen die Individuen ausgesetzt sind, und auch die Lösung der Probleme sind Aufgabe aller und nicht isolierter Personen, die ihre eigenen Lösung suchen und den anderen undurchführbare Vorschläge anbieten. In diesem Sinne werden die Kompetenzen Selbstbestimmung, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit (Klafki 1991 und Schulz 1996) als eine Gesamtheit von Komponenten betrachtet, die den Lernenden im Rahmen einer emanzipatorischen Bildung die Fähigkeit verleihen sollen,
Diese Ideale erfordern das Handeln und die Partizipation aller Beteiligten im Bildungsprozeß. Die Kinder und Jugendlichen sollen in der Schule nicht Entscheidungen über andere treffen oder akzeptieren und auch keine undemokratischen Verhaltensweisen lernen, sondern sich als wichtiges Mitglied einer Gruppe begreifen, das gleiche Rechte und gleiche Pflichten im Schulalltag und vor allem im Lern- und Lehrprozeß hat. Schulz (1995, 53) führt dazu aus:
"Partizipation der Schülerinnen und Schüler an den Entscheidungen über ihren eigenen Lernprozeß, über den Unterrichtsgang sind keine pseudodemokratische Spielerei, sondern Ausdruck des Zieles: Selbstbestimmung in sozialer Verantwortung, das nur über Selbst- und Mitbestimmung erreicht werden kann. Erst was in partizipatorischen Prozessen geschieht, führt zu der Empfindung: Das hier ist auch meine Schule, meine Klasse, meine Gruppe, mein Lernen."
Bei einer solchen pädagogischen Orientierung, der auch die Educación Popular folgt, übernehmen die Lernenden eine wesentliche Position in den Entscheidungen über ihre Bildung, nicht als Objekte, die für quantitative Wertungen der Bildungspolitik herhalten müssen, sondern als menschliche Wesen, die das Recht haben, über ihre eigene Welt und die Entwicklung ihrer Persönlichkeit Meinungen zu haben und selbst zu entscheiden. Dabei geht es nicht um die Ausübung eines repräsentativen Demokratieaktes, in dem die Lernenden Regeln einhalten müssen, die die Lehrerin, der Lehrer oder die Schule vorgeben, und damit weiter den Interessen der Macht entsprechenden hierarchischen Strukturen unterworfen sind, sondern im Gegenteil darum, daß "anstelle einer Gesellschaft im kleinen mit ihren Unterschieden und Hierarchien die Mathematikstunde eine demokratische Gemeinschaft der Arbeit sein soll", wie Serveis (1976, 31) fordert. Diese demokratische Arbeit vor allem im Mathematikunterricht (Nissen 1993) wird jedoch durch das Konkurrenzdenken der merkantilistischen Gesellschaft eingeengt (Stollter 1976). Die Leistung (24) im Mathematikunterricht stellt in Venezuela und Nicaragua eine der größten Sorgen der Bildung dar, und die Förderung anderer Fähigkeiten und Fertigkeiten der Lernenden wird darüber vernachlässigt.
Der Begriff der Selbstbestimmung erhält so auch für den Mathematikunterricht eine progressive und wichtige Bedeutung, die von Volk (1995, 7) wie folgt beschrieben wird:
"Selbstbestimmung ist Praxis als Aufklärung; Selbstbestimmung ist die Praxis der Aufklärung. Vernunft, Emanzipierung haben Aufklärung als Fundament und Medium. Genau das ist eine Stelle, an der der Mathematikunterricht zielgerecht und verläßlich eingreifen kann: Indem er Mathematik dort entwickeln läßt, wo das, in einem ernstzunehmenden Sinne, zur Aufklärung von Handlungssituationen beiträgt."
Das scheint aber nicht die tatsächliche Interpretation des Begriffs zu sein, im allgemeinen wird er eher als Fähigkeit der persönlichen Selbstbestimmung und des persönlichen Selbstbewußtseins im Hinblick auf die effiziente und adäquate Entwicklung in der Gesellschaft verstanden. Diese individuelle Unabhängigkeit wird durch subtile Elemente des kapitalistischen Systems bedingt und kontrolliert, die die Verwirklichung voller und definitiver Selbstbestimmung verhindern. Ihr Grundprinzip ist die Dualität von Repression und Unterwerfung, die von der Schule nicht immer wieder reproduziert werden darf, sondern dem ein Prozeß der Emanzipierung entgegengesetzt werden muß.
In Nicaragua und Venezuela ist häufig und neuerdings verstärkt zu beobachten, daß Familie und Schule versuchen, Impulse für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen in Richtung einer solchen persönlichen Unabhängigkeit zu geben, weil dies - so glaubt man - die einzige Möglichkeit ist, als Individuum die materiellen Schwierigkeiten in der Gesellschaft zu überwinden. Aus der Umgebung, in der die Heranwachsenden leben, kommen ebenfalls derartige Einflüsse. Angesichts eigener Probleme, die dem Wohlstand entgegenstehen, orientiert und drängt die Familie die Kinder zur Suche nach dieser Art von Unabhängigkeit. Auf den ersten Blick könnte das als eine für die Schemata des heutigen Lebens natürliche und notwendige Forderung angesehen werden, tatsächlich ist es jedoch ein Risiko, denn die Kinder werden von klein auf einem Kampf gegen sich selbst und gegen eine willkürliche, feindliche und ungerechte Welt unterworfen, die auf Egoismus selbst unter Angehörigen gleicher sozialer Gruppen und der Anbetung des rein Materiellen beruht (Schnurrer 1995, Arríen 1996, CIES 1995 und Cova 1996). In dieser Welt voller Konflikte und Erniedrigungen werden Kinder mißhandelt und zurückgestoßen, um dann infolge der Förderung eines "Ich" und eines "Selbst", die aus der Sicht der für die eigene Entwicklung erforderlichen Fähigkeiten interpretiert werden, selbst zur Quelle der Ausbeutung zu werden. Dieser Kontext ist jedoch weder elementar noch geeignet, wie häufig angenommen wird (Lacueva 1993), er ist im Gegenteil voller Unsicherheit und Wechselfälle, die dem Wohlergehen und einem ruhigen Leben der Menschen entgegenstehen.
Häufiger noch ist zu beobachten, daß wegen der hohen Technisierung der Gesellschaft das kollektive Bewußtsein nicht nur keine Rolle spielt, sondern das Ziel sogar ausdrücklich auf das Individuum mit seinen Partikularinteressen gerichtet ist (Bech, 1996), auf das Einzelwesen, dessen Aufgabe es letztlich ist, zu produzieren und zu konsumieren. Kinder werden hier zu den ersten Betroffenen, denn an sie und über sie wird die kommerzielle Botschaft über immer ausgeklügeltere Medien gerichtet (Rolf / Zimmermann 1994).
Damit soll nicht die notwendige Auseinandersetzung der Kinder mit einer immer stärker technisierten und technologieabhängigen Gesellschaft negiert, sondern die Suche nach Erklärungsmechanismen angeregt werden, die eine adäquate Beziehung dazu ermöglichen. Es geht um das "Leben in einer technisierten Risikogesellschaft" (Oberliesen 1994a, 71). Die Technisierung ist ja auch in den sozialen Kontext der Kinder, besonders in die Familie, eingedrungen und läßt wenig Distanzierung zu. Die permanente und wachsende Technisierung ist auf das Individuum als isolierten Rezipienten von Informationslawinen, als passiven Konsumenten einer Technologie, die vorteilhaft, aber auch schädlich sein kann, zugeschnitten, ohne die Möglichkeit zu kritischer Reflexion von Konsequenzen und Aspekten des Gruppeninteresses einzuschließen. Mehr noch, diese Technisierung führt zu immer größerer Abhängigkeit, zu Individualismus und Einsamkeit der Menschen (Rolf / Zimmermann 1994). Guzmán (1993, 7) sagt dazu:
"Unter unseren heutigen Gegebenheiten, angesichts der starken Tendenz zur Dehumanisierung der Wissenschaft, zur Depersonalisierung durch unsere computerisierte Kultur ist ein humanisiertes Wissen, in dem Mensch und Maschine den ihnen entsprechenden Platz einnehmen, immer dringender erforderlich."
Hier soll noch einmal betont werden, daß Mathematik und Mathematikunterricht auf Grund ihrer Verantwortung sehr viel zur Erklärung der Technologien beitragen können. Es geht nicht nur darum, sie zu verstehen und zu lernen, harmonisch mit ihnen zu leben oder sie weniger schädlich für die Umwelt zu machen, es geht darum, die Entfremdungs- und Kontrollmechanismen zu dechiffrieren, die die Herrschenden zur Instrumentalisierung der Individuen einsetzen. Die negativen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, müssen offengelegt werden. Keitel / Kotzmann / Skovsmose (1993, 247) stellen fest:
"If mathematics is a necessary and essential - although not the only - precondition of technology, then mathematics teaching and learning is a necessary prerequisite for everyone who wants to understand and reconstruct or develop technology - and to judge its use or abuse."
Hinter dem Konzept der Selbstkompetenz scheint als Chance für das Überleben in einer Technik- und Konsumgesellschaft der Gedanke zu stehen, die Schuld und die Verantwortung für Fakten und Umstände in der einzelnen Person als Individuum zu suchen und nicht als Mitglied einer sozialen Gruppe, in der andere Mitglieder gleichfalls betroffen sind von Geschehnissen, die nicht auf simple Weise zu erklären sind. Martinic / Walker (1988, 13) meinen, "das für die Reproduktion und Orientierung des sozialen Lebens erforderliche Wissen ist keine individuelle Angelegenheit, und ebensowenig eine Produktion, die unabhängig von den Existenzbedingungen des Subjekts vor sich geht", sondern steht in direkter und indirekter Verbindung zu allen Individuen des jeweiligen Kontextes.
Leben und "lernen in der Informationsgesellschaft" (Bildungskommission NEW 1995, 134) ist eine Herausforderung, die wegen der Konsequenzen eines wenig gemeinschaftlichen Lernens und Lebens für Gegenwart und Zukunft genau analysiert werden muß (Freire 1994a). Nur auf Bildungsformen mit immer stärkerer Orientierung auf die der Informationsgesellschaft zugerechneten technologischen Fortschritte zu bauen, könnte eine unmenschliche Gesellschaft stärken.
Es wäre also kontraproduktiv, in der Erziehung und Bildung individualistische Tendenzen zu fördern, da dies am ehesten den Interessen der herrschenden Kreise dienen würde, die Bevölkerung zu teilen und von ihren eigenen Intentionen zu entfremden durch eine "betrügerische Pädagogik unter dem Motto unserer gemeinsamen Kultur" (Macedo 1994, 132); und unter Verwendung eines pädagogischen Konzepts für den Mathematikunterricht (Heymann 1996a), das nur auf Anpassung in der heutigen Gesellschaft ausgerichtet ist, soll die unkritische, auf der Relation Unterdrückte-Unterdrücker beruhende Pädagogik fortgeführt werden, als gäbe es keine sozialen Konflikte und keine Notwendigkeit, diese zu hinterfragen und sich gemeinschaftlich und entschieden mit ihnen auseinanderzusetzen (Carr / Kemmis 1988 und Giroux 1994, Freire 1996). Dieses Beharren auf der individuellen Verantwortung legitimiert nur die Strukturen einer Gesellschaft, deren Basis das Individuum und seine Partikularinteressen sind.
In Ländern mit so viel sozialer Ungleichheit, wie in Nicaragua und Venezuela (CIES 1995, Cova 1996 und Arríen 1996) kann die Schule der Ausgangspunkt für die Entwicklung des kollektiven und kritisch-reflexiven Bewußtseins der Kinder werden (Skovsmose 1994a), Fähigkeiten, die in der Familie und im Kontext der Gesamtgesellschaft heute in beiden Ländern eher selten sind. Im Unterricht und speziell im Mathematikunterricht müssen bei den Kindern und Jugendlichen Kompetenzen wie Mitbestimmung und Mitverantwortung (Führer 1997, 60) gefördert werden, aus ihnen sollten sich dann die Kompetenzen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung entwickeln, und nicht umgekehrt.
Schulz (1995, 140) (25) fordert ebenso wie Freire in seiner 40-jährigen Arbeit auf diesem Gebiet ein pädagogisches Ideal, das auch umgesetzt werden kann:
"Ich unterstelle, daß dieser Geist gerade in Integrierten Gesamtschulen einer Gesellschaft auf dem Wege zum Zusammenleben von Freien, Gleichen, brüderlich Verbundenen bestimmt sein sollte von einer quartierbezogenen Hilfe zur Mündigkeit. D.h. diese Schule gibt
-Hilfe zur Entwicklung jener Kompetenz, die zur Sicherung autonomer und solidarischer Lebensführung in dieser demokratischen Industriegesellschaft des technischen Wandels erforderlich ist;
-Hilfe zur Entwicklung von Autonomie, zur kompetenten Selbstbestimmung des eigenen Lebens und zur Mitbestimmung des gesellschaftlichen Lebens;
-Hilfe zur Entwicklung von Solidarität, zur Verantwortung für die Chance aller, zu Kompetenz und Autonomie zu gelangen, zur erfolgreichen Durchsetzung der eigenen Entfaltungsansprüche, und sei es um den Preis einer Veränderung der Lebensbedingungen".
Anfang Zurück Inhaltsverzeichnis Weiter
Endnote
:(23) Vgl. Alvarez-Prada / Haberkamp (1985, 469-470).
(24) Dies ist eine in der empirischen Untersuchung gewonnene Kategorie von großer Bedeutung (Abschnitt 4.1.7).
(25) Vgl. Klafki (1991, 52).