2 Educación Popular und ihre Bedeutung für Innovationen des Mathemaikunterrichts |
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2.1 Educación Popular als lateinamerikanische Bildungstradition |
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Bevor Idee und Methode der Educación Popular, einer in ganz Lateinamerika anerkannten Bildungstradition, näher erläutert werden, soll einer der lateinamerikanischen Pädagogen, der trotz des zeitlichen Abstands eine wichtige Rolle für das emanzipatorische pädagogische Denken gespielt hat, hier vorgestellt werden (8) . Es geht um Simón Rodríguez, der 1771 in Caracas geboren wurde und nach einem der Bildung und den sozialen Kämpfen gewidmeten Leben 1854 in Amotepe, Peru, starb.
Simón Rodríguez hatte das Privileg, an einer der wenigen damals in Caracas bestehenden Schulen ausgebildet zu werden und wurde mit 20 Jahren Lehrer. Er war auch Privatlehrer von Simón Bolívar, der nach eigener Aussage aus den Gesprächen mit seinem Lehrer in Caracas im Jahre 1792 und zehn Jahre später in Europa viele Anregungen für die Entwicklung seiner Ideen zur Unabhängigkeit Lateinamerikas zog (Esclarín 1983).
Das Leben von Simón Rodríguez läßt sich in drei wichtige Perioden unterteilen. Bis zum Alter von 26 Jahren lebte er in Caracas, in der zweiten Periode verbrachte er 27 Jahre im Ausland, und den letzten Abschnitt verlebte er wieder in Lateinamerika (Cúneo 1992). Der Denker und Pädagoge, der jahrelang in seiner Heimat vergessen war und heute wegen seines emanzipatorischen pädagogischen Denkens wiederentdeckt wird, erlebte vor dem Verlassen Venezuelas die spanische Vorherrschaft auch im Bereich der Bildung und schloß sich Protestbewegungen gegen die spanische Krone an.
Reformvorschlag für das 1794 herrschende Bildungssystem
Für die Bevölkerung spielte das Bildungswesen in jener Zeit keine Rolle. "Man meinte, wer studierte, würde danach sowieso nichts zu tun haben, und darum sollten nur die Kinder der Reichen die Schule besuchen. Darum gab es viel Widerstand gegen die Ideen von Simón Rodríguez, und häufig scheiterten sie. Er aber machte immer weiter, ohne aufzugeben." (Pérez /Esclarín 1986). Die in der Kolonialzeit herrschenden Bildungsprinzipien lehnte er vollständig ab. Im Alter von 23 Jahren stellte er 1794 in Caracas ein Reformprojekt vor unter dem Titel "Überlegungen über die Auswirkungen der Escuela de Primeras Letras in Caracas und Mittel ihrer Reformierung durch eine Neuregelung" (Cúneo 1992, 24).
Im Rahmen der pädagogischen Reform äußerte Simón Rodríguez (Gesammelte Werke 1975) neben kritischen Anmerkungen drei für die damalige Zeit revolutionäre Ideen:
Seine Beteiligung an den Unabhängigkeitsbewegungen
Der Reformvorschlag wurde in Caracas nicht akzeptiert, vielmehr wurde Rodríguez unter Druck gesetzt, seine pädagogischen Ideen, die den Interessen der Krone zuwiderliefen, aufzugeben (Cúneo 1992). Er begann zu verstehen, daß eine Bildungsreform ohne militärische und politische Unabhängigkeit unmöglich war. Während er an einer Schule in Caracas 114 Kinder unterrichtete (Pérez /Esclarín 1986), von denen ein Drittel aus armen Familien kam, schloß er sich einer geheimen Bewegung unter Führung von Gual y España (9) an, die die Befreiung von der spanischen Herrschaft anstrebte. Simón Rodríguez beteiligte sich an dieser Bewegung, die erfolglos blieb, weil sie aufgedeckt wurde und viele ihrer Mitglieder eingesperrt und getötet wurden. El maestro Simón, wie er genannt wurde, ist einer der wenigen, dem unverletzt die Flucht vor den spanientreuen Militärkräften gelang.
Angesichts dieser zwei Niederlagen und der Verfolgungen floh er nach Jamaika, lernte Englisch und legte sich den Namen Manuel Robinson zu (Uslar Pietri 1981). Er ging in die USA, wo er drei Jahre lebte und in einer Druckerei arbeitete, wo er verschiedene Formen des Buchdrucks kennenlernte (Pérez / Esclarín 1986). Danach ging er nach Frankreich, wo er in Bayonne und Paris zwei Schulen gründete, reiste dann nach Wien, wo er Simón Bolívar traf und mit ihm nach Rom ging. Dort erneuerten beide ihre Verpflichtung, für die Freiheit des lateinamerikanischen Kontinents zu kämpfen. Auf seinen Reisen durch Europa kam er auch nach Rußland, wo er ebenfalls das Bildungssystem studierte (Gesammelte Werke von Rodríguez 1975).
Der lange Aufenthalt in Europa und der Kontakt zu pädagogischen Ideen, wie denen Pestalozzis (1746 - 1827) und Rousseaus (Puiggros 1983), bestätigte Simón Rodríguez in seinen pädagogischen Konzepten und erweiterte die kritischen, antikolonialen Gedanken des jungen Rodríguez aus Caracas. Dies setzte sich in 31 Jahren Praxis in Kolumbien, Bolivien, Chile, Ecuador und Peru fort, wo er seit 1823 lebte, ohne nach Venezuela zu reisen. Nach eigener Aussage wurde er durch die Befreiungsbewegungen und -kämpfe auf dem gesamten lateinamerikanischen Kontinent zur Rückkehr bewegt. Vilda (1983a, 36) stellt dazu fest:
"Simón Rodríguez hatte verstanden, daß wirkliche Unabhängigkeit nicht erreicht werden konnte, ohne das von der Kolonie ererbte Bildungssystem zu verändern (...) Die Klassenzimmer mußten ihre Augen und Ohren auf die neuen Forderungen einer auf Freiheit, das heißt Gleichheit basierenden "Ordnung" richten (...), ein Bildungssystem geschaffen werden, das als Voraussetzung für "die Kunst, in Amerika zu leben", das Bewußtsein "amerikanisiert". Der Bildung mußte ein neuer Inhalt gegeben werden. "In Amerika, meint er sehnsuchtsvoll, sind die Republiken etabliert, aber nicht fundiert"."
Sein pädagogisches Denken
In diesen Ländern entwickelte Simón Rodríguez sein pädagogisches Denken systematisch weiter, verband dabei Theorie und Praxis, gründete Schulen und arbeitete immer auch als Lehrer, wodurch er sich von der Bequemlichkeit der einheimischen Intellektuellen abhob, die er stets distanziert betrachtete. Über ihn und sein didaktisch-pädagogisches Denken ist viel geschrieben worden, in und unter seinem Namen wurden Lehrstühle und Universitäten errichtet (10) , aber selten wurde sein Beitrag zur Entwicklung revolutionärer Ideen im historischen Entwicklungsprozeß der Pädagogik auf dem Kontinent gewürdigt. Erste Versuche, das Konzept der lateinamerikanischen Educación Popular systematisch darzustellen (Vilda 1983a, Pérez /Esclarín 1986, Ruiz 1989 und Cúneo 1992), lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen:
"Aus den Erfordernissen der Zeit ergeben sich die sozialen Ziele, die die Bildung absichern, denn ‘die Notwendigkeit bestimmt die Art von Aktion und die Umstände bestimmen die Erfordernisse.’ Die Gedanken stehen nicht allein. ‘Die Gedanken ergeben sich aus den Dingen’ und ‘mit den Dingen umzugehen, ist der erste Teil der Bildung’. Werkstatt-Schulen, Fabrik-Schulen, Landgut-Schulen sind also unverzichtbar. So hat er es in Concepción und Valparaíso gemacht, wie der Chilene José Victorino Lastarra erinnert: ‘gemeinsam mit den Anfängen der Grundschule lehrte er die Herstellung von Ziegeln, Kacheln, Kerzen’."
Die aktive Beteiligung des Schülers als Weg zu einem dauerhaften Lernen, die Entwicklung seiner kreativen Fähigkeiten und die Förderung von Originalität bei den konkreten Aufgaben wie bei den eigenen emanzipatorischen Lösungen waren für ihn methodische Anforderungen ersten Ranges. Die von ihm konzipierten Schulen orientierten nicht nur auf die individuelle Förderung der rassisch, wirtschaftlich und sozial Unterdrückten seiner Zeit, sondern hatten einen breiten, partizipativen und kollektiven Charakter, der gemeinsames Lernen zum Ziel hatte. In der Arbeit Luces y Virtudes Sociales y Sociedades Americanas, die er 1840 in Valparaíso schrieb (1992c, 88), findet sich der folgende Gedanke: "Sie müssen also in den ersten Jahren vier Arten von Bildung erhalten. Soziale Erziehung, um eine vernünftige Nation zu bilden; körperliche Erziehung, um sie stark zu machen; technische, um sie fachmännisch zu machen; wissenschaftliche, um sie denkend zu machen". Um diese Ziele zu erreichen, waren zwei Schwierigkeiten zu überwinden, einerseits die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer, denn nach seiner Ansicht darf sich niemand ohne gute Vorbereitung in der Bildung betätigen, und in diesem Sinn formulierte er 12 Eigenschaften, die ein guter Lehrer aufweisen muß (1992, 61-63) (12) . Die zweite Schwierigkeit waren die Methoden für einen guten Unterricht, der auf die Kinder orientiert ist, in dessen Mittelpunkt sie stehen und das, was sie tun, und nicht die Ausführungen des Lehrers. Er sprach sich für eine Methode aus, die er ebenfalls aktive Methode nannte und die zu Beginn dieses Jahrhunderts mit dem "Aktivismus" als pädagogischem Prinzip in Europa und Nordamerika große Bedeutung erlangte. Pérez / Esclarín (1986, 27) fassen die von Rodríguez favorisierte Methode wie folgt zusammen: "Die beste Art zu lernen ist es, die Dinge zu tun, die untersucht werden sollen. Naturwissenschaften sollten die Kinder kennenlernen, indem sie Steine und Blätter sammeln oder kleine Baumschulen anlegen; rechnen lernen sollten sie, indem sie reale Probleme lösen; Geometrie, indem sie Pläne und Modelle ihrer Schule anfertigen; Geographie, indem sie herumfahren und Landkarten zeichnen..."
Simón Rodríguez’ Projektvorschlag für eine Educación Popular
Zwischen 1851 und 1852 kehrte Simón Rodríguez an die Lacatunga-Schule in Guayaquil, Ecuador, zurück, wo er 1825 Landwirtschaft und Botanik unterrichtet hatte. Er übergab dem Schulrat ein umfassendes und reformiertes Curriculum-Modell, das alles enthielt, was seiner Ansicht nach die Schule für das Volk anbieten sollte. Bildung sollte für ihn mit der Politik verknüpft sein (1992e, 203): " Die Herren des Landes, die Regierung und Kirche erhalten, verdienen es sich mit ihrem Geld, und die Besitzlosen mit ihrer Arbeit, daß ihren Kindern beigebracht wird zu sprechen, zu schreiben, zu rechnen. Von den Kindern der Reichen ist wenig oder nichts zu erwarten". In der gleichen Arbeit skizziert er ein Projekt in Form eines innovativen Studienplans, der wie folgt aussieht (1992e, 203ff.):
a) Wirtschaftliche Einkünfte durch Betreiben von Landwirtschaft sichern
b) Ein Lehrstuhl für Kastilisch und einer für Quechua anstelle von Latein
c) Ein Lehrstuhl für Physik, Mathematik, Chemie und Naturgeschichte anstelle von Theologie und Recht
d) Einrichtung zweier Fabriken, eine für die Produktion von Steingut, eine von Glas
e) Drei Werkstätten: Maurerhandwerk, Schreinerei und Schmiede. Vorgeschlagene Methode: bei der Herstellung von Tellern, Flaschen, Lehmwänden, Stühlen, Nägeln usw. können in den genannten Fächern die notwendigen Fähigkeiten vermittelt werden.
Das Schulmodell von Simón Rodríguez, das in Chuquisaca umgesetzt wurde, verfolgte ein Ziel, das die Intellektuellen seiner Zeit nicht verstanden und das die während des Unabhängigkeitsprozesses in Lateinamerika entstandenen herrschenden Kreise nicht akzeptierten. Er wurde als verrückt abgetan, seine Ideen fielen dem Vergessen anheim, die Ideen, die auf den Lateinamerikaner in seinem Kontext und im Sinne seiner endgültigen Unabhängigkeit gerichtet waren, die aus bekannten Gründen, die allerdings in dieser Arbeit nicht behandelt werden können, bis heute nicht erreicht sind. In seinem Werk Sociedades americanas (1842) warnt Simón Rodríguez nicht grundlos vor der Gefahr einer neuen Kolonisierung, diesmal durch Frankreich und England (1992d, 157):
"Ganz ungeniert spricht man bei unseren Treffen schon von der Kolonie der Lehrer, mit einer Ladung Katechismen, die von einer Gesellschaft der Schriftkundigen in Frankreich und von gelehrten Leuten in England aus der Enzyklopädie herausgesucht werden. Das Ziel ist nicht nur die Ablösung des Kastilischen, sondern den Kindern sogar Fragen auszutreiben, warum sie Brot brauchen. Alles muß rein sein, reine Mathematik, reine Grammatik und reine Mythologie (...) weil erwiesen ist, daß durch dieses Materialisieren von Dingen der Flug! des Geistes unterbrochen wird."
Obwohl Rodríguez für seine revolutionären pädagogischen Ideen und den Einfluß auf die progressive Tradition der Pädagogik in Lateinamerika Anerkennung fand, hatte sein pädagogisches Projekt in der Geschichte der Pädagogik und der Bildung kaum Resonanz (Weinberg 1995). Auch die Tatsache, daß er den Beginn der "Educación Popular" bildet, wird kaum anerkannt - außer von einigen wie Puiggros (1983), die in ihren Untersuchungen über die Ursprünge des Konzepts seinen pädagogischen Einfluß als bestimmend für die spätere Entwicklung der Educación Popular, die in den letzten 30 Jahren international an Wirkung gewann, einschätzt. Ruiz wiederum (1989, 30ff.) verweist in seiner Forschungsarbeit zu Rodríguez` Konzept der Educación Popular auf folgendes:
"Das Projekt der Educación Popular des Don Simón Rodríguez vereinte in seinem pädagogischen Wesen, seinem sozialen Wert und seiner ökonomischen Zielsetzung ein bewundernswertes politisches Ziel: jenen Komponenten der gemeinen Klassen, jenen, die die Führung von den Vorteilen des Zusammenlebens ausgeschlossen hatte, alle Rechte der Bürgerschaft zugänglich zu machen (...), das war nicht nur eine innovative pädagogische Idee, sondern auch ein emanzipatorisches Bildungsmodell, das zur politischen Bewußtwerdung der verachteten Masse beitrug."
Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß die von ihm vertretene Position wenig mit der religiösen Tradition des Kontinents zu tun hatte, auf die das Konzept der Educación Popular als "religiöser Internationalismus" manchmal zurückgeführt wird, möglicherweise deshalb, weil damit Vertreter der Theologie der Befreiung eng verbunden sind (Fray 1996). Simón Rodríguez vertrat dagegen eine kritische Haltung gegenüber der Nutzung der katholischen Kirche zur Entfremdung und Unterwerfung der lateinamerikanischen Völker. Wiederholt äußerte er sich in dem Sinne (1992e, 224), daß mit einer Bildung für das Volk "die Amerikaner den Boden sehen könnten, auf dem sie stehen, und nicht so sehr die Sterne (...), ihr Leben in der Arbeit suchen, nicht im Vaterunser, mit dem sie um Essen beten..." Es wäre sicher interessant, spätere pädagogische Entwicklungen umfassender zu untersuchen, um seinen Einfluß auf die Bewegungen der Educación Popular (Puiggros 1983) und die auf ihnen aufbauenden Protestbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts (López 1986 und Weinberg 1995), die ihrerseits zur Weiterentwicklung des Konzepts der Educación Popular beitrugen, deutlich zu machen.
2.1.1.2 Entwicklung der Educación Popular zu Beginn des 20. Jahrhunderts |
Der Positivismus in der Bildung Lateinamerikas
Die Ideen und Träume des Simón Rodríguez wurden verdrängt oder vergessen - von einigen Ausnahmen abgesehen wie Cecilio Acosta (1818-1881), von dem Vilda (1983b, 14) sagt, "sein Essay zur Bildung `Cosas Sabidas y Cosas por Saberse` bietet eine scharfe soziologische Analyse, die ihn als nationalen Bildungsforscher und Fortsetzer der Ideen von Simón Rodríguez ausweist." Diese Ideen werden heute öffentlich diskutiert und als erstes Modell eines Bildungsprojekts wiederentdeckt, das alle sozialen Bereiche erfassen wollte, vor allem aber Indios, Schwarze, Bauern und alle anderen Armen Lateinamerikas.
So wie in Venezuela geschah es auf dem gesamten Kontinent. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es wenige, die Überlegungen zu einer eigenständigen und politischen Bildung anstellten. Was Simón Bolívar und sein Lehrer bereits kritisiert hatten, setzte sich fort: der Blick von Lehrern war nach Europa und Nordamerika gerichtet, das wurde kopiert und Ideen aus zweiter Hand setzten sich durch. Reflexion oder Analysen einer solchen Einführung von Konzepten oder Technologien aus völlig anderen geographisch-natürlichen Zusammenhängen (Vilda 1983b) und unter offensichtlich ungünstigen sozialen und ökonomischen Bedingungen (Galeano 1986) gab es nicht. Die gleichen Fehler werden bis heute, dem ausgehenden 20. Jahrhundert, begangen, es werden Bildungspolitik und pädagogische Konzepte umgesetzt, die den Interessen von Firmen, Regierungen und Personen Rechnung tragen, für die Lateinamerika nicht ein unabhängiger Kontinent ist, sondern eine Quelle fortgesetzter Ausbeutung, mit Unterstützung "Einheimischer", die sich für die Herren über ganze Völker und Nationen hielten und halten. Dies ist die Fortsetzung einer neuen Kolonisierung, die bereits mit der Niederlage Großkolumbiens 1830 begann. Der Weg der Integration Lateinamerikas und der Karibik ist aber immer noch offen (García 1996) und immer notwendiger, aber die Integration muß wahrhaftig, erzieherisch und politisch und nicht so sehr wirtschaftlich und militärisch sein.
Im Zuge einer genaueren Beschreibung des Konzepts der Educación Popular ist zunächst darauf zu verweisen, daß der Aufschwung des pädagogischen Positivismus in Europa unmittelbaren Einfluß auf die lateinamerikanischen Geisteswissenschaftler und besonders auf die in der Bildung Tätigen hatte. In Anwendung auf den Bildungsbereich versuchte die in Europa herrschende Wissenschaftstradition, die Pädagogik zu einer wirklichen Wissenschaft zu machen, zu einer positiven Wissenschaft, in der mittels der auf Quantifizierung beruhenden traditionellen Forschungsmethode die der Bildung innewohnenden Erscheinungen erklärt werden. Nach Durkheim (1975) können soziale und Bildungsfakten als Dinge betrachtet werden, die meßbar sind und durch Anwendung der Methode von Hypothese, Deduktion und Untersuchung pädagogischer Forschung unterworfen werden können. Der Aufschwung des europäischen Positivismus brachte eine ganze Bewegung innerhalb der Sozialwissenschaften hervor, die auch curriculare Reformen erreichte, in deren Ergebnis die humanistische Ausrichtung durch eine stärkere "wissenschaftliche" Orientierung ersetzt wurde, nach der im Mittelpunkt der sogenannten "wissenschaftlichen Pädagogik" das auf der Grundlage von quantifizierbaren Daten und Fakten Erklärbare steht (Pérez 1995, 58).
Die Politiker, Intellektuellen und vor allem die Pädagogen sahen im europäischen Positivismus die Errettung von allen Übeln, unter denen der Kontinent um 1860 litt. Die Regierungen und die Bildungseinrichtungen einschließlich der Universitäten meinten, durch die Förderung bürgerlicher Werte, der Arbeit und der Vermittlung technisch-wissenschaftlicher Kenntnisse die in den Industrieländern Europas bestehende Ordnung, Disziplin und Entwicklung erreichen zu können. Der Positivismus stand im Gegensatz zum blinden Glauben der Scholastik, die schon Simón Rodríguez kritisiert hatte, er war eine Bewegung, die Fortschritt und Wohlstand verhieß, da Bildung nicht mehr als Weg zur Aufklärung, sondern zu einem auf Wissenschaft und Technik begründeten Fortschritt verstanden wurde. Vilda (1983b, 23) sagt dazu:
"Übereinstimmend wird der 8. Dezember 1866 als der Tag bestimmt, an dem der Positivismus offiziell in Venezuela Fuß faßte. Rafael Villavicencio hält einen Vortrag an der Universidad Central. Darin spricht er von der Existenz positiver Gesetze, die nicht nur Kosmos und Körper bestimmen, sondern auch Geschichte und Philosophie."
In fast allen lateinamerikanischen Ländern wiesen die Bildungssysteme und die Gesetzgebung diese Orientierung auf (Weinberg 1995). Die Staaten übernahmen verstärkt die Kontrolle über die Bildung und schufen Mechanismen, die auf einen Weg führten, der Diskriminierung und Selektion der Bevölkerung in und durch das Bildungssystem mit sich brachte, aber nicht eine gute Bildung und Befreiung der lateinamerikanischen Menschen aus ihren inhumanen Lebensumständen ermöglichten. Kritisch vermerkt wiederum Vilda (1983b, 25) hierzu:
"Wissenschaft, Ordnung und Fortschritt, das ist die Predigt. Darum ist es auch nicht verwunderlich, daß dies die Ideologie der Handels- und Finanzbourgeoisie wurde, die nach Kontrolle der politischen und wirtschaftlichen Macht strebte. Die Ordnung und dieser Fortschritt hatten jedoch viel mit Neokolonialismus zu tun, mit abwertender Haltung gegenüber den Indios, den Mestizen und den Lateinamerikanern insgesamt (...) Die positivistische Gesellschaftsphilosophie war rassistisch und orientierte auf einen Fortschritt, der auf der Ausbeutung der nationalen Ressourcen durch ausländisches Kapital beruhte."
Die lateinamerikanische Geschichte zeigt sehr deutlich, wer die Profiteure dieser Entwicklung waren, jedenfalls nicht die eigenen Leute, nicht die Ärmsten. Sie blieben im Gegenteil ausgeschlossen von den Vorteilen, die jene genossen, die Schulen und Universitäten besuchen konnten. Die zumeist aus Europa übernommenen Methoden zur Klärung sozialer Phänomene, die Objektivität und Neutralität in der wissenschaftlichen Forschung das Wort reden, konnten aber den Großgrundbesitz oder die transnationalen Konzerne nicht erklären, die in Lateinamerika billige Ressourcen für ihre blühenden Wirtschaften fanden, häufig im Austausch für Waren und Produkte, die für die Lateinamerikaner unnütz waren. Die einheimischen Regierungen erhielten Weisungen, diese oder jene Technologie anzuwenden, die unbekannt und manchmal völlig unangebracht war. In vielen Fällen wurden Diktaturen gestützt und souveräne Nationen überfallen, "im Namen der Freiheit", wie Bolívar anklagte, im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts nach Auffassung des Positivismus in der Bildung (Weinberg 1995 und Mädche 1995).
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts profiliert sich die am europäischen Positivismus orientierte, aber schon lateinamerikanisierte Bildung zu einem unverzichtbaren Element für die Festigung der Klassentrennung, obwohl in dieser Zeit in mehreren Ländern der Region antipositivistische Bewegungen auftauchten. Die Schule als Institution der sogenannten modernen Gesellschaften wird von diesen hinterfragt. Warum dieses Infragestellen? An dieser Stelle soll der Blick darauf gelenkt werden, daß das positivistische Denken von einigen Pädagogen und Bildungssystemen wie dem venezolanischen noch immer gepflegt wird, obwohl es seinem Wesen nach den Interessen der Mehrheit widerspricht (Vilda 1983b, 24).
Durkheim hat gesagt, daß Bildung verstanden werden sollte als "die Aktion der Erwachsenengeneration gegenüber denen, die für das soziale Leben noch nicht reif sind, mit dem Ziel, im Kind eine Reihe von physischen, intellektuellen und moralischen Merkmalen zu wecken und zu entwickeln, die die politische Gesellschaft insgesamt und sein spezielles Umfeld ihm abverlangen" (López 1986, 12). Pérez (1995, 64) stellt dagegen in seiner kritischen Untersuchung zu den Auswirkungen des positivistischen Denkens von Durkheim auf die aktuelle venezolanische Schulgesetzgebung fest:
"Vermittels der Bildung soll die Gesellschaft homogenisiert werden, indem Aspekte wie Bräuche und Traditionen, Kunst, Sprache, Moral, unterschiedlichste kollektive Meinungen, Religion usw. miteinander vereint werden. Das heißt, kultiviert werden sollen die Aspekte, die für die Harmonie der Gesellschaft und für die jeweilige Anpassung des Individuums an die soziale Gruppe, ‘zu der es im besonderen bestimmt ist’ (Kaste, Klasse, Familie, Beruf), unverzichtbar sind."
Die Schwierigkeit besteht darin, daß die Gesellschaft als etwas Gesundes, Problemloses betrachtet wird, und Bildung hier der ideale Weg zur Beibehaltung ihrer Strukturen ist, die auch schrittweise Reformen zur Anpassung an die Gegebenheiten durchaus einschließt. Dazu sind die neuen Generationen ohne Unterscheidung nach Klasse, Rasse, Religion, Sprache usw. herzlich willkommen. Die sozialisierende und harmonisierende Funktion der Bildung ist in unterschiedlichsten sozialen Kontexten zu erreichen. Sie ist weder typisch noch ausschließlich für die lateinamerikanischen Länder, sondern das unverzichtbare und adäquate Mittel für die ideologische und wirtschaftliche Unterordnung des Systems unter die Interessen eines Teils der Bevölkerung auf nationaler wie internationaler Ebene und ohne Rücksicht auf Benachteiligung anderer - ganz genauso oder schlimmer als zu Zeiten der Kolonien. Es gibt viele Kritiker (Althusser, Ponce, Vasconi, Illich, Freire, Gramsci, Giroux, Kemmis, Becker, Schulz, Hentig, u. a.), die die Rolle der Bildung in der Gesellschaft der Gegenwart hinterfragt haben. López (1986, 19) kommt zu der Schlußfolgerung, daß "die dreifache Funktion der Bildung - wirtschaftliche, ideologische und sozialisierende - der kapitalistischen Gesellschaft ihre Legitimation, die soziale Kontrolle der Individuen durch Integration und Anpassung, die Durchsetzung der Ideen der herrschenden Klasse und die Heranbildung der für das kapitalistische System notwendigen Arbeiter (ermöglicht)".
Dieses Verständnis von Bildung am Ende des 19. Jahrhunderts ist dem gegenwärtigen durchaus ähnlich, nur der Diskurs ist ein anderer. Er unterscheidet sich nicht sehr von dem Durkheims und proklamiert im Namen einer nicht eindeutig definierten Demokratie die Einbindung der neuen Generationen in die Gesellschaft, von der auch nicht gesagt wird, wer sie konstituiert. Das Ziel besteht offenbar darin, daß sie sich friedlich einbinden lassen in einen Prozeß der Produktion und Reproduktion des aktuellen Zustands der Dinge, als wäre dieser unveränderlich. Ein solcher Diskurs findet sich häufig in Bildungsvorschlägen für den Mathematikunterricht. Ein Beispiel dafür benennt Heymann (1996a, 21):
"Grundsätzlich gehe ich davon aus, daß eine moderne Gesellschaft auf ein öffentliches Pflichtschulsystem nicht verzichten kann. Angesichts des permanenten gesellschaftlichen Wandels muß dann aber über das schulpädagogische Grundproblem - also im erläuterten Sinne über das, was die heranwachsende Generation an den öffentlichen Schulen lernen soll - immer wieder neu nachgedacht und entschieden werden."
Was und wofür sollen die neuen Generationen lernen? Welche Art von Mathematik braucht die Bevölkerung, um dem politischen und gesellschaftlichen System zu dienen? In welche Richtung entwickelt sich die Gesellschaft, und wer profitiert bzw. wer ist benachteiligt davon? Wie soll man denken? In welche Richtung und nach welchen ethischen und politischen Prinzipien ändert sich die Gesellschaft? In dieser Äußerung wird deutlich, daß als Reflex der "neuen Ungleichheiten in der Bildung" (Flecha 1994, 55) trotz der Verwendung einer neuen Terminologie die gleiche Botschaft vermittelt wird, die im Grunde darauf hinausläuft, weltweit große Teile der Bevölkerung ihres Rechts auf Bildung, des Rechts auf eine gute, kritische Bildung, zu berauben. Damit wird ihnen - der Idee eines Modernismus folgend - auch das Recht auf gute mathematische Bildung verwehrt. Mit der Argumentation, der Aufschwung der Postmoderne, der Neoliberalismus und die Globalisierung der Märkte seit den achtziger Jahren (Galeano 1995 und Giroux 1994) bringe neue Notwendigkeiten hervor, soll im Grunde die selektive und elitäre Bildungsauffassung weitergeführt werden. Es reicht, einen Blick auf die Realität der lateinamerikanischen Völker, z.B. in Nicaragua und Venezuela, zu werfen, um die elenden Umstände zu sehen, in denen fast die gesamte Bevölkerung lebt - unter dem überheblichen Blick von "Entwicklung" und "Modernität": diese Entwicklung, diese Modernität für die Eliten stoßen leider kaum auf den Widerstand der neuen angepaßten und apolitischen Bewegungen, die mitunter sogar den historischen und sozialen Entwicklungsprozeß der Menschen leugnen und die Probleme, denen sie ausgesetzt sind, mit dem Hinweis auf "eine neue Ära" rechtfertigen. Damit schließen sie zugleich jede Möglichkeit von Veränderungen aus und blockieren die notwendige materialistische Analyse der Gesellschaften der Gegenwart. Wölflingsender (1992, 209) stellt in seiner vergleichenden Forschungsarbeit zum Denken von Freire und Capra fest:
"Freire hat wie Marx versucht, der bürgerlichen Welt Geschichte beizubringen und sie von dem Wahn zu heilen, ihre Ordnung sei von Natur und ewig (vgl. SICHTERMANN 1991). Augenscheinlich ist die New Age-Bewegung mit ihrer Geschichtslosigkeit beziehungsweise mit ihrer natürlich-ewigen, kosmischen Ordnung - wieder dort - im vormarxistischen Denken angelangt."
Dennoch gibt es in Lateinamerika Bewegungen, die die Educación Popular weiterführen, wobei sie sich an ihren ursprünglichen Prinzipien und Perspektiven orientieren, die für die Region ein Gegengewicht zum bürgerlichen Positivismus in der Bildung und zur Herrschaft von Bildungsauffassungen sein können, die jene politischen Elemente, die Bildung beinhalten muß (Freire 1981 und 1994b), ausklammern.
Entstehung der ersten Bewegungen der Educación Popular
Als Antwort auf den lateinamerikanischen Bildungspositivismus, der ein adäquater Ausdruck für eine Bildung zum Aufbau "gesunder, harmonischer und entwickelter Gesellschaften" ohne Berücksichtigung der Schwierigkeiten der Bevölkerung weltweit und der Widersprüche selbst in den hochentwickelten Technologie- und Industrieländern war und weiterhin ist, entstanden in vielen lateinamerikanischen Ländern Bildungsbewegungen, die sich mit dem Volk identifizierten. Solche Initiativen kamen von Intellektuellen und von Mitgliedern der Gewerkschaftsbewegungen und progressiver politischer Parteien zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Rama 1976). Die pädagogischen Ideen wiesen eine politische Konnotation auf und zielten darauf ab, die Schule zu einem Mittel des Protestes und des Freiheitsstrebens der Unterdrückten zu machen. Das stand im Gegensatz zu der positivistisch geprägten Schule, die unter dem Schlagwort der Demokratie und des Wohls der Gesellschaft von außen und von den Regierungen umgesetzt wurde. Die Schule sollte aber durchaus Klassencharakter tragen und von den Arbeitern selbst verwaltet werden. Verknüpft ist diese Bewegung mit (López 1986, 24) "den Aktivitäten der Intellektuellen und Pädagogen im Sinne einer öffentlichen Schule -in der zum ersten Mal systematisch und kämpferisch der Begriff der "Educación Popular" eingesetzt wird- , die eine Gegenbewegung zur Ordnung eines institutionell legitimierten Bildungssystems hervorbrachten".
Es gab in der Geschichte, vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Vielzahl von Projekten und Initiativen, die das Ziel einer Bildung für die lateinamerikanischen Völker verfolgten (López 1986). Sie breiteten sich in ganz Lateinamerika aus und wurden von internationalen Organisationen wie auch durch lokale Initiativen von Regierungen oder unabhängigen Gruppen finanziert und unterstützt. Dazu gehören Alphabetisierungskampagnen ebenso wie Rundfunkbildungsprogramme bis hin zu Kampagnen für "Grundbildung" unter der Ägide der UNESCO (La Belle 1987, 79). Diese bildeten:
"weltweit den ersten Versuch, durch Selbsthilfe Entwicklung in der Bevölkerung zu erreichen. Faktisch jedes vorstellbare Programm konnte in die Grundbildung aufgenommen werden, von Universitäten für die Ausbildung von Dorflehrern zu "Schuldirektoren" in Kolumbien, über Landwirtschaftsschulen in Haiti, Kulturinitiativen in Mexiko bis hin zur Lautsprecherübertragung von Gerichtsverhandlungen in den Dörfern Honduras’ und Guatemalas."
Viele dieser Initiativen waren zwar auf die unteren Schichten des Volkes ausgerichtet und hatten Auswirkungen auf große Teile der Bevölkerung, tatsächlich kontrolliert wurden sie aber von den jeweiligen Landesregierungen und Institutionen, wie die UNO und ihre Organisationen, so z.B. IWF, WHO, UNESCO u.a., die nicht unbedingt die Interessen aller Völker vertreten (La Belle 1987). Sie verfolgten vor allem das Ziel, mit Hilfe von Rundfunkkampagnen, von Freiwilligen oder durch Aktionen in Verbindung mit internationalen Organisationen und den jeweiligen Landesregierungen zu alphabetisieren (Weinberg 1995).
Bereits Ende der 50er Jahre, zum Zeitpunkt der kubanischen Revolution, gab es Gruppen von Basislehrern, die von Studenten und Professoren einiger Universitäten und Protestbewegungen unterstützt wurden und zu Beginn der 60er Jahre vor allem in Brasilien die sogenannte Bewegung für Basisbildung hervorbrachten (Puiggrós 1983 und Torres 1997). López (1986, 25) beschreibt die Bewegung für Basisbildung, die klären wollte, was unter Erwachsenenbildung und Educación Popular gefaßt werden sollte: "In den Erfahrungen dieser Bewegung findet sich ein Bruch mit der bisherigen Erwachsenenbildung für Sektoren des Volkes, und zugleich taucht ein Bewußtseinsprozeß (13) auf, der notwendige Voraussetzung für die Educación Popular ist (...) Geprägt wurde dieser Begriff, wie Freire schreibt, etwa 1964 von einer Gruppe von Professoren des Instituto Superior de Estudios de Brasil."
Mit Paulo Freire (1921 - 1997), einem der wichtigsten Exponenten, beginnt damit eine neue Epoche für die Pädagogik Lateinamerikas, die internationale Wirkungen zeitigt und zur Erklärung von Bildungsfragen auch in anderen Teilen der Welt beitragen kann (Kemmis 1992a), weil offensichtlich die Beziehung Unterdrücker-Unterdrückter im Lern- und Lehrprozeß nicht nur für Lateinamerika charakteristisch ist, sondern allen aktuellen Bildungssystemen zu eigen ist. Giroux (1990, 159) zum Beispiel meint dazu: "Das Werk von Paulo Freire bietet eine theoretisch erfrischende und politisch gangbare Alternative zur gegenwärtigen Sackgasse der Bildungstheorie und -praxis in Nordamerika."
Es gibt viele soziale und historische Gründe für das Entstehen der politischen und pädagogischen Ideen Freires. Seine Gedanken formulierte er in einer Zeit zahlreicher Konflikte als dringend notwendigen Beitrag zu den Versuchen, die Ausweitung militärischer Bewegungen in der Region, die zumeist von den US-amerikanischen Regierungen unterstützt wurden, aufzuhalten und dem Eindringen einer volksfeindlichen pädagogischen Konzeption entgegenzuwirken, die auf Expansion und Absicherung eines den Gegebenheiten der Region zuwiderlaufenden Produktions- und Konsumsystems orientierte. Torres (1997, 3) nennt einige der Ursachen, die Freires Denken prägten:
"Eine bedeutsame Konsequenz dieses Prozesses war die Entstehung revolutionärer Volksbewegungen in Lateinamerika mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Strategien, die den historischen Erfahrungen des jeweiligen Landes Rechnung trugen. Darum wurde der Ansatz Freires von der Bildung als Praxis der Freiheit - der im Gegensatz zum bis dahin in Bildungskreisen vorherrschenden Positivismus und Pragmatismus stand- und von einer Pädagogik der Unterdrückten von progressiven lateinamerikanischen Pädagogen natürlich aufgegriffen und umgesetzt."
Über das Konzept der Educación Popular und über das Leben Freires ist viel und in vielen Sprachen geschrieben worden. Beide sind eng verbunden (14) . An verschiedenen Universitäten der Welt wurden Forschungsarbeiten verfaßt, wenn von Erwachsenenbildung und/oder Alphabetisierungsprojekten die Rede ist, wird er oft zitiert. Auch zur Begründung der Entwicklung innovativer pädagogischer Konzepte wurde er herangezogen (Zimmer 1997). Es gab Versuche, ihn zumindest theoretisch auf andere gesellschaftliche Kontexte zu übertragen. In Diskussionen über Probleme des Mathematikunterrichts ist eine Bezugnahme auf ihn faktisch (15) . Das Wichtigste aber, das jedoch schwer zu beschreiben ist, sind die praktischen Projekte, die in den letzten 33 Jahren auf dem Kontinent verwirklicht wurden, auf dem das Denken Freires und die Educación Popular immer präsent waren und zu einem Konzept wurden, in dem sich Theorie und Praxis permanent gegenseitig befruchten. Dabei wird es nicht als Allheilmittel für alle Bildungsprobleme der Gegenwart gesehen, sondern als pädagogisches Konzept, das sich mit den Unterdrückten überall auf der Welt identifiziert. Fray (1996, 5) vergleicht es mit einer möglichen Utopie:
"Wir können nicht darauf warten, daß Utopien vom Himmel fallen, ebensowenig wie wir akzeptieren, daß Glück proportional zum Konsumniveau wächst. Ideen werden aber erst zur Gewalt, wenn sie die Massen ergreifen, sagte Lenin. Die strukturelle Ungerechtigkeit, die nach Las Casas die Lateinamerikaner vor der Zeit sterben läßt, zeigt, daß Utopien nicht nur Zukunft haben, sondern dringend gebraucht werden. Es gibt sie aber nicht im Supermarkt. Sie wachsen, wenn die Armen zu Trägern von Veränderungen in Richtung einer besseren Zukunft werden."
Eine umfassende theoretische Darstellung des Beitrags von Paulo Freire (Figueroa 1989) zur Educación Popular würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Hier sollen nur die Verbindungen zu ähnlichen Äußerungen aufgezeigt werden, die im Prozeß der empirischen Untersuchung in Venezuela und Nicaragua in Form von Kategorien zusammengefaßt wurden. Auch läßt sich anhand dieses Gedankenguts besser erläutern, warum viele Lehrende an Schule und Hochschule in beiden Ländern bestimmte Auffassungen über den Mathematikunterricht vertreten. Im folgenden sollen in komprimierter Form die wesentlichen Merkmale und die Arbeitsmethode der Educación Popular, die sich seit den ersten Versuchen einer Systematisierung in der Mitte der 60er Jahre entwickelt haben, dargestellt werden.
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Endnote
:(8) Vgl. Uslar Pietri (1981).
(9) So hieß die erste organisierte und revolutionäre Bewegung (1797) für die Wiederbefreiung des amerikanischen Volkes. Sie wurde durch 44 Personen in den Städten Caracas, La Guaira und Macuto initiiert, die von Manuel Gual und José María España koordiniert wurden.. In der Proklamation wird die Abschaffung der Sklaverei, die Autonomie und die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit, das Verbot der Ausfuhr von Gold und Silber und die Rückgabe des Landes an seine legitimen Besitzer, die Indianer, gefordert. Diese erste revolutionäre Bewegung stellte später die Basis für die weiteren Unabhängigkeitsbewegungen von 1810 und 1811 dar.
(10) z.B. Die USR in Venezuela.
(11) "In Arequipa, 1828, erscheint das, was sein Autor die Vorboten (Pródromo) der amerikanischen Gesellschaften nennt. Dort schreibt er: "In Südamerika sind die Republiken errichtet, aber nicht gegründet" (...) 1842 erscheint in Lima die endgültige Version" (Tejera 1992, 119).
(12) Das Dokument wurde 1830 unter dem Titel "El libertador del mediodía de América y sus compañeros de armas, defendidos por un amigo de la causa social" [Der Befreier Südamerikas und seine Waffenkameraden, von einem Freund des gesellschaftlichen Ideals verteidigt] verfaßt.
(14) Zimmer (1997, 90) schreibt z. B.: "Die Educación Popular, deren Grundlegung Paulo Freire zu verdanken ist, entwickelt sich in einem ihrer Zweige auch folgerichtig in Richtung einer Economía Popular weiter (...) Paulo Freire steht Pate, wenn britische Community Schools generative Themen in der Nachbarschaft aufspüren, wenn Harvard das Medizinstudium an Schlüsselproblemen und -situationen orientiert...". Vgl. Abschnitt 2.1.2.3.
(15) Häufig finden sich seine Gedanken explizit oder implizit in Arbeiten zum Mathematikunterricht. Vom Organisationskomitee der ICME8 (1996) wurde er nach Sevilla eingeladen, um einen Vortrag über "Sozio-philosophische Aspekte der mathematischen Bildung" im Plenum zu halten.