5.2 Förderung von Demokratie und Demokratisierung im Mathematikunterricht

Die zweite Frage im zweiten Teil der Befragung (Dimension 5) brachte drei Kategorien hervor: Frontalunterricht; Demokratisierung des Mathematikunterrichts und Demokratie im Lern- und Lehrprozeß; Partizipation, Dialog und Kooperation im Mathematikunterricht. In Abb. 28 widerspiegelt sich die Annäherung beider Länder im Hinblick auf die Zahl der Aussagen. Im folgenden sollen die umfangreichen Äußerungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmerinnen und Teilnehmer detailliert analysiert werden.

 

 (Abbildungsverzeichnis)

 

 

5.2.1 Traditioneller Frontalunterricht

These 36:

In den verschiedenen Stufen des nicaraguanischen und venezolanischen Bildungssystems gibt es frontalen Mathematikunterricht, in dem die Meinung der Lernenden nicht erwünscht ist und diese während des Unterrichts zu schweigen haben.

Nach Quantifizierung der Aussagen und der Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wird in Abb.28 deutlich, daß die Praxis des Mathematikunterrichts auf der erzwungenen Vermittlung von Kenntnissen durch Frontalunterricht beruht. In beiden Ländern wird diese Bildungspraxis vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern und in Mathematik angewandt, mit der Standardbegründung, daß dies angesichts der wenigen Zeit und der Zahl der Lernenden die wirksamste Form ist, die Lehrplanziele zu erreichen (206). Dabei spielen die Folgen, die sich daraus für die Lernenden vor allem in der Grundschule ergeben können, keine Rolle. "In keiner Stufe unseres Bildungssystems gibt es Mathematikunterricht, der alle Kinder berücksichtigt, der darauf abzielt, daß sie verstehen und nicht sinnlos auswendig lernen; bis heute haben wir eine Diktatur des mathematischen Wissens" (EC). Im folgenden werden die vier Aspekte behandelt, die die Expertinnen und Experten zu diesem Merkmal des Mathematikunterrichts in Schulen, Gymnasien und Universitäten benannt haben.

 

5.2.1.1 Die Lehrerin und der Lehrer als Mittelpunkt des Lern- und Lehrprozesses

Zunächst steht der Lehrer oder die Lehrerin im Mittelpunkt des Lern- und Lehrprozesses, was dazu führt, daß Inhalte diktiert werden, die von den Lernenden später wörtlich wiedergegeben werden müssen. "Die Regeln, die wir den Kindern vermitteln, damit sie addieren lernen, sind aufgezwungenes Wissen, und darüber hinaus bringen wir sie direkt oder indirekt dazu, sie für obligatorisch zu halten" (IG). Der Lehrer oder die Lehrerin agiert autokratisch, und das Kind steht an zweiter Stelle, unterhalb der mathematischen Inhalte und der Aktivitäten der Lehrkraft. "Der Mathematikunterricht ist aufgezwungen und geht nur in eine Richtung, der Lehrer stellt sich vor die Schüler, schreibt an die Tafel und lehrt, ohne den möglichen Fragen der Schüler Raum zu geben" (RP). Diese geführte und passive Form führt für die Lernenden zur Verwandlung in Individuen, die von der Welt und ihrer Realität isoliert sind, die denken, daß soziale Ungleichheit akzeptiert werden muß und in dem Maße verringert wird, wie sie sich an die etablierte, scheinbar unveränderliche Ordnung anpassen. Diese Art der Bildung wird auch genutzt, um die Macht des Stärkeren über den Schwächeren, des Lehrenden über die Lernenden in den lateinamerikanischen Ländern zu erhalten (207) , "die Definitionen werden den Kindern diktatorisch vermittelt, ohne sie mit Erlebnissen zu verbinden, an denen sie arbeiten und agieren können, sondern das Konzept wird ihnen vorgegeben, ohne daß sie die Freiheit hätten, es in Frage zu stellen. Für die Frage nach dem Warum und Wieso ist kein Platz" (WB).

 

5.2.1.2 Mathematik als Mittel zur Disziplinierung

An zweiter Stelle werden die Lernenden unter Benutzung der Mathematik als Strafe dazu gezwungen, sich gut zu benehmen und die Ordnung in der Klasse nicht zu stören, denn man geht davon aus, daß die Mathematik die Wahrheit repräsentiert und daher Konzentration und sehr viel Aufmerksamkeit erfordert. "Manchmal werden die Kinder bestraft oder ihnen mit Herabsetzung ihrer Note gedroht, wenn sie sich nicht ordentlich benehmen oder den Mathematikunterricht unterbrechen. Mathematik ist mit Strafe verbunden, sie wird benutzt, um zu strafen" (EC). Um diese Machtposition zu erhalten, wird auch die Auffassung genutzt, die Wissenschaften, speziell die Mathematik, seien sehr ernste Dinge, und daher müßten die Lernenden ebenfalls ernsthaft sein. Damit entspricht man den Vorstellungen und oft auch der Arroganz derjenigen, die diese Auffassung bestärken und die Macht haben (208) . Auch wenn den Lernenden manchmal die Möglichkeit eröffnet wird, ihre Meinung zu äußern, setzt sich fast immer die Meinung der Lehrkraft durch, zu Recht oder auch zu Unrecht. Weil die vorgegebenen Inhalte abgearbeitet werden müssen, muß man sich der Autorität der Mathematik, der Lehrenden unterordnen. Isabel Días äußert sich kritisch dazu:

"Estamos en un sistema educativo en el cual no hay chance para que los alumnos tengan libertad de trabajar, de opinar y de criticar. Ellos están siendo coherentes con lo que aprenden. A ellos se les dice hagan esto y responden en muchos casos con obediencia a lo que se les ordena. Ellos responden a la educación que el sistema les exige. El problema está en que la ciencia se tiene que enseñar de una manera muy seria, en que todo el mundo se tiene que sentar de una manera muy seria, donde el docente lo sabe todo, lo dice todo y los alumnos oyen aquello de una manera muy seria" (ID).

 

5.2.1.3 Wiederholung des Frontalunterrichts, der an den Universitäten vermittelt wird

Eines der von den Expertinnen und Experten genannten Merkmale des Mathematikunterrichts in Nicaragua und Venezuela besteht darin, daß häufig die frontale Art des Unterrichts an den Universitäten sich auf anderen Ebenen des Bildungssystems wiederholt. Die sogenannten unfehlbaren Lehrenden, die wegen des Mangels an Material, Vorbereitung und Weiterbildung keine anderen didaktischen Formen kennen, setzen ihre Methodik durch. Dies ist für die Universität in beiden Ländern typisch. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vertreten das einhellig und selbstkritisch. Zur Verteidigung solcher Verhaltensweisen wird argumentiert, die Mathematik selbst lasse scheinbar wenig Spielraum für Improvisation und Innovation, da sie strengen und präzisen Prinzipien folge. Im Falle der strukturalistischen Auffassung von der Schulmathematik ist dies sicher richtig, aber es ist der Mathematik nicht immanent, sondern geht darauf zurück, daß sich "in der Hochschulbildung in unseren Ländern die Auffassung verstärkt, daß Mathematik auf Grund ihres Wesens frontal unterrichtet werden muß, was die positivistische Meinung der Mathematikdozenten an den Universitäten über die Bildung widerspiegelt, wo es kaum arme Studenten gibt, da die Auswahlmechanismen undemokratisch sind" (MM).

 

5.2.1.4 Förderung des Frontalunterrichts durch die Bildungsministerien

In den Bildungsministerien beider Länder herrscht die pädagogische Auffassung, Mathematikunterricht müsse mit Kreide und Tafel frontal stattfinden, man müsse Definitionen diktieren und Propositionen und Theoreme nachweisen. Nach dieser Meinung ist der einzige Weg, die Lehrplanziele zu erreichen, die ununterbrochene Aktion der Lehrenden, die alles wissen. Wenn Lehrende eigene Innovationen einbringen, laufen sie Gefahr, wegen Nichterfüllung von Bildungsprinzipien bestraft oder sogar als Gefahr für die etablierte Ordnung bezeichnet zu werden (209) . Zwei Expertinnen und Experten erläutern das so:

"A pesar de que ha disminuido la supervisión de clases por parte del MED, los docentes estamos siempre sujetos a esta presión, ya que ellos son quienes imponen de manera antidemocrática sus puntos de vista sobre lo que se debería dar en clase y como darlo, sin permitirle al docente su libertad para decidir y seleccionar lo que él considera apropiado para los alumnos" (BM). "En la enseñanza de la matemática nuestra parece que no hay otra cosa que explicar, sino dictar definiciones y explicar las demostraciones de ciertos teoremas de manera impositiva, sin hacer otras cosas que sí serían interesantes para los alumnos" (ML).

 

5.2.2 Mangelnde Demokratie im Mathematikunterricht

These 37:

Der Mathematikunterricht und der Lern- und Lehrprozeß sind in Nicaragua und Venezuela nicht demokratisch, da einerseits die Mehrheit der Bevölkerung keinen Zugang zur Mathematik hat und keine Vorteile daraus ziehen kann und andererseits den Lernenden die mathematischen Inhalte aufgezwungen werden, ohne daß ihre Meinung im Unterrichtsprozeß gefragt ist. Für einen demokratischen Unterricht muß ein Diskussionsprozeß angeregt werden, der alle mit dem Mathematikunterricht Befaßten einbezieht.

Die Frage der Demokratisierung des Mathematikunterrichts und der Demokratie im Lern- und Lehrprozeß wurde von den Expertinnen und Experten sehr ernsthaft diskutiert. Ihre Äußerungen zu diesem Thema könnten Grundlage für eine eigenständige Forschungsarbeit sein. Dies war einer der zentralen Aspekte der Gespräche in beiden Ländern, es gab zahlreiche übereinstimmende Aussagen. Das Thema ist sehr komplex und schwierig, vor allem wenn man wie die Expertinnen und Experten und ich davon ausgeht, daß die Bildung eine der unverzichtbaren Säulen für das Erreichen, den Erhalt und die Stärkung der Demokratie ist (210) . Um über Demokratie und Mathematikunterricht sprechen zu können, müssen daher die Verbindungselemente zwischen Mathematikunterricht und Demokratie aufgespürt werden. In den beiden lateinamerikanischen Ländern hat ein Diskussionsprozeß begonnen, der aus konzeptioneller und politischer Sicht erstaunliche Ergebnisse zeitigt. Walter Beyer faßt die Meinung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammen:

"La democracia no significa que necesariamente todo el mundo esté de acuerdo, ni que halla consenso entre todos los participantes. La democracia parte no del principio de que todo el mundo ha de hacer lo que le parezca. Tiene que haber un mínimo de consenso en ciertas cosas pero también debe haber mucha libertad. Es necesario discutir para que la gente se equivoque, para que la gente tenga la oportunidad de decir lo que siente y que tome responsabilidad de lo que dice y hace. La democracia significa que cada quien tiene que respetar a los demás, que uno tiene que ponerse un límite hasta dónde uno puede hacer lo que le viene en gana sin estar afectando a los demás" (WB).

Abb. 28 zeigt, daß im Hinblick auf die Quantifizierung der Aussagen in Nicaragua das Thema Demokratisierung stärker behandelt wurde, in beiden Ländern haben sich die Expertinnen und Experten aber dazu geäußert und sind zu dem allgemeinen Schluß gekommen, daß der Mathematikunterricht undemokratisch ist, die Lehrenden von den Lernenden fordern, das zu tun, was erstere wollen und wie sie es wollen. Sie wählen die Übungen aus, sind Herren des Wissens und vermitteln es nicht demokratisch. Das Schlimmste ist, daß Lernende jeden Alters moralisch und sozial unter Druck gesetzt werden, etwas zu lernen, was eine ungerechte Gesellschaft von ihnen fordert, unter dem Vorwand, daß ihnen mit dem Angebot von Wissen automatisch auch das Angebot der Entscheidungsfreiheit unterbreitet wird. Im folgenden sollen die Ergebnisse aus der Analyse der 25 Befragungen in sechs Komplexen dargestellt werden.

 

5.2.2.1 Die demokratische Gesellschaft als Voraussetzung für eine demokratische Bildung

Nach Meinung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind zwei Grundbedingungen für die Demokratisierung des Mathematikunterrichts einerseits eine demokratische Gesellschaft und andererseits kostenlose Bildung. Leider krankt die nicaraguanische Gesellschaft am Fehlen einer wirklichen sozialen Demokratie, in der alle die gleichen Möglichkeiten haben und auch ihren Pflichten demokratisch nachkommen, daher "muß man den Aspekt der Demokratisierung des Mathematikunterrichts im Kontext der Demokratie selbst im weitesten Sinne des Wortes sehen" (PP). Die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit weist eine Reihe von undemokratischen Elementen auf, die eine Demokratisierung der Schule auf vielfältige Weise behindern.

Eine Gemeinsamkeit der Äußerungen besteht darin, daß die Frage der Demokratisierung des Mathematikunterrichts mit einer kritischen Betrachtung der Demokratie, die besteht, und der, die gebraucht wird, verbunden wird. Wenn nach der Funktion der Bildung in der Gesellschaft gefragt wird, kommt man zu dem Schluß, daß "der Lern- und Lehrprozeß Herrschaftsfunktion hat, die Arbeiter werden oft daran gehindert, zu lesen, zu denken und sich Meinungen zu bilden, weil sie sich dadurch befreien könnten. Das hat sich nicht geändert, das hat sich in den letzten Jahren erhalten und verstärkt. Wer überlebt das Bildungssystem? Wer kommt in der Bildung voran?" (ID). Beim Versuch, diese Frage zu beantworten, kommt man unweigerlich zu den sozialen Ungleichheiten nicht nur des Bildungssystems, sondern der Gesellschaft insgesamt. Wer die Macht hat, hat gute Bibliotheken, leistungsstarke Lehrende, Eltern, die auf Grund ihrer sozialen Stellung Zugang zur Bildung hatten und ihren Kindern eine gute Ausbildung bieten können. Der großen Mehrheit der Bevölkerung bleiben solche Bedingungen verschlossen. Nur wenige erreichen den Abschluß nach der 9. Klasse, weil das System ihnen Fortschritte verwehrt, und wer es gar bis zum Abitur schafft, "kann nicht studieren, bleibt bei einer Bildung zweiter Klasse, kommt an eine Universität zweiter Klasse und natürlich in eine Gesellschaft zweiter oder dritter Klasse" (AB).

Tomás Guido verweist darauf, daß bei den verschiedenen sozialen Gruppen große Unkenntnis über den praktischen und konkreten Sinn der Demokratie herrscht. Einfache Formen, um den abstrakten Begriff der Demokratie mit Leben zu füllen, könnten u.a. Vertrauen, gemeinsame Arbeit, Partizipation sein. Das heißt:

"Hay diferentes formas de entender la democratización de la enseñanza de la matemática y una forma sería en relación con la opinión política que debería tener el alumno y el profesor sobre lo que sucede en el país y esto ver políticamente lo que sucede en todo el contexto de la sociedad y además desarrollar una democratización interna dentro del contexto donde se desarrollan las clases de matemática. Pero, nos encontramos un vacío sobre el significado de esa democracia. Ideas del concepto de democracia como confianza, trabajo mutuo, participación, cumplir con los derechos y los deberes de los demás en el sentido amplio de la palabra casi no existen en nuestras democracias latinoamericanas" (TG).

Eine von der Welt durch eine Mauer der Angst und der Neutralität abgeschiedene und verschlossene Schule kann wenig zur Stärkung einer wirklich demokratischen Gesellschaft beitragen. Gebraucht wird also ein Bildungssystem für die Masse der Bevölkerung und nicht für Minderheiten, das denkende und kritische Menschen heranbildet - so steht es in unserer Verfassung. Straßen und Plätze sollen zu Schulen werden, so daß die Mathematik direkt mit der Welt verbunden ist, damit sie verstanden und ihr als Element der sozialen Macht entgegengetreten werden kann, um "zu wissen, wann wir mit Hilfe der Mathematik betrogen werden und wann wir den Aussagen glauben können, die uns über die Mathematik vermittelt werden. Diesen sozialen Aspekt muß man draußen suchen, bisher war er immer in der Schule eingeschlossen und konnte nicht heraus, um sich der Welt zu stellen, deren Teil er ist" (EC).

 

5.2.2.2 Demokratie in der nicaraguanischen und venezolanischen Bildung

In der Diskussion wurde das nicaraguanische Bildungssystem wegen seiner undemokratischen Elemente und dem Erziehungsstil, der dem von Freire skizzierten "Bankierskonzept" entspricht, in Frage gestellt. "In unserer lateinamerikanischen Bildung gibt es keine Demokratie, weil wir uns daran gewöhnt haben, alles unter Druck zu tun, selbst in der Bildung" (FG). Demokratisierung der Bildung in Venezuela und Nicaragua gibt es faktisch nicht, umso weniger jetzt, wo die Staaten neoliberalen Wirtschaftsprojekten folgen, die den Erhalt der Bildung in Gefahr bringen und jeglichen demokratischen Weg in der Schule versperren. Um einen Demokratisierungsprozeß in Gang setzen zu können, müssen vor allem die Lehrenden angesprochen werden, damit klar wird, wo die Probleme liegen und mit ihnen gemeinsam die notwendigen Lösungen zu suchen. "Simón Rodríguez hat mal gesagt: Wir haben uns von Spanien befreit, jetzt müssen wir ein Volk werden, und dafür brauchen wir die Bildung" (JM). Die Bildung in unseren Ländern leistet aber nur wenig, um den Traum von Simón Rodríguez Wirklichkeit werden zu lassen (211) .

Demokratie in der Bildung bedeutet auch, dem Lehrenden Freiheit und Vertrauen zu geben, damit er so arbeiten kann, daß Kritik, Innovationen und Aktivitäten möglich sind, die die Suche nach einer besseren Gesellschaft für die Mehrheit einschließen. Der nicaraguanische und der venezolanische Staat kontrollieren mittels standardisierter Lehrpläne für das ganze Land, was Lehrende an ihren Schulen tun. "Dem Lehrer wird gesagt: Sie müssen diese Inhalte effizient vermitteln, Sie müssen dieses Curriculum umsetzen. Ihm wird nicht gesagt, daß er die Freiheit hat, Veränderungen vorzunehmen oder neue Ideen einzubringen. Nein, die Bildung wird ihm auch aufgezwungen" (MC).

Daraus ergibt sich sofort die Frage: Was tun in dieser scheinbaren Sackgasse? Die Antwort ist, daß zuerst das Bildungssystem substantiell verändert werden muß, daß darüber nachgedacht werden muß, was für Bildung wir haben und was für Bildung wir wollen für unser Land oder für die Länder, die durch ähnliche Bedingungen der Unterdrückung und Ausbeutung gekennzeichnet sind. "Wenn in den Bildungskreisen das Problem von Bildung und Demokratie nicht diskutiert wird, wird es niemals eine wirkliche Demokratisierung des Bildungswesens geben" (ID).

Der Gedanke einer substantiellen Veränderung der Bildung ist auch kurzfristig umsetzbar, denn auf curriculare Änderungen unter authentisch demokratischen Bedingungen zu warten, hieße den gegenwärtigen undemokratischen, aber reparablen Zustand zu verewigen. Dazu muß immer wieder darauf verwiesen werden, daß die Bildung undemokratische Züge hat, wie Tomas Guido sagt:

"Yo tengo algunas ideas al respecto: nadie elige lo que va a estudiar en la primaria, en la escuela secundaria ni en las diferentes carreras universitarias. El que estudia medicina por ejemplo, tiene que llevar seminarios o clases que no son de su agrado, pero él está obligado a hacerlo y esto significa que la educación sí tiene grandes elementos dictatoriales" (TG).

Auf Grund der Merkmale des nicaraguanischen und des venezolanischen Bildungssystems sollten Bemühungen zur Demokratisierung der Bildung, speziell des Mathematikunterrichts, mit einem Prozeß von Diskussionen beginnen, die nicht unbedingt den Unterrichtsinhalten gewidmet sein müssen, obwohl auch diese mit den Lernenden diskutiert werden können, sondern einen Prozeß nähren sollten, aus dem demokratische Elemente erwachsen. Das bedeutet nicht, daß man ordentlich die Hand heben soll, um von Zeit zu Zeit eine Meinung zu irgendeinem Aspekt zu äußern, der im Klassenzimmer diskutiert wird, vielmehr soll eine Atmosphäre entstehen, in der Meinungs- und Ideenaustausch stattfindet und konstruktive Kritik möglich ist, mit dem Ziel, Schwierigkeiten und Probleme der Bevölkerung zu überwinden.

"Yo entiendo esto de la democracia en la educación, y quizás esté equivocado, no solamente que el alumno contribuirá a señalar cómo quiere aprender o qué contenidos él desea aprender, sino, más bien yo veo la democracia y la democratización como la posibilidad de adquisición de una capacidad crítica para poder vivir bien en democracia auténtica. El tiene que adquirir una concepción crítica del mundo para que no engañe a los demás y no se deje engañar" (PP).

 

5.2.2.3 Kostenlose Bildung als notwendige Bedingung für die Demokratisierung des Mathematikunterrichts

Gegenwärtig wächst die Zahl von Privatschulen in allen Städten beider Länder und bringt eine stärkere Ungleichheit in der Bevölkerung mit sich, da die Mehrheit nicht einmal die Möglichkeit hat, ihre Kinder in die öffentliche Schule zu schicken. Tomas Guido meint kritisch, "im Jahr ‘92 gab es weniger Privatschulen als jetzt, im Februar 1995. Viele dieser Schulen sind eine Entlastung für den Staat, aber gleichzeitig werden sie zu einem Problem der sozialen Ungleichheit. Sie wollen vor allem das Geld der Familienväter" (TG).

"Damit Bildung demokratisch sein kann, muß sie erst einmal kostenlos sein, das ist das erste Element, danach muß sie eine Form des Lebens sein" (PP). Kostenlose Bildung allein ist noch keine Garantie für die Demokratisierung der Bildung: "Daß die Bildung kostenlos und obligatorisch ist, heißt nicht notwendig, daß sie auch demokratisch ist" (AF). Es reicht nicht aus, kostenlose oder bis zur neunten Klasse obligatorische Bildung zu verordnen; der Bevölkerung und vor allem den Kindern müssen auch die notwendigen Voraussetzungen geboten werden, damit sie das Bildungsangebot nutzen können. Was gegenwärtig bei den Einschnitten im Bildungsbereich geschieht, die vor allem die Armen und Unterdrückten auf dem Kontinent treffen, steht in direktem Gegensatz dazu. Demokratische Bildung ist nicht vorstellbar, wenn der Staat seiner Verantwortung nicht gerecht wird und die Verbreitung privater Schulen fördert oder für die öffentlichen Schulen fordert, daß die Eltern einen monatlichen Beitrag zahlen, wie es in Nicaragua der Fall ist. Der Staat wird seiner politische Rolle nicht gerecht und erfüllt nicht die gesetzlichen Pflichten (212) . Vom Staat ist also eine ernsthafte Einhaltung der Gesetze zu fordern, die der Bevölkerung theoretisch die Bildung garantieren. Tomas Guido unterstreicht das:

"Se considera que la educación es gratuita, de acuerdo, pero los aspectos socioeconómicos no permiten garantizar una verdadera democratización de la enseñanza de la matemática. En nuestro país la enseñanza de la matemática se está haciendo menos democrática. La educación primaria y secundaria es obligatoria, el estado está en la obligación de proporcionarle a los ciudadanos la educación necesaria que ellos necesitan. El estado no debe por ningún motivo impedir lo que está establecido en la constitución nacional, pero sucede que en la práctica no ocurre esto" (TG).

Die Ausübung von Demokratie ist an gute soziale, ökonomische und politische Bedingungen für die Bevölkerung gebunden. "Ich denke, kostenlose Bildung ist eine Sache, und Schulpflicht eine andere. Der Staat fordert, daß die Kinder in die Schule geschickt werden, aber viele tun das nicht, weil die Kinder ihnen bei der Arbeit helfen müssen. Ein anderer Punkt ist die Partizipation des Menschen in der Entscheidung, um so eine andere Art von Demokratie zu entwickeln" (MC). Letzteres heißt, es muß ein Konsens gefunden werden, wie und wo Demokratie praktiziert werden sollte.

 

5.2.2.4 Demokratie im Lern- und Lehrprozeß

Es ist nicht möglich, kurzfristig einen Demokratisierungsprozeß des Mathematikunterrichts auf allen Ebenen des Bildungssystems und der Gesellschaft insgesamt einzuleiten, da es in unserer kapitalistischen Schule (213) eine Reihe von Elementen gibt, die es wegen ihres konkurrierenden und selektiven Wesens verhindern, daß sich demokratische Aktivitäten im Klassenraum entwickeln. "Niemand wird kostenlos Kurse abhalten, alles hat im Kapitalismus, in dem wir leben, seinen Geldwert. Wie soll man bei diesen festen Wirtschaftsstrukturen die Bildung humaner machen" (CM). Verbunden mit der Meinung über Mathematik und Mathematikunterricht bilden diese Aspekte ein Gesamtbild, das nicht leicht zu verändern ist. Kurz- und mittelfristig kann man aber demokratische Verhaltensweisen im Unterricht fördern. Das heißt:

"Falta mucho para democratizar la enseñanza de la matemática, lo que sí es posible a corto y mediano plazo es la democratización del proceso de enseñanza y aprendizaje de la matemática. Una cosa es la democracia en el aula, en el proceso de enseñanza y aprendizaje, cuando interactúa el profesor con sus alumnos y la otra es para que sea verdaderamente democrática es necesario que todo el mundo tenga acceso a las escuelas, en el primer caso sí podemos hacer mucho dentro de las aulas" (AF).

Wenn bestimmte sehr abstrakte Inhalte erklärt werden sollen, die manchmal, aber nicht ausschließlich frontale Methoden erfordern, verhalten sich manche Lehrende sehr undemokratisch. Nach Meinung der Expertinnen und Experten reagieren sie abschätzig und negativ, wenn die Lernenden Schwierigkeiten haben, solche Themen zu verstehen. Die folgende Äußerung bestätigt das:

"En muchos casos los alumnos tienen inconvenientes con conceptos sencillos de grados precedentes, sería bloquear las iniciativas individuales de los alumnos si respondemos a sus preguntas con el argumento de que esos temas ya fueron vistos y deberían ser dominados. Cortar la participación que el alumno tiene derecho a hacer. Uno enseña y aprende mutuamente mediante la comunicación, y esto es posible si existe democracia en la enseñanza de la matemática" (PP).

Die Umsetzung von Demokratie in der Schule ist nicht leicht, das haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bestätigt. Die Suche nach Formen, wie die Lernenden zu aktiven Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Bildungsprozesses werden, stößt auf technische Schwierigkeiten und Widerstand von denen, die an der Beibehaltung undemokratischer Unterrichtsstrukturen interessiert sind. Sicher ist es nicht nur ein methodisches Problem, bei allen Lernenden Verständnis für die Inhalte des Lehrplans zu erreichen. Es ist auch kein Problem der Förderung von Fähigkeiten und Wettbewerb um den besten Zugang zum Wissen, mit dessen Hilfe man sich in der Gesellschaft unterordnen kann. Vielmehr geht es um kognitive Qualitäten (214) , um das demokratische Zusammenwirken der an diesem Prozeß Beteiligten und um eine Orientierung des Lernens auf das Wohl der Gesellschaft im weitesten Sinne des Wortes.

"Hay que ver hasta donde se practica realmente el concepto de democracia en la escuela, porque los maestros tienen una idea y los alumnos otra sobre su significado. Puede ser democrático que en la clase no participen los alumnos, o sería democrático que todos aprueben con la misma nota. Hay que diferenciar entre democracia y populismo. También se cree que se trata de que todos los alumnos aprendan bien lo que se les enseña, sin discutir las consecuencias que se derivarían de ese aprendizaje" (TG).

 

5.2.2.5 Mehr Demokratie in den lateinamerikanischen Ländern durch mehr Demokratie im Bildungssystem und in der Schule

Die Mathematiklehrenden vertreten die Auffassung, daß die Diskussion über die Demokratisierung dort geführt werden sollte, wo über die Probleme des Mathematikunterrichts gesprochen wird: "das heißt, über die demokratische Erziehung der Mathematiklehrenden sowie über demokratische Impulse für den Mathematikunterricht. Um das zu erreichen, braucht man eine gute Bildung und demokratische Fähigkeiten" (JM). Eine Demokratisierung des Unterrichts erscheint in Lateinamerika einfacher, weil im Unterschied zu den Industrieländern hier mit der Durchsetzung wirklicher Demokratie viel zu gewinnen ist, wenn die Ausbeutung verringert und Konsumdenken und Konkurrenz bekämpft werden. "Für die Industrieländer ist es gefährlich, die Demokratisierung des Mathematikunterrichts als Aufgabe zu stellen, weil sich das gegen geschlossene kapitalistische Gesellschaften wenden könnte" (JM), denn hinter dieser Aufgabe steht die Bestrebung, "unsere Bevölkerung zu motivieren, die Bedeutung der Mathematik für die Gemeinschaft und ihre Befreiung zu begreifen" (ID).

Nicaragua erlebte einen einmaligen Demokratisierungsprozeß, der in kurzer Zeit und direkt nicht nur auf die Gesellschaft, sondern auch auf das gesamte Bildungssystem zurückwirkte. In den Bergen wurden verlassene Schulen wiederhergerichtet und in Betrieb genommen, aber dieser demokratische Prozeß endete mit dem Ende des revolutionären Prozesses (215) . "In den 80er Jahren sollte die Schule in alle Winkel des Landes gebracht werden, aber das wurde nicht fortgesetzt. Heute bleibt nur noch die Erinnerung. In den Bergen im Norden, die isoliert waren und mit der Revolution einen Aufschwung nahmen, gab es Institute, viele Leute wurden alphabetisiert, anderen wurde geholfen, sich am Arbeitsplatz weiterzubilden" (TG).

Auch in Venezuela gab es wichtige Veränderungen mit der Einführung der Massenbildung und der "Polytechnischen Schulen" in verschiedenen Regionen des Landes in den 50er und 60er Jahren (216) .

Bei den befragten Lehrenden aus beiden Ländern gab es noch Hoffnung, daß diese demokratischen Prozesse im Bildungswesen reaktiviert werden können. Sie kritisierten nicht nur den undemokratischen Charakter der Bildungssysteme in Nicaragua und Venezuela, sondern riefen zugleich alle Lehrenden dazu auf, zur Entstehung einer Demokratiebewegung in der Bildung im allgemeinen und im Mathematikunterricht im besonderen beizutragen.

"Es necesario llamar la atención a los docentes en general y al mismo sistema educativo nuestro para que la enseñanza de la matemática deje de ser vertical y dogmática, como si nuestros alumnos no tienen el derecho y la posibilidad de participar y discutir también sobre lo que está ocurriendo en el país y en el mismo proceso de enseñanza en cuanto a los contenidos fundamentalmente" (AF).

Diese Bewegung darf die Meinungen der Lernenden nicht übergehen, denn sie sind Mittelpunkt des Bildungssystems. Alle Beteiligten müssen mit ihren Meinungen und Aktionen einbezogen werden, um eine Demokratisierung der Bildung zu erreichen, denn es gibt eine Reihe von Lehrenden, die nicht nur an einer solchen Bewegung zur Veränderung nach wirklich demokratischen Prinzipien interessiert sind, sondern die in diesem Bereich auch schon eigene Erfahrungen gemacht haben:

"La democratización de la enseñanza de la matemática es posible y necesaria y en esa dirección ya estamos trabajando en el MED y conjuntamente con maestros y profesores de la ciudad de León y de algunas comarcas" (RP). "La democratización de la enseñanza de la matemática sí es posible, no se ha puesto en práctica más generalmente, ya que un tipo de educación bajo principios democráticos requiere trabajo comunitario y la unión con otros que comparten la misma idea, lo cual estamos practicando en nuestro colegio (IG) "Esta idea de la cooperación, la participación y la democracia en la enseñanza de la matemática es una idea excelente hasta el punto de que hay personas que quieren trabajar en esta dirección" (FG).

 

5.2.2.6 Einige Initiativen zur Demokratisierung des Mathematikunterrichts in Nicaragua und Venezuela

Hier geht es um die Fragestellung, ob eine Demokratisierung des Mathematikunterrichts möglich und wie sie zu erreichen ist, denn Zweifel tauchen auf, da "auf den ersten Blick keine Demokratisierung mathematischen Wissens möglich scheint, weil diejenigen, die Lehrer geworden sind, selbst einen autoritären Mathematikunterricht durchlaufen haben" (ID). Das ist in gewissem Sinne richtig, und der Pessimismus könnte sich verstärken, wenn es uns nicht gelingt, Wege der Partizipation und Aktion in den Einrichtungen des Bildungswesens zu finden.

Um den Mathematikunterricht zu demokratisieren, braucht es Expertinnen und Experten für den Unterricht, Untersuchungen über die größten Probleme und daraus resultierend Lösungsansätze. Wenn der Unterricht zu einem bestimmten Thema demokratisiert werden soll, muß man wissen, wie die Leute auf diese Kenntnisse reagieren und wofür es ihnen nützen soll. So können adäquate Mittel für eine bessere Vermittlung des Wissens erarbeitet werden, und die Inhalte können nicht nur abstrakt, sondern im Zusammenhang mit einer kritischen Sichtweise behandelt werden. Manchmal wird über Demokratisierung der Bildung und des Mathematikunterrichts gesprochen, ohne die Faktoren in Gesellschaft und Umwelt, die darauf Einfluß haben, zu untersuchen und ohne über ausreichende Erfahrungen aus der praktischen Lehrtätigkeit zu verfügen (217) . Dabei geht man den Problemen nicht auf den Grund, sondern bleibt an der Oberfläche, weil Forschungsmethoden fehlen, bei denen gemeinsam mit den Lernenden nach dem Wie und Warum des Mathematikunterrichts gefragt wird.

Im folgenden sind einige Meinungsäußerungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu Möglichkeiten der Demokratisierung des Mathematikunterrichts aufgelistet (218) .

 

5.2.3 Förderung der Demokratie im Mathematikunterricht durch Partizipation, Aktion, Kooperation und Dialog

These 38:

Die Hauptelemente zur Förderung der Demokratie im Mathematikunterricht sind Partizipation, Aktion, Kooperation und Dialog. Bisher werden sie weder in Nicaragua noch in Venezuela ausreichend praktiziert.

Demokratisierung der Bildung und der Mathematik schließt das Nachdenken über vier Kategorien ein, die dies in der Praxis möglich werden lassen. Über Demokratie im Mathematikunterricht zu sprechen, bedeutet über vier Elemente zu sprechen, die im Lern- und Lehrprozeß unabdingbar sind: Partizipation, Aktion, Kooperation und Dialog. Sie sind in enger Verbindung untereinander zu betrachten, da sie zwar aus linguistischer Sicht verschiedene Bedeutungen haben, aber kaum unabhängig voneinander vorzustellen sind. In den Wortmeldungen der 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurde diese Interdependenz deutlich, ebenso wie der Hinweis der Expertinnen und Experten, daß ohne kontinuierliche Umsetzung in der Praxis die Demokratisierung des Mathematikunterrichts nicht möglich ist. "Ich neige zu der Meinung, daß Demokratie ein unverzichtbarer Schritt zur Demokratisierung des Mathematikunterrichts ist, auf einem Weg der stärkeren Partizipation und Aktion, des stärkeren Dialogs und der Kooperation der Schüler" (PP).

In Abb. 28 zeigt sich ein geringer Unterschied zwischen beiden Ländern im Hinblick auf die Zahl der Aussagen zur dritten Kategorie der fünften Dimension. Diese Resultate bedeuten, daß in Nicaragua und Venezuela das Konzept der Demokratisierung des Mathematikunterrichts aus quantitativer Sicht gleiche Bedeutung und Wichtigkeit hat. In zwei Blöcken sollen im folgenden die von den Expertinnen und Experten zusammengetragenen Aspekte analysiert werden.

 

5.2.3.1 Partizipation und Aktion im Mathematikunterricht

Partizipation (219) und Aktion im Mathematikunterricht sind mehr als das Vertrauen in die Lernenden, ihre Meinung einzubringen, sie bedeuten permanente Aktion aller Beteiligten ohne Diskriminierung und bewußte oder unbewußte Ablehnung, die heute im Schulalltag häufig zu finden sind (220) . "Partizipativer und aktiver Unterricht ist für mich synonym für ein Lernen in Bewegung beim und mit dem Schüler. Der Grundgedanke ist, daß der Schüler im Mittelpunkt steht" (PP). Nach Meinung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurde diese Form des partizipativen und aktiven Unterrichts nach der Revolution praktiziert und unterschied sich damit stark von der Somoza-Zeit, als der Unterricht durch aufgezwungenes Wissen und Ablehnung der Partizipation von Lernenden gekennzeichnet war. Angela Flores verteidigt das Recht der Lernenden, mit Taten und Worten aktiv zu partizipieren:

"Cuando hay participación y acción significa que hay una enseñanza humana. La participación creo yo que es algo más que la sola libertad que se le pueda brindar al alumno para que diga si entendió o no un determinado tema o contenido. Anteriormente así uno no entendiera tenía que quedarse callado, de lo contrario uno recibía un regaño por parte de los profesores. Hubo algo positivo en la época de la revolución, que comprendió que el alumno también tiene derecho a opinar en clase, de que se entendiera que él también era un elemento viviente en el aula de clase, que era una persona y algo pensante con derecho a hablar. Cuando yo estudié en la época del somocismo, la educación secundaria era dictatorial, se decía con mucha frecuencia: si seguís molestando te vas de la clase. No teníamos derecho a opinar y a veces ni a preguntar" (AF).

Partizipation bedeutet für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, "mit Fakten, mit konkreten Anwendungen, mit mathematischen Ideen zu partizipieren, die von den Schülern zu Hause oder im Klassenzimmer vorgebracht werden" (TG). Sie bedeutet aber auch, den Lernenden die Freiheit zu lassen, entsprechend ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten zu agieren, ohne ihnen ständig zu sagen, wo und wann sie zu handeln haben. Vielmehr müssen sie entsprechend ihres Rhythmus und ihrer Kreativität nicht perfektes Wissen, sondern einen perfekten Prozeß, das heißt ihre eigenen Mittel und Strategien für konkrete Situationen in der Schule entwickeln. Die Lehrenden müssen dabei präsent sein, um den Lernenden zu helfen, ihnen den Weg einfacher und lustvoller zu machen, ohne viele Hinweise, Lob und Tadel, ohne Strafen für Fehler in diesem Prozeß. "Wenn die Lehrer den Schülern sagen, wie sie etwas machen sollen, wie eine Schere benutzt werden muß, um Papier zu schneiden, wie sie sich hinsetzen und wie sie sich verhalten sollen, dann lassen wir ihnen keine Freiheit, sondern versuchen ihr Verhalten zu ändern und schaffen damit eine große Abhängigkeit" (IG).

Diese pädagogische Konzeption steht der befreienden Pädagogik diametral entgegen, denn sie orientiert auf die Perfektion des Lernens einiger weniger durch Optimierung der Mittel und Methoden, wobei nicht das Kollektiv, sondern das Individuum wichtig ist. "Partizipation muß aktiv und kollektiv sein, solange die Bildung nicht von allen gelebt und akzeptiert wird, alle fordert und alle partizipieren, werden die Kenntnisse auch nicht gut verarbeitet, jeder Schüler sollte Zugang zu modernen technischen Ressourcen erhalten" (AB).

Eine solche pädagogische Auffassung legt mehr Wert auf unsystematische Aktivitäten als auf die Abfolge strenger und typischer Algorithmen, die für das Lernen nach Sequenzen charakteristisch ist, das nach meinen Erfahrungen, Unterrichtsbeobachtungen und Gesprächen mit Lehrenden aus unterschiedlichen Bereichen des Bildungswesens in Lateinamerika und speziell in Venezuela und Nicaragua praktiziert wird. Wenn es gelingt, diese kontraproduktiven Elemente des Mathematikunterrichts zu überwinden, kann ein großer Schritt in Richtung Demokratisierung des Mathematikunterrichts getan werden. Tomas Guido erweitert diesen Gedanken folgendermaßen:

"Nos estamos quedando solamente en la enseñanza basada en procedimientos. Debemos hacer que la matemática sea participativa y popular, debe estar vinculada con el que hacer cotidiano del estudiante. Implementar muchos de estos aspectos será muy difícil, pero creo que si podemos y debemos hacer un esfuerzo por desarrollar una matemática popular y participativa. En ese sentido vamos a contribuir con la democratización de la enseñanza de la matemática" (TG).

Das heißt, daß "man den qualitativen Fortschritt der Schüler sehen muß, den Prozeß, den sie durchlaufen, wie sie es tun, wie sie partizipieren, wie die Gruppe Einfluß nimmt, die Dinge, die sie tun, und nicht die Zahl der Wortmeldungen, um ihnen zum Ende des Semesters oder des Schuljahrs eine positive oder negative Einschätzung ins Heft zu schreiben. Der Schüler muß sich an seinem eigenen Lernprozeß aktiv beteiligen, er soll nicht gezwungen sein zu lernen, was wir ihm vorgeben, um eine Note geben zu können. Das würde auch helfen, die Schüler in ihrer Unterschiedlichkeit zu betreuen" (WB).

Wenn es um die Lernenden geht, muß der heutige Mathematikunterricht geändert werden, um eine Bildung anzubieten, die auf Partizipation und Aktion der Lernenden beruht, und nicht auf den Anforderungen einer ungleichen und ungerechten Gesellschaft, die mathematisches Wissen für die Stärkung ihrer eigenen Interessen einsetzt. Dafür werden in unseren Ländern neue, aktive und partizipative Lehrende gebraucht. "Wir brauchen Lehrer, die von unfehlbaren Expertinnen und Experten zu nachdenklichen Praktikern werden, Lehrer, die den memoristischen und frontalen Unterricht durch eine Bildung ersetzen, die auf Partizipation, auf der Aktion des Schülers im Unterricht, auf dem gemeinsamen Nachdenken über das Geschehen in unserer Gesellschaft beruht" (MC).

Aktiver und partizipativer Mathematikunterricht erfordert außerdem Hingabe von Lehrenden und Lernenden, Aufmerksamkeit und Verantwortungsbewußtsein aller Bereiche, die mit der Bildung befaßt sind. Bei der praktischen Umsetzung werden sicherlich Schwierigkeiten auftreten, wie z.B. die Zahl der Lernenden, die verfügbare Zeit und das Durchbrechen alter Gewohnheiten und bürokratischer Hürden, die starken Einfluß auf die Bildung ausüben. Man meint, die Lehrenden, die aktiven und partizipativen Unterricht machen, müßten doppelt so viel arbeiten wie andere, aber nach Erfahrungen der Expertinnen und Experten liegt das große Problem in der Zahl der Schüler und der unzureichenden Ausbildung und Information von Universitäten und Bildungsministerium. Diese Einschätzungen führen wiederum zur Frage nach curricularen Veränderungen, die emanzipatorischen Prinzipien aus der Erfahrung und dem direkten Kontakt von Lehrenden, Lernenden an Schule und Hochschule und anderen Beteiligten folgen.

"Esto de la enseñanza activa, por lo menos como nosotros lo estamos desarrollando en el ME requiere en principio una dedicación tanto de los profesores como de los estudiantes. El tiempo debe ser mayor. Los estudiantes tienen una mayor responsabilidad y el docente se convierte en este caso en un facilitador. Mediante esta metodología el alumno aprende a contar, a pensar, cortando el periódico, mirando la naturaleza. Los juegos es una forma adecuada para vincular la física con la matemática. Podemos hacer deporte por una parte y por la otra vinculamos varias asignaturas al mismo tiempo. Jugando pelota, fútbol, se calculan distancias entre jugadores, entre la pelota y el bate, etc. Yo creo que hay muchas cosas que se pueden vincular con la vida en general" (PP).

Miguel Caldera und Pérez Penado berichteten ausführlich über ihre Erfahrungen mit dieser Form aktiven Unterrichts, den sie an ihren Bildungseinrichtungen und bei der Ausbildung von Grundschullehrenden in Chinandega bzw. Salinas Grandes in der Nähe von León umsetzen. Sie beschrieben ihre Erfahrungen mit aktivem und partizipativem Lernen anhand einfacher Aktivitäten, für die keine großen Mittel und Material vonnöten sind, wie z.B. beim Spiel mit den Lernenden. Die Spiele können improvisiert werden, oder man nutzt die Spiele der Kinder selbst. Es kommt nicht oft vor, daß Lehrer anderer Fächer als Sport sportliche Aktivitäten im Klassenzimmer oder außerhalb anregen, die gleichzeitig mit den Inhalten ihres Fachs, speziell der Mathematik, verbunden sind.

In Venezuela verweisen zwei Expertinnen und Experten übereinstimmend auf die Notwendigkeit, die Gemeinschaft aktiv in die Ausbildung ihrer Kinder einzubeziehen. "Ich glaube, die Eltern wollen Anteil haben an der Ausbildung ihrer Kinder, aber die Schule und die Lehrpläne bieten wenig Raum und schaffen uns Probleme, weil wir außerhalb des Etablierten agieren" (IG). Aber Demokratisierung des Mathematikunterrichts bedeutet, daß alle partizipieren und Zugang zu Wissen und Macht haben, was "sich in der massenhaften Bildung, Freiheit und gleichen Bedingungen niederschlagen muß, ebenso wie in der Möglichkeit, mathematische Kenntnisse für die Überwindung oder Verringerung sozialer Ungerechtigkeit und Armut, die Schaffung einer angenehmen Umgebung zu nutzen, so daß die Mathematik nicht einer Gruppe von Mathematikern, den Lehrplänen und der Schule vorbehalten bleibt, sondern der Gemeinschaft zur Veränderung der Gesellschaft dient" (AL).

Die Schule darf nicht länger eine isolierte Welt sein. Sie muß Partizipation der Gemeinschaft ermöglichen, so daß diese der Schule bei der Überwindung der Bildungsprobleme behilflich sind. Das ist ein dialektischer Prozeß, eine Form miteinander umzugehen, in der Gemeinschaft zu handeln und zu partizipieren. "Die Eltern sollten gemeinsam mit den Lehrern an konkreten Schulaktivitäten teilnehmen und Lösungen für die vielen Probleme suchen, die im Bildungsbereich wie in der Bevölkerung auftreten" (WB).

 

5.2.3.2 Kooperation und Dialog im Mathematikunterricht

Nach Meinung aller Befragten bildet zwar die Partizipation die Grundlage für die Demokratisierung des Mathematikunterrichts, braucht aber, um wirksam zu werden, Kooperation und konstruktiven Dialog aller Beteiligten. Vier Hauptpunkte sollten die Kooperation (221) und den Dialog (222) im Mathematikunterricht kennzeichnen:

"Nuestra educación es muy individualista, hemos acostumbrado a los niños buenos a no trabajar en grupos, mientras la mayoría lo hacen porque se les hace más fácil, a algunos alumnos buenos no les gusta la cooperación y odian el trabajo en grupo y este problema parte desde la casa ya que allí no hay trabajo cooperativo y no hay diálogo, además los docentes repiten estos roles en la escuela porque cada quien está con su grupo en el aula y sin cooperar con los otros grupos o docentes" (IG).

Die große Zahl von Lernenden ist nach Auffassung der Expertinnen und Experten das größte Hindernis für Gruppenarbeit im Mathematikunterricht, denn sie verursacht organisatorische, Kommunikations- und Raumprobleme. Das bedeutet, daß "wir lernen müssen, mit kleinen Gruppen von 4 oder 5 Schülern zu arbeiten, da wir wegen der großen Klassen mit 50 Schülern noch keine Erfahrung haben" (MF). Dieses bereits benannte Problem unserer Bildungssysteme muß durch Proteste und konkrete Vorschläge gelöst werden, wir können aber nicht darauf warten, daß nur noch 20 Lernende in einer Klasse sind, bevor Bildungsstrategien der Kooperation und des Dialogs umgesetzt werden. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Befragung verweisen hierzu auf konkrete Erfahrungen:

"Yo tengo algunas experiencias con clases numerosas, ya que en cursos anteriores he sacado a los alumnos del aula para que trabajen en grupos y en proyectos concretos, donde ellos puedan trabajar y proponer soluciones a problemas externos al aula cotidiana y he logrado vincular cooperativamente y como vehículo comunicacional el diálogo, cada grupo se encargó de una actividad y luego discutimos en clases las experiencias, la metodología, los conceptos matemáticos y los resultados" (BM).

Da ein großer Teil der Kenntnisse miteinander verbunden ist und die Mathematik direkt oder indirekt berührt, muß auch mit den anderen Fachlehrern zusammengearbeitet werden (224) , "in den Berufsschulen mit technischer, landwirtschaftlicher (225) oder handwerklicher Ausrichtung kann der Mathematikunterricht in Zusammenarbeit mit den Werkstätten organisiert werden, denn dort wird Mathematik gebraucht, und in dieser Form kann der Unterricht auch attraktiver werden" (AB). Mit den Eltern, die viel mathematisches Wissen haben und brauchen, muß kooperiert werden, mit den Medien, indem die Zeitung für die Schule genutzt wird. Das heißt, "die Schule kann der Gemeinschaft auch Informationen und Kenntnisse vermitteln, das ist möglich, wenn Kooperation und wirklich Kommunikation stattfinden" (WB). Wir haben es hier mit einer umfassenden befreienden Konzeption des Mathematikunterrichts zu tun, die die intellektuellen Zirkel verlassen und sich der Gemeinschaft und dem Alltag stellen muß. "Ich denke, in dem Maße, wie jeder von uns Lehrern sich dieser Notwendigkeit bewußt wird und Mathematik nicht unterrichtet wird, um einen Logarithmus oder eine Potenz zu ermitteln, sondern um der Bewußtseinsbildung durch Dialog und schließlich der Lösung konkreter Probleme der Bevölkerung zu dienen" (NN).

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Endnote:

(206) Über das Thema Fontalunterricht siehe z. B. den Artikel von Meyer / Meyer (1997, 34 - 37).

(207) Pérez-Luna (1992, 31) äußert die folgende Meinung: "Es ist so wie es das Binom Ausbeuter - Ausgebeuteter, SchülerIn-LehrerIn, der Wissende - der Nichtwissende, der die pädagogische Autorität Ausübende und der sie Ertragende reproduziert. Die Schule verwandelt sich abschließend in eine Institution der sozialen Legitimation. Dabei legitimiert sie die Unterrichtenden, den Code, mit dem sie unterrichten, wofür sie unterrichten und was die vorherrschenden Beziehungen sind."

(208) Vgl. Heymann (1996b).

(209) Vgl. ME in Venezuela (1987) und MED in Nicaragua (1991).

(210) Skovsmose (1994a, 28-41) diskutiert den Terminus Demokratie auch in Beziehung zum Mathematikunterricht. Vgl. Nissen (1993, 97ff.).

(211) Die Idee der Educación Popular ist im Abschnitt 2.1 der vorliegenden Arbeit vorgestellt worden.

(212) Über die Privatisierung der Erziehung in Lateinamerika wird hier die Arbeit von Tedesco (1994) empfohlen. Er schreibt, daß man in den lateinamerikanischen Ländern mit administrativen und politischen Veränderungen experimentiert hat, die zur Konsequenz hatten, daß der Staat sich mittels Privatisierung und Dezentralisierung des Erziehungswesen aus seiner Verantwortung zieht.

(213) Siehe Illich (1995, 158ff.).

(214) Ein für einige didaktische Richtungen adäquater Weg, die Probleme des Mathematikunterrichts zu lösen, besteht darin, den Unterricht in seinen rein kognitiven Aspekten zu untersuchen und individualisierte Techniken und Strategien zu finden, um bessere Lernergebnisse zu erzielen. Vgl. Sánchez (1994, 21-30).

(215) Vgl. Arríen / Lazo (1989).

(216) Vgl. Cova (1996).

(217) Volk (1979b und 1995) verlangt, daß man grundsätzlich konkrete Arbeiten in direktem Kontakt mit Lernenden und Lehrenden entwickeln sollte, um akzeptable theoretische Ansätze über den Mathematikunterricht zu finden. Für ihn ermöglichen nur Partizipation und Aktion der Lehrenden und Lernenden eine weitere Theoriebildung.

(218) Einige dieser Vorschläge stimmen mit den Aussagen von Skovsmose (1990, 109ff.) überein.

(219) Siehe z. B. Olivera (1991, 109ff.).

(220) Über den Begriff Aktion vgl. Freire (1985, 156 und 157). In Beziehung mit dem didaktischen Konzept von Handlungsorientierung siehe z. B. Jank / Meyer (1994, 337ff.) und Peterssen (1997, 124f.). Der handlungsorientierte Mathematikunterricht wird im sechsten Fragenkomplex behandelt (siehe Handlungsorientierung im Mathematikunterricht in Abschnitt 5.3.6 der vorliegenden Arbeit).

(221) Vgl. Freire (1985); Klafki (1992); Huber (1992); Röhr (1995a und 1995b); Johnson / Johnson (1991); Blatt / Hartmann (1992) und Blankenburg / Lauterbach (1992).

(222) Vgl. Freire (1980 und 1985).

(223) Siehe Beck (1986).

(224) Vgl. Morris (1985b).

(225) Vgl. z. B. Münzinger (1977) und Teichmann (1995).

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