II. Sustainable Development und Ecological Economics

3. Was heisst "Sustainable Development"?

"Dauerhafte Entwicklung erfordert, die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen und für alle

die Möglichkeit zu schaffen, ihren Wunsch nach einem besseren Leben zu befriedigen."

(Hauff 1987, 47; meine Hervorhebung).

3.1. (Nachhaltige) Entwicklung, Wachstum und Fortschritt

"Sustainable Development" ist keine Theorie und auch kein Politikkonzept: Es ist vor allem anderen eine normative Forderung, die sich zu einem politischen Konzept entwickelt hat, das zunächst durch eine erhebliche Offenheit charakterisiert ist, die den verschiedensten Interpretationen Tür und Tor öffnet. Der Begriff des Sustainable Development, so der SRU (1996, Rdnr. 2), werde oft "als eine unverbindliche Formel gebraucht, gerade dadurch aber auch um sein kritisches Potential gebracht" (ähnlich Daly/Cobb 1994, 75f.). Nach Solows (1993, 167) Ansicht war die dem Brundtland-Bericht folgende Diskussion über Zukunftsfähigkeit "mainly an occasion for the expression of emotions and attitudes." Auch Vornholz (1993, 125) meint, durch das Fehlen einer hinreichenden Konkretisierung sei dauerhafte Entwicklung zu einer "Leerformel" geworden. Daß praktisch alle gesellschaftlichen Akteure sich das Ziel eines Sustainable Development zu eigen gemacht haben, liegt sowohl an seiner moralischen Überzeugungskraft als auch an dieser konzeptionellen Offenheit. In dieser allgemeinen Zustimmung ist auch ein politischer Erfolg des Konzepts zu sehen, der für die Erreichung der Ziele eines Sustainable Development notwendige Bedingung ist (Jacob 1994, 237). Ein weiterer Grund für die Akzeptanz von Sustainable Development liegt in der "Unabweisbarkeit" (Hein 1994a, 639, 648) dieses Konzepts.

Daß Sustainable Development in der aktuellen Version überhaupt zum Thema werden konnte, ist eng mit den ökologischen Folgewirkungen des Wirtschaftswachstums verbunden. Nach Auffassung von Perman et al. (1996, 51) ist das Interesse am Konzept des Sustainable Development auf die Sorge um die Möglichkeiten fortgesetzten Wirtschaftswachstums zurückzuführen. Die Diskussion über die "Grenzen des Wachstums", wie sie vor allem Anfang der 1970er Jahre geführt wurde, war mitentscheidend für die Vorbereitung des Sustainability-Diskurses. Hier ist von Bedeutung, daß die lebhafte Debatte über die (Un-)Vereinbarkeit von Wirtschaftswachstum und begrenzten Ressourcen mit dazu beigetragen hat, daß sich die UN auch nach der Stockholm-Konferenz von 1972 mit diesem Thema befaßte. Mitte der achtziger Jahre wurde von der UN-Vollversammlung die World Commission on Environment and Development (WCED) ins Leben gerufen, deren Bericht über Unsere Gemeinsame Zukunft bis heute der Schlüsseltext der Debatte über Sustainable Development ist. Die Diskussion über die "Grenzen des Wachstums" in den 1970er Jahren war dominiert von Vorstellungen über die Unvereinbarkeit von Wirtschaftswachstum und ökologischen Belangen. In der Debatte über Sustainable Development, so Pearce et al. (1989, 21), gehe es dagegen um die Komplementarität von Umwelt und Wachstum. Gleichwohl lassen sie keinen Zweifel an der Wichtigkeit von Wirtschaftswachstum auch für nachhaltige Entwicklung: "Achieving economic development without sacrificing an acceptable rate of economic growth may be said to define the problem of sustainable development" (Pearce et al. 1989, 30).

Beim herkömmlichen Entwicklungsbegriff steht die Lebensqualität von Menschen im Vordergrund, es geht um die Erhöhung des Lebensstandards und auch die Sicherung von Lebenschancen. Zur Erreichung dieser Ziele wird Wachstum oft als "Problemlöser" angesehen. Im "magischen Fünfeck der Entwicklung" von Nohlen/Nuscheler (1992, 67) beispielsweise wird Wachstum zuerst genannt. Zwar wird der Verteilungsaspekt ebenso problematisiert wie die ökologische Frage, deutlich ist aber die Einschätzung, daß Wirtschaftswachstum wichtiger Bestandteil von Entwicklung ist – jedenfalls in den Entwicklungsländern. Die Entwicklungstheorie ebenso wie Entwicklungsstrategien bleiben, so Menzel (1992b, 131), trotz verschiedentlicher Paradigmenwechsel und Vielfalt der Begrifflichkeit auf Wachstum fixiert. Menzel (1992b, 131) bringt dies auf die Formel "40 Jahre Entwicklungsstrategie = 40 Jahre Wachstumstrategie" (s. auch Menzel 1992a, 133ff.). Wachstum, das hat die Debatte über Sustainable Development deutlich gemacht, ist aber nicht nur Problemlöser, sondern auch "Problemverstärker" (Harborth 1992, 241).

Im Kontext von Sustainable Development bedeutet Entwicklung vor allem die Sicherung von Bedürfnisbefriedigung. Obschon nach Auffassung vieler Autoren die "Betonung des Entwicklungs- anstelle des Wachstumsbegriffs (...) das erste Charakteristikum der Sustainable Development-Definition" ist (Brenck 1992, 382), besteht auch in der ökonomischen Debatte eine gewisse Konfusion hinsichtlich dieser Unterscheidung. Allerdings ist diese Unklarheit schon im Brundtland-Bericht angelegt. Der Brundtland-Bericht unterscheidet zwar zwischen Wachstum und Entwicklung, läßt aber auch keinen Zweifel daran, daß aus seiner Sicht Entwicklung ohne Wachstum schlechterdings nicht vorstellbar ist. Die Definition von Sustainable Development durch den Brundtland-Bericht hat durch ihre Offenheit nicht nur zu den unterschiedlichsten Interpretationen geführt, "but it also fails to provide a clear demarcation between itself and the conventional understanding of successful development that it is intended to replace" (Jacob 1994, 241f.). Die Forderung, von einer "ständigen Verwechslung zwischen Wachstum und Entwicklung loszukommen", wurde bereits im Brandt-Bericht von 1980 (zit. in Nohlen/Nuscheler 1992, 67) erhoben. Nun hat zwar die Debatte über zukunftsfähige Entwicklung zu einem erhöhten Bewußtsein über diese Unterscheidung geführt. Dennoch werden beide Begriffe auch heute noch oft "verwechselt".

Die Gleichsetzung von Wachstum und Entwicklung wird im Kontext der Debatte über Sustainable Development fragwürdig. Dennoch ist Entwicklung ohne Wachstum aus Sicht des ökonomischen Mainstream undenkbar, und auch die Modernisierungstheorie – "das soziologische Äquivalent zur Wachstumstheorie" (Eblinghaus/Stickler 1996, 20) – geht davon aus, daß Modernisierung Wachstum erfordert. Ebenso wie im politischen Diskurs spielt Wirtschaftswachstum also in den Sozialwissenschaften eine entscheidende Rolle für die Zielsetzung gesellschaftlichen Fortschritts. Eblinghaus/Stickler (1996, 21) heben den "ahistorisch-ethnozentrischen Charakter der Modernisierungstheorie" hervor. In der Tat orientieren sich die Modernisierungstheorie und die ihr impliziten Fortschrittsvorstellungen am Referenzmodell der westlichen Gesellschaften. Traditionalen Gesellschaften wird implizit eine eigene Geschichte abgesprochen, letztlich soll jede sozioökonomische Entwicklung auf ein universelles Modell hinauslaufen, und dieses Modell ist die westliche Industriegesellschaft. Die "Dichotomisierung von modernen und traditionalen Gesellschaften" ist Kern klassischer Modernisierungstheorien, die stets gesellschaftlichen Fortschritt mit Modernisierung gleichsetzen (Timpf 1997, 208). Wirtschaftswachstum ist dabei stets als Bestandteil dieser Modernisierung gedacht worden. Modernisierungs- wie Wachstumstheorie gehen zumindest implizit von der Gleichung "Modernisierung = Wachstum = Fortschritt" aus. Wenn aber der Entwicklungspfad der Industriestaaten ein "ökologisches Katastrophenmodell" (Harborth 1992, 236) ist, stellt sich die Frage, ob Sustainable Development eine Alternative zum bisherigen Entwicklungsmodell sein kann. Dies gilt nicht zuletzt wegen der Verbindung von Entwicklung, Wachstum und Fortschritt. Da Entwicklung Verbesserungen der Lebensbedingungen impliziert, ist dieser Begriff eng mit dem des gesellschaftlichen Fortschritts verbunden: "Development implies change leading to improvement or progress" (Pearce et al. 1989, 29; ihre Hervorhebungen; s. auch Wagner 1993, 1). Wenn aber im Kontext von Sustainable Development Wachstum nicht mehr nur als Problemlöser, sondern immer mehr auch als Problemverstärker wahrgenommen wird, hat dies grundsätzliche Auswirkungen auf die Vorstellung von gesellschaftlichem Fortschritt, die lange Zeit untrennbar mit Wirtschaftswachstum zusammengedacht wurde.

"Der Begriff der Entwicklung, wie er im Nachhaltigkeits-Konzept verwendet wird, ist Joseph Schumpeter verpflichtet", meint Huber (1995, 13) und verweist auf das Entwicklungskapitel der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (Schumpeter 1952, Kap. 2) und das Kapitel über den Prozeß schöpferischer Zerstörung in Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Schumpeter 1993, Kap. 7; s. auch Huber 1995, 150). Er fährt fort: "Entwicklung bedeutet hierbei, in Übereinstimmung sowohl mit der allgemeinen Evolutionsbiologie als auch der neueren Systemtheorie, eine Ausdifferenzierung sowie laufende erfolgreiche Reproduktion von Systemen durch sich bewährende Innovationen." Die Verbindung von Schumpeter und Evolutionsbiologie ist so nicht richtig, denn Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung verdankt sich eben nicht einem Bezug auf den Darwinismus (Witt 1995, 153).

Bloßes Wachstum ist für Schumpeter (1952), wie er in der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung ausführlich darlegt, keine Entwicklung (s. 7.5.2.). Entwicklung ist nicht durch bloße Zunahme einer Größe gekennzeichnet, sondern durch die "Durchsetzung neuer Kombinationen" (Schumpeter 1952, 100): Die Herstellung neuartiger Produkte, die Einführung neuer Produktionsmethoden, die Erschließung neuer Absatzmärkte, die Eroberung neuer Rohstoffquellen und die Veränderung von Marktstrukturen ("Durchführung einer Neuorganisation") sind Schumpeters (1952, 100f.) Beispiele für wirtschaftliche Entwicklung. Die Trennung von Wachstum und Entwicklung, wie sie von Schumpeter betont worden ist, hat sich in der Ökonomik nicht durchgesetzt. Regelmäßig werden Wachstum und Entwicklung synonym verwendet. Dies wird oft damit begründet, daß Wachstum die Voraussetzung für Entwicklung sei (Wagner 1993, 2; Gould 1978, 5f.). Rostow (1990) setzt sich in seinem Werk über Theorists of Economic Growth intensiv mit Fragen nicht nur des Wachstums, sondern auch von Entwicklung auseinander. Auch seine in den Stages of Economic Growth (1960) entwickelte Stadientheorie stellt eine Periodisierung von Entwicklungsstadien dar und nicht einfach eine Unterteilung in Wachstumsphasen.

Entwicklung ist also eine qualitative Veränderung, Wachstum eine quantitative Zunahme. Eine schlichte Zunahme des Sozialprodukts, Wachstum als "replication of a given structure, as more and more of the same, does not lead to development" (Brinkman 1995, 1182). Auch in der Literatur, die sich mit der Entwicklung der sogenannten Dritten Welt befaßt, wird dieser strukturelle Aspekt oft betont. Gillis et al. (1987, 7) beispielsweise kritisieren die oft zu beobachtende Gleichsetzung von Wachstum und Entwicklung. Entwicklung sei mehr als Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens und impliziere fundamentale Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur, insbesondere eine wachsende Bedeutung des industriellen Sektors gegenüber der Landwirtschaft und eine Zunahme der urbanen Bevölkerung. Außerdem seien demographischer Übergang und Veränderungen der Konsummuster wichtige Kennzeichen von Entwicklung. Die Autoren lassen freilich keinen Zweifel daran, daß diese Veränderungen an Wirtschaftswachstum geknüpft sind.

Kuznets (1966) macht deutlich, daß Wirtschaftswachstum von dramatischen Strukturveränderungen begleitet ist, insbesondere von der abnehmenden Bedeutung der Landwirtschaft und der zunehmenden Bedeutung von Industrieproduktion und später Dienstleistungen. In der Tat sind Wachstumsprozesse fast immer auch Entwicklungsprozesse, indem sie mit der "Durchsetzung neuer Kombinationen" einhergehen. Intra- und intersektoraler Strukturwandel sind Kennzeichen von Wirtschaftswachstum, und dieser Umstand ist auch für die Einführung umweltfreundlicher Produkte und Produktionsmethoden von entscheidender Bedeutung. Eine konzeptionelle Trennung von Wachstum und Entwicklung ist möglich, im realwirtschaftlichen Prozeß aber hängen sie eng zusammen. Wohl auch deshalb werden die Begriffe in der ökonomischen Literatur synonym verwendet. Dorfman (1991, 573, Fn. 1) beispielsweise hält die Unterscheidung für überflüssig, weil die Konzepte so eng miteinander verwoben seien.

Kuznets (1966) analysiert in seiner Studie über Modern Economic Growth ausführlich die qualitativen Aspekte wirtschaftlicher Veränderungen, z.B. Bevölkerungsentwicklung, Strukturwandel und technischen Fortschritt. Er definiert Wirtschaftswachstum als einen "sustained increase in per capita or per worker product, most often accompanied by an increase in population and usually by sweeping structural changes" (Kuznets 1966, 1). Aufgrund dieser Definition kann Kuznets "modernes Wirtschaftswachstum" auch als Entwicklung bezeichnet werden, obschon Kuznets diesen Begriff nicht verwendet (Brinkman 1995, 1176). Entscheidend ist der "sustained increase", womit ein Wachstum gemeint ist, das nicht von kurzfristigen Fluktuationen "überschattet" wird (Kuznets 1966, 26). Wachstum liegt nach dieser Definition also nur dann vor, wenn das Pro-Kopf-Einkommen über einen langen Zeitraum ansteigt. Nachhaltigkeit in diesem Sinne wird oft als Kriterium für Wirtschaftswachstum verwendet: Kurzfristige Steigerungen des Sozialprodukts gelten demnach nicht als Wachstum, sondern nur reale Zunahmen, die über einen langen Zeitraum "durchgehalten" werden (s. z.B. Chaudhuri 1989, 2; Gould 1978, 3; Kuznets 1971). Im Entwicklungskontext wird darüber hinaus oft betont, daß Wachstum sich auf Pro-Kopf-Zunahmen des Sozialprodukts bezieht (Gould 1978, 3). Ein Wachstum der Wirtschaft, bei dem die Pro-Kopf-Zuwächse durch Bevölkerungszunahmen kompensiert werden, ist aus entwicklungspolitischer Sicht kaum als Fortschritt zu bezeichnen. Unter der Annahme, daß ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Zunahme der Umweltbelastung besteht, ist allerdings das Gesamtwachstum eine relevante Größe.

In seiner Nobelpreisrede definiert Kuznets (1992, 87) Wirtschaftswachstum als "a long-term rise in capacity to supply increasingly diverse economic goods to its population, this growing capacity based on advancing technology and the institutional and ideological adjustments that it demands." Hier wird deutlich, daß Wachstum Entwicklung voraussetzt: Ohne technische und politische Entwicklung sind die Bedingungen für Wirtschaftswachstum nicht gegeben. Entwicklung bedeutet zunächst einmal qualitativer Wandel. Insbesondere in der Literatur über Entwicklungsländer spielt jedoch positive qualitative Veränderung eine entscheidende Rolle. Strukturwandel per se ist dann noch keine Entwicklung. Entwicklung erfordert mehr. Dies gilt auch für den Diskurs über Sustainable Development, in dem ja die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse im Vordergrund steht. Der Begriff Entwicklung impliziert Verbesserungen und damit auch die Bewertung von dem, was als Verbesserung anzusehen ist. Entwicklung ist also ein normatives Konzept, es ist ein "value word" (Pearce et al. 1989, 32). Wenn Entwicklung "positiver gesellschaftlicher Wandel" ist (Brenck 1992, 382), ist dies weitaus schwieriger zu operationalisieren als bloßes Wachstum. (5) Weitgehend unstrittig ist, daß eine als positiver Wandel interpretierte Entwicklung mehr als Wachstum beinhaltet (Enquete-Kommission 1994, 34). Die Frage ist freilich, ob Entwicklung ohne Wachstum möglich ist, oder anders formuliert: Kann Entwicklung auch "weniger" als Wachstum sein? Ausgangspunkt können hier die aus der Entwicklungstheorie und -politik bekannten Zielsetzungen sein, also Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens (das bei konstanter oder wachsender Bevölkerung Wirtschaftswachstum impliziert), Verbesserung von Ernährung, Gesundheit, Bildung, Wohnraum, Arbeit, Chancengleichheit, politischen Freiheiten, Erwerbssituation, Fairness bei Einkommensverteilung und Zugang zu Ressourcen, Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern und Frauen usw. (6)

 

3.2. Warum Sustainable Development?

"Looking at the current world, I am not really going to worry about

a generation one thousand years from now. It's not yet alive!

It is basically equivalent to worrying about my grandparents who are dead."

(Thurow 1973, 143)

3.2.1. Rawls und die Gerechtigkeit

Die moralische Überzeugungskraft von Sustainable Development für den Erfolg dieses Konzepts ist, wie gesagt, von großer Bedeutung, und darauf weisen auch Pearce et al. (1993, 9f.) hin: "Like all normative philosophies, sustainable development has a moral undertone. It has attracted the attention it has precisely because many people feel that the present generation is being 'unfair' to future generations by depleting major sources of future well-being. (...) (T)he very problem of sustainable development arises precisely because it is believed that actions now are making future generations potentially worse off, not better off." Dieses Gefühl bringt auch Pfister (1994, 88) zum Ausdruck: "Die gedankenlose Verschleuderung kostbarer Ressourcen verstößt nicht nur gegen die Solidarität mit den Zeitgenossen, sondern auch gegen die Solidarität mit den künftigen Generationen." Für die wissenschaftliche wie die politische Auseinandersetzung mit der Forderung nach einer zukunftsfähigen Entwicklung erscheint es notwendig, über derartige Äußerungen hinauszugehen und zu einer fundierteren Auffassung über intergenerative Fragen zu gelangen. (7) Wie also läßt sich die Gleichbehandlung von heute und in Zukunft lebenden Menschen begründen? Den Referenzpunkt für eine solche Fundierung intra- und intergenerativer Gerechtigkeit sehen viele Autoren in Rawls' Theory of Justice. (8)

Rawls (1971) verfolgt mit dieser Theory das Ziel, eine in sozioökonomischer und politischer Hinsicht gerechte gesellschaftliche Ordnung zu formulieren, die auf freiwilligen Übereinkünften der Gesellschaftsmitglieder beruht. Dabei geht es um das Erreichen eines "reflective equilibrium" zwischen Theorie und Intuition (Rawls 1971, 20, 48; s. auch Hartley 1995, 285). Rawls Konstruktion bezieht sich nicht auf einen realen Diskurs, sondern stellt ein Gedankenexperiment dar, mit dessen Hilfe vernünftige Gerechtigkeitsprinzipien ermittelt werden sollen (Rawls 1971, 12). Ausgangspunkt ist dabei die hypothetische Situation des "Urzustands", der durch den "veil of ignorance" (Schleier der Unwissenheit) gekennzeichnet ist. In diesem Urzustand soll über die Ausgestaltung einer Gesellschaft entschieden werden. Es handelt sich also um eine vertragstheoretische Konstruktion. Die Unwissenheit bezieht sich auf die Kenntnisse der Entscheidenden darüber, welche Position sie in der Gesellschaft innehaben, z.B. im Hinblick auf sozialen Status, Talente und Eigenschaften. Die Unwissenheit bezieht sich allerdings nicht auf Wissen um sozioökonomische Gegebenheiten. In dieser Situation sollen die Menschen nun entscheiden, welche Gerechtigkeitsgrundsätze der Gesellschaft zugrunde liegen sollen. Die Entscheidenden sind freie, rationale und nur an ihren Eigeninteressen orientierte Personen. Nach Rawls' Theory of Justice wird eine solche Situation zum Beschluß fairer Gerechtigkeitsgrundsätze führen. Diese Grundsätze sollen Grundlage für gesellschaftliche Institutionen sein. Die Grundsätze, die sich aus diesem Verfahren ergeben würden, lauten in einer Formulierung von Rawls (1971, 60) wie folgt: "First: each person is to have an equal right to the most extensive basic liberty compatible with a similar liberty for others. Second: social and economic inequalities are to be arranged so that they are both (a) reasonably expected to be to everyone's advantage, and (b) attached to positions and offices open to all."

Nun wird Rawls' Theorie zwar regelmäßig in Fragen intergenerativer Gerechtigkeit herangezogen – im strengen Sinne ist die Theory of Justice für derartige Probleme aber ungeeignet, weil nämlich aufgrund der Irreversibilität historischer Zeit der Grundsatz hier nicht angewandt werden kann, nach dem Ungleichheiten durch die Besserstellung aller Gesellschaftsmitglieder gerechtfertigt werden können – das Differenzprinzip. Rawls (1971, 291) weist auf das asymmetrische Verhältnis zwischen heutigen und zukünftigen Generationen hin: "It is a natural fact that generations are spread out in time and actual exchanges between them take place only in one direction. We can do something for posterity but it can do nothing for us. This situation is unalterable, and so the question of justice does not arise. What is just or unjust is how institutions deal with natural limitations and the way they are set up to take advantage of historical possibilities" (meine Hervorhebung). Der Umgang mit dieser nicht veränderbaren Situation wirft also die Frage der Gerechtigkeit auf.

Rawls (1971, 284ff. [Kapitel V, §§ 44f.]) setzt sich folgerichtig auch mit dem Problem der Gerechtigkeit zwischen Generationen auseinander. "Each generation must not only preserve the gains of culture and civilization, and maintain intact those just institutions that have been established, but it must also put aside in each period of time a suitable amount of real capital accumulation. This saving may take various forms from net investment in machinery and other means of production to learning and education" (Rawls 1971, 285). In aktueller Terminologie formuliert: Rawls spricht menschengemachtes und "Humankapital" an, von "Naturkapital" ist nicht die Rede. Rawls (1971, 512) erwähnt in einem Absatz über die Grenzen seiner Gerechtigkeitstheorie zwar "animals and the rest of nature", die Bedeutung der natürlichen Umwelt für sozioökonomische Entwicklung wird aber in der Theorie der Gerechtigkeit nicht erörtert, auch nicht im Kapitel über intergenerative Gerechtigkeit. Die nicht zu ändernde Asymmetrie führt aber keinesfalls dazu, daß Menschen "auf Kosten zukünftiger Generationen" leben dürfen. Rawls (1971, 293) betont, daß "persons in different generations have duties and obligations to one another just as contemporaries do. The present generation cannot do as it pleases but is bound by the principles that would be chosen in the original position to define justice between persons at different moments of time" (meine Hervorhebung). Die oben erwähnten Gerechtigkeitsgrundsätze beschränken also die Handlungsspielräume heutiger Generationen insofern, als die Interessen zukünftiger Generationen gemäß den Grundsätzen zu berücksichtigen sind.

Rawls' Theory impliziert also eine Verantwortung heute lebender Menschen gegenüber zukünftigen Generationen, die Forderung nach intergenerativer Gerechtigkeit läßt sich trotz der genannten Asymmetrie zwischen Generationen mit Rawls begründen. Folgt man dieser Argumentation, dann sind Handlungen, die die Lebenschancen zukünftiger Generationen beschränken oder gar zerstören, ungerecht. Obwohl also Rawls die natürliche Umwelt nicht erwähnt, läßt sich aus der Theory of Justice die Verpflichtung zu einer nachhaltigen Entwicklung ableiten. Ungleichheit zwischen Generationen kann im Hinblick auf die Nutzung der natürlichen Umwelt nur dann gerechtfertigt werden, wenn durch diese Ungleichheit alle folgenden Generationen insgesamt bessergestellt werden (Klaassen/Opschoor 1991, 110; Pearce 1987, 11; Penn 1990, 227). Page, der als wichtiger Konkretisierer Rawls' im ökologischen Kontext gilt (s. auch Pearce 1987, 11; Tacconi/Bennett 1995, 218ff.), betont die Verantwortung für kommende Generationen, die sich aus Rawls ableiten läßt: "(I)n the Rawlsian context our obligation to the future can be defined as the duty to follow criteria which would emerge from an original position. The obligation is time invariant; as actual time shifts from generation to generation the obligation remains the same. One of the important ideas of the original position is that it links all generations together with a common perspective" (Page 1977, 203). Und: "After some discussion, one could imagine that the delegates might agree that the simplest thing to do would be to settle for the rule of thumb that each generation should be intertemporally self-sufficient. In this way one generation could follow another indefinitely, but each generation would be required to look only one or a few generations ahead" (Page 1977, 203). Vornholz (1993, 103) zieht einen ähnlichen Schluß aus Rawls' Theorie: "Für jede Generation ergibt sich demnach die Norm, die Natur so zu benutzen, daß eine Generation diese nicht in einem schlechteren Zustand weitergibt als sie diese erhalten hat" (s. auch Kersting 1993, 149). Rawls geht davon aus, daß die Entscheidenden rationale und risiko-averse Individuen sind. Rawls (1971, 14) legt den Begriff der Rationalität eng aus ("taking the most effective means to given ends"). Die Annahme der Risikoaversion ist, wie sich noch zeigen wird, von entscheidender Bedeutung für die Umsetzung der Forderung nach intergenerativer Gerechtigkeit.

Norton (1989, 150f.) weist auf ein Problem hin, das er "Rawls' certitude-of-existence assumption" nennt. Rawls gehe davon aus, daß man in irgendeiner Generation existieren wird, aber eben daß man existieren wird. Eine nicht-nachhaltige Entwicklung würde allerdings genau diese Annahme aufheben, wenn die wirtschaftliche Entwicklung die Zerstörung der Lebensbedingungen zur Folge hätte. Schon Bentham (zit. in Stabile 1996, 689) hat betont, daß "(n)ecessary to well-being is being" (seine Hervorhebung). Ich kann die damit zusammenhängenden philosophischen Fragen hier nicht untersuchen, will aber das von Norton angesprochene Problem betonen: Daß Menschen in Zukunft existieren werden, ist eine allzu selbstverständliche Annahme, die auch Rawls' Theorie zugrunde liegt, die aber durch die globalen ökologischen Gefährdungen brüchig geworden ist. Zukünftige Generationen werden über sozioökonomische Entwicklungspfade nur dann nachdenken können, wenn heutige Generationen deren Lebensgrundlagen nicht in einer Weise schädigen, die die Existenz von Menschen verunmöglicht.

Dies verdeutlicht auch die Kritik Beckermans (1995b, 141), der die Frage stellt: "Why Do Anything for Posterity?" und problematisiert damit die Begründung und Begründbarkeit der Verantwortung für zukünftige Generationen. Er erörtert das Identitätsproblem, das auch als "Parfit's Paradox" bezeichnet wird. Es geht dabei um die Frage, ob zukünftige Generationen überhaupt durch heutige Handlungen "geschädigt" werden können, wenn heutige Handlungen sich auf die Identität zukünftiger Menschen auswirken. Entscheidungen früher Generationen (hinsichtlich Konsum, Investitionen, Umweltschutz etc.) führen dazu, daß in der Zukunft andere Menschen existieren werden als bei anderen Entscheidungen. Eine auf die Reduktion des Gebrauchs fossiler Brennstoffe gerichtete Politik beispielsweise hat Auswirkungen auf die Wirtschaftsstruktur und Beschäftigungsmöglichkeiten und damit auf die Lebensbedingungen und Zukunftserwartungen und damit auch auf das Reproduktionsverhalten. Folglich wären nach einer die fossile Brennstoffnutzung einschränkenden Politik andere Personen am Leben als im Falle einer Politik, die nicht die Reduktion des fossilen Brennstoffverbrauchs angestrebt hätte: "In short, the identity of the people alive in a hundred years time will not be the same as the identity of the people who would have been born had a different policy been pursued" (Beckerman 1995b, 145; seine Hervorhebung). Daraus folgt, daß tatsächlich in der Zukunft existierende Menschen durch heutige Handlungen letztlich nicht geschädigt werden können.

Impliziert dies, daß zukünftige Generationen durch heutige Handlungen nicht geschädigt werden können? Beckerman (1995b, 145) zitiert Parfit: "Wrongs require victims: our choice cannot be wrong if we know that it will be worse for no one." Eine mögliche (von Parfit selbst abgelehnte) Schlußfolgerung wäre dann, daß heutige (Umwelt-)Politik Menschen in der Zukunft nicht zu schädigen vermag. Dies gilt für konkrete Menschen, ob heutige Generationen "auf Kosten der Zukunft" wirtschaften können, hängt aber davon ab, ob man mit zukünftigen Generationen stets konkrete Individuen meint oder eben lediglich in der Zukunft lebende Menschen – unabhängig von ihrer konkreten Identität. M.E. kann man den Begriff zukünftige Generationen in der Tat auf alle zukünftig lebenden Menschen beziehen. Intergenerative Gerechtigkeit ist dann nicht an "zukünftige Identitäten" geknüpft, sondern an die Annahme, daß Menschen in der Zukunft existieren werden. Sollen diese Menschen nicht schlechter gestellt werden – und das einzige Vergleichskriterium ist hier die heutige Ausstattung mit Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung -, folgt hieraus die Forderung nach Sustainable Development. Beckerman (1995b, 151) hält die Begründung von Sustainable Development durch Rawls' Gerechtigkeitstheorie für problematisch, allerdings vor allem aufgrund der Probleme hinsichtlich der ersten Generation (auf die hier nicht einzugehen ist). Letztlich gesteht er allerdings zu, daß "the idea that it would be unfair to take advantage of our precedence in time (...) is one that has a lot of appeal to our moral intuitions" (Beckerman 1995b, 152). In der Tat, und diese moralische Überzeugungskraft ist, wie gesagt, ein wesentlicher Grund für den Erfolg des Konzepts eines Sustainable Development.

Das Rawlssche Verfahren ist anthropozentrisch, da menschliche Bedürfnisse (nämlich der Entscheidenden) den wichtigsten Faktor in der Motivation der Regelsetzung bilden. Es werden ausschließlich die Interessen der Menschen berücksichtigt. Anthropozentrismus wertet die Dinge ausschließlich aus menschlicher Sicht. Dabei wird der außermenschlichen Natur lediglich instrumentelle Bedeutung beigemessen (Vornholz 1993, 106). Dieser Sichtweise kann eine Perspektive gegenübergestellt werden, die ein Lebensrecht für alles Lebendige postuliert. Diese biozentrische Ethik impliziert auch Pflichten des Menschen gegenüber der Natur. (9) Abgesehen davon ist aber jede Umweltethik in dem Sinne anthropozentrisch, als nur Menschen überhaupt in der Lage sind, über Ethik zu reflektieren, und das gilt für jede noch so biozentrische Ethik (Renn 1994, 22; Vornholz 1993, 108). Gleichwohl gibt es gute Argumente, eine rein anthropozentrische Ethik zugunsten einer die "Rechte der Natur" mehr berücksichtigenden Ethik zu verwerfen – wobei es strenggenommen niemals um Rechte der Natur, sondern um Pflichten des Menschen geht. Dennoch will ich im folgenden diese Diskussion nicht aufnehmen, sondern mich auf die anthropozentrische Ethik beschränken. Dieser Schritt ist m.E. auch deshalb unproblematisch, weil der Ansatz der anthropozentrischen Ethik für die Begründung des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen hinreichend ist (Hinterberger et al. 1996, 35f.; Norton 1989, 153; Vornholz 1993, 109; s. auch Haskell et al. 1992, 5; Pearce 1987, 13). Denn: Wenn das Ziel unter anderem darin besteht, die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse in der Zukunft zu sichern, schließt das den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ein.

 

3.2.2. Hicks und "ökonomische Vernunft"

Auch ökonomische Beiträge beziehen sich oft auf Rawls' Gerechtigkeitstheorie, führen aber darüber hinaus oft eine weitere, "ökonomische" Begründung für Sustainable Development ein. Diese ökonomische Begründung rekurriert auf den Begriff des Einkommens in der Definition von Hicks, der ein häufig verwendeter Referenzpunkt wirtschaftswissenschaftlicher Beiträge zur Debatte über nachhaltige Entwicklung ist. (10) Hicks (1979, 172) weist auf den Zweck von Einkommensberechnung hin und definiert Einkommen in einer Weise, die das Kriterium "Sustainability" einschließt: "The purpose of income calculations in practical affairs is to give people an indication of the amount which they can consume without impoverishing themselves. Following out this idea, it would seem that we ought to define a man's income as the maximum value which he can consume during a week, and still expect to be as well off at the end of the week as he was at the beginning" (meine Hervorhebung). Heutiger Konsum, der zu einer Minderung zukünftiger Konsummöglichkeiten führt, ist in diesem Sinne also kein Einkommen. Hicks (1979, 172) weist darauf hin, daß "when a person saves, he plans to be better off in the future; when he lives beyond his income, he plans to be worse off". Der Bezug zur Forderung nach Sustainable Development liegt auf der Hand: Wenn Gesellschaften heute ihr Kapital (z.B. ihr "Naturkapital", s. Abschnitt 4.3.) verzehren, "planen" sie, sich in der Zukunft schlechter zu stellen. In diesem Sinne kann auch die häufig geäußerte Feststellung verstanden werden, die Gegenwartsgesellschaften lebten auf Kosten zukünftiger Generationen.

Hicks (1979, 173f.) unterscheidet drei Einkommensarten: "Income No. 1 is (...) the maximum amount which can be spent during a period if there is to be an expectation of maintaining intact the capital value of prospective receipts (in money terms)". Hicks selbst weist darauf hin, daß diese Definition für Privatzwecke angemessen, aber nicht für alle Zwecke geeignet ist. Für Sustainable Development ist das Einkommen Nr. 3 von größerer Bedeutung (Common/Perrings 1992, 10; Nordhaus 1994, 315). (11) "Einkommen Nr. 3" definiert Hicks (1979, 174) als "the maximum amount of money which the individual can spend this week, and still expect to be able to spend the same amount in real terms in each ensuring week" (seine Hervorhebung). Die Definition macht aber auch die Grenzen der Übertragung des Hickschen Einkommen auf die Nachhaltigkeitsdebatte klar, denn Hicks geht es um monetäres Einkommen von Individuen. Hicks (1979, 177) selbst weist darauf hin, daß "there is no reason why the expectations of different individuals should be consistent". Hicks (1979, 178ff.) verweist auch auf den Unterschied zwischen ex post- und ex ante-Definitionen von Einkommen. Für die Diskussion über Sustainable Development ist die ex ante Definition von Einkommen die relevante Größe, da es um die Ableitung von Handlungsregeln für die Zukunft geht.

Die Frage bleibt, wie gehaltvoll der Rekurs auf das Hicksche Einkommen ist. Denn, wie Beckerman (1994, 203) richtig feststellt, ist der dahinter stehende Gedanke (die Aufrechterhaltung von Kapital ist notwendige Bedingung für zukünftige Produktion) offensichtlich. Bestimmte moralische Implikationen seien hiermit aber nicht verbunden: Die Hicksche Einkommensdefinition, "with its emphasis on the need to maintain capital intact in order to maintain income levels, is a purely technical definition of net income and has no moral connotation whatsoever" (Beckerman 1994, 203). In der Tat, Hicks hat eine Definition von Einkommen vorgelegt, andere wären denkbar. Allerdings erweist sich Hicks Einkommensdefinition als überaus plausibel. Außerdem, und das wird von Beckerman übersehen, berufen sich vor allem Mainstream-Ökonomen gerne und oft auf ökonomischen "common sense", und Hicks' Einkommensdefinition ist sicher Teil dieses common sense. Gleichzeitig wurde in der realen wirtschaftlichen Entwicklung die Selbstverständlichkeit, Kapital nicht zu verbrauchen, eben nicht umgesetzt. Zwar wurde viel menschengemachtes Kapital akkumuliert, allerdings auf Kosten des natürlichen Kapitals. Sind beide Kapitalarten komplementär, widerspricht bisherige wirtschaftliche Entwicklung in eklatanter Weise wirtschaftlicher Vernunft. Damit ist auch zu erklären, warum gerade Vertreter der Ecological Economics immer wieder auf Hicks zurückgreifen, um die Forderung nach Sustainable Development auch ökonomisch zu fundieren.

 

3.3. Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung: Grundlagen

3.3.1. Der Brundtland-Bericht: Nachhaltige Entwicklung durch Wachstum

Der Brundtland-Bericht (Hauff 1987) hat nicht nur Inhalt und Struktur der gegenwärtigen Diskussion bestimmt, sondern auch dazu beigetragen, daß der Begriff Sustainable Development heute von einigen als "politically orthodox" bezeichnet werden kann (Kirkby et al. 1995b, 1). Ich will freilich nicht in ausführlicher Weise auf die Wirkungsgeschichte des Brundtland-Berichts eingehen. Die Kommentare zu diesem Dokument sind Legion, und eine weitere ausführliche Darstellung der WCED-Position oder des Konzepts des Sustainable Development ist hier weder interessant noch notwendig. (12) Ich beziehe mich statt dessen auf die grundlegenden Aspekte des WCED-Berichts und auf die für das Wachstumsthema relevanten Positionen.

Der Brundtland-Bericht betont schon im Titel die Vorstellung einer "gemeinsamen Zukunft", und der Bericht ist in drei Teile gegliedert, die sich mit gemeinsamen Problemen, Herausforderungen und Anstrengungen beschäftigen. Die Betonung der Gemeinsamkeiten, die sich vor allem auf Industrie- und Entwicklungsländer beziehen, ist nicht ungewöhnlich für ein Dokument, das durch die UN initiiert wurde (durch einen Beschluß der UN-Vollversammlung von 1983). Dies ist allerdings nicht folgenlos für den Inhalt des Berichts geblieben, der letztlich einen Minimalkonsens zwischen Vertretern aus Nord und Süd darstellt. Einerseits liegt darin die Stärke dieses Berichts: Er problematisiert das Verhältnis von Wirtschaftsentwicklung und Umweltnutzung und betont die Verantwortung, die heute lebende Menschen für zukünftige Generationen haben. Andererseits hat die konzeptionelle und begriffliche Offenheit des Berichts dazu geführt, daß praktisch alle gesellschaftlichen Akteure sich der Zielsetzung Sustainable Development anschließen konnten, ohne daß dies eine Änderung von Politiken oder Verhaltensweisen nach sich ziehen mußte.

Intra- und intergenerative Gerechtigkeit sind zentrale Themen des Brundtland-Berichts. Intragenerative Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit zwischen heute lebenden Menschen, sie bezieht sich also unter anderem auf die oft als ungerecht empfundenen Beziehungen zwischen Entwicklungs- und Industrieländern. Intergenerative Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit zwischen heute lebenden Menschen und zukünftigen Generationen. Beide Gerechtigkeitskonzeptionen sind schon in der Definition von Sustainable Development des Brundtland-Berichts angelegt. Ein wichtiger Ausgangspunkt des Brundtland-Berichts ist die Annahme, daß die verschiedenen wahrgenommenen "Krisen" eng miteinander verwoben sind. Die verschiedenen Probleme – Umweltzerstörung, Armut, mangelhafte Gesundheitsversorgung, militärische Konflikte usw. – seien keine isolierten Phänomene. Folglich gibt es "keine Umweltkrise, keine Entwicklungskrise und keine Energiekrise – sie alle sind Teil einer einzigen Krise" (Hauff 1987, 4; meine Hervorhebung; s. auch Kirkby et al. 1995b, 2ff.).

Der Brundtland-Bericht prognostiziert trotz dieser Krisendiagnose explizit "kein Umsichgreifen des ökologischen Zerfalls" (Hauff 1987, 1, meine Hervorhebung) und setzt sich damit von der einflußreichen Studie des Club of Rome über Die Grenzen des Wachstums ab. Dies ist sicher beabsichtigt, da auch die Rhetorik des gesamten Berichts einen gewissen Optimismus hinsichtlich von Interventionspotentialen zur Krisenbekämpfung transportiert – ein klarer Unterschied zur pessimistischen Stimmung, die die Grenzen des Wachstums in den 1970ern verbreiteten. Im Gegensatz zu Meadows et al. (1990; 1992) sieht die Brundtland-Kommission "sehr wohl Chancen für eine neue Ära des wirtschaftlichen Wachstums" (Hauff 1987, 1f.). Der Brundtland-Bericht läßt die Hoffnung erkennen, daß es für diese eine Krise auch eine Lösung für die "eine Welt" gebe – und diese Lösung heißt Sustainable Development. Daß die genannten Krisen bewältigt werden müssen und daß aus Verantwortung für heutige und zukünftige Generationen ein Sustainable Development angestrebt werden soll, ist eine Wertentscheidung. Die Forderung nach Sustainable Development ist also ein ethisches Postulat. Erst die normative Entscheidung, Verantwortung für nachfolgende Generationen zu übernehmen, gibt dem Ziel eines Sustainable Development seinen Sinn (Harborth 1991, 51).

Dauerhafte Entwicklung ist nach der Definition des Brundtland-Berichts eine "Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können" (Hauff 1987, 46). (13) Diese Definition kann nach wie vor als die "offizielle" gelten (Kirkby et al. 1995b, 1). Die beiden Schlüsselbegriffe dieser Definition sind "Bedürfnisse" und "Beschränkungen": Bedürfnisse insbesondere der Ärmsten der Welt, "die überwiegende Priorität haben sollten", Beschränkungen der Befriedigung heutiger und zukünftiger Bedürfnisse durch Technologie und soziale Organisation (Hauff 1987, 46). Die Betonung menschlicher Bedürfnisse ist Dreh- und Angelpunkt der WCED-Konzeption: "Die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche ist das Hauptziel von Entwicklung" (Hauff 1987, 46). Dem Brundtland-Bericht liegt also eine anthropozentrische Sicht der Dinge zugrunde: Die Umwelt hat hiernach keinen intrinsischen Wert, sondern dient der menschlichen Bedürfnisbefriedigung. Ein wichtiger Unterschied zu konventionellen Entwicklungskonzepten liegt in der Betonung der Bedürfnisse zukünftiger Generationen, also im Konzept der intergenerativen Gerechtigkeit. Sustainable Development liegt dann vor, wenn inter- und intragenerative Gerechtigkeit verwirklicht sind. Entwicklung heißt Verwirklichung von Bedürfnisbefriedigung, bezieht sich also auf Lebensqualität. Das Adjektiv "nachhaltig" verweist darauf, daß diese auch in Zukunft erhalten werden soll. Durch diesen Aspekt erlangt die natürliche Umwelt ihre Bedeutung für diese Entwicklungskonzeption. Wie kann nun nach Ansicht der WCED eine solche Entwicklung erreicht werden? Nicht zuletzt, und hier liegt ein fundamentaler Unterschied zur Diskussion der 1970er Jahre, durch den "Problemlöser" Wirtschaftswachstum.

Die Bedeutung, die Wirtschaftswachstum im Rahmen der WCED-Strategie zukommt, wird in der deutschen Ausgabe schon im Vorwort des Herausgebers hervorgehoben: "Wir brauchen 'neues Wachstum' im Rahmen einer 'dauerhaften Entwicklung' unserer Welt" (Hauff 1987, XI). Dieses neue Wachstum ist letztlich nichts anderes als eine Fortsetzung des Wirtschaftswachstums unter Berücksichtigung von Umweltrestriktionen: "Eine dauerhafte Entwicklung bedeutet ein Wachstum, das die Grenzen der Umweltressourcen respektiert, das also die Luft, die Gewässer, die Wälder und Böden lebendig erhält, ein Wachstum, das die genetische Vielfalt erhält und das Energie und Rohmaterialien optimal nutzt" (Hauff 1987, XV). Der Bericht selbst beginnt mit der Beschreibung des Weges zu "globalem Bewußtsein" (Hauff 1987, 1). Auch hier wird die Bedeutung von Wirtschaftswachstum hervorgehoben. Allerdings wird auch auf die Problematik des Umweltverbrauchs der Industriestaaten im Vergleich zu den Entwicklungsländern hingewiesen: "Dauerhafte globale Entwicklung setzt voraus, daß die Wohlhabenderen ihre Lebensgewohnheiten (...) in einer Weise verändern, die den ökologischen Möglichkeiten unseres Planeten angemessen ist" (Hauff 1987, 10; meine Hervorhebungen). Freilich ist auch der Brundtland-Bericht mehr auf technische Lösungen konzentriert als auf solche, die Verhaltensänderungen implizieren: "Neue Technologien versprechen größere Produktivität, erhöhte Leistungsfähigkeit und geringere Verschmutzung der Umwelt, viele bringen jedoch die Risiken neuer giftiger Chemikalien und Abfallprodukte mit sich sowie schwerwiegenderer Unfälle von solcher Art und solchem Ausmaß, daß die heute vorhandenen Schutzmechanismen versagen" (Hauff 1987, 19). Die einschränkende Bemerkung zu den Potentialen technischer Lösungen beziehen sich also nicht auf die Grenzen der Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Zunahme des Umweltverbrauches, sondern auf (toxische) Risiken von Unfällen, für die Tschernobyl und Bophal Symbole geworden sind.

Die Krisen in vielen Entwicklungsländern werden nicht zuletzt auf eine "Periode des langsamen Wachstums in der Weltwirtschaft" zurückgeführt (Hauff 1987, 40). Als "strategische Erfordernisse" für eine dauerhafte Entwicklung werden denn auch die "Belebung des Wachstums" und die "Veränderung der Wachstumsqualität" genannt. Insbesondere zur Bekämpfung der Armut in den Entwicklungsländern sei dort ein Anstieg des Pro-Kopf-Wachstums notwendig (Hauff 1987, 53). "Wachstum muß deshalb in den Entwicklungsländern wiederbelebt werden, weil dort die Beziehungen zwischen wirtschaftlichem Wachstum, der Linderung von Armut und den Umweltbedingungen am unmittelbarsten sind. (...) Also impliziert dauerhafte Entwicklung ganz unmittelbar eine Anregung des Wachstums in der Dritten Welt" (Hauff 1987, 54f.). Auch wenn die Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum in den Entwicklungsländern kaum bestritten werden kann, ist der Umstand doch bemerkenswert, daß diesen Ländern explizit nachholende Entwicklung empfohlen wird (Minsch 1993, 16).

In einer "wechselseitig abhängigen Weltwirtschaft" (Hauff 1987, 54; das Wort "Globalisierung" war Ende der 1980er noch nicht in Mode) hängen die Wachstumschancen nach Ansicht der WCED jedoch von den "Grenzen und Mustern" des Wirtschaftswachstums der Industriestaaten ab. Nach Auffassung der WCED erfordert ein Wachstum in den Entwicklungsländern weiteres Wachstum in den Industriestaaten. Diese Position ist als "engine-of-growth-Theorie" (Harborth 1991, 60f., 105) bezeichnet worden, nach dem die Wachstumslokomotive des Nordens den Süden quasi aus der Armutszone zieht. "Mittelfristig ist bei den Industrieländern mit einem Wachstum von 3 bis 4% zu rechnen, das Minimum, das internationale Finanzinstitutionen für notwendig erachten, wenn diese Länder zur Entwicklung der Weltwirtschaft beitragen sollen" (Hauff 1987, 55). Dauerhafte Entwicklung erfordert nach dieser Sichtweise also Wirtschaftswachstum von 3 bis 4 Prozent in den Industriestaaten. Zielsetzung ist eine Neubelebung des Wachstums der Weltwirtschaft, eine "neue Ära des Wachstums der Weltwirtschaft", mithin Strukturen von Entwicklung, die "weit weniger materialintensiv" sind (Hauff 1987, 92f.). Die WCED spricht sich also unzweideutig für eine weltweite Wachstumsbeschleunigung aus, wenn diese auch "mit Rücksicht auf die umweltbedingten Beschränkungen" einhergehen soll (Hauff 1987, 92).

Die WCED erkennt, daß ein solches beschleunigtes Wachstum vom Umweltverbrauch entkoppelt werden muß, um nicht negative ökologische Folgen zu zeitigen: "Diese Wachstumsraten können dauerhaft im Bezug auf die Umwelt sein, wenn die Industrienationen weiterhin wie kürzlich ihr Wachstum derart verändern, daß weniger material- und energieintensiv gearbeitet wird und daß die effiziente Nutzung von Materialien und Energie verbessert wird" (Hauff 1987, 55). Dieser Satz hat wichtige Implikationen: Erstens ist nach Auffassung der WCED zu konstatieren, daß es in den Industrieländern tatsächlich ("kürzlich") qualitatives Wachstum gegeben hat, zweitens liegt dieser Aussage eine am Material- und Energiedurchsatz orientierte Definition von Wachstumsqualität zugrunde und drittes wird behauptet, daß eine effizientere Nutzung möglich ist, welche dauerhafte Entwicklung sicherstellt. Die Orientierung am Material- und Energiedurchsatz markiert eine wichtige Differenz zu Positionen, die auf einzelne Umweltprobleme – namentlich der Belastung der Umweltmedien – fixiert ist. Die Bedeutung, welche die WCED dem Durchsatz beimißt, kommt auch im Abschnitt über die "Veränderung der Wachstumsqualität" zum Ausdruck, der mit folgendem Satz beginnt: "Dauerhafte Entwicklung bedeutet mehr als Wachstum. Sie erfordert einen Wandel in der Art des Wachstums, damit es weniger material- und energieintensiv wird und gerechter in den Folgen ist" (Hauff 1987, 56). Die "Gerechtigkeit der Wachstumsfolgen" bezieht sich auf das Problem der Einkommensverteilung, deren Verbesserung ein wichtiges Ziel des Brundtland-Berichts ist (Hauff 1987, 56). Im Hinblick auf die Bedeutung des Material- und Energiedurchsatzes ist jedenfalls festzustellen, daß der Brundtland-Bericht sie anerkennt und damit über eine Sichtweise hinausgeht, die an der Lösung von Einzelproblemen orientiert ist. Dabei wird gesehen, daß Produktion die Umwelt "unausgesetzt" verschlechtert oder verbessert (Hauff 1987, 205). Verbesserung und Verschlechterung stehen sich allerdings nicht symmetrisch gegenüber: Die Irreversibilität biophysikalischer Vorgänge impliziert eine "Schlagseite" ökonomischer Prozesse "zugunsten der Verschlechterung" und gleichzeitig erhebliche Probleme für Versuche, die Umwelt zu verbessern (vgl. Kapitel 4).

Auch wenn die Perspektive des Brundtland-Berichts im Hinblick auf anthropogene Umweltveränderungen also weiter gefaßt ist als eine nur schadstofforientierte Sichtweise: Der Bericht ist unzweideutig wachstumsorientiert. Die Konzeption eines Sustainable Development ist bei der Brundtland-Kommission explizit auf die Zielsetzung eines Zeitalters qualitativen Wachstums gerichtet – das Ziel wirtschaftlicher Expansion wird nicht aufgegeben, sondern eher noch revitalisiert. Die von Vornholz (1993, 112) formulierte Erwartung, "daß durch das Sustainable Development-Konzept die Diskussion um die Konzeption des qualitativen Wachstums abgelöst werden kann" (meine Hervorhebung), wird durch den Brundtland-Bericht deshalb in keiner Weise gestützt. Dies hat auch die wichtigste institutionelle Folge des Brundtland-Berichts gezeigt: die UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED). Die UNCED-Konferenz beschloß verschiedene Dokumente: die Konvention über Artenvielfalt, die Rahmenkonvention über Klimaveränderungen, die sogenannte Walderklärung, die Rio-Deklaration und schließlich die Agenda 21. Außerdem wurde vereinbart, Verhandlungen über eine Konvention einzuleiten, die die Bekämpfung der Wüstenbildung voranbringen soll. Die Rio-Deklaration ist eine in Inhalt und Diktion feierliche Erklärung der gemeinsamen Verantwortung für die "eine Welt" und spiegelt auch insofern die Stoßrichtung des Brundtland-Berichts wider. Ebenso ist die Agenda 21 ein Reflex auf die vom Brundtland-Bericht beschriebenen Krisen und Lösungsmöglichkeiten. Die Agenda 21 ist, anders als die allgemein gehaltene Rio-Deklaration, ein Aktionsprogramm für eine nachhaltige Entwicklung, das konkrete Schritte aufzeigen soll, wie eine solche Entwicklung in Industrie- und Entwicklungsländern erreicht werden kann. Die Agenda 21 ist völkerrechtlich zwar nicht bindend, bei ihrer Verabschiedung wurde aber erwartet, daß dieses Dokument politischen Handlungsdruck erzeugt. Zweifelsfrei hat UNCED ganz wesentlich zur Etablierung des Begriffs Sustainable Development im internationalen Diskurs über Umwelt und Entwicklung beigetragen. Für einige Autoren ist Sustainable Development seit UNCED das "zentrale Dogma" (Kopfmüller 1993, 6) der Umweltdiskussion.

 

3.3.2. Über den Begriff der Nachhaltigkeit

Costanza/Patten (1995) argumentieren, daß Sustainable Development kein Definitions-, sondern ein Vorhersageproblem aufwerfe: Nachhaltigkeit könne immer nur im Nachhinein festgestellt werden (ähnlich de Graaf et al. 1996, 214). Freilich ist damit das Definitionsproblem nicht beseitigt, denn erstens bedarf es einer Definition, um ex post-Bewertungen machen zu können, und zweitens kann Sustainable Development als Leitbild seine Funktion nur dann erfüllen, wenn man sich wenigstens darum bemüht, plausible und konsistente Definitionen aufzustellen. Ich will auf die Definitionsgeschichte nur recht kurz eingehen. (14) Die Begriffe "Sustainable Development" und "Sustainability" tauchen jedoch schon vor dem Erscheinen des Brundtland-Berichts 1987 im Kontext von Beiträgen zum Umweltproblem auf. Regelmäßig wird hier die World Conservation Strategy (IUCN 1980) zitiert, die diesen Begriff systematisch in der Bedeutung verwendet, die auch dem Brundtland-Bericht zugrundeliegt. Freilich ist der Begriff schon vorher verwendet worden, insbesondere in Beiträgen zum ökologischen Diskurs der 1970er Jahre. Außerhalb der Umweltdebatte hat dieser Begriff eine lange Geschichte. Systematisch verwendet wurde der Begriff "nachhaltig" bekanntlich erstmals im deutschsprachigen Raum als Terminus der Forstwirtschaft. Eine frühe Bedeutung des verwandten mittelhochdeutschen Wortes nach-eckerisch ist, daß "die schweine so lange in die mastwaldung gelassen wurden, als sie noch etwas zu fressen fanden" (Lexers Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, zit. in Kehr 1993, 595). "Halten" hat etymologisch die Grundbedeutung hüten, schützen, bewahren, erhalten. Der Gedanke der Dauer ist also mit diesem Terminus verbunden (Kehr 1993, 596). Kehr (1993, 598) weist darauf hin, daß Nachhaltigkeit zwar ein Fachbegriff des Forstwesens sei, "aber das Wort ist kein Terminus im engeren Sinne, dessen Definition man ein für allemal verbindlich festlegen kann. (...) Es ist ein betont sozialethischer Begriff, und von da sollte es nicht verwundern, wenn schichtenspezifische und regionale Varianten in Form und Inhalt auftreten, nicht nur wegen der Übersetzungsprobleme" (Kehr 1993, 598). Die erste lexikalische Erwähnung der Forstwortes "nachhaltig" erfolgt 1780 in der Onomatologia forestalis-piscatoria-venatoriae Supplementum oder Beyträge und Verbesserung des Vollständigen Forst-Fisch- und Jagd-Lexicon.

Aus dem forstwirtschaftlichen deutschen Begriff Nachhaltigkeit wurde der entsprechende englische Begriff Sustainability, der dann für die aktuelle Debatte stilbildend war. In der deutschen Rezeption ist dann aus Sustainability wieder Nachhaltigkeit geworden. Im Laufe dieser Rezeption sind allerdings verschiedene Begriffe für das Brundtlandsche Sustainable Development vorgeschlagen worden: u.a. zukunftsfähige (Simonis, Wuppertal Institut), dauerhaft-umweltverträgliche (SRU) und schließlich nachhaltige Entwicklung. Heins (1994, 20) spricht gar von einer "zukünftigen Entwicklung", die Enquete-Kommission (1994, 50) von einer "nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung", die Kommission der 13. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages nennt sich folgerichtig "Enquete-Kommission 'Schutz des Menschen und der Umwelt – Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung'". Die Debatte über die tatsächlichen und behaupteten unterschiedlichen Konnotationen der verschiedenen Begriffe soll hier nicht referiert werden. Zum Übersetzungsproblem so viel: Der SRU (1994, Rdnr. 6) weist auf das Problem hin, daß der Begriff "nachhaltig" im normalen Sprachgebrauch "eher mit 'besonders wirkkräftig', 'nachdrücklich', 'intensiv' gleichgesetzt wird." Dies mag der Fall sein, gleichwohl wird der Begriff nachhaltige Entwicklung im deutschsprachigen Raum von so vielen verwendet, daß er als akzeptiert gelten kann, nicht zuletzt aufgrund der langen Tradition dieses Begriffes in der Forstwirtschaft (s. auch Busch-Lüty 1992, 8)(daß Sustainability "im Deutschen zwingend" [Busch-Lüty 1992, 7] mit Nachhaltigkeit zu übersetzen ist, ist freilich nicht zu sehen). Falsch ist die Auffassung von Arts (1994, 8): "Wörtlich bedeutet nachhaltig (sustainable) 'fast für immer'." "Sustain" ist am bestem mit "aufrechterhalten" übersetzt, "sustained" mit anhaltend. "Aufrechterhaltbarkeit" (Meadows et al. 1992, 298) ist wohl die treffendste, wenn auch wohl kaum durchsetzungsfähige Übersetzung für Sustainability. Auch "dauerhaft erhaltbar" oder "zukünftig existenzfähig" (Meadows et al. 1992, 19) bringen das Gemeinte gut auf den Begriff: Es geht um die Erhaltung einer bestimmten Zielgröße im Zeitablauf.

Das Aufzählen verschiedener Definitionen von Sustainable Development ist als "popular pastime" (Pearce et al. 1993, 7) bezeichnet worden (s. auch die Definitionssammlungen in Pearce et al. 1989, 173ff.; Perman et al. 1996, 57; Renn 1994, 37). Statt den aussichtslosen (und den Rahmen dieser Arbeit sprengenden) Versuch zu unternehmen, eine weitere "gallery of definitions" zu eröffnen, will ich nur wenige verschiedene Definitionen zitieren, um die wesentlichen Dimensionen nachhaltiger Entwicklung herauszuarbeiten. Einer der Schlüsseltexte der Debatte über Sustainable Development, der Blueprint for a Green Economy, definiert nachhaltige Entwicklung als "non-declining human welfare over time – that is, a development path that makes people better off today but makes people tomorrow have a lower 'standard of living' is not 'sustainable'" (Pearce et al., 1989; s. auch Pearce et al. 1994, 470). Pearce et al. betonen also inter- und intragenerative Gerechtigkeit – verstanden als adäquate Bedürfnisbefriedigung. Die Weltbank bezieht sich vor allem auf die Entwicklungsländer, wenn sie Sustainable Development als "development that lasts" definiert (World Bank 1992, 34). Von "development that lasts" sprechen auch Pearce et al. (1993, 7), die daraus folgern, daß nachhaltige Entwicklung "is continuously rising, or at least non-declining, consumption per capita, or GNP, or whatever the agreed indicator of development is" (Pearce et al. 1993, 8; s. auch Pearce 1997, 295). Auch hier wird die Zukunft betont, allerdings nicht mit Bezug zur Umwelt und auch nicht zu menschlichen Bedürfnissen, sondern im Hinblick auf Konsum oder gar das Bruttosozialprodukt. Die Formulierung "whatever the agreed indicator (...) is" verweist auf die Problematik, wie denn zukunftsfähige Entwicklung gemessen werden könnte. Entscheidend ist jedoch, daß nicht Konsum an kommende Generationen weitergegeben werden kann, sondern nur Kapazitäten zu dessen Ermöglichung.

Darauf deutet auch die Definition von Solow (1993, 163) hin: "If 'sustainability' is anything more than a slogan or expression of emotion, it must amount to an injunction to preserve productive capacity for the indefinite future" (meine Hervorhebung; Solow verwendet Sustainability und Sustainable Development synonym). Auch Solow betont den Zukunftsaspekt, verweist aber nicht auf Konsum oder Bedürfnisbefriedigung, sondern auf die Notwendigkeit einer Entwicklung, die die produktiven Kapazitäten zur Bedürfnisbefriedigung erhält. Die Betonung des Erhalts von Kapazitäten erscheint auch deshalb sinnvoll, weil kaum davon ausgegangen werden kann, daß Präferenzen und Technologien über mehrere Generationen hinweg konstant sind (Munasinghe 1993, 3).

Der Umweltaspekt wird von Costanza et al. (1991, 8f.) betont, die Sustainable Development als ein Verhältnis von Wirtschaftssystem und Umwelt definieren, in dem "1) human life can continue indefinitely, 2) human individuals can flourish, and 3) human cultures can develop; but in which effects of human activities remain within bounds, so as not to destroy the diversity, complexity, and function of the ecological life support system" (meine Hervorhebung). Punkt 1 verweist auf die Bedeutung der natürlichen Umwelt als Grundlage menschlichen Lebens und auf den unendlichen Zeithorizont der Forderung nach Sustainable Development. Punkt 2 bezieht sich auf Bedürfnisbefriedigung, geht aber darüber hinaus, indem Individuen "gedeihen" können, schließt also auch eine – allerdings nicht explizierte – Vorstellung von "gutem Leben" ein. Punkt 3 bezieht sich auf die Entwicklungskomponente im Konzept des Sustainable Development, betont aber, daß eine nachhaltige Entwicklung innerhalb bestimmter Grenzen verlaufen muß, um die natürlichen Lebensgrundlagen nicht zu gefährden.

Allen Definitionen von Sustainable Development ist gemeinsam, daß die Definition des Brundtland-Berichts konzeptioneller Ausgangspunkt ist (und dies bis auf weiteres wohl auch bleiben wird). Anthropozentrik ist allen Definitionen insofern gemeinsam, als die Befriedigung heutiger und zukünftiger Generationen im Mittelpunkt steht. Erst daraus gewinnt die ökologische Dimension ihre Bedeutung: Sie ist eine wichtige Voraussetzung für sozioökonomische Entwicklung. "Wie" wichtig diese Voraussetzung ist, ist Gegenstand der Operationalisierungsdebatte (weak vs. strong sustainability, s. Abschnitt 4.3.). Soziale und ökologische Fragen werden in allen Definitionen berührt. Freilich ist auch eine dritte Dimension implizit oder explizit allgegenwärtig: die wirtschaftliche.

Pearce et al. (1993, xiv) betonen die Unterscheidung von Nachhaltigkeit und nachhaltiger Entwicklung: "(W)hat is optimal may not be sustainable (...), and what is sustainable may simply be awful. It follows that sustainability cannot be an over-riding, single dimension objective for society (...) Sustainability reminds us that there are future generations, that they are with us now through the very fact that generations overlap each other, and that we can very easily shift unacceptable burdens on to them. Sustainable development, as opposed to sustainability, reminds us of other social objectives, most notably the plight of the poorest in the world community" (meine Hervorhebungen; ähnlich Reid 1995, 230). Auch Pearce et al. sehen in der Nachhaltigkeit den engeren Begriff, der die Rechte zukünftiger Generationen und deshalb den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen betont. Nachhaltige Entwicklung dagegen, so könnte man die eben zitierte Formulierung interpretieren, betont auch die Bedürfnisse heutiger Generationen und also auch den "Weg in die Zukunft".

Die weit verbreitete Gleichsetzung von Sustainability und Sustainable Development ist – neben der sprachlichen Praktikabilität – vor allem auf den "ökologischen Bias" der Debatte über Sustainable Development zurückzuführen. Insbesondere in den Industrieländern hat die Thematisierung des Umweltproblems im Rahmen der Diskussion über Sustainable Development dazu geführt, daß diese Debatte einen "ökologischen Bias" aufweist. Für Kirkby et al. (1995b, 10) markiert die UNCED-Konferenz hier eine wichtige Wende: "What is striking about UNCED is how far the agenda had been turned 'green' and anti-developmental in the five years from the Brundtland-Report. (...) The North turned 'green' and the South was turned away." In der Tat findet dieser Eindruck z.B. in der Medienberichterstattung seine Entsprechung: Zumindest im Norden ist Sustainable Development vor allem ein ökologisches Thema.

Ökologischer Bias heißt: Obschon bereits in der Formulierung des Brundtland-Berichts implizit die drei Dimensionen sozial – wirtschaftlich – ökologisch angesprochen sind, wird die Diskussion über die Zielsetzung eines Sustainable Development leicht auf die ökologische Dimension reduziert. Harborth (1991, 7) beispielsweise behauptet, die Zielsetzung eines Sustainable Development sei "grundsätzlich ökologischer Natur". Und Lipietz (1997, 674) meint, nachhaltige Entwicklung sei "der politisch korrekte Euphemismus der 'ökologischen Entwicklung'." Diese Engführung hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß ein natürliches Trägersystem notwendige Bedingung dafür ist, daß Gesellschaften überhaupt existieren und also sich entwickeln können. Sustainability ist also Voraussetzung für Sustainable Development. Während nun die Mainstream-Kritik dieses Faktum nicht vollständig zur Kenntnis zu nehmen scheint, wird von den "Ökologen" oft vergessen, daß zumindest in der nicht-biozentrischen Version Sustainable Development vor allem ein Konzept ist, das die dauerhafte Befriedigung menschlicher Bedürfnisse sicherstellen soll.

Sustainable Development bezieht sich auf sozioökonomische Entwicklung und umfaßt mehrere Dimensionen, z.B. Ökologie, Wirtschaft, Soziales. Sustainability ist ein engerer Begriff, er bezieht sich auf die ökologische Dimension von Sustainable Development und ist vor allem an der Formulierung "nachhaltiger Nutzungsregeln" orientiert. Sustainable Development bezieht sich also auf die Nachhaltigkeit eines Entwicklungspfades in seinen verschiedenen Dimensionen, während der Begriff der Nachhaltigkeit sich lediglich auf den ökologischen Aspekt bezieht. Anders formuliert: "Entwicklung verweist auf wirtschaftliche und soziale Aspekte, Nachhaltigkeit auf die ökologischen. Folgerichtig umfaßt nachhaltige Entwicklung eine Synthese beider Bereiche" (Arts 1994, 24). Während Sustainable Development sich also in der Regel auf das Konzept der (mindestens) "drei Säulen" Umwelt, Wirtschaft, Soziales bezieht, geht es bei Sustainability lediglich um die "ökologische Säule". In einem anderen Sinne differenzieren Yanarella/Levine (1992), für die Sustainable Development das Konzept meint, Sustainability dagegen die reale Entwicklung.

 

3.3.3. Dimensionen nachhaltiger Entwicklung

Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung kann also als "Zieletrias" beschrieben werden: Eine nachhaltige Entwicklung liegt dann vor, wenn die Ökosphäre geschützt wird, die wirtschaftliche Entwicklung stabil verläuft und Lebenschancen gerecht verteilt sind (Hinterberger/Welfens 1994, 405). Wichtig ist hier, daß "stabile wirtschaftliche Entwicklung" und "gerechte Verteilung" keineswegs Ziele sind, die erst durch den Diskurs über Sustainable Development auf die wissenschaftliche und politische Agenda gekommen sind. Das Neue – und Entscheidende – an nachhaltiger Entwicklung ist, daß nicht nur die Bedürfnisse der heute Lebenden, sondern auch die zukünftiger Generationen befriedigt werden. Über dieses Leitbild der intergenerativen Gerechtigkeit – also ein normatives Kriterium – gerät der Schutz der Ökosphäre in das Zentrum dieses Konzepts: Die natürliche Umwelt ist Grundlage von Entwicklung, sie zu schützen, ist damit notwendige Bedingung für die Erreichung der anderen Ziele. Diese Struktur hat dazu geführt, daß oft ausschließlich der Umweltaspekt der Nachhaltigkeit analysiert wird, die soziale und wirtschaftliche Dimension aber weitgehend ausgeklammert bleiben. Das gilt für den gesellschaftlich-politischen Diskurs vielleicht noch mehr als für den wissenschaftlichen. Diese Einengung wird dem Konzept jedoch nicht gerecht und erscheint auch wenig hilfreich: Ist doch ein Schutz der Ökosphäre aus gesellschaftlicher Sicht kaum ein anstrebenswertes Ziel, wenn damit z.B. Massenarbeitslosigkeit oder die "Abkopplung" ganzer Regionen von wirtschaftlicher Entwicklung verbunden ist.

Ziel nachhaltiger Entwicklung ist die Erhaltung menschlicher Gesellschaften und die Sicherung der Bedürfnisbefriedigung heute und in Zukunft. Erst daraus ergibt sich die Frage, "how should we treat natural environments in order that they can play their part in sustaining the economy as a source of improved standard of living" (Pearce/Turner 1990, 43; meine Hervorhebung). Ähnlich die Enquete-Kommission (1994, 54): "Das Leitbild einer nachhaltig zukunftsfähigen Entwicklung zielt darauf ab, die Natur als Produktivkraft und Lebensgrundlage einschließlich ihres kulturellen, ästhetischen und Erholungswertes zu erhalten und damit eine wichtige Voraussetzung für eine stabile wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu sichern" (meine Hervorhebungen). Es geht also bei dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung nicht primär, sondern sekundär um die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. "Umweltschutz" als solcher ist nur ein – wenn auch wichtiger – Teil von Sustainable Development. Daß die natürliche Umwelt ein wesentlicher Faktor für den Lebensstandard in Gesellschaften anerkannt wird, ist ein wesentliches Ergebnis des Diskurses über Sustainable Development. Damit hat der Diskurs über Sustainable Development auch dazu geführt, daß die Ökologiefrage aus ihrer Isolierung befreit und ihre Bedeutung für sozioökonomische Entwicklung anerkannt wurde. Der SRU (1996, Rdnr. 4) sieht hierin die "wegweisende Bedeutung" des Konzepts.

Die soziale Dimension liegt in der an menschlichen Bedürfnissen orientierten Forderung nach intra- und intergenerativer Gerechtigkeit. Gerechtigkeit zwischen heute lebenden Menschen (intragenerative Gerechtigkeit) bezieht sich nicht zuletzt auf die Ungleichverteilung der Lebenschancen zwischen Entwicklungs- und Industrieländern; dies ist schon im Brundtland-Bericht angelegt. Gerechtigkeit zwischen Generationen (intergenerative Gerechtigkeit) bezieht sich auf die Folgen, die die Handlungen heutiger Generationen auf die Lebenschancen von in Zukunft lebenden Menschen hat. Im Hinblick auf die soziale Dimension wird oft das Umsetzungsproblem betont: "Ökologische Modernisierung ist ohne Sozialverträglichkeit nicht durchsetzbar" (Enquete-Kommission 1994, 61; meine Hervorhebung). Für diese Sozialverträglichkeit sei auch die Akzeptanz von Maßnahmen wichtig, folglich könne Sozialverträglichkeit "nicht postuliert werden, sie muß wachsen und herausgebildet werden" (Enquete-Kommission 1994, 62). In der Tat ist unstrittig, daß die mit dem Ziel eines Sustainable Development notwendig werdenden Anpassungsmaßnahmen nur dann politisch durchsetzbar sind, wenn sie mit gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen kompatibel sind. Ebenso unumstritten ist die Auffassung, daß hierfür ein möglichst breit angelegter gesellschaftlicher Diskurs erforderlich ist (vgl. auch Hinterberger et al. 1996, 308f.). Gleichwohl sollte nicht unterschlagen werden, daß die soziale Dimension nachhaltiger Entwicklung auch ohne den Durchsetzungsaspekt unverzichtbarer Teil und in der Tat Ausgangspunkt dieses Konzepts ist.

Sowohl bei ökologischen als auch bei sozialen Zielen, so die Enquete-Kommission (1997, 33), stehe das normative Element im Vordergrund, und dies sei bei ökonomischen Zielen nicht unbedingt der Fall. Als Methode zum Ausgleich unterschiedlicher Ansprüche würden wirtschaftliche Aspekte automatisch mit einbezogen. Man könne die wirtschaftliche Dimension aber auch eigenständig behandeln, und dann ließen sich aus dieser normativen Bewertung auch eigene Entwicklungsziele formulieren. Die meisten Autoren behandeln wirtschaftspolitische Ziele als eigenständigen Bestandteil von Sustainable Development. Dabei stehen traditionelle wirtschaftspolitische Ziele, ökonomische Effizienz und der Erhalt der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftssystems im Vordergrund. Traditionelle wirtschaftspolitische Ziele sind angemessene Beschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, stabiles Preisniveau und stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum. In der Bundesrepublik sind diese Ziele in Form des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes auch in juristische Form gegossen und als "magisches Viereck" der Wirtschaftspolitik bekannt. Die Frage der Priorität dieser Ziele ist nicht unumstritten, wie auch die Auseinandersetzung über die Bedeutung von Preisstabilität und Beschäftigung im Post-Maastricht-Prozeß der Europäischen Union zeigt. Unumstritten schien lange Zeit lediglich die Auffassung zu sein, daß Wirtschaftswachstum als "Problemlöser" anzusehen ist. Wirtschaftstheorie und -politik sind von dieser Auffassung geprägt. Nun ist es gerade dieses Ziel, das im Rahmen des "magischen Dreiecks" (Enquete-Kommission 1994, 54; SRU 1996, Rdnr.17) Soziales – Wirtschaft – Umwelt in Frage gestellt wird. Daß stabile Wirtschaftsentwicklung Teil eines Sustainable Development sein muß, wird von fast allen Autoren hervorgehoben. Und diese Stabilität wird gerade im Kontext ökologischer Restriktionen zum Problem.

Von entscheidender Bedeutung für die ökonomische Dimension nachhaltiger Entwicklung sind für die Enquete-Kommission die Sicherung des Naturkapitals und der "wirtschaftlichen Funktionsfähigkeit" (Enquete-Kommission 1994, 481). Das Wachstumsziel wird beibehalten, es sei aber "entsprechend dem Leitbild einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung fortzuentwickeln" (Enquete-Kommission 1994, 484). Im Zusammenhang mit der ökonomischen Dimension nachhaltiger Entwicklung setzt sich die Erkenntnis durch, daß nicht nur die natürliche Umwelt, sondern auch die Wirtschaft ein offenes, evolvierendes System ist, das durch Eingriffe in seiner Anpassungsfähigkeit gefährdet und damit überfordert werden kann (Hinterberger et al. 1996, 138ff.). Eine solche Überforderung kann zu schwerwiegenden Stabilitätsstörungen führen, die unmittelbar soziale, aber letztlich auch ökologische Folgewirkungen haben können. Der SRU (1994, Rdnr. 119) formuliert dies folgendermaßen: "Beim ökonomischen System handelt es sich um einen komplexen Beziehungszusammenhang, in den man nicht in beliebiger Weise intervenieren kann, ohne daß unerwünschte Ausweichreaktionen sowie ernsthafte Funktionsstörungen in Form von Versorgungsengpässen, inflationären Tendenzen oder Arbeitslosigkeit auftreten. Die oft schwer durchschaubare Eigengesetzlichkeit des ökonomischen Systems wird bei manchen gut gemeinten Vorschlägen zur Behebung offenkundiger Mißstände – nicht nur im Bereich der Umwelt – leicht übersehen."

Im Kontext eines Sustainable Development müssen die Bedingungen für die "kreative und adaptive Kapazität des ökonomischen Systems" berücksichtigt werden, nicht zuletzt weil "Innovativität und Flexibilität" einem Sustainable Development förderlich seien (SRU 1994, Rdnr. 122). Die Bedeutung der "Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft" im Kontext der Zielsetzung eines Sustainable Development wird auch von der Enquete-Kommission (1993, 56ff., bes. 58; 1994, 58ff.) hervorgehoben. Sustainable Development kann nicht nur durch Umwelt-, sondern auch durch wirtschaftliche und soziale Risiken gefährdet sein – dabei gilt es u.a. zu berücksichtigen, daß auch wirtschaftliche Anpassungsprozesse oft erst zeitverzögert spürbar werden (Klemmer 1994, 16, 18f.).

Die Einheit von sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Dimension, so der SRU (1994, Rdnr. 7), dürfe nicht als Harmoniemodell verstanden werden, "bleibt doch das Verhältnis der drei Komponenten zueinander zugleich stets ein Verhältnis konfliktgeladener Spannung" (meine Hervorhebung). Daß soziale, wirtschaftliche und ökologische Ziele sich nicht harmonisch zueinander verhalten, sondern oft Tradeoffs zwischen ihnen bestehen, wird von der Mehrheit der Beiträge zu diesem Thema angenommen. In der Tat besteht ein Spannungsverhältnis zwischen traditionellen wirtschaftlichen Zielen und dem Bestreben, die Funktionsbedingungen natürlicher Systeme zu erhalten, wie auch diese Arbeit zeigen wird.

 

3.3.4. Sustainable Development als Leitbild

Sustainable Development ist kein genau zu definierendes und operationalisierendes Ziel, sondern ein Leitbild (Busch-Lüty [1994b, 218] vergleicht diese Funktion mit der eines Polarsterns) und hat damit den Charakter einer "regulativen Idee" (Enquete-Kommission 1997, 34). Es geht bei der Zielsetzung eines Sustainable Development darum, was heute zu tun ist, um die Lebenschancen zukünftiger Generationen nicht zu gefährden. Praktisch kann es folglich in der Tat nur darum gehen, das Potential für zukünftige Bedürfnisbefriedigung zu erhalten. In dieser Hinsicht kann aus den verschiedenen Definitionen, die auf Bedürfnisbefriedigung, Wohlfahrt, Konsum, Nutzen usw. abstellen, hergeleitet werden, daß die entscheidende Aufgabe im Sinne eines Sustainable Development darin liegt, die Bedingungen für die Lebensmöglichkeiten zukünftiger Generationen zu erhalten. Zukünftiger Konsum, die Wohlfahrt von Menschen, die im Jahre 2100 leben, der Nutzen der nächsten Generation usw. können heute nicht erhalten werden. Gesichert werden kann nur die Kapazität, daß Konsum, Wohlfahrt usw. in der Zukunft möglich sind. Unter Berücksichtigung der intragenerativen Gerechtigkeit, die sich auf heute lebende Menschen bezieht, darf diese Sicherung nicht auf Kosten der heutigen Generation geschehen. Es geht also um das "'Offenhalten möglichst vieler Zukünfte'" (Busch-Lüty 1994b, 221) und die Verhinderung einer "Selbstdestruktivität eines Entwicklungsprozesses" (Kopfmüller 1993, 6).

Während es bei Rawls darum geht, die Schlechterstellung zukünftiger Generationen im Hinblick auf Wohlstand zu vermeiden, steht in der üblichen Interpretation des Hickschen Einkommensbegriffs die Erhaltung des Kapitals im Vordergrund, mithin die Erhaltung des Potentials zur Produktion, die notwendige Bedingung für Wohlstand ist. Freilich hat auch Rawls darauf hingewiesen, daß im Rahmen seiner Gerechtigkeitstheorie intergenerative Transfers auch von Kapital notwendig erscheinen, zumindest bis zu einem gewissen Punkt (Sparregeln) Entscheidend ist hier, daß Sustainable Development Wohlstand, Konsum usw. in der Zukunft nur dadurch sichern kann, daß Produktionspotentiale, die für das Leben zukünftiger Generationen notwendig sind, nicht durch heute lebenden Menschen geschädigt oder zerstört werden. Sustainable Development erfordert, daß diese Potentiale erhalten werden.

Soziale und wirtschaftliche Ziele sind im Kontext von Entwicklungstheorie und -politik keine neuen Zielsetzungen. Im Kontext der Zielsetzung eines Sustainable Development, das die ökologische Frage gleichwertig mit einbezieht, müssen wirtschaftliche und soziale Ziele aber einer neuen Reflexion und ggf. einer Revision unterzogen werden. Die Enquete-Kommission (1997, 33) meint, diese Ziele hätten "schon viel länger einen gesellschaftlichen Reifeprozeß hinter sich". Die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen ist durch die Forderung nach intergenerativer Gerechtigkeit gleichsam zum dritten Ziel von Entwicklung geworden (Munasinghe 1993, 2). "Entwicklung" im Kontext der Debatte um Sustainable Development bezieht sich jedoch nicht nur auf die Entwicklungsländer, sondern stets auch auf die Industriestaaten.

Den Industrieländern kommt schon deshalb eine besondere Verantwortung zu, weil sie heute einen Großteil des globalen Umweltverbrauchs induzieren. Während in den Ländern des Südens nach allgemeiner Einschätzung hohe Wachstumsraten des Pro-Kopf-Einkommens unerläßlich sind, stellt sich für die Industriestaaten vor allem das Problem, den Umweltverbrauch zu reduzieren. Auf dieses Problem wird auch im Brundtland-Bericht hingewiesen: "Jede weitere Person in einem Industrieland verbraucht erheblich mehr und übt erheblich mehr Druck auf die natürlichen Ressourcen aus als jede weitere Person in der Dritten Welt. Für die Erhaltung der Ressourcen sind Gewohnheiten und Vorlieben des Verbrauchs genauso wichtig wie die Anzahl der Verbraucher" (Hauff 1987, 97).

 

3.4. Wie "dauerhaft" soll Entwicklung sein? Das Problem relevanter Zeiträume

Zeit, die "great 'independent variable' of human experience" (Fisher 1965, 51), spielt für das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung eine wichtige und komplizierte Rolle. Die grundlegende Bedeutung des Wortes Sustainability, so Ekins (1994, 30), ist die "capacity for continuance indefinitely into the future." Mit Blick auf die wirtschaftswissenschaftlichen Diskussionen über den Kapitalbegriff stellt Fisher (1965, 57) fest: "We are told, for instance, that capital is 'wealth for future use.' But 'future' is an elastic term" (meine Hervorhebung). Zukunft ist, wie Fisher richtig feststellt, ein elastischer Begriff. Entscheidungsfindung, so Amelung (1992, 417f.), erfordere aber einen endlichen Zeithorizont, und da die Auswahl eines solchen Zeitraums willkürlich sei, hänge die Konkretisierung von Sustainability vom gewählten Zeithorizont ab. Dennoch wird eine Konkretisierung des Zeithorizonts so gut wie niemals geleistet. Selbst Vornholz (1997), der eine "neue Sicht der Nachhaltigkeit" aufzuzeigen meint und die Konkretisierung der Zeitperspektive für das wichtigste Merkmal dieser neuen Sicht hält, bleibt eine solche Konkretisierung letztlich schuldig. Was also ist der angemessene Zeithorizont bei der theoretischen Konzeptualisierung und der praktischen "Planung" nachhaltiger Entwicklung? Die Ewigkeit? Jahrtausende? Das Erreichen vollkommener Entropie? Zeiträume, in denen der Mensch genetisch konstant bleibt? Perman et al. (1996, 56) vertreten die Auffassung, daß "it is probably neither necessary nor even fruitful to decide upon some particular time horizon, as sustainability questions can be addressed in a two-period framework. Thus, we may choose to define a sustainable state as one in which some relevant magnitude is bequeathed to the following period in at least as good a state as in the present period." Dadurch, daß dies für alle aufeinanderfolgenden Perioden gelten soll, ist freilich ein unendlicher Zeithorizont impliziert.

Sustainable Netherlands orientiert sich am Jahr 2010 und betont, dies sei "nicht arbiträr. Um die möglichen technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen nicht aus den Augen zu verlieren, ist eine Vorausschau in die fernere Zukunft nicht möglich. Andererseits ist zur Realisierung der erforderlichen Veränderungen viel Zeit nötig. Daher reicht ein Zeitraum von etwa 10 Jahren nicht aus. Ein dritter Grund ist das Ziel, die großen Umweltprobleme in gut einer Generation zu lösen, damit sich nicht die nächste Generation mit dem Erbe einer ausverkauften Erde auseinandersetzen muß" (ISOE/Milieudefensie 1994, 22). Auch Sustainable Europe (Friends of the Earth 1995) orientiert sich am Jahr 2010. Das UBA (1997, 36) orientiert sich in seinen Szenarien ebenfalls am Jahr 2010, weil der Zeitraum bis dahin noch halbwegs abschätzbar sei und der Zeitraum von 15 Jahren den Vorteil habe, "daß der größte Teil der Menschen und Organisationen, die diesen Prozeß [in Richtung Sustainable Development; FL] aktiv mitgestalten, die Ergebnisse selber beobachten, analysieren und bewerten kann." Hier liegt ein entscheidendes Problem: Für Sustainable Development sind weit über diesen Zeitraum hinausgehende Faktoren und Erwägungen relevant, diese können sich aber kaum handlungsleitend auswirken. Die Studie Zukunftsfähiges Deutschland (BUND/Misereor 1996, 21) orientiert sich an etwas längeren Zeiträumen: "Während sich die großen Umweltziele für Energie, Rohstoffe und CO2 auf das Jahr 2050 beziehen, werden in diesem Kapitel [über die Erreichbarkeit von Umweltzielen; FL] die Etappenziele 2010 und 2020 anvisiert. Das ist von der Sache her geboten, denn Prognosen bis zum Jahr 2050 sind angesichts technologischer und sozialer Veränderungen kaum zu stellen" meine Hervorhebung). Keine der genannten Nachhaltigkeits-Studien geben offensichtlich einen Anhaltspunkt für den "richtigen" Zeitrahmen, weil sie sich vor allem an politisch relevanten Zeiträumen orientieren.

Eindeutiger als die meisten Autoren geht Conrad (1995, 53) in seinen Überlegungen zu einer nachhaltigen Energieversorgung mit der Frage des relevanten Zeitraums um: "Als Zeitperspektive einer dauerhaften Energieversorgung setzen wir 10.000-100.000 Jahre [sic; FL] und keine im Prinzip unendliche Zeitspanne an, und zwar deshalb, weil es seit ca. 2 Millionen Jahren Menschen und seit ca. 10.000 Jahren Zivilisationen gibt und weil noch längerfristige Betrachtungen die unterstellten Parameterwerte immer weniger gesichert erscheinen. Kürzere (und damit politiknähere) Zeithorizonte von 10, 100 oder selbst 1.000 Jahren wären nur im Falle ihrer problemlosen Extrapolierbarkeit vertretbar, was aber gerade für die dauerhafte Verfügbarkeit von Energievorräten oft nicht zutrifft." Schon ein kurzer Blick zurück, z.B. 200 oder auch nur 50 Jahre, läßt das Problem deutlich werden – insbesondere wenn man berücksichtigt, daß die Geschwindigkeit des Wandels selbst sich beschleunigt hat: Kultur, politische Systeme, ökonomische Strukturen und nicht zuletzt technische Möglichkeiten verändern sich mit einer solchen Geschwindigkeit, daß Versuche, konkrete Aussagen über auch nur mittelfristige Entwicklungen zu machen, sich in der Nähe von Science-Fiction-Romanen bewegen.

Eine Möglichkeit wäre, sich an der zu erwartenden "normalen" Lebensdauer von Systemen zu orientieren. Dies lenkt auch den Blick darauf, daß auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedliche Zeithorizonte relevant sind. Damit kann man theoretisch von der Ewigkeitsorientierung wegkommen, und dies ist auch sinnvoll, denn "nothing lasts forever, not even the universe as a whole. Sustainability thus cannot mean an infinite life span or nothing would be sustainable. Instead, we argue it means a life span that is consistent with the system's time and space scale" (Costanza/Patten 1995, 195). Dies heißt, daß Sustainable Development sich auf unterschiedlichen (räumlichen) Ebenen auf unterschiedliche Zeiträume bezieht. Eine Zelle hat einen kürzere Normallebensdauer als ein Organismus, der wiederum eine kürzer Lebenszeit hat als eine Population. Diese Population könnte von einem Wirtschaftssystem überlebt werden. Der längste Zeitrahmen ist folglich auf "planetarischer Ebene" anzusetzen: Nichts auf der Erde lebt logischerweise länger als der Planet selbst. Ein System ist hiernach also dann nachhaltig, "if and only if it persists in nominal behavioural states as long as or longer than its expected natural longevity or existence time" (Costanza/Patten 1995, 195), und dies ist für jede Ebene eine andere Zeitdauer. Leider wird auch hierdurch das Problem des angemessenen Zeithorizonts nicht gelöst. Die Forderung nach Sustainable Development bezieht sich so gut wie immer auf die globale Ebene. Die zu erwartende Lebensdauer der Erde (mehrere Milliarden Jahre) erstreckt sich aber über einen Zeitraum, der den meisten Menschen in der Tat "wie eine Ewigkeit" vorkommen wird. Politikrelevant kann ein solcher Zeithorizont jedoch niemals werden.

Zwar wird immer wieder betont, daß nicht nur die konkreten Zielsetzungen, sondern auch der zugrundezulegende Zeithorizont "aufgrund ethischer und praktischer Überlegungen" (so etwa Brenck 1992, 383) festzulegen seien, eine überzeugende Konzeption zur Festlegung des für Sustainable Development relevanten Zeitraumes bisher ist freilich nicht vorgelegt worden. Die "Zukunft" bleibt ein offener Begriff. Es ist nicht klar, wieviele Jahre oder Generationen damit gemeint sind. Grundsätzlich ist von einem unendlichen Zeithorizont auszugehen. Strenggenommen ist dies unrealistisch, schon weil die Lebenszeit des Sonnensystems und der Erde begrenzt sind. Dieses Problem ist aber letztlich doch ein theoretisches, da z.B. eine Million Jahre für heutige politische Maßnahmen sicherlich kein handhabbarer Zeitraum ist. Es geht praktisch gesehen darum, die Aufrechterhaltung von Entwicklungsfähigkeit so lange wie möglich zu gewährleisten. In diesem Sinne ist der prinzipiell unendliche Zeithorizont im Kontext der Zielsetzung eines Sustainable Development zu verstehen, es geht um die Art und Weise, wie über Entwicklung und Zukunft nachgedacht wird. Rawls (1971, 587) macht im letzten Absatz seiner Theory of Justice eine Bemerkung, die auch auf dieses Zeitproblem bezogen werden kann: "The perspective of eternity is not a perspective from a certain place beyond the world, nor the point of view of a transcendent being; rather it is a certain form of thought and feeling that rational persons can adopt within the world" (meine Hervorhebungen).

 

4. Zur Konkretisierung von Sustainable Development – eine ökologisch-ökonomische Perspektive

"Economics as a discipline floats free from the physical world."

(Daly/Cobb 1994, 99)

4.1. Ecological Economics statt Umweltökonomik

4.1.1. Sustainable Development, Ecological Economics und die Umwelt- und Ressour- cenökonomik

"(A)ny successful line of economic analysis is almost certain to be a group product.

We attach names to ideas for good and bad reasons, but useful ideas are usually

worked out and critically refined by a research community."

(Solow 1988, 316)

1966 kann in gewissem Sinne als Geburtsjahr der ökologischen Ökonomik gelten. In diesem Jahr erschien Georgescu-Roegens Analytical Economics, und dessen Introduction enthält bereits einige der Kernaussagen eines der wichtigsten ökologisch-ökonomischen Werke, The Entropy Law and the Economic Process (1971). Georgescu-Roegen (1986, 3) selbst spricht vom "introductory essay for my 1966 Analytical Economics which by way of a second edition turned into the 1971 volume The Entropy Law and the Economic Process" (seine Hervorhebung). 1966 erschien auch der wohl bis heute erfolgreichste Text der Ecological Economics, Bouldings (1973c) The Economics of the Coming Spaceship Earth. Boulding veröffentlichte in jenem Jahr aber noch einen anderen, aus ökologisch-ökonomischer Sicht höchst interessanten Text. In Public Interest erschien ein Aufsatz, in dem Boulding (1973b) fragt: Is Scarcity Dead? Auch in diesem Aufsatz spielt die Raumschiff-Metapher eine Rolle.

In wirtschaftswissenschaftlichen Beiträgen wird immer wieder die Unterscheidung zwischen Ecological Economics und (neoklassischer) Umweltökonomik gemacht. Eine solche Abgrenzung liegt deshalb nahe, weil aus der Ecological Economics insbesondere in methodologischer Hinsicht fundamentale Kritik an der Neoklassik vorgebracht wird (Hampicke 1995, 139). Ebensowenig wie die Ecological Economics ist "die Neoklassik" freilich kein homogener Block unumstrittener Annahmen und Theoreme, wenn auch die Homogenität hier weitaus größer ist als bei der Ecological Economics. Schon längere Zeit wird die Frage aufgeworfen, ob ein "Abschied von der Neoklassik" angezeigt ist (Gawel 1994, 45). Jedenfalls ist die Vorherrschaft der Umweltökonomie in dem Sinne schon gebrochen, daß sie keinen wirtschaftswissenschaftlichen Alleinvertretungsanspruch mehr hat: Eine große Zahl von heterogenen ökonomischen Ansätzen beschäftigt sich heute mit Umweltproblemen. Gawel (1994, 45) nennt die folgenden: Neue Institutionenökonomik, Spieltheorie, Evolutorische Ökonomie, Ecological Economics, Metabolismus-Konzepte, sozialwissenschaftlich orientierte Ansätze, ökonometrische und simulationsanalytische Methoden. Gleichwohl bleibt die Neoklassik dominant: Sie ist das Referenzparadigma nicht nur im Umweltbereich. Ob die neoklassische Umweltökonomie sich in der Krise befindet, bleibt jedenfalls eine aktuelle Frage (Gawel 1996).

Wirtschaftswissenschaftliche Arbeit zum Thema "Umwelt" ist heute immer "Ökonomik der nachhaltigen Entwicklung", weil Nachhaltigkeit ein so allgemein akzeptiertes Ziel ist, daß es unvermeidlich den Referenzrahmen auch für ökonomische Beiträge zum Ökologieproblem bildet. Während jedoch für die Ecological Economics das Nachhaltigkeitspostulat den Ausgangspunkt bildet – und ihre theoretische Entwicklung mithin an diesem Ziel orientiert ist (15) – versucht die Neoklassik in der Regel, die Nachhaltigkeitsproblematik mit theoretischen Instrumenten anzugehen, die nicht für die Behandlung von Umweltproblemen erdacht wurden. Umweltfragen waren nie ein primäres Anliegen neoklassischer Ökonomik (Söderbaum 1992, 127). Ich wage hier, auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit der normalen Umweltökonomik zu verzichten. Eine erneute Diskussion an dieser Stelle verspricht keinen Erkenntnisfortschritt und ist – wichtiger – für die Bearbeitung des Themas nicht erforderlich. Ich konzentriere mich im folgenden auf eine Darstellung des Zusammenhangs zwischen Umwelt und Anthroposphäre aus ökologisch-ökonomischer Sicht.

"Die" ökologisch-ökonomische Perspektive gibt es nicht – einiges von dem, was im folgenden über die Konkretisierung nachhaltiger Entwicklung gesagt wird, teilen gewiß auch Wissenschaftler, die sich nicht als "ökologische Ökonomen" sehen. Die relativ ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Ansatz ist auch deshalb erforderlich, weil er einen notwendigen Hintergrund für das Verständnis des Steady-State bildet. Der Ansatz Dalys, dem Vertreter des Steady-State-Konzepts, ist ohne die Arbeiten anderer ökologischer Ökonomen nicht vorstellbar, und ebensowenig ist die Ecological Economics ohne Dalys Beitrag denkbar. Seit den späten 1960er Jahren versucht Daly, die (Fach-)Welt davon zu überzeugen, daß vom Wirtschaftswachstum Abschied genommen werden muß. Innerhalb der Ecological Economics ist Daly sicher der einflußreichste noch lebende Ökonom, neben Georgescu-Roegen und Boulding gilt er als "Vater" dieser Richtung, die heute in der International Society for Ecological Economics (ISEE) institutionalisiert ist. (16) For the Common Good (Daly/Cobb 1994) und Steady-State Economics (Daly 1991b) gelten innerhalb der Ecological Economics als bahnbrechende Werke – von der Community der Mainstream-Ökonomen wurden beide weitgehend ignoriert (Ehrlich 1989, 9; Viederman 1994, 469). Innerhalb der Ecological Economics ist Daly schon lange ein "unverzichtbarer Referenzpunkt" (Diefenbacher 1997, 29).

Vielen gilt das Konzept des Steady-State als zentrale Strebe des noch im Bau befindlichen Theoriegebäudes der Ecological Economics. Einige vertreten gar die Identität von Ecological und Steady-State-Economics. Underwood/King (1989) setzen Ecological Economics mit "steady-state analysis" gleich. Andere sehen eine Identität von Steady-State-Wirtschaft und Sustainable Development: Schröder (1995, 163) beispielsweise spricht von einer "sustainable (steady-state) world", Berkes/Folke (1992, 6) von "sustainable steady-state societies" (s. auch Ayres 1994, 12; Booth 1995; Gowdy/O'Hara 1997, 246; Ophuls/Boyan 1992, 2, 284). Teile von Steady-State Economics: Concepts, Questions, Policies (Daly 1992b) sind im Jahrbuch Ökologie als Ökologische Ökonomie: Konzepte, Fragen, Folgerungen (Daly 1994b; fett von mir) erschienen. In jenem Beitrag wird die Steady-State-Ökonomie auch mit einer "ökologisch stabilen Wirtschaft" gleichgesetzt (1994b, 160; s. auch Daly 1996a, 45). Bisweilen spricht Daly von "sustainable or steady-state economics" (1996a, 149) und von der "sustainable or steady-state economy" (1996a, 45). Für Daly ist Sustainable Development "development without growth beyond carrying capacity", wobei Entwicklung eine qualitative Verbesserung und Wachstum eine quantitative Zunahme bedeutet (1996a, 9; s. auch 1993c, 268; 1996a, 69, 167, 223).

Die Normalökonomik behandelt Quellen- und Senkenprobleme üblicherweise getrennt voneinander (Barbier 1989, 63), und dies ist eine Begrenzung, die komplexen Umweltproblemen nicht gerecht wird. (17) Zwei Charakteristika sind dabei von entscheidender Bedeutung, gerade auch im Hinblick auf das Verhältnis zur Ecological Economics: Umweltprobleme werden als Allokationsprobleme behandelt, und in der Regel basieren neoklassische Analysen von Umwelt-und Ressourcenproblemen auf optimistischen Annahmen im Hinblick auf Substitutionsmöglichkeiten und technischen Fortschritt. Die Substitutionsannahmen sind für die neoklassische Sicht von Ressourcen- und Umweltproblemen von entscheidender Bedeutung. Diese Annahmen laufen darauf hinaus, daß zwischen Umwelt und Kapital letztlich kein ökonomischer Unterschied besteht. Stiglitz (1979, 64) ist mit seiner Neoclassical Analysis of the Economics of Natural Resources gewiß repräsentativ für den Mainstream, wenn er davon ausgeht, daß "natural resources are basically no different from other factors of production. There are presently extensive possibilities of substitution between resources and other factors (capital) and, with further research, there are likely to be further ways of substituting other factors for natural resources and making what resources we use go further." Die Limits to Growth in a Neoclassical World (Beckmann 1975) hängen folglich vor allem vom Faktor Technologie ab. Hampicke (1992, 134) spricht nicht ohne Grund vom "Substitutionsparadigma. (...) Die Begriffe der Komplementarität, der systemaren Zusammengehörigkeit, der Unentbehrlichkeit haben in der neoklassischen Routine keinen Platz. Sie spielen nicht einmal am Rande eine Rolle, geschweige denn im Zentrum, wo sie stehen müßten. Überall dort, wo die neoklassische Theorie begründeterweise der Verharmlosung ökologischer Zukunftsgefahren geziehen werden kann, zeigt ein näheres Hinsehen, daß dies auf 'substitution worship' zurückzuführen ist" (seine Hervorhebung; s. auch Söllner [1993, 453], der vom neoklassischen "'Substituierbarkeits-Paradigma'" spricht). Auf dieses Problem wird zurückzukommen sein.

 

4.1.2. Die "fallacy of misplaced concreteness" und die Umwelt als Grundlage des Wirtschaftsprozesses

"(S)uch is the nature of the human understanding, that the very

fact of attending with intensity to one part of a thing, has a

tendency to withdraw the attention from the other parts."

(Mill 1967b, 332)

Daly (1996a, 6) geht davon aus, daß die voranalytische Vision (s. Abschnitt 2.1.) von entscheidender Bedeutung für die Kontroverse über Sustainable Development ist. Daly (1991b, xii) betont den entscheidenden Unterschied zwischen der voranalytischen Vision der Standardökonomik und Steady-State-Ökonomik: Der ökonomische Mainstream gehe von einer von ihrer Umwelt isolierten Wirtschaft aus, innerhalb derer Tauschwerte zwischen Unternehmen und Haushalten hin- und herströmen. Ausgangspunkt der Steady-State-Ökonomik sei die Wirtschaft als offenes Subsystem einer endlichen und nichtwachsenden Umwelt (s. auch Daly 1991a, 33f.; Daly/Cobb 1994, 240; Daly/Townsend 1993a, 3). Drastisch formuliert ist in der neoklassischen Vision die Umwelt ein Teil der Wirtschaft, während in der Vision der Ecological Economics die Wirtschaft als Teil der Umwelt wahrgenommen wird (Daly 1992a, 187). Der Bereich wirtschaftlicher, also menschlicher Aktivitäten wird oft als "Sphäre des Menschen", also als Anthroposphäre bezeichnet (Baccini/Brunner 1991; Bringezu 1993; Hinterberger et al. 1996, 34ff.). Baccini/Brunner (1991, 1) definieren die Anthroposphäre als "(m)an's sphere of life, a complex system of energy, material and information fluxes (...). It is part of planet Earth's biosphere." Die Anthroposphäre ist in die Umwelt eingebunden. Diese Umwelt ist begrenzt, ihre Nutzung hat aufgrund des Entropiegesetzes oft irreversible Folgen, die darüber hinaus durch die Interdependenz zwischen verschiedenen Umweltbereichen verkompliziert werden (s. unten). Diese für den Zusammenhang von Anthroposphäre und Umwelt bestimmenden Faktoren werden von der Mainstream-Ökonomik kaum berücksichtigt, und zwar nicht zuletzt aufgrund ihrer anderen voranalytischen Vision, deren Ausgangspunkt das vielzitierte Circular Flow-Diagramm ist (Daly 1996a, 33f.). Da die Größe "Material- und Energiedurchsatz" in dieser Vision gar nicht vorkomme, fände nach dieser Sichtweise gar kein Austausch zwischen Wirtschaft und Umwelt statt (Daly 1996a, 34)(Cleveland [1987, 63] sieht in Dalys Kritik der Lehrbuchdarstellung des Wirtschaftsprozesses eine seiner "most insightful contributions to biophysical theory"). Natürlich wissen auch Mainstream-Ökonomen um die physische Dimension des Wirtschaftens. Für Daly ist entscheidend, daß diese Dimension in das Zentrum der ökonomischen Analyse gehört und nicht gleichsam "hinwegabstrahiert" werden darf.

In seiner Kritik des ökonomischen Mainstream bemüht Daly immer wieder den von Whitehead geprägten Begriff der "fallacy of misplaced concreteness" (ausführlich in Daly 1991b, Ch. 10 u. 17 und in Daly/Cobb 1994, Ch. 1 - 5). Auch diese Kritik am ökonomischen Mainstream findet sich schon früh bei Georgescu-Roegen (1966, 106): Es sei "beyond dispute (...) that the sin of standard economics is the fallacy of misplaced concreteness, by which Whitehead understands 'neglecting the degree of abstraction involved when an actual entity is considered merely so far as it exemplifies certain [pre-selected] categories of thought.'" Für Whitehead, so Störig (1993, 582), ist eine der Hauptaufgaben der Philosophie "die Kritik der Abstraktionen. Eine Abstraktion liegt auch der modernen Naturwissenschaft zugrunde. Sie ruht auf einer Abblendung des unmittelbar Wirklichen. Indem sie etwas scharf sehen will, muß sie vieles andere übersehen. Das ist die 'Täuschung des verstellten (verdeckten) Konkreten', welche die Philosophie aufzudecken und aufzuheben hat" (meine Hervorhebung). Diesen Gedanken überträgt Daly auf die Ökonomik. Der Fehlschluß des versteckten Konkreten liegt also im "applying to one level of abstraction conclusions arrived at from thinking on a different (higher) level of abstraction" (Daly 1991b, 46f; s. auch 1991b, 186). Daß Denken ohne Abstraktion unmöglich ist, sieht auch Daly (1991b, 285), aber "many practitioners of successful disciplines, socialized to think in these abstractions, apply their conclusions to the real world without recognizing the degree of abstraction involved" (Daly/Cobb 1994, 25). Dieses Problem sei unter anderem auf akademische Spezialisierung zurückzuführen, die zur Herausbildung wissenschaftlicher Disziplinen geführt habe (Daly/Cobb 1994, 32).

Daly nennt als Beispiele, in denen seiner Auffassung nach die Ökonomik diesen Fehlschluß begeht, die Verwendung des Kreislaufdiagramms als Repräsentation des Wirtschaftsprozesses (1991b, 196), die Verwechslung von Geld mit konkretem Wohlstand (1991b, 197, 281), sowie die Analyse von Marktprozessen, die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, die Konstruktion des homo oeconomicus und die ökonomische Betrachtung des Bodens als Produktionsfaktor (Daly/Cobb 1994, 44 - 117). Daly teilt zwar die Auffassung, der Markt sei die geeignetste Institution zur Erreichung von Allokationseffizienz (Daly/Cobb 1994, 46f.), der Markt als Kategorie ökonomischen Denkens abstrahiere jedoch von Gemeinschaft und natürlicher Umwelt (Daly/Cobb 1994, 51). Die Täuschung des verstellten Konkreten könne die Ökonomik nur dann vermeiden, wenn sie zu ihren moralischen und biophysikalischen Grundlagen zurückkehre (Daly 1991b, 3). Daly kritisiert also, daß die Ökonomik von den "falschen Dingen" abstrahiert, also von den Tatbeständen, die Teil der ökonomischen Vision sein sollten, weil sie zentrale Eigenschaften des Wirtschaftsprozesses enthalten. Schon in Economics as a life science hat Daly (1968, 392) die Auffassung vertreten, daß Biologie und Ökonomik sich letztlich mit dem selben Thema befassen, nämlich mit dem Lebensprozeß. Folglich sei auch die Ökonomik eine Lebenswissenschaft.

Die Berücksichtigung der biophysikalischen Grundlagen des Wirtschaftens führt zu einem völlig anderen Bild ökonomischer Aktivitäten als die Textbuchdarstellungen der Normalökonomik, in denen "the economic process neither induces any qualitative change nor is affected by the qualitative change of the environment into which is anchored. It is an isolated, self-contained and ahistorical process – a circular flow between production and consumption with no outlets and not inlets" (Georgescu-Roegen 1971, 2). Mit Georgescu-Roegen (1971, 230) können die Produktionsfaktoren in zwei Kategorien aufgeteilt werden, nämlich "the fund elements, which represent the agents of the process, and the flow elements, which are used or acted upon by the agents" (seine Hervorhebungen). Es gibt Faktoren, die im Produktionsprozeß zwar gebraucht ("used"), aber eben nicht verbraucht ("consumed") werden, z.B. Maschinen und Arbeiter (Georgescu-Roegen 1971, 225). Ökonomische Theorie beschäftige sich mit der Produktivität von "fund factors", lasse aber diejenige der "flow factors" (Material und Energie) in der Regel unberücksichtigt (Daly 1991b, 107f., 204f.). Dies spiegele die Annahme wider, diese Faktoren seien nicht knapp (Daly 1991b, 107). Diese Annahme sei überaus problematisch, weil beide Faktorarten sich komplementär und nicht substitutiv zueinander verhielten. Außerdem gehe der ökonomische Mainstream davon aus, daß Ressourcen relativ knapp seien, aber nicht absolut. Folglich werde angenommen, daß, wenn eine Ressource ausgebeutet sei, eine andere zur Verfügung stehe und daß technischer Fortschritt eine Nutzung anderer Ressourcen ermögliche (s. auch Daly/Cobb 1994, 195f.).

 

4.1.3. Ecological Economics als Wissenschaft von der Nachhaltigkeit

Klemmer (1996, 313, Fn. 1) charakterisiert Ecological Economics als "bunten Strauß" umweltökonomischer Ansätze, in deren Mittelpunkt ökologische Restriktionen wirtschaftlicher Entwicklung, umfassende Funktionen von Ökosystemen und "in beachtlicher Weise" normative Postulate stünden. Heterodox ist dieser Zugang nicht zuletzt deshalb, weil er sich hinsichtlich seiner voranalytischen Vision erheblich vom herrschenden, lies neoklassischen, Paradigma unterscheidet. Heterogen ist Ecological Economics, weil unter dieser nach eigenem Anspruch transdisziplinären Richtung sehr unterschiedliche Denkweisen rubriziert werden können. Ecological Economics als Forschungsprogramm ist weit mehr als beispielsweise die neoklassische Umweltökonomik ein "work in progress".

Die Ecological Economics "goes beyond our normal conceptions of scientific disciplines and tries to integrate and synthesize many different disciplinary perspectives" (Costanza et al. 1991, 3). Die Transdisziplinarität der Ecological Economics impliziert das stetige Bemühen, Erkenntnisse aus anderen Disziplinen in die Theoriebildung einzubeziehen. Diese Haltung, die als "'Wißbegierde'" bezeichnet werden kann (Hampicke 1992, 303; ähnlich Henrich 1996, 327), liegt auch Dalys Arbeiten zugrunde. Seine Arbeiten sind schon seit Economics as a life science "bioökonomisch" und spätestens seit den frühen 1970er Jahren transdisziplinär, weil sie durch das Bemühen geprägt sind, disziplinäre Grenzen zu überwinden und zu einem "unified paradigm offering a vision of wholeness" (Daly 1993e, 357) beizutragen. Hinsichtlich seiner Zielsetzung ist Daly ebenfalls geradezu paradigmatisch für die Ecological Economics: Daly ist ein politischer Ökonom in dem Sinne, daß seine Arbeiten explizit darauf angelegt sind, zu realen Veränderungen beizutragen, nämlich zu einem Ende der Wachstumsökonomie und dem Übergang zu einer Steady-State-Wirtschaft.

Auch in seiner expliziten "Normativität" ist Daly ein repräsentativer Vertreter der Ecological Economics. Die Trennung von Sein und Sollen hält Daly für sinnvoll, denn "(t)o say is when we should say ought is wishful thinking. To say ought when we should say is (or never to say ought at all) is apology for the status quo" (Daly 1993a, 16; seine Hervorhebungen). In For the Common Good wird die Auffassung vertreten, daß es oft möglich sei, Sein von Sollen zu unterscheiden, und daß das Bemühen um diese Unterscheidung eine Grundregel für klares Denken sei (Daly/Cobb 1994, 131). "But to believe that some disciplines should specialize in 'is,' while others specialize in 'ought,' is at best a delusion and at worst an escape from ever facing up to 'ought' at all" (Daly/Cobb 1994, 131). Die Positiv-Normativ-Unterscheidung sei keine Grenzlinie zwischen Individuen, sondern für das Denken einzelner Individuen wichtig (Daly 1993a, 16). Keine Disziplin sollte sich also auf positive oder normative Fragen spezialisieren, auch die Ökonomik mit ihrem Selbstverständnis als positive Wissenschaft nicht. Aus Dalys Perspektive ist wertfreie Wissenschaft eine Illusion. Ethische Entscheidungen seien auch in der Ökonomik unumgänglich. Die Wahl einer Diskontrate beispielsweise sei eine ethische Entscheidung: "Discounting can easily become a pseudoscientific way of making the ethical judgment that the future is not worth anything" (Daly 1991b, 142). Daly plädiert vehement für die Offenlegung ethischer Zielsetzungen im Rahmen ökonomischer Analyse. Die "Normativität" der Ecological Economics wird immer wieder hervorgehoben (z.B. von Pasche [1994, 100]). Ethische Fragen, insbesondere solche der Umwelt- und Verteilungsethik, spielen in der Ecological Economics eine wichtige Rolle (Henrich 1996, 330ff.). Die Forderung nach intergenerativer Gerechtigkeit ist ein grundlegender normativer Ausgangspunkt der Ecological Economics. Nur aufgrund dieses Ausgangspunkts ist es überhaupt möglich, aus der Analyse biophysikalischer Restriktionen Nachhaltigkeitskriterien herzuleiten. (18)

Die Ecologcial Economics bemüht sich nicht nur um die Zusammenführung verschiedener Disziplinen und Offenlegung ihrer normativen Prämissen, sondern auch um die Berücksichtigung unterschiedlicher Methoden (die wichtigste Quelle in diesem Zusammenhang ist Norgaard [1989; s. auch 1985; 1994]). Methodologischer Pluralismus ist heute "a fundamental proposition of ecological economics" (Harris 1995a, 51). Bereits Keynes vertrat die Ansicht, daß für unterschiedliche Probleme verschiedene Methoden angemessen seien (Backhouse 1985, 262ff.). Backhouse (1985, 283) stellt nach einer Diskussion neuerer methodologischer Strömungen einen "move towards methodological pluralism" fest. Dieser kann mittlerweile als Eckpunkt des Selbstverständnisses der Ecological Economics gelten. Das wohl einflußreichste Plädoyer für einen solchen Pluralismus stammt von Caldwell (1994, 252): "Just as there is no best way to listen to a Tchaikovsky symphony, or to write a book, or to raise a child, there is no best way to investigate social reality." (19) Daß keine einzelne "optimale" Methodologie denkbar ist, erscheint das stärkste Argument für einen methodologischen Pluralismus (Caldwell 1994, 250). Dieses Argument fällt selbstverständlich auch auf jene zurück, die für einen solchen Pluralismus plädieren. Methodologischer Pluralismus impliziert ein Bewußtsein über die eigene Methodologie und über Vor- und Nachteile der von anderen verwendeten Methodologien sowie Toleranz gegenüber der Verwendung anderer Methodologien durch andere Wissenschaftler (Norgaard 1989, 51). Ein solcher Pluralismus "acknowledges the limits, and hence the appropriateness, of specific methods to specific questions" (Norgaard 1989, 53).

 

4.1.4. Technikoptimismus vs. "vernünftiger technologischer Skeptizismus"

Das Begriffspaar "optimistisch / pessimistisch" wird im Laufe dieser Arbeit eine Rolle spielen, vor allem hinsichtlich der Einschätzung des Potentials bestimmter Strategien, Umweltprobleme zu "lösen" bzw. eine Rückführung der Umweltbelastung zu erreichen. Die Unterscheidung zwischen technologischem Optimismus und technologischen Pessimismus spielt aber schon seit längerem im ökonomischen Diskurs über Ressourcennutzung eine Rolle. Optimismus wird auch als "heitere, zuversichtliche, lebensbejahende Grundhaltung" übersetzt, Pessimismus mit "Schwarzseherei". Im Hinblick auf die Technologiefrage sind diese Übersetzungen nicht adäquat. Weder sind die technologischen Pessimisten "Schwarzseher", noch sind die Optimisten notwendigerweise "lebensbejahender". Technologische Optimisten (die meisten Vertreter der neoklassischen Ökonomik) gehen davon aus, daß technische Mittel in der Lage sind, Knappheiten und Umweltprobleme zu überwinden, technologische Pessimisten (z.B. Georgesu-Roegen und Meadows) warnen davor, daß diese Sichtweise bei Nichteintreten optimistischer Technologieerwartungen zu desaströsen Folgen führen kann und halten das Lösungspotential technischer Mittel für begrenzt (s. auch Lecomber 1979, 121; Ophuls/Boyan 1992, 2; Tietenberg 1992, 4ff.). Georgescu-Roegen (1981b, 193) meint, daß "a pessimist places greater weight on the factors that may bring about an unfavourable outcome than on those on which a favourable outcome may depend. The contrary inclination defines then an optimist."

Der technologische Optimismus des ökonomischen Mainstream gründet sich auf drei Mechanismen: Preisveränderungen, Substitutionsmöglichkeiten und technischer Fortschritt. Ein Schlüsseltext der neoklassischen Beschäftigung mit Ressourcenproblemen ist Solows (1974b) The Economics of Resources or the Resources of Economics. Mit diesem Aufsatz, so Minsch (1993, 43), "legte Solow das Fundament zu einer effizienzgestützten Nachhaltigkeitsstrategie." In der Tat betont Solow in diesem Text die Bedeutung der Substitutionsmöglichkeiten im Hinblick auf Ressourcenknappheiten, vor allem aber nimmt er eine optimistische Haltung ein, die für den neoklassischen Zugang zum Thema repräsentativ ist: "If it is very easy to substitute other factors for natural resources, then there is in principle no 'problem.' The world can, in effect, get along without natural resources, so exhaustion is just an event, not a catastrophe" (Solow 1974b, 11; meine Hervorhebung).

Die Ecological Economics vertritt hier eine grundlegend andere Position. Die Erkenntnis aus der Debatte zwischen technologischem Pessimismus und Optimismus ist aus ihrer Sicht, daß "there is still an enormous amount of uncertainty about the impacts of energy and resource constraints. (...) Given this fundamental uncertainty about such a fundamentally important piece of information, what should we do?" (Costanza 1989, 3). Georgescu-Roegen (1986, 14) z.B. meint, daß "any rational program we may offer today must be based only on our present knowledge, not on some wishful futuristic exercise." Die Ecological Economics ist hinsichtlich der Einschätzung der Problemlösungspotentiale technischen Fortschritts "prudently skeptical": "Given our high level of uncertainty about this issue, it is irrational to bank on technology's ability to remove resource constraints. If we guess wrong then the result is disastrous – irreversible destruction of our resource base and civilization itself. We should, at least for the time being, assume that technology will not be able to remove resource contraints. If it does, we can be pleasantly surprised. If it does not, we are still left with a sustainable system" (Costanza et al. 1991, 7; ihre Hervorhebungen). Diese Position setzt sich deutlich vom impliziten technologischen Optimismus ab, der der Umweltökonomik eigen ist (s. auch Underwood/King 1989, 329). Dieser Optimismus speist sich gewiß nicht zuletzt aus der Erfahrung, daß es seit der industriellen Revolution stets gelungen zu sein scheint, Ressourcenengpässe und Umweltprobleme durch den Einsatz technischer Mittel zu "lösen". In vielen Fällen ist dies in der Tat gelungen. Angesichts der Breite und Komplexität der aktuellen Umweltprobleme die Erfahrungen der Vergangenheit in die Zukunft zu extrapolieren, ist freilich problematisch – ganz besonders dann, wenn politische Entscheidungen auf einem solchen Optimismus basieren. Politiken, die auf einem technologischen Skeptizismus basieren, sind lange Zeit völlig unbeachtet geblieben (Costanza 1989, 4). Es ist ein wichtiger Anspruch der Ecological Economics, genau diesen Umstand zu ändern und damit einen technologischen Skeptizismus auch politisch wirksam werden zu lassen.

Aus dem vernünftigen Skeptizismus folgt unmittelbar eine kritische Einstellung gegenüber Wirtschaftswachstum. Die Ecological Economics unterscheidet sich in einem für diese Arbeit äußerst wichtigen Punkt vom wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream: Sie lehnt es ab, Wirtschaftswachstum per se als etwas Positives zu bewerten. Zwar sehen auch die meisten Vertreter der Ecological Economics eine Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum in den Ländern des Südens. Die normative Grundannahme des Mainstream, daß Wirtschaftswachstum auch in den Industrieländern etwas Gutes ist, wird nicht geteilt. Dieser Unterschied wird oft als wichtiges Abgrenzungskriterium verwendet. Daß Wirtschaftswachstum ein stets anstrebenswertes Ziel ist, ist ein sehr verbreitetes Werturteil in der Ökonomik (Blaug 1992, 115; Colander 1994, 46; Woo 1994, 57). Freilich ist dieses Werturteil im Laufe der Zeit so selbstverständlich geworden, daß es als solches gar nicht mehr charakterisiert wird. Die Ecological Economics macht den normativen Gehalt dieser Einschätzung deutlich und setzt sich davon ab.

 

4.2. Der Zusammenhang zwischen Anthroposphäre und Umwelt

4.2.1. Raumschiff Erde, Materialbilanzen und industrieller Metabolismus

"One major idea in the pot must be tossed,

That things may be missing, but never are lost."

(Boulding 1972, 139)

Aus der ökologisch-ökonomischen Perspektive wird die Anthroposphäre als "Subsystem" der natürlichen Umwelt gesehen. Diese Sphäre kann als industrieller Metabolismus dargestellt werden, der niederentropischen Material- und Energiedurchsatz importiert, Teile davon akkumuliert, und hochentropischen Durchsatz an die Umwelt zurückgibt. Dabei ist zu beachten, daß das Innen dieses Metabolismus, die Anthroposphäre, und das Außen, die natürliche Umwelt – in einem koevolutionären Verhältnis zueinander stehen: Sie entwickeln sich gemeinsam und abhängig voneinander. In umweltwissenschaftlichen Texten steht meist die Veränderung der Umwelt durch menschliche Aktivitäten im Vordergrund. Diese Veränderungen wirken jedoch wieder auf die Anthroposphäre in vielfacher Weise zurück.

Bouldings (1973c) Aufsatz über The Economics of the Coming Spaceship Earth führt zum einen den Begriff "Durchsatz" ein (throughput), zum anderen weist er auf die Bedeutung des Entropiegesetzes hin. (20) Das vielzitierte "Raumschiff Erde", das Söllner (1997, 179) für ein "rather trivial concept" hält, ist eine Metapher, die wie wenige andere die voranalytische Vision ökologischer Ökonomen geprägt hat und die auch im Diskurs über Sustainable Development immer wieder bemüht wird. Diese Metapher hebt "the earth's smallness, crowdedness, and limited resources" hervor (Boulding 1980b, 264). The Economics of the Coming Spaceship Earth erschien erstmals 1966, die Raumschiff-Metapher verwendet Boulding allerdings schon drei Jahre vorher: In einem Aufsatz über The Death of the City erwähnt Boulding (1971a, 279) "this tiny spaceship of a planet." Die Raumschiff-Metapher erscheint auch in dem 1966 erschienenen Beitrag Is Scarcity Dead? (Boulding 1973b, 318ff.). In Spaceship Earth schildert Boulding den Übergang von der "Cowboy Economy" zur "Spaceship Economy". Nach seiner Auffassung findet ein Übergang statt von einer durch territoriale Expansion gekennzeichneten Cowboy Economy zu einer Raumschiff-Wirtschaft, "in which the earth has become a single spaceship, without unlimited reservoirs of anything, either for extraction or for pollution, and in which, therefore, man must find his place in a cyclical ecological system which is capable of continuous reproduction of material form even though it cannot escape having inputs of energy" (Boulding 1973c, 127). Boulding (1973c, 122) hebt hervor, daß Systeme zu ihrer Aufrechterhaltung einen Durchsatz (throughput) benötigen. Der Durchsatz besteht aus dem Input und Output von Systemen. Drei wichtige Arten von Durchsatz sind Material, Energie und Information (Boulding 1973c, 123). Boulding hält zwar Information (Wissen) für den wichtigsten Input/Output, aus ökologischer Perspektive sind allerdings Material und Energie die entscheidenden Variablen, da nur sie Umweltfolgen induzieren können. Das Wirtschaftssystem benötigt einen Durchsatz an Material und Energie. Dies verdeutlicht der sogenannte Materials Balance Approach.

Die dem Materialbilanzen-Ansatz zugrundeliegende Idee ist schon von Boulding (1973c) und Daly (1968) formuliert worden (so auch Söllner 1997, 184). Boulding hat auch darauf hingewiesen, daß der "Kapitalstock" ein offenes System ist. (21) Boulding (1973c, 123) verwendet diesen Begriff sehr umfassend, nämlich für den "set of all objects, people, organizations, and so on". In moderner Terminologie ist das, was Boulding Kapitalstock nennt, der industrielle Metabolismus. Boulding (1973c, 123) betont den Charakter des Kapitalstocks als offenes System: "This total stock of capital is clearly an open system in the sense that it has inputs and outputs, inputs being production which adds to the capital stock, outputs being consumption which substracts from it."

Problematisch an der Externalitäten-Perspektive der herkömmlichen Umweltökonomik ist besonders die implizite Annahme, externe Effekte seien ein eher ungewöhnliches Phänomen wirtschaftlichen Handelns. Externalitäten von Konsum und Produktionprozessen sind jedoch "normal, indeed, inevitable part of these processes", deren Bedeutung mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung noch zunimmt (Ayres/Kneese 1969, 282; ähnlich Opschoor/van der Straaten 1993, 205). Wenn ein ständiger Austausch von Material und Energie zwischen Wirtschaft und Umwelt stattfindet und dies stets ökologische Konsequenzen nach sich zieht, erscheint die Betrachtung von Umweltfolgen als Externalität unangemessen. Rein ökonomisch betrachtet ist die Betonung des Externalitäten-Problems sicher nicht "falsch" – hierdurch lassen sich einige Ursachen von Umweltproblemen durchaus veranschaulichen (Hinterberger et al. 1996, 42ff.). Aus ökologisch-ökonomischer Sicht ist es aber notwendig, über diese Betrachtungsweise hinauszugehen und die Eingebundenheit der Wirtschaft in die Umwelt abbildbar zu machen.

Eine Sichtweise, die über die Beschreibung von Externalitäten hinausgeht, ist erstmals von Kneese, Ayres und d'Arge präsentiert worden (Ayres/Kneese 1969; Kneese et al. 1972). Dieser Ansatz, als "Materials Balance Approach" bekannt geworden, "shows that the external cost phenomena which economists have written much about are not isolated and somewhat freakish aberrations but are inherent in the production and consumption activities of modern economies" (Kneese et al. 1972, v; s. auch Ayres/Kneese 1969, 287, 295; Ayres 1978, 4). Grundlegend für den Ansatz der Materialbilanzen ist der erste Hauptsatz der Thermodynamik. Daraus ergibt sich, daß "(i)n an economy which is closed (no imports or exports) and where there is no net accumulation of stocks (plants, equipment, inventories, consumer durables, or buildings), the amount of residuals which is inserted into the natural environment must be approximately equal to the weight of basic fuels, food, and raw materials entering the processing and production system, plus oxygen taken from the atmosphere" (Kneese et al. 1972, 8). Dies ist ein wichtiger Punkt: Der Material- und Energieinput ist stets gleich der Summe der Akkumulationen in der Anthroposphäre plus des Outputs. Weder Input noch Output bleiben für die natürliche Umwelt folgenlos. Die Berücksichtigung des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik führt auch zu einer mindestens skeptischen Einschätzung technischer Lösungen von Umweltproblemen. Wenn man nämlich zur Kenntnis nimmt, daß "technological means for processing or purifying one or another type of residuals do not destroy the residuals but only alter their form" (Kneese et al. 1972, 6), gerät die Belastung der Umwelt auch durch scheinbar "neutrale" Ressourcenströme in den Blick.

Der Materials Balance Approach ist Grundlage eines Ansatzes, der seit Beginn der 1990er Jahre zunehmende Bedeutung in der ökonomischen Diskussion erlangt hat: der Analyse der Wirtschaft als "industriellem Metabolismus". Der Metabolismus-Begriff hat sich erst in den 1990er Jahren durchgesetzt, die zugrundeliegende Sichtweise geht auch hier auf Boulding, Daly und andere zurück. (22) Ayres/Simonis definieren den industriellen Metabolismus folgendermaßen: "Industrial metabolism, by analogy, is the set of physico-chemical transformations that convert raw materials (biomass, fuels, minerals, metals) into manufactured products and structures (i.e. 'goods') and wastes" (Ayres/Simonis 1994, xi). Der Begriff des Metabolismus bezieht sich hier also auf die materielle Dimension wirtschaftlicher Aktivitäten. Die Wirtschaft evolviert innerhalb der natürlichen Umwelt, ergo nicht unabhängig von dieser. "(T)he metabolism of the anthroposphere includes the uptake, transport and storage of all substances, the total chemical transformations within the organism, the quantity and quality of all refuses" (Baccini/Brunner 1991, 1). Ohne diesen Organismus können Gesellschaften nicht existieren. Ebenso wie jeder natürliche Organismus (z.B. der menschliche Körper) auf die Aufnahme, Verarbeitung und Ausscheidung von Nährstoffen angewiesen ist, bedarf der "industrielle Metabolismus" (das gilt natürlich auch für vor-industrielle Wirtschaften) der Aufnahme, Verarbeitung und Ausscheidung von Material und Energie. Mit anderen Worten: Wirtschaften bedarf eines Material- und Energiedurchsatzes. Eine Reduktion dieses Durchsatzes auf Null ist nicht möglich, gleichzeitig kann ein Durchsatz, der die natürliche Umwelt überlastet, die Grundlagen des Wirtschaftssystems untergraben und schließlich zerstören. Diese Abhängigkeit der Wirtschaft von der Umwelt ist historisch nicht kontingent, wenn auch die Intensität der Umweltbelastung mit dem Entwicklungsstand der Wirtschaft zusammenhängt (s. Kapitel 6).

 

4.2.2. Entropie

4.2.2.1. Irreversibilität energetischer und materieller Prozesse

Mitursächlich für die Skepsis der Ecological Economics gegenüber technologischen Lösungen und wirtschaftlichem Wachstum ist ihr wohl wichtigster "Theorieimport" aus der Physik: die Berücksichtigung der Thermodynamik. Underwood/King (1989, 322) sehen in der Berücksichtigung der Thermodynamik ein "metaeconomic first principle". Wie eben gezeigt wurde, impliziert der erste thermodynamische Hauptsatz, daß der industrielle Metabolismus in quantitativer Hinsicht ein "Nullsummenspiel" ist: Die Masse der Importe minus der Masse der Akkumulationen in der Anthroposphäre ist gleich dem metabolischen Output. Der zweite thermodynamische Hauptsatz (der Entropiesatz) allerdings bedeutet, daß in qualitativer Hinsicht ein fundamentaler Unterschied zwischen Input und Output besteht. Das Entropiegesetz, so Georgescu-Roegen (1966, 96), ist "the most economic of all physical laws" (s. auch 1971, 3, 280).

Vorweg sei darauf hingewiesen, daß das Entropiegesetz ein äußerst schwierig zu fassendes Konzept ist. Vor allem die Verallgemeinerbarkeit des Entropiegesetzes ist umstritten (s. auch M. Binswanger 1992, 20). Laut Ayres (1978, 44) ist Entropie "one of the most mysterious and opaque of all the concepts of modern physical science. It is a measure of the extent to which the energy contained in a system is available for purposes of doing useful work on some other system." Georgescu-Roegen (1971, 5) meint, daß "not even all physicists have a perfectly clear understanding of what this concept exactly means. Its technical details are, indeed, overwhelming." Ist das Entropiegesetz schon für Naturwissenschaftler ein kompliziertes Konzept, so ist seine "Anwendung" durch Sozialwissenschaftler noch problematischer. Grenzen der Transdisziplinarität tun sich hier auf. (23) Die "interpretative difficulties", die mit der Verwendung des Entropiegesetzes durch Sozialwissenschaftler verbunden sind, hängen mit schlichten Verständnisproblemen zusammen, aber auch mit den "extra complexities of social phenomena" (O'Connor 1991, 96). Georgescu-Roegen (1977b, 294) meint allerdings, daß "the unique complexity of thermodynamics as it exists today does not prevent us from telling its story in some simple terms." Dabei muß allerdings berücksichtigt werden, daß die Verwendung ihrer Erkenntnisse dabei nur noch recht lose mit den von Georgescu-Roegen genannten Komplexitäten der Naturwissenschaften verbunden ist. Selbst innerhalb der Ecological Economics ist die "Gültigkeit", oder besser gesagt die Relevanz der Thermodynamik umstritten (s. z.B. Bianciadi et al. 1993; 1994; 1996; Khalil 1990; 1991; 1994; Kümmel 1994; Lozada 1991; Månsson 1994; Williamson 1993). Viele Ökonomen außerhalb der Ecological Economics sprechen dem Entropiegesetz jede praktische Relevanz für die ökologische Situation ab (z.B. Nordhaus 1992b, 846; Young 1991). Nordhaus (1992a, 34) meint gar, daß "as long as the sun shines brightly on our fair planet, the appropriate estimate for the drag from increasing entropy is zero"; und mit Blick auf Georgesu-Roegens Ausführungen über die ökonomische Relevanz des Entropiegesetzes meinen Heilbroner/Allentuck (1972, 209), daß "(t)he time frame of entropic constraints (...) appears to be of no significant importance for the next million years or so." Im folgenden wird zu zeigen sein, daß die Thermodynamik in der Tat relevant ist – allerdings mehr in einem allgemein-heuristischen Sinne und weniger in einem konkret-empirischen.

In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur wird das Entropiekonzept in einem weiteren Sinne gebraucht als in der Physik üblich. Ökonomen meinen mit Entropie ganz allgemein "die irreversible Entwertung der Natur durch die ökonomischen Aktivitäten. Unter dem Aspekt des Entropiegesetzes ist der gesamte wirtschaftiche Prozeß letztlich nichts anderes als eine Umwandlung von wertvollen natürlichen Ressourcen (niedrige Entropie) in wertlosen Abfall und Abwärme (hohe Entropie)" (M. Binswanger 1992, 21; meine Hervorhebung; s. auch 1994, 156). Entropie in diesem Sinne ist ein Maß für Unordnung bzw. Entwertung (M. Binswanger 1992, 21). Die Gleichsetzung von Entropie mit Unordnung und von Negentropie mit Ordnung ist allerdings nicht unproblematisch. Dies hängt auch mit dem Konzepttransfer des Entropiegedankens von der Physik in die Ökonomik zusammen. Das Entropiegesetz ist in seiner "Ursprungsformulierung" an eine ganz bestimmte Bedingung geknüpft, nämlich an die Isolation eines Systems. Nach dem Entropiesatz kann in diesem Entropie nur gleichbleiben oder zunehmen. Diese Irreversibilität bedeutet für offene Systeme (z.B. die Anthroposphäre), daß Prozesse nicht rückgängig gemacht werden können, ohne daß bleibende Veränderungen im Systemumfeld (der Umwelt) hinterlassen werden (M. Binswanger 1992, 25). Aufgrund des zweiten Hauptsatzes tendieren Systeme stets zu einem Gleichgewicht mit ihrer Umwelt (Hannon et al. 1993, 254). "Dem zweiten Hauptsatz zufolge laufen Prozesse, die Energieumwandlungen einschließen, nur dann ab, wenn dabei Energie von einer höherwertigen, konzentrierten Form (wie Nahrung oder Benzin) in eine weniger konzentrierte Form (wie Wärme) umgesetzt wird" (Odum 1991, 81). Entropie kann also "produziert", aber nicht vernichtet werden. Jede Aktivität führt zu einer Entropieerhöhung und ist insofern zeitlich gerichtet. Anders formuliert, "the total entropy of a system and its environment together can only increase over time" (O'Connor 1991, 97; meine Hervorhebung). In diesem Sinne ist auch der Satz Georgescu-Roegens (1976b, 55) zu verstehen, daß "(i)n entropy terms, the cost of any biological or economic enterprise is always greater than the product. In entropy terms, any such activity necessarily results in a deficit" (s. auch 1966, 95).

Für offene Systeme (wie die Wirtschaft) impliziert der zweite Hauptsatz der Thermodynamik (bzw. der Vorgang, der durch diesen Hauptsatz beschrieben wird) also, daß zwar im Austausch mit anderen Systemen (der Umwelt) die Entropie verringert werden kann: Auch die Wirtschaft als offenes System "feeds on low entropy" (Georgescu-Roegen 1966, 93; seine Hervorhebung). In der Summe (also für die Systeme insgesamt) nimmt die Entropie jedoch stets zu. So kann z.B. gebrauchtes Glas oder Metall unter Verwendung von Energie wiederverwendet werden, jedoch ist die Anzahl der Recyclingvorgänge durch den Entropiesatz begrenzt, außerdem wird durch jeden dieser Vorgänge Energie unwiederbringlich entwertet. Energie ist – im Gegensatz zu Stoffen – nicht wiederverwertbar. Die Wiederverwertung von Stoffen erfordert allerdings stets den Einsatz von Energie.

Thermodynamische Gesetze gelten nicht für materielle Prozesse. Dennoch bezieht Georgescu-Roegen die Thermodynamik auf die Rolle von Material im Wirtschaftsprozeß. Er weist darauf hin, daß "any work against friction produces not only heat but also the dissipation of matter from at least one of the bodies moving against each other" (Georgescu-Roegen 1977b, 296). Er kritisiert die fehlende Verbindung von hoher Abstraktion und realen Phänomenen, oder anders formuliert: den Übergang "away from 'clean thermodynamics' (of fluids) to a 'dirty thermodynamics' (of matter as well)" (Georgescu-Roegen 1977b, 297). Mit "dirty thermodynamics" meint Geogescu-Roegen u.a. eine Übertragung des Entropiesatzes auf Material: "(I)n actuality no reversal of material entropy can be complete. This proposition may be considered as the first law of dirty thermodynamics – alternatively, as the fourth law of a unified thermodynamics" (Georgescu-Roegen 1977b, 303; meine Hervorhebung). Georgescu-Roegen (1986, 7) hält es für eine elementare Tatsache, daß "matter also exists in two states, available and unavailable, and that, just like energy, it degrades continuously and irrevocably from the former to the latter state." Die Dissipation von Material rückgängig zu machen, würde Energie erfordern, "but the reversal necessary requires material instruments, which also wear out and have to be replaced, in an unending regress. This regress is sufficient ground for denying the possibility of complete recycling" (Klaassen/Opschoor 1991, 106; meine Hervorhebung).

Georgescu-Roegen postuliert also eine "materiebezogene Version des 2. Hauptsatzes" (Heinemann 1994, 210). Aus diesem "vierten Hauptsatz der Thermodynamik" folgt, daß die Irreversibilität von Prozessen auch für Material gilt. Diese "ökonomisch motivierte Erweiterung der Thermodynamik" (M. Binswanger 1994, 181) ist notwendig, um Materialentwertung und Thermodynamik auf einen Nenner zu bringen, hat sich aber nicht durchgesetzt. Dies liegt daran, daß Georgescu-Roegen von einem qualitativen Entropiebegriff ausgeht, der nicht mit dem Entropiebegriff in der Theorie offener Systeme fern vom Gleichgewicht kompatibel ist (M. Binswanger 1994, 181f.). Bisher liegt jedenfalls keine physikalische Theorie der Materie vor, mit der dieser "vierte Hauptsatz" in den Status eines Naturgesetzes überführt werden könnte (Heinemann 1994, 211). Gleichwohl vertritt Pastowski (1994, 227) die Auffassung, daß mit dem "viertem Hauptsatz" "die Ursache von wirtschaftlich bedingten irreversiblen Veränderungen der Umwelt in Form der mit dem Wirtschaftsprozeß bewirkten Dissipation von Materie schlüssig ursächlich erklärt werden" könne. Mithin ist auch nicht der Status des "vierten Hauptsatzes" als Naturgesetz entscheidend, sondern seine praktische Bedeutung – auch wenn der "vierte Hauptsatz" kein Naturgesetz ist (s. auch Young 1991 169f.): Der "entropische" Charakter von Materialnutzung ist relevant. Die Debatte über "komplettes" Recycling von Material dauert an (s. Converse 1996; 1997; Bianciardi et al. 1996). Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist die Differenzierung zwischen dem naturwissenschaftlichen Status des "vierten Hauptsatzes" und seiner praktischen Relevanz. Festzuhalten bleibt, daß unabhängig davon, ob dieser Hauptsatz ein Naturgesetz ist (was von den meisten Autoren bestritten wird), er praktische Relevanz besitzt, weil komplettes Recycling in der Tat unmöglich ist (was von den meisten Autoren konzediert wird). Darauf weist auch Pastowski (1994, 230) hin: "Das Problem der Irreversibilität trifft grundsätzlich für Phänomene der Energie- und praktisch auch für die Dissipation von Materie zu, soweit eine Rückgängigmachung einen prohibitiv hohen Materie- und Energieeinsatz erfordert" (meine Hervorhebung). Georgescu-Roegen (1977b, 304) verdeutlicht dies mit einem Beispiel, dem "Aufsammeln" von in Säure aufgelösten Perlen aus einem Ozean: "Even if we accept the possibility of completely reassembling all the pearls by using some physical-chemical procedure, the operation will take a practically infinite time. This conclusion alone should suffice to place the material reversal beyond actual reach" (seine Hervorhebungen). In der Tat: Die Dissipation von Material ist in praktischer Hinsicht oft ein ebenso irreversibler Prozeß wie die Umwandlung von verfügbarer in nicht-verfügbare Energie.

Die Bedeutung des Entropiegesetzes für wirtschaftliche Aktivitäten läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Ein Charakteristikum jeder Umweltnutzung ist deren Gerichtetheit (Irreversibilität). Jeder Strom von Material (Energie) ist entsprechend des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik "entropisch", also gerichtet in dem Sinne, daß mit jeder Aktivität eine "Entwertung" erfolgt: "From the law of entropy growth it follows that only high-quality energy (matter) can be used, and that in the course of use, it inevitably turns into a lower-quality energy (matter). It is only through the course of such transformations that we can obtain the desired results. There is no other way to achieve anything or to change anything at all. Any change and movement always brings about the growth of entropy, the deterioration of the quality of energy and matter" (Rebane 1995, 89; meine Hervorhebung). Dieser qualitative Aspekt jeglicher Umweltnutzung ist also zu berücksichtigen, wenn die Beziehung zwischen Anthroposphäre und Umwelt analysiert wird.

 

4.2.2.2. Wie relevant ist das Entropiegesetz?

Für Söllner (1997, 194) ist die Frage, ob thermodynamische Erwägungen in die ökonomische Analyse einbezogen werden, eindeutig eine metaökonomische Wertentscheidung: "It is the normative problem that turns out to be decisive: the transfer of thermodynamic concepts into neoclassical environmental economics was found to be unsatisfactory mainly because of the demand for intergenerational justice" (s. auch Söllner 1996, 181). Laut Söllner (1996, 192; 1997, 197) kommen der Thermodynamik für die Umweltökonomik drei Funktionen zu, nämlich eine heuristische, eine konzeptionelle und eine analytische Funktion. Die heuristische Funktion bezieht sich auf die Berücksichtigung von Zeit und Irreversibilität, die analytische auf die Konkretisierung von Umweltpolitik, die konzeptionelle auf die Begründung von Nachhaltigkeit, und zwar in dem Sinne, daß sie "im Wege fachübergreifender Kooperation zur naturwissenschaftlichen Fundierung und Rechtfertigung einer nachhaltigen Wirtschaftsweise, also des Konzepts der 'sustainability' dient und auf die Unverzichtbarkeit der Berücksichtigung von Rechten und Pflichten aufmerksam macht" (Söllner 1996, 192). In Frage steht, welche Relevanz das Entropiekonzept in diesem Zusammenhang hat.

Irreversibilität ist eine fundamentale Eigenschaft der Welt und auch Teil normaler Alltagserfahrung: Ein Zündholz brennt nur einmal ab, einmal im Kaffee umgerührte Milch läßt sich nur schwer wieder vom Kaffee trennen und ein Kohlestück kann nur einmal zur Wärmeerzeugung genutzt werden. "Braucht" man aber das Entropiegesetz zur Erklärung dieser Phänomene? Ist die Thermodynamik zum Verständnis von Umweltveränderungen notwendig? Georgescu-Roegen (1981a, 43) weist selbst darauf hin, daß die Menschen "raised bread and brewed beer long before they learned what causes fermentation. Similarly, people did not have to wait for science to formulate the Entropy Law in order to realize that all useful terrestrial resources are irrevocably 'destroyed' through use." Fraglich ist auch, ob ein Anstieg der Entropie selbst – bzw. deren Anstieg durch menschliche Aktivitäten – per se überhaupt als umweltproblematisch zu sehen ist. O'Connor (1993b, 445) verwirft die Ansicht, daß Entropieproduktion und Umweltzerstörung gleichzusetzen seien: "Under conditions far-from-thermodynamic-equlibrium, such as prevail for terrestial processes considered as a conglomerate, there is no inherent correlation between entropy increase and environmental 'damage' as might be evaluated from human standpoints" (s. auch 1991, 102f.). Unter Bedingungen fern vom thermodynamischen Gleichgewicht, Entropieproduktion "signifies in no way a 'general tendency towards disorder' but rather a 'changing around', where one situation of heterogeneity is transformed into another situation of heterogeneity" (O'Connor 1991, 105). Doch selbst wenn Entropieproduktion mit "Umweltzerstörung" gleichzusetzen wäre: Die Quantifizierung von Entropieflüssen ist bis heute ungelöst (Ebeling 1994, 39; s. auch O'Connor 1991, 108ff.). Angaben über Entropiesteigerungen können folglich nur den Status von Tendenzaussagen haben. Entropieerhöhungen als globales Maß für Umweltzerstörung zu interpretieren, würde darüber hinaus der Komplexität ökologischer Gefahren nicht gerecht (Pasche 1994, 101). Auch Victor et al. (1995, 88) weisen darauf hin, daß Entropie ein zu grobes Maß ist, als daß es für politische Entscheidungsfindungen herangezogen werden könnte. Es kommt im übrigen auf die Änderung der Entropie an, nicht auf deren absoluten Betrag: Die Entropieproduktion durch das Wirtschaftssystem ist entscheidend für die ökologischen Folgewirkungen, nicht der "Entropiegehalt des Wirtschaftssystems" (Söllner 1997, 85). Schließlich ist Ordnung nicht per se mit Nützlichkeit gleichzusetzen: "Entropy used as order is only defined in the context of the knowledge, technologies, social organization, and preferences of people" (Norgaard 1994, 214).

Die Gerichtetheit von Prozessen ist von entscheidender Bedeutung für die Möglichkeiten von Maßnahmen, die auf die Lösung von Umweltproblemen abzielen. "Entsorgung" und andere Maßnahmen, die die Belastung der Umweltmedien senken sollen, können nie ohne den Einsatz von Energie vorgenommen werden. Eine dauerhaft verträgliche Entsorgung ist deshalb von der Frage der Verfügbarkeit von Rohstoffen nicht zu trennen. Die Abhängigkeit der Anthroposphäre von der Umwelt ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß die Umwelt einen negativen Entropiefluß (Negentropie, also verwertbare Energie und Materialien) zur Verfügung stellt (Faber et al. 1983, 93). Die Gewinnung von Rohstoffen ist bei abnehmender Rohstoffkonzentration mit einem immer höheren Energiebedarf verbunden (Faber et al. 1983, 111). Da mit dem fortschreitenden Abbau von Rohstoffen zunehmend Vorkommen mit geringerer Konzentration verwendet werden müssen, ist der Abbau nichterneuerbarer Ressourcen langfristig mit einem erhöhten Energiebedarf pro Einheit gewonnenen Rohstoffes verbunden. Außerdem bedeutet der Abbau von Vorkommen mit geringerer Konzentration einen erhöhten Materialdurchsatz pro gewonnener Einheit des jeweiligen Rohstoffes. Umweltschutzmaßnahmen selbst sind mit der Nutzung von Rohstoffen verbunden, wenn die Entsorgung den Einsatz von Rohstoffen erfordert. Insofern besteht zwischen Umweltschutz und Rohstoffnutzung ein Zielkonflikt.

Entropie wird oft als Unordnung interpretiert. Unordnung ist dabei ein äußerst relatives Maß. "Unordentlich" kann etwas nur im Hinblick auf ein Ziel bzw. einen Zweck sein (Georgescu-Roegen 1966, 75). Dies wird in der ökologisch-ökonomischen Diskussion oft vergessen, ist aber im Hinblick auf das Sustainability-Problem wichtig: "Unordnung" wird erst im Hinblick auf die Nutzbarkeit der Natur durch Menschen bedeutsam. Die Gleichsetzung von hoher Entropie und Unordnung scheint mit einer Verwechslung von informationstheoretischen und phänomenologischen Entropiekonzeptionen zusammenzuhängen. O'Connor (1991, 100) meint: "There has been a widespread, and unfortunate, tendency simply to extrapolate from the domains where the probabilistic interpretation of 'entropy-disorder' is meaningful, to domains where it has no applicability whatsoever." Eine Verbindung von statistischer Unordnung und Entropie in der phänomenologischen Thermodynamik ist folglich zumindest problematisch, wenn nicht grundsätzlich unmöglich (O'Connor 1991, 100; s. auch Heineman 1994, 209). O'Connor weist auf den anthropozentrischen Charakter der Debatte hin. Georgescu-Roegen betont, daß die Verfügbarkeit von Material für menschliche Zwecke abnimmt: "But not necessarily for other purposes. This fact of loss of availability 'for our own purposes' implies evaluation in terms of strongly anthropomorphic criteria of disorder and usefulness, and ought not to be confused with increasing entropy in strict thermodynamics terms" (O'Connor 1993b, 438; seine Hervorhebung)

Dazu kommt, daß die Schaffung von "Unordnung" stets mit der Kreation von Ordnung verbunden ist. "Use of earth-moving machinery involves further energy dissipation; yet the outcome is emergence of new structure – changed stream flows and hence new patterns of energy transformation in ecosystems; generation of hydroelectricity permitting comforts of civilisation hundreds of miles away. And so on" (O'Connor 1991, 106f.). In der Tat darf der Umstand nicht übersehen werden, daß Entropieerhöhung durch wirtschaftliche Aktivitäten gerade deshalb stattfindet, weil Gegenstände mit sehr hoher Ordnung, also niedriger Entropie, geschaffen werden. Ein PKW ist sicher in diesem Sinne "ordentlicher" als Eisenerz von noch so hoher Konzentration. Lokale Entropiereduzierungen sind also möglich. Leben selbst reduziert Entropie – aber dieser Prozeß führt eben nicht zu einer Senkung der Gesamtentropie. Eine Pflanze z.B. senkt Entropie: "But the process of constructing, operating and maintaining the plant results in the generation of entropy which more than offsets the entropy effect of the plant itself" (Hannon et al. 1993, 254). Weil zur Entropie das Komplement Negentropie gehöre, so Huber (1995, 17), sei es "unhaltbar, jede Umweltwirkung mit einem Umweltschaden gleichzusetzen und jede ökonomische Wertschöpfung zugleich als ökologische Schadschöpfung zu interpretieren" (seine Hervorhebung).

M. Binswanger (1994, 194) dagegen betont, daß die Irreversibilität der Umweltfolgen wirtschaftlichen Handelns nur aus dem Entropiegesetz ableitbar ist (s. auch Pastowski 1994, 227). Dies ist in der Tat ein entscheidender Punkt, weil sonst theoretisch alle Umweltschäden wieder rückgängig gemacht werden können (M. Binswanger 1994, 194). Die entscheidende "Botschaft" dieses Gesetzes für die Ökonomik liegt also in der Irreversibilität vieler Umweltfolgen wirtschaftlicher Aktivitäten. Diese Gerichtetheit gilt es zu berücksichtigen, wenn über ökonomische Aspekte der Umweltnutzung nachgedacht wird. Die Berücksichtigung des Entropiegesetzes liegt also in ihrer Nutzbarkeit als theoretischer Rahmen und heuristisches Prinzip (M. Binswanger 1994, 157; O'Connor 1991, 117; Pastowski 1994, 230). Das Entropiegesetz ist von eingeschränkter, aber eben nicht ohne Relevanz. Die Gültigkeit des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik schränkt wirtschaftliches Handeln ein, im Hinblick auf die Umweltbelastung ebenso wie im technologischen Bereich.

Daly (auch er weist darauf hin, daß Entropie selbst für Physiker ein "deep and perplexing concept" ist [1973c, 35]), verwendet einen Entropiebegriff, der zwar durch den physikalischen inspiriert ist, aber eine ökonomische Interpretation des Entropiekonzepts darstellt. Entropie ist für Daly "'used-up-ness'" (1996a, 30), also "the measure of the qualitative difference between useful resources and useless waste. This qualitative change is irreversible" (1996a, 194; s. auch Daly/Cobb 1994, 195). Daly (1991b, 218) macht sich eine strikt "nutzenorientierte" Entropiedefinition zu eigen: "Low entropy is the physical quality of matter-energy that enables it to satisfy our wants, that can only be used and rearranged, but never created by human activity" (meine Hervorhebung). Die qualitative Dimension des Material- und Energiedurchsatzes wird hier also anthropozentrisch definiert. Es ist sicher richtig, daß zwischen In- und Output des industriellen Metabolismus ein für die Umweltwirkungen wirtschaftlicher Aktivitäten und für die Nutzbarkeit natürlicher Quellen und Senken entscheidender qualitativer Unterschied besteht. Fraglich ist aber, ob Entropie wirklich "the measure of that qualitative difference" ist (so auch in Daly 1991b, 227; meine Hervorhebung). Denn unter Entropie kann, wie gezeigt, vieles verstanden werden: Ein operationalisierbares Maß für die Folgen von Umweltnutzung oder ökonomisch relevante Eigenschaften der Umwelt ist sie nicht. Wie sehr ökonomisch Daly das Entropiegesetz interpretiert, macht auch die Auffassung deutlich, Entropie sei "the basic physical coordinate of scarcity" (1991b, 16, 36). Wie hier gezeigt, bleibt die ökonomische Verwendung des Entropiegesetzes zwar umstritten – unumstritten ist, daß dieses Naturgesetz dazu führt, daß Irrveversibilitäten bei der Umweltnutzung eine wichtige Rolle spielen und daß letztlich jede Form dieser Nutzung zu einer qualitativen Erhöhung der Gesamtentropie führt – aber damit eben nicht automatisch zu einer Verschlechterung des Umweltzustands. Dennoch: Der Material- und Energiedurchsatz ist auf Input- und Outputseite der Anthroposphäre also nicht nur immer quantitativ identisch, sondern auch stets qualitativ unterschiedlich. Daly (1991b, 30) bezeichnet den Durchsatz auch als "the entropic depletion-pollution flow", und dies verweist auf den genannten qualitativen Unterschied: Der Input der Anthroposphäre ist – wiederum aus anthropozentrischer Perspektive! – von "besserer Qualität" als der Output.

Die Bedeutung thermodynamischer Erkenntnisse für die ökonomische Analyse des Zusammenhangs von Anthroposphäre und Umwelt liegt nicht in der konkreten Anwendbarkeit des Entropiekonzepts als "explanatory variable" (O'Connor 1991, 118) oder Indikator für Umweltbelastung, sondern in der Anerkennung von Irreversibilität von Handlungsfolgen auch in offenen Systemen. Dies hat auch Implikationen für den Umgang mit Unsicherheit und Nichtwissen. Darauf weist O'Connor (1991, 118) nachdrücklich hin: "The broad message of the far-from-equilibrium thermodynamics is to embrace time irreversibility as synonymous with phenomena of uncertainty, dynamic instability, discontinuities and emergence of novelty. (...) Purposeful action has to be understood not as the research for determinate control, but as exploratory adventure in the domains of somewhat indeterminate possibility." Die potentielle Irreversibilität macht Unsicherheit zu einem wichtigen Faktor für den Umgang mit der natürlichen Umwelt. "Irreversibility implies that the consequences of mistakes have a much higher value that may be virtually boundless (in the case of catastrophes) and that cannot be reliably evaluated in advance" (Vercelli 1995, 260). Die potentiell katastrophalen Folgen menschlicher Umwelteingriffe hängen eng mit den Eigenschaften selbstorganisierender natürlicher Prozesse zusammen, um die es im folgenden Unterabschnitt geht.

 

4.2.3. (Ko-)Evolution, Selbstorganisation und Umweltfunktionen

Koevolution ist – wie Metabolismus – eine der Biologie entlehnte Metapher. Als Konzept zur Analyse der Interaktion von Wirtschaft und Umwelt ist Koevolution vor allem von Norgaard (1981; 1984a; 1984b; 1985; 1994) entwickelt worden. Auf Norgaard beziehen sich insbesondere ökologische Ökonomen (Common/Perrings 1992, 22; Hinterberger et al. 1996, 214ff.; Klaassen/Opschoor 1991, 108f.), aber auch andere Sozialwissenschaftler (s. z.B. Redclift/Woodgate 1994, 57ff.). Ökosysteme reagieren nicht nur auf ihre Umwelt, sondern beeinflussen diese ihrerseits (Golley 1993, 196). Ebenso besteht ein Interaktionsverhältnis zwischen dem offenen System des industriellen Metabolismus und seiner natürlichen Umwelt. Die koevolutionäre Perspektive kann, so Norgaard (1984a, 525), eine Verbindung zwischen ökonomischen und ökologischen Paradigmen herstellen. In der Biologie, wo dieses Konzept Mitte der 1960er Jahre entwickelt wurde, bezieht sich Koevolution auf den gegenseitigen Einfluß von zwei oder mehreren Arten (Norgaard 1984a, 528; 1984b, 161). Von Schmetterlingslarven bedrohte Pflanzen haben z.B. Chemikalien gebildet, die den Larvenfraß verringern, aber für ihr eigenes Wachstum unbedeutend sind. Die gegenseitige Beeinflussung bedeutet oft auch gegenseitige Abhängigkeit. Aus einer koevolutionären Sicht hängen die Veränderungen von Wirtschaft und Umwelt voneinander ab und beeinflussen sich gegenseitig.

Das Konzept der Koevolution kann erweitert werden, um die Rückkopplungsprozesse zwischen verschiedenen evolvierenden Systemen abzubilden (Norgaard 1984a, 528). Bezogen auf das Verhältnis von Wirtschaft und Umwelt betont Koevolution nicht nur die Umweltveränderungen durch wirtschaftliche Aktivitäten, sondern auch die Rückwirkung von Umweltveränderungen auf die Bedingungen des Wirtschaftens. Bezogen auf landwirtschaftliche Entwicklung beispielsweise hebt die koevolutorische Perspektive gesellschaftliche und ökologische Rückkopplungen und die gemeinsame Evolution von Agrosystemen und agrarischen Sozialsystemen hervor (Norgaard 1984a, 530). Veränderungen der Rückkopplungsprozesse führen zu Koevolution, indem ein gegenseitiger Veränderungsprozeß einsetzt (Norgaard 1984b, 161).

Neben dem durch das Entropiegesetz betonten "Verfallscharakter" heben die Naturwissenschaften auch den "kreativen Charakter" natürlicher Prozesse hervor. Prigogine/Stengers (1993) beispielsweise betonen die Offenheit von Systemen und die Möglichkeiten zur Entstehung komplexer Strukturen. Eine der wichtigsten "ordnenden Prozesse" ist die Evolution, die ihrerseits einen irreversiblen Vorgang darstellt (Georgescu-Roegen 1966, 84ff.). Evolution ist ein gleichgewichtsferner Prozeß, der nur mit permanenter Energiezufuhr möglich ist. "From a perspective limited to man and the earth, the evolution of life has been a negentropic process" (Norgaard 1984a, 531; s. auch 1984b, 164). Die durch diesen Prozeß mögliche Entropieabnahme wird aber stets durch einen Entropieanstieg in der Umwelt überkompensiert (Heinemann 1994, 208). Offene Systeme befinden sich fern vom Gleichgewicht und verfügen über dissipative Strukturen, "welche die Unordnung 'herauspumpen'" (Odum 1991, 82), und die sich durch Energieaustausch mit ihrer Umwelt erhalten (Haskell et al. 1992, 15). "Unordnung und Chaos können sich unter gleichgewichtsfernen Bedingungen in Ordnung verwandeln. Es können neue dynamische Zustände der Materie entstehen, in denen sich die Wechselwirkung eines Systems mit seiner Umgebung widerspiegelt" (Prigogine/Stengers 1993, 21; s. auch 282, 309). Damit werden nicht nur Vorhersagen problematisch, sondern auch die Bestimmung von Systemen und ihren Verhältnissen zur Umgebung (Prigogine/Stengers 1993, 310). Zwischen Gleichgewichtsferne und Selbstorganisation besteht ein enger Zusammenhang (Prigogine/Stengers 1993, 150). Selbstorganisierend sind Prozesse, "die weitab vom Gleichgewicht ablaufend, durch systemimmanente Triebkräfte zu komplexeren Ordnungsstrukturen führen" (Ebeling 1994, 36). Leben selbst ist das Beispiel für selbstorganisierende Prozesse (Prigogine/Stengers 1993, 197f.).

Auch aus der Existenz dissipativer Strukturen (s. unten) kann nicht auf die Irrelevanz von Wachstumsgrenzen geschlossen werden. "Im Gegensatz zu den Theorien von den Grenzen des Wachstums führt die Annahme dissipativer Strukturen und der Offenheit der Systeme zu größerem Optimismus über die mögliche Selbstregulation der Probleme auf einer höheren Stufenleiter der Evolution. (...) Vom begrenzten determinierten Ökosystem Erde wird hier Abschied genommen, nicht Maßhalten sondern symbiotisches Zusammenleben wird gefordert" (Mertens 1993, 145). Aus der Selbstorganisationsfähigkeit offener Systeme unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeiten für soziale Systeme abzuleiten, bezeichnet O'Connor (1991, 112) als "mis-reading of the far-from-equilibrium theory". Nun führt die Theorie dissipativer Strukturen in der Tat weg von dem äußerst pessimistischen Weltbild eines Georgescu-Roegen. Im Hinblick auf den begrenzenden Charakter der natürlichem Umwelt ändert das allerdings nichts, denn die Erde als ganzes ist eben kein offenes, sondern ein geschlossenes System. Daß bestimmte Prozesse – Leben – "gegen Entropie ankämpfen" können, heißt nicht, daß Leben die Degradation des Gesamtsystems verhüten kann. Die Entropie des Gesamtsystems nimmt stets und immer zu (Georgesu-Roegen 1966, 82).

Üblicherweise werden natürliche Ressourcen in erneuerbare und nichterneuerbare Ressourcen eingeteilt ("renewable" und "non-renewable" bzw. "exhaustible resources"). Nichterneuerbare Ressourcen sind solche, die sich nach Abbau bzw. Nutzung nicht regenerieren, also abiotische Rohstoffe wie fossile Energieträger. "Nicht erneuerbar" bezieht sich auf einen aus menschlicher Perspektive relevanten Zeitraum, denn in geologischen Zeiträumen ist auch Öl strenggenommen eine erneuerbare Ressource. Erneuerbare Ressourcen sind in erster Linie biotische Rohstoffe, welche sich nach Nutzung regenerieren können. Freilich können auch solche Ressourcn "endgültig" abgebaut werden, wenn die Nutzung zu einer Zerstörung des erneuerbaren Bestands führt. Dies gilt auch für die Senkenfunktion, die oft als erneuerbare Ressource bezeichnet wird (Pearce/Turner 1990, 44). Lebenserhaltung und ästhetische Funktion der natürlichen Umwelt sind schwerer zu definieren. Mit der Lebenserhaltungsfunktion hängen kritische Eigenschaften der Umwelt zusammen, insbesondere die Unsicherheit hinsichtlich der Folgen menschlicher Eingriffe, die Irreversibilität vieler Eingriffsfolgen und die Eigenschaft der Resilienz, also der Strapazierfähigkeit bzw. der Elastizität, mit der sie auf externe Einflüsse reagiert (Pearce et al. 1989, 40f.; Pearce/Turner 1990, 50f.; Golley 1993, 196f.).

Die natürliche Umwelt ist also Quelle natürlicher – erneuerbarer und nichterneuerbarer – Ressourcen und Aufnahmemedium (Senke) für die Abfallprozesse des industriellen Metabolismus. Die für die Senkenfunktion notwendigen Umweltgüter wie Bodenqualität und Assimilationskapazität von Wäldern werden auch als semi-erneuerbare Ressourcen bezeichnet. Darüber hinaus erfüllt sie eine direkte Wohlstandsfunktion, die sich aus dem ästhetischen Nutzen der Umwelt ergibt. Die natürliche Umwelt hat aber noch eine andere, für die Existenz von Menschen entscheidende Funktion: Sie dient als Lebenserhaltungssystem ("life support"; Pearce/Turner 1990, 41). Quellen-, Senken- und ästhetische Funktion sind Teil dieser übergeordneten Funktion der Umwelt als Trägersystem für menschliches Leben und damit für sozioökonomische Systeme. Der Mensch ist in einem langen und langsamen Evolutionsprozeß entstanden und kann nur unter bestimmten natürlichen Bedingungen exisistieren. Umweltveränderungen als Reflex auf anthropogene Eingriffe wirken also auf den Menschen zurück. Sozioökonomische Entwicklung kann nur stattfinden, wenn die Reaktionen der natürlichen Umwelt nicht zu Bedingungen führen, die mit den biologischen Eigenschaften der Menschen nicht kompatibel sind. Man kann angesichts dieser unterschiedlichen Funktionen zwischen Primär- und Sekundärwert der natürlichen Umwelt unterscheiden (Folke et al. 1994, 6f.). Der Primärwert liegt dabei in der lebenserhaltenden Funktion der Umwelt ("life-supporting environment"). Quellen und Senken sind in diesem Sinne Sekundärwerte, die ohne den Primärwert nicht existent wären (s. auch Perrings/Opschoor 1994, 4).

Die Enquete-Kommission (1994, 32f.; s. auch SRU 1994, Rdnrn. 106f.) unterscheidet folgende Funktionen, die die natürliche Umwelt für die Anthroposphäre wahrnimmt: Produktions-, Träger-, Informations-, Regelungs- und ästhetische und Erholungsfunktionen. Produktions- und Trägerfunktion entsprechen den o.a. Funktionen als Quelle und Senke. Informationsfunktionen werden durch den Austauch zwischen Gesellschaft und Umwelt bereitgestellt, diese dienen nach Auffassung der Enquete-Kommission auch als Orientierung für Bedürfnisbefriedigung. Die Regelungsfunktion bezieht sich auf die Fähigkeit der natürlichen Umwelt, auf Eingriffe z.B. durch Menschen "gleichgewichtserhaltend" zu reagieren, also auf die o.a. "Resilienz". Ästhetische und Erholungsfunktion der Natur haben vor allem soziale und kulturelle Bedeutung. Im Rahmen des Diskurses über Sustainable Development hat sich eine Perspektive entwickelt, aus der die Natur nicht nur als Quelle oder Senke wahrgenommen wird: "Die Anforderungen an eine zukunftsfähige Entwicklung verweisen auf eine neue Betrachtungsweise der Umwelt: Die traditionelle Sicht, in der die natürliche Umwelt nur als ein Rohstofflager oder als Abfalldeponie erschien, ist nicht mehr angemessen. Die Umwelt wird immer mehr als knapper, sehr komplexer Lebensraum der Menschen aufgefaßt, der die natürlichen Grundlagen des Lebens und damit jeglichen wirtschaftlichen Handelns gegenwärtiger und künftiger Generationen darstellt" (Hinterberger/Welfens 1996, 23; meine Hervorhebung). Die Umwelt erfüllt Funktionen, von denen viele zwar erneuerbar, aber eben auch alle irreversibel zerstörbar sind (Ayres 1993, 202). Die Selbstorganisationsfähigkeit natürlicher Systeme ist von entscheidender Bedeutung für die Lebenserhaltungsfunktion der Umwelt: "The earth is not just a static aggregation of chemical elements. It is much more. It is a dynamic system of physical and chemical processes (some biological, some geochemical, and some biologically assisted). This system is self-organizing. That is, it maintains itself in a dynamic pattern of continuous changes, within a stable envelope" (Ayres 1993, 202; seine Hervorhebungen; s. auch Berkes/Folke 1992, 3). Die Resilienz der Umwelt hängt ebenfalls mit ihrer Eigenschaft als selbstorganisierendes System zusammen. Die Umwelt kann auf äußere Einflüsse in einer Weise reagieren, die die Folgen z.B. anthropogener Eingriffe "abfedert". Die Resilienz muß von der Stabilität natürlicher Systeme unterschieden werden: "Stability is the tendency for a system to return to its original state. (...) Stability is commonly viewed as comprising two parts: resistance and resilience. Resistance is the tendency for the parameter values describing a system to remain within the same bounds under a perturbation, and resilience is the speed with which a system returns to its original state following a perturbation" (Smith 1996, 201).

 

4.2.4. Die Tragekapazität der natürlichen Umwelt als Bedingung und Begrenzung wirtschaftlicher Aktivitäten

Für die Kapazität der Umwelt, menschliche Aktivitäten "auszuhalten" und zu unterstützen, hat sich der Begriff Carrying Capacity etabliert. Wichtig ist hier, daß das Carrying Capacity-Konzept ein Versuch ist, die Abhängigkeit der Anthroposphäre von der Umwelt quantitativ und qualitativ zu beschreiben und dabei die natürlichen Belastungsgrenzen zu berücksichtigen. Die "capacity of the environment to absorb abuse and continue to deliver the ecosystem services that are essential to civilization", also die Carrying Capacity, ist "the most valuable natural capital that humanity possesses" (Ehrlich 1994, 43). Carrying Capacity bezieht sich also auf die Fähigkeit der Ökosphäre, als Trägersystem für menschliche Aktivitäten und mithin als unverzichtbare Grundlage jeglicher sozioökonomischer Entwicklung zu fungieren. Die Carrying Capacity bezieht sich also nicht nur auf die Senkenfunktion der Umwelt (wie der Begriff "Tragekapazität" nahelegen könnte), sondern auch auf ihre Quellenfunktion. Eine Nutzung erneuerbarer Ressourcen, die deren Bestand absinken läßt, stellt also ebenso eine Überschreitung der Carrying Capacity dar wie eine Überlastung der Absorptionskapazität von Ökosystemen. Carrying Capacity ist nicht dasselbe wie Resilienz. Während Carrying Capacity die durch die Ressourcen einer Region tragbaren Bevölkerungsgrößen bezeichnet, bezieht sich das Konzept der Resilienz auf die "vulnerability or the self-adjustment of an ecosystem; within certain limits a stable growth may occur, but beyond a threshold level a bifurcation may emerge forcing the system to move to a qualitatively different level" (Nijkamp/Soeteman 1988, 97). Daly (1996c, 114) meint, daß "for humans, carrying capacity is contingent on technology, preferences and the structure of production and consumption. But then so is resilience in any sense relevant to human exploitation of ecosystems. Clearly resilience of ecosystems is a property that must be considered in determining a prudent offtake from exploited ecosystems, and in that sense would help to determine safe carrying capacity" (Daly 1996c, 114). Resilienz sei aber nicht objektiver, meßbarer oder operationalisierbarer als Carrying Capacity.

Ökologen definieren Carrying Capacity als "'the maximum population size of a given species that an area can support without reducing its ability to support the same species in the future'" (Ehrlich 1994, 42). Von dieser biophysikalischen kann die soziale Carrying Capacity abgegrenzt werden (Ehrlich 1994, 42), die für die Tragkraft der natürlichem Umwelt im Hinblick auf den Menschen die angemessene ist. Die Berechnung der Tragkraft der Umwelt im Hinblick auf menschliche Aktivitäten erfordert Annahmen über verschiedene Komponenten, z.B. Lebensstandard, Technologie und Handel. Eine Veränderung derartiger Variablen würde die Carrying Capacity ändern (Daly 1990a, 188). Folglich ist die Tragekapazität einer Region durch die "Wirtschaftsweise, also durch die jeweils herrschenden Produktionsbedingungen bestimmt" (Renn 1994, 12). Carrying Capacity ist folglich nicht lediglich durch die natürliche Umwelt bestimmt, sondern in gleichem Maße durch den belastenden Faktor: menschliche Aktivitäten. Kneese (1996, 127) betont, daß "the interaction among institutions, resources, population characteristics, economic development and environment is exceedingly complex. The ordinary concepts of ecology and economic do not capture (...) the most important elements and forces at work", folglich sei der Nutzen des Carrying Capacity-Konzepts sehr beschränkt. In der Tat sind menschliche Bedürfnisse "not as 'fixed' as those of animals; therefore human exploitation of nature takes a more variable form" (Redclift 1987, 176). Folglich ist Carrying Capacity auch nicht als naturwissenschaftlich determinierte Größe mißzuverstehen, die nichts mit gesellschaftlichen Faktoren zu tun hat. Dies heißt mitnichten, daß es keine gewisse Tragekapazität der natürlichen Umwelt gibt, die anthropogenen Eingriffen letztlich Grenzen setzt. Es muß aber betont werden, daß die Berechnungen dieser Kapazität und deren Implikationen nicht nur aufgrund naturwissenschaftlicher Erwägungen beurteilt werden können.

Die meisten Arbeiten, die sich mit der Carrying Capacity beschäftigen, setzen sich mit den Belastungen der Tragekapazität auseinander und weniger mit einer Berechnung dieser Kapazität selbst. Dies gilt auch für den Pressure-State-Response-Ansatz der OECD (PSR). Der Zustand (state) der Umwelt ergibt sich aus dem Verhältnis von Belastung (pressure) und Carrying Capacity. Interessant am Ansatz der OECD ist die Tatsache, daß dabei gesellschaftliche Reaktionen (responses) explizit berücksichtigt werden. Die Berechnung der Inanspruchnahme der Nettoprimärproduktion dagegen beschränkt sich ausschließlich auf naturwissenschaftliche Informationen. Dieser Ansatz ist nicht sehr weit verbreitet, aber der kurze Beitrag von Vitousek et al. (1986) ist wohl einer der meistzitierten Artikel zum Thema Carrying Capacity. (24) Nettoprimärproduktion (NPP) umfaßt die Menge der in Photosyntheseprozessen durch Primärproduzenten (Pflanzen) gespeicherten Sonnenenergie abzüglich der Energie, die diese Produzenten für Wachstum und Reproduktion benötigen. Während die NPP in marinen Ökosystemen von Menschen relativ wenig genutzt wird, schätzen Vitousek et al. (1986, 372), daß 40% der Nettoprimärproduktion terrestrischer Ökosysteme von Menschen appropriiert wird. Sie weisen darauf hin, daß diese Schätzung keine exakte Berechnung der langfristigen Carrying Capacity darstellt, weil diese auch vom Wohlstandsniveau und verwendeten Technologien abhängt. Gleichwohl macht die NPP-Berechnung deutlich, daß eine steigende Bevölkerung im Rahmen der bestehenden Muster von Aneignung, Verteilung und Konsum nicht möglich sein wird, ohne daß mehr als die Hälfte der NPP von Menschen genutzt wird (Vitousek et al. 1986, 373) – und damit auch, daß menschliche Aktivitäten bei weiterem Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung an natürliche Grenzen stoßen können und ceteris paribus auch an diese Grenzen stoßen werden.

Einen weitereren Versuch, das Verhältnis von Carrying Capacity und Umweltbelastung zu kalkulieren, stellt das Konzept des "ökologischen Fußabdrucks" (ecological footprint) dar (Rees/Wackernagel 1994; Wackernagel 1993; Wackernagel/Rees 1996; 1997). Dieses Konzept zielt vor allem auf den Flächenverbrauch durch wirtschaftliche Aktivitäten ab. Berechnungen des Ecological Footprint berücksichtigen den Flächenverbrauch einer Region, der innerhalb und außerhalb dieser Region entsteht. Wenn der berechnetete "Footprint" die Eigenfläche der Region übersteigt, impliziert dies, daß wirtschaftliche Aktivitäten dieser Region zu Lasten der Umwelt in anderen Regionen stattfinden. Diese Berechnungsmethode zeigt, daß vor allem die Industriestaaten auf Kosten anderer Regionen wirtschaften: Die Niederlande zum Beispiel beanspruchen durch ihren Konsum von Gütern und Dienstleistungen eine Gesamtfläche, die mindestens das vierzehnfache der auf dem Territorium der Niederlande befindlichen nutzbaren Flächen beträgt (Rees/Wackernagel 1994, 374).

Der wohl einflußreichste Versuch, Carrying Capacity zu konkretisieren, ist der von Opschoor in die Diskussion gebrachte "Umweltraum". Dieses Konzept ist Grundlage zahlreicher Sustainability-Studien, u.a. von Sustainable Netherlands (ISOE/Milieudefensie 1994, 17ff.), Sustainable Europe (Friends of the Earth 1995, s. insbes. 121f.) und Zukunftsfähiges Deutschland (BUND/Misereor 1996, 26ff.). Der Umweltraum kann definiert werden als der Raum, "den die Menschen in der natürlichen Umwelt benutzen können, ohne wesentliche Charakteristika nachhaltig zu beeinträchtigen" (BUND/Misereor 1996, 27). Von Bedeutung ist hier, daß sich das Umweltraumkonzept nicht ausschließlich an natürlichen Gegebenheiten orientiert, sondern explizit ethische Erwägungen einschließt. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des globalen Gleichheitsprinzips, das den Berechnungen des Umweltraums zugrundeliegt: Danach haben alle Menschen prinzipiell das gleiche Recht auf die Nutzung natürlicher Quellen und Senken. Ausgangspunkt des Umweltraums ist neben der Begrenztheit der Umwelt selbst also eine ethische Entscheidung. Daraus ergibt sich auch der Umweltraum einzelner Regionen: "Der Umweltraum ist der gesamte 'Welt-Umweltraum' geteilt durch die Zahl der Weltbürger und multipliziert mit der Zahl der Einwohner dieses Landes" (ISOE/Milieudefensie 1994, 20)(schon aufgrund dieser Wertentscheidung ist es im übrigen mehr als offensichtlich, daß der Umweltraum "keine objektiv gegebene Größe" und "konstruiert" ist [Altvater/Mahnkopf 1996, 526]). Ein Vorteil des Umweltraums ist die Möglichkeit, im Rahmen dieses Konzepts die Vielfalt menschlicher Nutzungen und Eingriffe in die Umwelt zu berücksichtigen (BUND/Misereor 1996, 27)

Huber (1995, 78) sieht im Umweltraum "wieder nur ein anderes Wort für die undeutlichen Grenzen der Ausbeutbarkeit und Belastbarkeit der Natur durch den Menschen." Insbesondere kritisiert Huber (1995, 96, 136) die Auffassung, jeder Mensch habe das gleiche Recht auf Umweltnutzung, als "Ressourcenkommunismus". Und der SRU (1996, Rdnr. 24) bemängelt (an der Studie Zukunftsfähiges Deutschland), daß "mit dem Umweltraum-Konzept für ein Gleichheitsdenken votiert [wird], das alle individuellen und kulturellen Unterschiede in der Bereitschaft und Fähigkeit der Menschen, sich Ressourcen zu erschließen und mit ihrer Umwelt umzugehen, im Prinzip unberücksichtigt läßt." Angesichts der ethisch-sozialen Motivation von Sustainable Development ist ein anderes Vorgehen als Ausgangspunkt für die Abschätzung z.B. von Reduktionsimperativen aber kaum denkbar. Dies impliziert selbstverständlich nicht, daß eine tatsächliche Gleichheit des Pro-Kopf-Verbrauchs für alle Menschen angestrebt wird – eine solche Gleichheit würde in der Tat allein schon unterschiedlichen geographischen und klimatischen Bedingungen nicht genügend Rechnung tragen. Es geht um das prinzipiell gleiche Recht aller Menschen auf Inanspruchnahme der Umwelt.

Eine andere Art der Darstellung anthropogener Umweltbelastungen ist die sogenannte IPAT-Formel, oft auch als "Ehrlich-Gleichung" bezeichnet (vgl. z.B. Duchin 1996b; Ehrlich/Ehrlich 1991; Ehrlich 1994; Ekins 1994). Ich habe mich an anderen Stellen (Femia et al. 1996; Hinterberger et al. 1996, 62ff.; Luks 1993, 29ff.) ausführlich mit der Bedeutung und Problematik der IPAT-Formel auseinandergesetzt. Hier nur soviel: Die IPAT-Formel kann zur (sehr) groben Abschätzung der Beanspruchung der Carrying Capacity verwendet werden (Ehrlich 1994, 43) und ist in diesem Kontext gewiß die abstrakteste und auf dem höchsten Aggregationsniveau operierende Methode. Nach der von Ehrlich/Ehrlich (1991) vorgelegten Formulierung ergibt sich die Gesamtumweltbelastung (I = Impact) aus der Multiplikation von Bevölkerung (P = Population), Wohlstand (A = Affluence) und Technologie (T = Technology). Dann ist I = P * A * T. Die multiplikative Verbindung ist schon wegen der mit der Messung der Variablen (insbesondere A und T) verbundenen Schwierigkeiten äußerst problematisch. Etwas "vorsichtiger" läßt sich deshalb formulieren, daß die Umweltbelastung von Bevölkerungszahl, Wohlstandniveau und verwendeten Technologien abhängig ist: I = f (P, A, T). (25)

 

4.3. Operationalisierung: Konkretisierung von Nachhaltigkeit

4.3.1. Kapazitätserhaltung als Ziel nachhaltiger Entwicklung

Bei der Operationalisierung von Sustainable Development geht es um die Frage, wie man überhaupt wissen kann, wann eine Entwicklung ökologisch nachhaltig ist oder nicht. Auch hier weist die Diskussion einen gewissen "ökologischen Bias" auf, der allerdings inhaltlich-historisch begründet ist. Die wirtschaftliche und soziale Dimension von Sustainable Development sind keine wirklich neuen Zielsetzungen, folglich wurden auf diesem Feld Debatten über die Operationalisierung sozialer und wirtschaftlicher Ziele schon lange geführt. Zwar hat im Zuge der Nachhaltigkeitsdebatte die Diskussion über soziale und wirtschaftliche Indikatoren eine gewisse Revitalisierung erfahren, nicht zuletzt hinsichtlich der Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Ein wirklich neues Problem stellt sich aber durch die Frage, wie eine dauerhaft mögliche Nutzung der natürlichen Umwelt operationalisiert werden kann. Es geht im folgenden um die Operationalisierung von Sustainability als Teilbereich des umfassenderen Konzeptes Sustainable Development. Die hier herauszuarbeitenden Regeln (Abschnitt 4.4.) beziehen sich also auf die ökologische Dimension nachhaltiger Entwicklung: "Vergleichbare Grundregeln gibt es bislang für ökonomische und soziale Ziele nicht. Grundregeln für die Ableitung ökonomischer und sozialer Ziele aufzustellen und diese Ziele dann analog zu (...) Umweltqualitäts- und -handlungszielen zu entwickeln, überschreitet die Möglichkeiten dieser Enquete-Kommission" (Enquete-Kommission 1997, 25). Auch im Rahmen dieser Arbeit können soziale und ökonomische "Regeln" nicht aufgestellt werden.

In Kapitel 3 wurde bereits darauf hingewiesen, daß Sustainable Development erfordert, die Kapazität zur Produktion bestimmter Größen zu erhalten und im Zeitablauf von Generation zu Generation weiterzugeben. Sowohl Rawls' Theory of Justice als auch der Hicksche Einkommensbegriff lassen sich in diesem Sinne interpretieren. Aus der Verpflichtung zur Kapazitätserhaltung folgt, daß "(t)he current generation does not especially owe to its successors a share of this or that particular resource. If it owes anything, it owes generalized productive capacity or, even more generally, access to a certain standard of living or level of consumption" (Solow 1986, 142). In diesem Punkt besteht auch weitgehend Einigkeit zwischen Neoklassik und Ecological Economics, wie folgende Äußerung Dalys (1995a, 50) zeigt, der die Auffassung vertritt, daß "the welfare of future generations is beyond our control and fundamentally none of our business. As any parent knows, you cannot bequeath welfare."

Die Erhaltung von Kapital als notwendige Bedingung für eine nachhaltige Entwicklung ist dann naheliegend. Für Ökonomen liegt der Wert des Kapitals in seiner Fähigkeit, in der Zukunft zur Produktion beizutragen (El Serafy 1991, 175). Die entscheidende Frage, die sich daraus ergibt, ist: Welche Art von Kapital ist zu erhalten? Aus anthropozentrischer Perspektive besteht das Innen des industriellen Metabolismus aus Menschen und von ihnen geschaffenem Kapital, das Außen aus der natürlichen Umwelt. Das Gesamt dieser natürlichen Umwelt wird oft als "Naturkapital" bezeichnet. Entsprechend unterscheiden z.B. Berkes/Folke (1992) zwischen natürlichem und menschengemachtem Kapital. Diese Unterscheidung ist in der Ecological Economics und darüber hinaus üblich geworden: "Ecological economists speak of natural capital, human capital (and/or cultural capital), and manufactured capital when categorizing the different kinds of stocks that produce the range of ecological and economic goods and services used by the human economy" (Folke et al. 1994, 4). Der Bestand an Naturkapital stellt die genannten Umweltfunktionen zur Verfügung (Folke et al. 1994, 4; s. auch Berkes/Folke 1992; Pearce et al. 1993, 15).

 

4.3.2. Über den (Natur-)Kapitalbegriff

"It is not in our power to say with Humpty-Dumpty,

'When I use a word it means just what I choose it to mean';

we cannot escape the associations."

(Hicks 1974, 307)

Lange bevor Ökologie zum Thema wurde, hat Keynes als einer der ersten – wenn nicht als der erste – den Begriff des Naturkapitals verwendet. Keynes (1972g, 117) spricht in einem erstmals 1936 veröffentlichten Beitrag im Zusammenhang mit Jevons' Coal Question (s. 7.4.2.2.) von der "proposition that we were living on our natural capital" (meine Hervorhebung). In der Tat vertritt Jevons (1965, 455) explizit die Auffassung, daß "to disperse so lavishly the cream of our mineral wealth is to be spendthrifts of our capital – to part with that which can never be reproduced." Boulding (1974, 194) spricht in seinem erstmals 1963 veröffentlichten Aufsatz über The Society of Abundance von "geological capital" und macht deutlich, daß auf dessen Basis nicht nachhaltig gewirtschaftet werden kann. Georgescu-Roegen (1971, 303) spricht vom "'capital' of low entropy with which our planet is endowed." Auch im ökologischen Diskurs der 1970er Jahre wurde ähnliche Begriffe von einigen Autoren verwendet. Daly (1976, 31) spricht von "'disinvestment' of geological capital (depletion)" (meine Hervorhebung; s. auch 1993b, 379), Commoner (1972, 64) von "'biological capital'", und Lecomber (1975, 16) verwendet die Begriffe "Environmental Capital to refer to the stock concept, Environmental Services (or E-goods) to refer to the flow concept" (seine Hervorhebungen), also z.B. Wasservorräte und der aus ihnen gezogene Nutzen. Ayres (1978, 18, 48) verwendet den Begriff "natural capital". Für Barbier (1989, 95) ist die natürliche Umwelt "analogous to a store of natural capital that yields streams of multi-purpose services that are essential to economic activity and human welfare." Klemmer (1994, 15) verwendet die Begriffe "Öko-Realkapital" und "Naturvermögen" (s. auch Heins 1994, 20; ISOE/Milieudefensie 1994, 19). Schon der Brundtland-Bericht spricht von einem überzogenen "'Ressourcenkonto'" und benutzt die Kapitalmetapher: "Ohne Absicht oder Aussicht auf Rückzahlung borgen wir heute von künftigen Generationen unser 'Umweltkapital'" (Hauff 1987, 9; meine Hervorhebung). Diese Metapher spielt aber im weiteren Argumentationsgang des Brundtland-Berichts keine Rolle. Die ökonomische Operationalisierungsdebatte allerdings kreist um den Begriff des Naturkapitals. Einige Beiträge sprechen auch vom "Sparbuch" (Enquete-Kommission 1994, 42) und dem ökologischem "Schuldenkonto" (SRU 1994, Rdnr. 20). In Zukunftsfähiges Deutschland (BUND/Misereor 1996, 267) ist gar davon die Rede, daß "der Norden seine Kredite bei der Naturbank zurückzahlen" müsse. Eine sehr grundsätzliche Frage in diesem Zusammenhang ist, was denn überhaupt unter Naturkapital zu verstehen ist, und ob die ökonomische Metapher eine angemessene Beschreibung der natürlichen Umwelt darstellt (vgl. zum folgenden auch Hinterberger et al. 1997).

Man kann unterscheiden zwischen "(1) a stock of intruments existing at an instant of time, and (2) a stream of services through time, flowing from this stock of wealth. The stock of wealth is called capital, and its stream of services is called income" (Fisher 1965, 324). Dabei besteht Einkommen ausschließlich in der subjektiven psychischen Befriedigung von Bedürfnissen, weshalb dieser Einkommensbegriff auch als "psychisches Einkommen" (psychic income) gekennzeichnet wird (vgl. Fisher 1965, 326, 168f.). Dieses psychische Einkommen ist der Nettonutzen jeder wirtschaftlichen Aktivität. (26) Fishers Definitionen lassen erkennen, daß die Naturkapital-Metapher durchaus nicht abwegig ist: Der "Bestand an Natur" kann als Kapital verstanden werden, die Dienstleistungen der Natur als Einkommen. Diese Vorstellung kann auf erneuerbare, nichterneuerbare Quellen und auf Senken angewandt werden. Um Beispiele zu nennen: Die durch Ölverbrennung nutzbar gemachte Energie kann als Dienstleistung einer nichterneuerbaren Ressource angesehen werden, geerntete Früche einer Obstplantage als die einer erneuerbaren Ressource, und die Assimilationskapazität der Erdatmosphäre als Dienstleistung einer Senke. Diese offensichtlichen Analogien sind sicher mitverantwortlich für den "Erfolg" der Naturkapital-Metapher.

Schon der "übliche" Kapitalbegriff – bezogen auf monetäre Größen oder produzierte Produktionsmittel – ist seit Beginn des ökonomischen Diskurses ein umstrittener Terminus und Gegenstand teilweise heftiger theoretischer Auseinandersetzungen. Schumpeter (1952, 170) bemerkt, daß "der Kapitalbegriff so vieldeutig ist, und zwar nicht bloß in der Wissenschaft, sondern auch in der Praxis, daß man, will man nur einen Kaptitalbegriff festhalten, notwendig mit andern Anwendungen desselben kollidieren muß." Und auch Senior (zit. in Fisher 1965, 53) stellt fest, daß Kapital "has been so variously defined, that it may be doubtful whether it has any generally received meaning." Victor (1991, 192) meint, daß "(t)here is no single theory of capital to which all economists subscribe" und unterscheidet vier "Denkschulen": Neoklassik, Postkeynesianismus, die "London School" (Pearce und andere) und die "thermodynamische Schule" mit Vertretern wie Georgescu-Roegen und Daly. Ein zentrales Charakteristikum von Kapital, wie der Begriff üblicherweise im ökonomischen Diskurs verwendet wird, ist die Reproduzierbarkeit durch menschliche Aktivitäten. Der Begriff des Naturkapitals ist folglich mit der impliziten Annahme konnotiert, daß die Umwelt durch andere Kapitalformen ersetzbar ist (Victor 1991, 210). Darauf weist auch Boulding hin. Zwar unterscheidet er – im Hinblick auf Energieressourcen – zwischen Kapital und Einkommen: "We must distinguish between energy capital and energy income. Energy capital is the accumulated chemical and nuclear energy present in the earth. (...) The energy income of the earth is entirely from the sun" (Boulding 1977, 115). Er warnt aber auch vor einem naheliegenden Mißverständnis: "The expression 'energy capital' may be misleading, for capital suggests something that is productive and constantly renewing itself" (Boulding 1977, 115).

Marshall (1961, 78) definiert Kapital als "all things other than land, which yield income that is generally reckoned as such in common discourse; (...) the term Land being taken to include all free gifts of nature, such as mines, fisheries, etc., which yield income." Marshall benutzt also – wie übrigens die gesamte ökonomische Klassik – die Kategorie "Land" als Metapher für die natürliche Umwelt. Er grenzt mithin Kapital und natürliche Umwelt voneinander ab. Folglich können in dieser Sichtweise natürliche Quellen und Senken nicht als Kapital gelten. Böhm-Bawerk (1921a, 5) definiert Kapital als "einen Komplex produzierter Erwerbsmittel, d.i. einen Komplex von Gütern, die durch eine vorausgegangene Produktion entstanden, und nicht zu unmittelbarer Genußkonsumtion, sondern zur Erwerbung weiterer Güter zu dienen bestimmt sind" (meine Hervorhebung). Auch mit dieser Definition ist der Begriff des Naturkapitals nicht kompatibel: Die natürliche Umwelt ist zwar Vorraussetzung für Produktion, sie ist selbst aber nicht deren Ergebnis – selbst im Hinblick auf erneuerbare Ressourcen wäre diese Sichtweise inadäquat. Böhm-Bawerk war sich dieses Umstands bewußt, denn auch er differenziert Land und Kapital und sieht Land explizit nicht als Teil des Kapitals (Böhm-Bawerk 1921a, 5). In diesem Sinne ist Kapital "ein Faktor oder Werkzeug der Produktion, (...) dessen die Menschen sich bedienen, um mit desto größerem Erfolge der Natur Gütergestalten abzuringen" (Böhm-Bawerk 1921b, 1; meine Hervorhebung). Interessanterweise war sich Böhm-Bawerk der ökonomischen Implikationen des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik bewußt. Er stellt fest, daß nach den Erkenntnissen der Naturwissenschaft "neue Güter schaffen ja nicht neue Stoffe schaffen bedeute, da die Materie gegeben und unvermehrbar sei" (Böhm-Bawerk 1921b, 3). Aus dieser Perspektive wird Kapital genutzt, um sich der "Früchte der Natur" zu bemächtigen, die ihrerseits eben nicht als Kapital anzusehen sind.

Für Marx geht die Bedeutung des Kapitalbegriffs bekanntlich weit über die Funktion des Kapitals als Produktionsmittel oder Mittel zur Güterbeschaffung hinaus. Kapital ist für Marx nicht nur eine ökonomische, sondern eine politische und soziale Erscheinung. Im Hinblick auf die Naturkapitalmetapher ist m.E. aber der engere ökonomische Kapitalbegriff von Interesse. Bei der Entstehung des Mehrwerts (in der Bewegung G - W - G') verändert der vorgeschossene Wert seine Wertgröße, "setzt einen Mehrwert zu oder verwertet sich. Und diese Bewegung verwandelt ihn in Kapital" (Marx 1988, 165). Die Mehrwertentstehung im Produktionsprozeß führt zu ständigen Reinvestitionen, die zu mehr Mehrwert führen: "Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos" (Marx 1988, 167). "Denn die Bewegung, worin er [der Wert, FL] Mehrwert zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Er hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist. Er wirft lebendige Junge oder legt wenigstens goldne Eier. (...) Der Wert wird also prozessierender Wert, prozessierendes Geld und als solches Kapital. (...) G - G', geldheckendes Geld – money which begets money – lautet die Beschreibung des Kapitals im Munde seiner ersten Dolmetscher, der Merkantilisten" (Marx 1988, 169f.; meine Hervorhebungen). Marx betont also den Reproduktionsaspekt des Kapitals. Kapital selbst bringt Kapital hervor, und diese Eigenschaft weist offensichtlich eine Nähe zum Naturkapitalbegriff auf: Daß Natur sich selbst reproduziert, ist eine ihrer entscheidenden Eigenschaften, gerade im Hinblick auf ihre Nutzung durch den Menschen. Während dies die Naturkapitalmetapher naheliegend erscheinen läßt, verweist der Reproduktionsaspekt gleichzeitig auf die Grenzen dieser Metapher. Ökonomisches Kapital kann ohne Arbeit nicht entstehen, gleichzeitig kann Arbeit zerstörtes Kapital stets wieder herstellen. Natur reproduziert sich selbst, gleichzeitig können menschliche Eingriffe ("Arbeit") dazu führen, diese Fähigkeit zu zerstören.

 

4.3.3. Weak Sustainability: Konstanz des Gesamtkapitalbestands

"A sustainable path for the economy is (...) not necessarily one that conserves every

single thing or any single thing. It is one that replaces whatever it takes from its

inherited natural and produced endowment, its material and intellectual endowment."

(Solow 1993, 168)

Schwache Nachhaltigkeit erfordert die Erhaltung des Gesamtkapitalbestands, also der Summe aus menschengemachtem und "Naturkapital". Die Neoklassik behandelt (nicht nur im Kontext der Umweltdebatte) die Natur, als ob sie Kapital wäre (Hampicke 1992, 132; Kappel 1994, 70) – und bleibt für den neoklassischen Beitrag zum Diskurs über Sustainable Development selbstverständlich nicht folgenlos. Die Vorstellung, die als entscheidende Begründung hinter dem Kriterium der schwachen Nachhaltigkeit steht, ist folgende: "The current generation pays the compensation via improved technology and increased capital investment designed to offset the impacts of depletion" (Pearce/Turner 1990, 238). Entscheidend für die Angemessenheit dieses Kriteriums ist also die Frage, ob die Folgen von Ressourcenabbau und Senkenbelastung (z.B. Treibhauseffekt) tatsächlich durch technischen Fortschritt und die Akkumulation von menschengemachtem Kapital ausgeglichen werden können. Das Kriterium der schwachen Nachhaltigkeit basiert also auf der Annahme, daß erstens natürliches Kapital durch menschengemachtes Kapital ersetzbar ist und zweitens der technische Fortschritt in Permanenz zu dieser Substitution beiträgt. Die neoklassische Konkretisierung von Nachhaltigkeit ist klar und deutlich in mittlerweiler "klassischer" Weise von Hartwick (1977, 972; s. auch 1978) formuliert worden: "Invest all profits or rents from exhaustible resources in reproducible capital such as machines. This injunction seems to solve the ethical problem of the current generation shortchanging future generations by 'overconsuming' the current product, partly ascribable to current use of exhaustible resources." Die "Hartwick-Regel" (investiere Renten und Profite aus dem Abbau nichterneuerbarer Ressourcen in menschengemachtes Kapital) ist ein Eckpunkt des neoklassischen Beitrags zur Diskussion über die Erreichbarkeit von Sustainable Development. (27) Ihr liegt die Interpretation von Sustainable Development als konstantem Konsum zugrunde – und starke Substitutionsannahmen.

Aus "praktischer" und ökologisch aufgeklärter Sicht besteht hier ein entscheidendes Problem: die Annahme, daß Abbau von Naturkapital durch Aufbau von menschengemachtem Kapital kompensiert werden könne, und die sie stützende Prämisse "that there is no depreciation of reproducible capital and that population remains constant over time" (Hartwick 1978, 347). Mit der zweiten (Steady-State!) Annahme wird kaum ein (ökologischer) Ökonom Probleme haben, die erste jedoch scheint nicht von dieser Welt: Denn wenn es keine Abschreibungen vom Kapital geben würde, wäre die Welt in der Tat eine andere – vor allem die ökonomische. Denn: "The food and clothing consumed by the labourer, the buildings in which he works, the implements with which his labour is assisted, are all of a perishable nature" (Ricardo 1951b, 31; meine Hervorhebung). Die Haltbarkeit all dieser Dinge weist gewiß Unterschiede auf, aber daran, daß alle von Menschen produzierte Artefakte verderblich sind, hat sich seit Ricardos Zeiten gewiß nichts geändert – und nach dem heutigen Wissensstand spricht nichts dafür, daß sich dies je ändern wird. Im hier in Rede stehenden Zusammenhang ist dies von besonderer Bedeutung: "In the context of sustainable development, where a time horizon of 100 years or more is not out of place, it becomes true that virtually all of the manufactured capital stock of an economy must be replaced. The demands placed on the natural capital stock by such an endeavour are not trivial" (Victor 1991, 208). Die technischen Annahmen von Modellen à la Solow und Hartwick sind "both inconsistent with the physical principles informing a materially closed thermodynamic system, and blind to the feedbacks due to the dynamic interdependence of human and environmental productive systems" (Common/Perrings 1992, 16).

Die Problematik des schwachen Nachhaltigkeits-Kriteriums wird durch eine Studie von Pearce/Atkinson (1993) deutlich (s. auch Jacobs 1995, 61; Martinez-Alier 1995, 6f.). In dem Bewußtsein, daß Substituierbarkeit von menschengemachtem und Naturkapital eine Annahme ist, und daß die Ergebnisse vorläufiger Natur sind, kommen die Autoren zum Ergebnis, daß Japan (sic!) die nachhaltigste Wirtschaft der Welt ist (Pearce/Atkinson 1993, 106). Schon oberflächliche Kenntnisse über die Umweltsituation in (Süd-)Ostasien lassen deutlich werden, daß ein solches Ergebnis nicht mit globaler Nachhaltigkeit vereinbar ist. Interessanterweise ist gerade Japan ein Beispiel für das, was im ersten "Blueprint" "importing sustainability" genannt wurde (Pearce et al. 1989, 45): Ein Land kann auf Kosten anderer Regionen wirtschaften, indem es z.B. Rohstoffe importiert oder besonders umweltschädigende Industrien im Ausland ansiedelt.

Die Ergebnisse der Studie von Pearce/Atkinson (1993) verweisen auch auf das Problem, das sich im Hinblick auf die monetäre Bewertung von Entwicklungspfaden ergibt, wenn ökologische Faktoren einbezogen werden sollen (wobei sie bezeichnenderweise beklagen, daß z.B. von Victor [1991] die Probleme der Monetarisierung übertrieben würden [Pearce/Atkinson 1993, 104]). Victor et al. (1995, 82) vertreten die Auffassung, daß die "usefulness of weak sustainability as a measure of sustainable development depends on whether the wealth that is measured by conventional economic indicators (e.g. the value of the stock of manufactured capital) can substitute for depletion and degradation of the wealth that is not normally valued within the market system." Im Sinne der Studie von Pearce/Atkinson gilt in der Tat, daß "a world economy with an energy system based on oil, gas, coal and nuclear energy (in the rich countries) is judged as sustainable (only in a 'weak' sense). Environmental degradation and depletion of natural resources are consistent with 'weak' sustainability because wealth provides savings (and therefore investments) which compensate for such deterioration" (Martinez-Alier 1995, 7). Hier besteht eine offensichtliche Verbindung zur Neoklassik: "Conceptually, weak sustainability follows a central assumption of neoclassical economic theory and policy, namely, universal substitutability" (Gowdy/O'Hara 1997, 240; meine Hervorhebung). Schwache Nachhaltigkeit geht in der Tat von der Substituierbarkeit von menschengemachtem und Naturkapital aus. Folglich, "(w)eak sustainability means that we are indifferent to the form in which we pass on the capital stock" (Pearce et al. 1993, 15). Eine Substituierbarkeit von Natur und Kapital würde für die Bestimmung eines ökologischen Sustainability-Kriteriums bedeuten, daß der Naturkapitalbestand durchaus abnehmen darf, solange er durch einen Zuwachs an menschengemachtem Kapital kompensiert wird oder technischer Fortschritt zu einer höheren Ressourceneffizienz führt (Pearce/Turner 1990, 48). Schwache Nachhaltigkeit erfordert also die Konstanz der Summe aus menschengemachtem und natürlichem Kapital – die Angemessenheit dieses Kriteriums steht und fällt mit der Antwort auf die Frage, ob sich die beiden Kapitalarten tatsächlich substitutiv oder komplementär zueinander verhalten.

 

4.3.4. Natürliches und menschengemachtes Kapital: Komplementarität oder Substituierbarkeit?

Für eine nachhaltige Entwicklung kommt es auf die tatsächlich mögliche Substitution an (El Serafy 1991, 170). Für Pearce (1997, 295f.) ist das Substitutionsproblem "an empirical one which has yet to be addressed adequately by the economics profession", Georgescu-Roegen and Daly seien "not correct to caricature the issue as one of total substitutability or total complementarity" (Pearce 1997, 296). Wie "weit" aber kann Substituierbarkeit gehen, und vor allem: Welche politische Schlußfolgerungen sind mit unterschiedlichen Graden an Substituierbarkeit verbunden? Nach Einschätzung des SRU (1994, Rdnr. 128) besteht weitgehend Konsens darüber, "daß eine Substitution zwischen natürlichem Kapital und Sachkapital nur begrenzt möglich ist" (meine Hervorhebung). Und aus Sicht der Ecological Economics, "it is not possible to have perfect and unlimited substitution between natural and human-made capital. Human-made capital cannot be created and sustained without energy and natural resources. Hence, there will always be a minimum or critical amount of natural capital needed to sustain any individual of the human species, and there will always be a minimum amount of natural capital needed to produce anything in the human economy" (Folke et al. 1994, 6; meine Hervorhebungen). Gefragt werden muß dann: Was heißt perfekte und unbegrenzte Substitution, und wie kann ein minimaler notwendiger Naturkapitalbestand ermittelt werden?

Die Frage nach Komplementarität und Substituierbarkeit ist nicht zuletzt eine der Betrachtungsebene: "The complementary relation between manufactured capital and natural capital does not preclude all substitution between the two. The potential for substitution depends on the following: the type of substitution (direct versus indirect and marginal versus non marginal); where the system boundaries are drawn (micro- versus macro-economy); the time scale (long versus short run) and the spatial scale (local versus global)" (Cleveland/Ruth 1997, 207). Selbstverständlich gibt es geradezu unendlich viele Fälle, in denen menschengemachtes Kapital Naturkapital zu ersetzen vermag. Natürlich können Sonnenhüte und -brillen die Ozonschicht in einem bestimmten Sinne "ersetzen". "But it is far from clear what Km substitutes exist to prevent the damaging effects on other living creatures, biomass in general, or ecosystem functioning" (Pearce 1997, 296).

Wenn schwache Nachhaltigkeit angemessen sein soll, erfordert dies nicht kurzfristige Substitution auf Mikroebene, sondern langfristige Substitution auf Makroebene. Auf diese Differenz weist auch Cleveland (1987, 68) hin: "Although the neoclassical model of substitution may accurately reflect substitution possibilities at the microeconomic level, it fails at the macroeconomic level because it ignores the physical relation between the factors of production." Aus Sicht der Ecological Economics sind natürliches und menschengemachtes Kapital keine Substitute, sondern verhalten sich komplementär zueinander (s. z.B. Berkes/Folke 1992, 1; Daly 1994c, 25f.; 1995a, 51; Folke et al. 1994, 6). Daly (1994c, 25) weist darauf hin, daß wenn menschengemachtes Kapital ein Substitut für natürliches Kapital wäre, dies auch umgekehrt gelten müsse: Naturkapital wäre ein Substitut für menschengemachtes Kapital. Dann aber wäre zu fragen, warum überhaupt menschengemachtes Kapital akkumuliert würde. Menschengemachtes Kapital wurde und wird aber akkumuliert, und zwar genau deswegen, weil es sich zu natürlichem Kapital komplementär verhält. Zweitens ist menschengemachtes Kapital stets aus der Kombination von Material, Energie und Wissen entstanden – keiner dieser Faktoren ist ersetzbar. Produzierte Produktionsmittel bestehen ebenso wie Konsumgüter und Infrastrukturanlagen stets aus natürlichen Ressourcen, aus Naturkapital. "Therefore, producing more of the alleged substitute (man-made capital), physically requires more of the very thing being substituted for (natural capital) – the defining condition of complementarity!" (Daly 1994c, 26). Dies bedeutet, daß "substituting for natural capital in one place requires natural capital from elsewhere" (Folke et al. 1994, 11).

Schließlich gibt es eine fundamentale Differenz der Bedeutung von natürlichem und menschengemachtem Kapital im Produktionsprozeß: "Man-made capital (along with labor) is an agent of transformation of the resource flow from raw material inputs into product outputs. The natural resource flow (and the natural capital stock that generates it) are the material cause of production; the capital stock that transforms raw material inputs into product outputs is the efficient cause of production. One cannot substitute efficient cause for material cause – one cannot build the same wooden house with half the timber no matter how many saws and carpenters one tries to substitute" (Daly 1994c, 26; seine Hervorhebungen). Menschengemachtes Kapital und Arbeit sind "agents of transformation", also ein fund im Sinne Georgescu-Roegens. Sie sind notwendig für die Umwandlung des metabolischen Inputs in Produkte und Abfall. Sie können diesen Input aber nicht ersetzen und sind – siehe oben – stets aus diesem Input hergestellt.

Als Beispiele für die Komplementarität von menschengemachtem und "natürlichem" Kapital nennt Daly (z.B. 1994c; 1995a, 51) immer wieder die Beispiele Säge/Wald, Fischerboot/Fisch, Raffinerie/Ölvorkommen, Bewässerungsanlagen/Wasser. Daly bezieht sich hier auf die aristotelische Unterscheidung von causa materialis und causa efficiens. Erstere stellt die materielle Grundlage eines Prozesses dar, während letzterer Begriff sich gerade auf den Prozeß bezieht, der etwas Neues schafft. Wie oben gezeigt, schafft der Produktionsprozeß nichts wirklich neues, sondern verändert die Form des Material- und Energieinputs. Dieser Input wiederum ist die materielle Grundlage auch der Produktionsmittel, mit denen der Input gewonnen, verarbeitet und an die Umwelt zurückgegeben wird. Der Umstand, daß menschengemachtes Kapital stets auch aus Naturkapital besteht, ist das entscheidende Argument für die fundamentale Komplementarität der beiden Kapitalarten.

Ein weiterer Einwand gegen die Annahme der Substituierbarkeit liegt in der Erfüllung von Funktionen durch die Natur, die durch menschengemachtes Kapital nicht wahrgenommen werden können. Entscheidender Grund hierfür ist die Multifunktionalität des natürlichen Kapitals, die menschengemachtem Kapital nicht zu eigen ist und dadurch folglich nicht zu ersetzen ist (Pearce/Turner 1990, 49; Enquete-Kommission 1994, 32). Eine Nachbildung vieler Funktionen würde schlicht an deren Komplexität scheitern müssen. Daly (1994c, 32) weist darauf hin, daß "we are currently so far away from the requisite understanding of ecosystems that their large scale redesign should be ruled out as at best quantitatively insignificant, and at worst qualitatively dangerous." Bestandteile des Naturkapitals wie Regenwälder oder Atmosphäre sind nach heutigem Kenntnisstand nicht durch menschengemachtes Kapital nachbildbar (s. auch Barbier/Markandya 1990, 660). Es besteht kein Anlaß anzunehmen, daß dies in Zukunft möglich sein könnte. Hier sehen Autoren wie Ayres (1993, 195) einen Fall, den man als fundamentale Nicht-Ersetzbarkeit bezeichnen könnte: "There are many, including myself, who believe that given a reasonably free market, technology can generally be depended upon to find a substitute for almost any scarce material resource input (except energy itself). However, there are no plausible technological substitutes for climatic stability, stratospheric ozone, air, water, topsoil, vegetation – especially forests – or species diversity. Degradation of most of these is irreversible. In every case, total loss would be catastrophic to the human race, and probably lethal. Although technology can create (and money can buy) many things, it cannot create a substitute for the atmosphere or the biosphere. Technological optimism, in this regard, is simply misguided."

Dazu kommt jedoch noch das Problem der ökologischen Interdependenz, das ein weiteres schwerwiegendes Argument gegen die Annahme einer Substituierbarkeit von Natur- durch menschengemachtes Kapital ist: "Some Kn is (...) essential to production processes and overall life-support systems and cannot be substituted for. The often cited examples in the literature are, the ozone layer, global atmosphere, tropical forests, etc. Yet this is only a partial view, environmental systems are characterised by complex interrelationships and feedback loops. Some configuration of ecological systems (structure, characteristics, processes and functions) is critical to the continued 'healthy' operation of life-support services. This total system value (primary value) is infinitely high, but the problem is that we lack information on the appropriate configuration and possible threshold effects" (Turner 1997, 301).

Unsicherheit und Irreversibilität werden nach Ansicht von Nordhaus (1994) von vielen Autoren überschätzt. Risiko, Unsicherheit und Irreversibilität seien jedem Investitionsprozeß inhärent, beispielsweise bei Forschung und Entwicklung in der Kerntechnik oder beim Entwurf eines neues Passagierflugzeugs. Folglich habe Naturkapital "no natural monopoly on risk and irreversibility" (Nordhaus 1994, 320). Der Hinweis, daß diese Eigenschaften auch im Bereich von menschengemachtem Kapital eine Rolle spielen, ist sicher richtig. Entscheidend ist aber, daß die "Intensität" der Gefahren beim Naturkapital deutlich größer ist und – wichtiger – die möglichen Folgen der Zerstörung von Naturkapital für ein Sustainable Development weitaus tiefgreifender sind als der Abbau von menschengemachtem Kapital, das grundsätzlich reproduzierbar ist. Daß die Herstellung menschengemachten Kapitals auf die Verfügbarkeit natürlichen Kapitals angewiesen ist, schwächt auch den Einwand Nordhaus' (1994, 319) erheblich, daß ein "feature of the ecological focus is the exaggeration of the importance of natural capital and the belittling of reproducable, human, technological and scientific capital" (meine Hervorhebung). Niemand bestreitet die Bedeutung, die all diese Kapitalarten für sozioökonomische Entwicklung haben. Entscheidend ist wiederum die Asymmetrie zwischen diesen Kapitalarten und dem Bestand an natürlichem Kapital: Menschengemachtes Kapital erfordert stets die Existenz eines Naturkapitalstocks, der u.a. als Input für die Produktion menschengemachten Kapitals fungieren kann. Menchengemachtes und Naturkapital sind keine Substitute.

 

4.3.5. Strong Sustainability: Konstanz des Naturkapitalbestands

Die Produktivität menschengemachten Kapitals kann durch technischen Fortschritt gesteigert werden, und dieser Umstand hat auch Folgen für die Substituierbarkeit bzw. Komplementarität im Hinblick auf Naturkapital. Entsprechend des "weichen" Sustainability-Kriteriums ist Sustainable Development mit sinkender Umweltqualität vereinbar, solange andere Kapitalformen das Naturkapital zu ersetzen vermögen (Turner et al. 1994, 270). Unter der Annahme einer Komplementarität von natürlichem und menschengemachtem Kapital ist es nicht ausreichend, den Gesamtkapitalbestand (also das Aggregat von menschengemachtem und natürlichem Kapital) konstant zu halten, weil zumindest Teile des Naturkapitals durch menschengemachtes Kapital nicht ersetzt werden können (Turner et al. 1994, 270). Es ist evident, daß starke Nachhaltigkeit das im Vergleich zur schwachen Nachhaltigkeit anspruchsvollere Kriterium ist. Starke Nachhaltigkeit erfordert den Erhalt des Naturkapitalbestands, und zwar unabhängig davon, wieviel menschengemachtes Kapital akkumuliert wird. Starke Nachhaltigkeit erfordert demnach "much more restrictive conditions on intergenerational transfers of capital than weak sustainability" (Victor et al. 1995, 79). Dies wird deutlich bei der Auseinandersetzung mit den Regeln, die aus dem Postulat der starken Nachhaltigkeit folgen (Abschnitt 4.4.).

Die Zurückweisung der Substitutionsannahme und eine skeptische Einschätzung technischer Lösungsmöglichkeiten führt also zum Postulat der starken Nachhaltigkeit. Wenn Naturkapital der limitierende Faktor für die Bedürfnisbefriedigung in der Zukunft ist, muß dieser Faktor erhalten werden. Was aber heißt "Erhaltung" konkret? Schon bei der forstwirtschaftlichen Nachhaltigkeit können zwei Interpretationen unterschieden werden (vgl. z.B. Vornholz 1993, 111), die statische und die dynamische. Nachhaltigkeit im statischen Sinne impliziert die Erhaltung eines bestimmten Zustands ohne zeitliche Beschränkung (z.B. Holzbestand in Festmetern). Bei der dynamischen Interpretation kommt es demgegenüber auf die Erhaltung von Leistungen bzw. Funktionen an (z.B. des Ertrags oder der ökologischen Funktionen). Diese Unterscheidung spielt auch in der Debatte über die angemessene Operationalisierung von Sustainable Development eine gewichtige Rolle.

Da bei der starken Nachhaltigkeit von einer Komplementarität zwischen natürlichem und menschengemachtem Kapital ausgegangen wird, erfordert die Erhaltung von Kapazitäten die Konstanz des Naturkapitals. Nach Auffassung der Enquete-Kommission (1993, 25) ist damit freilich "weniger die mengenmäßige Erhaltung, sondern vor allem die Sicherung der (...) Umweltfunktionen gemeint" (meine Hervorhebung). Aus der Problematik der nichterneuerbaren Ressourcen ergebe sich, so Brenck (1992, 393), die genaue Definition des starken Nachhaltigkeitskriteriums: "Gefordert wird nicht die Aufrechterhaltung des physischen Kapitalstocks. Ziel ist vielmehr die Aufrechterhaltung der Funktionen dieses Kapitalstocks, die für die langfristige Reproduzierbarkeit der gegenwärtigen Umweltnutzung notwendig sind" (seine Hervorhebung). In der Tat geht es bei der Aufrechterhaltung der zukünftigen "Produktionskapazität" der natürlichen Umwelt darum, deren Funktionen zu erhalten. Erreichbar erscheint dies aber nur durch die Sicherung des physischen Bestands des Naturkapitals. Gerade die Anforderungen für nichterneuerbare Ressourcen laufen darauf hinaus, den Abbau dieser Ressourcen mit der Schaffung erneuerbarer Ressourcen auch mengenmäßg zu kompensieren (was Substitutionsmöglichkeiten innerhalb des Naturkapitalbestands voraussetzt). Nur wenn der Naturkapitalbestand nicht abnimmt, können die Umweltfunktionen (Quelle, Senke, Ästhetik, Lebenserhalt) gesichert werden (Jacobs 1995, 62).

Daran schließt sich aber die Frage an, auf welchem Niveau der Bestand an natürlichem Kapital erhalten werden soll: auf dem exisitierenden oder auf einem zu bestimmenden "optimalen" Niveau (Pearce/Turner 1990, 53). Mit anderen Worten: Es ist zu klären, ob das Niveau des als notwendig erachteteten Naturkapitalstocks sich an dem Bestand orientiert, der existiert, oder an dem, der existieren soll. Die Frage ist, ob marginale Kosten und marginaler Nutzen von verschiedenen Kapitalniveaus bestimmt werden können. Die Identität beider würde das Niveau des optimalen Kapitalstocks angeben, und dieser wäre konstant zu halten. Hier wird ein Unterschied zwischen neoklassischer Umweltökonomie und Ecological Economics deutlich: Während sich die Neoklassik am Kosten-Nutzen-Verhältnis orientiert, wird dieses Vorgehen aus Sicht der Ecological Economics insofern angezweifelt, als die Kosten und Nutzen sich einer genauen Berechnung entziehen, mithin die Bestimmung eines optimalen Naturkapitalstocks auf diese Weise nicht möglich ist. Unsicherheit und Irreversibilität müssen nach dieser Sichtweise berücksichtigt werden. "There is therefore a rationale in terms of uncertainty and irreversibility for conserving the existing stock, at least until we have a clearer understanding of what the optimal stock is and how it might be identified" (Pearce/Turner 1990, 56; ihre Hervorhebung). Der Erhalt des Naturkapitals stellt also eine risiko-averse Strategie dar, die angesichts von Unsicherheiten und der Möglichkeit irreversibler Umweltschädigungen sicherstellen soll, daß zukünftige Generationen ihre Bedürfnisse erfüllen können (Kappel 1994, 62). Die Konstanz ist dabei eine Mindestforderung, durch die eine Zunahme des Naturkapitalbestands selbstverständlich nicht ausgeschlossen wird (Vornholz 1993, 132f.). Diese Mindestanforderung ergibt sich aus der Zielsetzung intergenerativer Gerechtigkeit, die wenigstens die Vermeidung einer Schlechterstellung kommender Generationen verlangt.

Die Forderung nach Erhalt des Naturkapitalstocks auf heutigem Niveau ist weit verbreitet. Es ist aber keineswegs sicher, daß der heutige Naturkapitalstock für Sustainability tatsächlich ausreicht (Vornholz 1993, 141) und die Bedürfnisbefriedigung zukünftiger Generationen sichert. Ist also das Kriterium der Konstanz, das die Erhaltung des Niveaus eines bestimmten Zeitpunkts erfordert, beliebig? "A minimum safe condition for sustainability (given the huge uncertainty) is to maintain the total natural capital stock at or above the current level" (Folke et al. 1994, 5; meine Hervorhebung). Daß sich die Forderung auf Naturkapital bezieht, ergibt sich aus der grundsätzlichen Komplementarität von Natur- und menschengemachtem Kapital. Die genannten Unsicherheiten können aber auch zu der Forderung führen, den Naturkapitalbestand zu erhöhen. Seit Mitte der 1990er Jahre wird beispielsweise aus den Reihen der Ecological Economics vorgeschlagen, in natürliches Kapital zu investieren (Jansson et al. 1994). Damit sind Investitionen gemeint, die den Bestand des Naturkapitals erhöhen, also Investitionen in "biophysikalische Infrastruktur" und den "Wiederaufbau des natürlichen Kapitals" (Kappel (1994, 61). Investitionen in Naturkapital sind notwendig, wenn der Bestand dieses Kapitals erhöht werden soll ("Nettoinvestitionen") und wenn "Abschreibungen" ausgeglichen werden sollen, um den Naturkapitalstock zu erhalten ("Bruttoinvestitionen"). Derartige Investitionen sind schon deshalb notwendig, weil die "nachhaltige" Nutzung nichterneuerbarer Ressourcen (die streng genommen unmöglich ist) erfordert, diese Nutzung durch die Schaffung von erneuerbaren Ressourcen zu kompensieren (Brenck [1992, 394] spricht in diesem Zusammenhang von "Kompensationsinvestitionen"). Auf der Ebene von Einzelprojekten, die zu Umweltbelastungen führen, müßten dann entsprechende Investitionen in natürliches Kapital getätigt werden, um den durch z.B. Entwicklungsprojekte entstehenden Umweltschaden zu kompensieren. Schaffung und Zerstörung von Naturkapital stehen jedoch nicht in einem symmetrischen Verhältnis zueinander. Menschliches Wirtschaften hängt von der Existenz von "Naturkapital" ab – umgekehrt ist dies nicht der Fall (O'Connor 1993c, 24). Diese Asymmetrie gilt aufgrund des Entropiesatzes der Thermodynamik schon für ökonomisches Kapital, ist für Naturkapital aber von besonderer Bedeutung: Naturkapital läßt sich wesentlich "leichter" zerstören als "produzieren".

Die Ökosphäre läßt sich durch Menschen also nicht beliebig reparieren. Zwar ist es möglich, gewissermaßen "unterstützend" in ökologische Prozesse einzugreifen: Man kann Maßnahmen zum Bodenschutz durchführen, Feuchtwiesen anlegen, Kiesgruben "renaturieren", Bäume pflanzen usw. Aber eine "Reparatur" (Investition in Naturkapital) in dem Sinne, daß sich anthropogene Schäden immer heilen lassen, ist nicht möglich. Veränderungen der natürlichen Umwelt sind oft irreversibel und zeitverzögert, und die Folgen solcher Veränderungen sind nur sehr unvollständig menschlichem Wissen und menschlichem Eingreifen zugänglich. Dazu kommt, daß menschlich geschaffene Umwelten sich von unberührten unterscheiden, wie Redclift/Woodgate (1994, 63) hervorheben: "Managed environments, in which natural resources are purposefully exploited by human populations, are manifestly different from relatively untouched environments, however wisely or sustainably such environments are managed." Dabei ist zu berücksichtigen, daß "ecosystems modified by people do not exist in isolation but interact with the untransformed ecosystems of the environment" (Barbier 1989, 46).

Da von einer grundsätzlichen Komplementarität von natürlichem und menschengemachtem Kapital ausgegangen werden muß, folge ich im weiteren dem Kriterium der starken Nachhaltigkeit: Sustainable Development erfordert, daß das Naturkapital mindestens konstant ist. Nachhaltige Entwicklung kann nicht durch die Akkumulation von noch so viel menschengemachtem Kapital gesichert werden. Langfristig – und darum geht es bei Sustainable Development – muß ein Entwicklungspfad gefunden werden, der mit dem Erhalt des Naturkapitals kompatibel ist. Im nächsten Schritt ist zu klären, welche Regeln im Umgang mit der natürlichen Umwelt aus dem Postulat der starken Nachhaltigkeit folgen.

 

4.4. Regeln zum Erhalt des Naturkapitals

4.4.1. Welche Regeln sind notwendig?

Regeln zum Erhalt des Naturkapitals sollen sicherstellen, daß die Carrying Capacity der natürlichen Umwelt durch menschliche Eingriffe nicht überschritten wird. Ziel ist es letztlich, mit den Regeln zu Nutzungsverläufen zu kommen, die mit dem Hickschen Einkommensbegriff vereinbar sind: Soll nachhaltig gewirtschaftet werden, dürfen Ressourcenströme und Absorptionskapazitäten nur soweit genutzt werden, daß kein Substanzverlust auftritt. Die "berühmten drei Managementregeln" (Priewe 1998, 32) für ökologische Nachhaltigkeit beziehen sich auf nichterneuerbare und erneuerbare Quellen und auf die Senkenfunktion der natürlichen Umwelt (28):

  1. Erneuerbare Ressourcen dürfen nicht über ihre Regenerationsfähigkeit hinaus genutzt werden. Ziel ist die Erhaltung eines regelmäßigen Flusses dieser Ressource, also ein "sustainable yield".
  2. Nichterneuerbare Ressourcen dürfen nur in dem Maße abgebaut werden, in dem Substitute für die abgebaute Menge geschaffen werden. Diese Substitutionsregel ist schon deshalb notwendig, weil bei einer strengeren Auslegung der Nachhaltigkeitsforderung nichterneuerbare Ressoucen ungenutzt bleiben müßten – ein Vorgehen, das allgemein als sinnlos angesehen wird. Dieses Postulat bleibt für Regel 1 nicht folgenlos: Die Abbaurate für erneuerbare Ressourcen muß unter der Regenerationsrate bleiben – und zwar in dem Maße, wie dies zur Substitution nichterneuerbarer Ressourcen erforderlich ist. Ziel ist es, nichterneuerbare Ressourcen "quasi-sustainable" zu nutzen (Daly 1990b, 4).
  3. Die Senken dürfen nur so weit belastet werden, daß ihre Funktions- und Regenerationsfähigkeit nicht zerstört wird. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik (vgl. Abschnitt 4.2.2.) impliziert einen Zusammenhang zwischen dieser und den anderen beiden Regeln. Jede Entnahme hat eine Belastung der Aufnahmekapazität der Umwelt zur Folge, die diese Kapazität überlasten kann – und zwar auch dann, wenn sie nach den Regeln 1 und 2 erfolgt. Die Verbrennung fossiler Energieträger beispielsweise wird heute mehr durch die Aufnahmefähigkeit der Erdatmosphäre begrenzt als durch die Verfügbarkeit von Energieträgern.

Wie gesagt: Streng genommen impliziert eine Entwicklung, die dauerhaft möglich sein soll, den völligen Verzicht auf nichterneuerbare Ressourcen (Pearce 1987, 13f.; Schröder 1995, 163). Eine Entwicklung auf Basis solcher Rohstoffe wie Öl, Kohle, Eisen usw. kann definitionsgemäß nicht nachhaltig sein. Im Diskurs über Sustainable Development besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß es wenig sinnvoll wäre, nichterneuerbare Ressourcen ungenutzt zu lassen. Dennoch kann kein Zweifel bestehen, daß Sustainable Development irgendwann den Umstieg auf die Nutzung erneuerbarer Ressourcen erfordert und der Verbrauch nichterneuerbarer Ressourcen deshalb nur eine "Übergangslösung" (Harborth 1991, 96) sein kann.

Eine Möglichkeit der Konkretisierung dieser Übergangslösung ist "El Serafy's Rule". Nach diesem von El Serafy (1989) vorgeschlagenen Verfahren werden Einnahmen aus nichterneuerbaren Ressourcen in eine Einkommens- und eine Kapitalkomponente aufgeteilt. Dieses Verfahren bezieht sich in erster Linie auf die angemessene Berücksichtigung derartiger Einnahmen in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Die Einkommenskomponente soll dabei in die Bruttosozialproduktsberechnung eingehen, die Kapitalkomponente dagegen nicht (El Serafy 1989, 13f.). Die Kapitalkomponente soll in erneuerbare Ressourcen investiert werden, so daß ein erneuerbarer Ressourcenstrom zur Verfügung steht, sobald die nichterneuerbare Ressource erschöpft ist. Diese Regel steht im Kontext der Revision der VGR, hat aber Implikationen für den Umgang mit nichterneuerbaren und erneuerbaren Ressourcen, denn "(i)t does implicitely assume (...) that there is something useful in the real world that is capable of growing at a rate equal to the rate of discount used in calculating the income component" (Daly 1991b, 254; s. auch Daly/Cobb 1994, 73f. ). Auf die Anwendung von El Serafys Regel als Managementregel bezogen heißt dies darüber hinaus, daß nichterneuerbare Ressourcen durch erneuerbare Ressourcen ersetzt werden können. Die quasi-nachhaltige Nutzung nichterneuerbare Ressourcen setzt also die Existenz erneuerbarer Sustitute voraus. Unter diesen Bedingungen kann El Serafys Regel als Leitlinie für eine "nachhaltige" Nutzung von nichterneuerbaren Ressourcen dienen. Sie kann auch auf die Absorptionskapazität der Umwelt erweitert werden (Minsch 1993, 40). El Serafy's Rule zielt also darauf ab, durch den Ersatz nichterneuerbarer Ressourcen durch erneuerbare den Gesamtbestand an "Naturkapital" konstant zu halten. Hier liegt eine entscheidende Differenz zur neoklassischen Hartwick-Regel, bei der der Abbau nichterneuerbarer Ressourcen durch Investitionen in menschengemachtes Kapital kompensiert werden soll.

Die Notwendigkeit zur Substitution nichterneuerbarer Ressourcen durch erneuerbare verweist auf einen Aspekt, der in der Diskussion über die Regeln zum Erhalt des Naturkapitals oft unberücksichtigt bleibt, aber von entscheidender Bedeutung ist: Der Anbau erneuerbarer Ressourcen erfordert Fläche, und der Anbau von mehr erneuerbaren Ressourcen (z.B. zur Substitution nichterneuerbarer Ressourcen) erfordert mehr Fläche. Jede Umweltkomponente hat einen qualitativen, einen quantitativen und eben auch einen räumlichen Aspekt, weshalb der Flächenaspekt bei der Nutzung von Umweltfunktionen grundsätzlich eine wichtige Rolle spielt: "When there is not enough space for the use or intended use of the functions, spatial competition of functions occurs. This occurs above all on soil" (Hueting 1980, 98; seine Hervorhebung). Ergibt sich die Notwendigkeit, mehr erneuerbare Ressourcen zu nutzen, wird dies zu einem entscheidenden Problem für die Nachhaltigkeit wirtschaftlicher Aktvitäten. Hier können sich Nutzungskonkurrenzen ergeben, z.B. mit dem Schutz der Artenvielfalt. Eine Regel im Hinblick auf dieses Problem ist schwer zu formulieren. Ganz sicher kann man aber davon ausgehen, daß Wachstum der durch Menschen direkt genutzten Flächen mit einer nachhaltigen Entwicklung nicht vereinbar ist. Wo die Grenze dieses Wachstums ist, kann hier nicht bestimmt werden, die Einhaltung folgender Regel ist aber wohl mit Sicherheit notwendig, wenn Entwicklung nachhaltig sein soll: Die unmittelbare Nutzung von Fläche durch Menschen darf nicht zunehmen (wobei evident ist, daß auch "unmittelbare Nutzung" genau definiert werden müßte).

Die Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt" (1994, 53) des Deutschen Bundestages postuliert eine Regel, die sich auf die temporale Dimension der Naturnutzung bezieht: "Das Zeitmaß anthropogener Einträge bzw. Eingriffe in die Umwelt muß im ausgewogenen Verhältnis zum Zeitmaß der für das Reaktionsvermögen der Umwelt relevanten natürlichen Prozesse stehen" (s. auch BUND/Misereor 1996, 30; Enquete-Kommission 1997, 25; UBA 1997, 12). Während die Kompatibilität unterschiedlicher Zeitmaße in der Tat von entscheidender Bedeutung für Sustainability ist, ist diese Berücksichtigung doch implizit in den ersten drei Regeln enthalten. Diesen möglichen Einwand sieht auch die Enquete-Kommission, hält dem aber entgegen, daß die umweltpolitische und -gesetzgeberische Praxis nach wie vor "stark an statischen Grenzwertmodellen orientiert" sei und die Orientierung an der von der Kommission betonten Zeitdimension vorgebrachten Weise noch nicht aufgegriffen habe (Enquete-Kommission 1994, 53). Die Kommission (1994, 53) sieht, daß "keine der vier Regeln sich scharf von den anderen abgrenzen läßt", hält die vierte Regel aber für notwendig. Ich meine dennoch, daß diese Regel zwar wichtig, aber in den ersten drei Regeln enthalten ist – besonders deutlich ist dies im Fall der Senkenregel, die nicht anders als auch auf den ökologischen Gesamtzusammenhang bezogen interpretiert werden kann. Die Orientierung an Zeitmaßen wirft darüber hinaus einmal mehr die Wissensproblematik auf. Die Enquete-Kommission (1994, 53) weist selbst darauf hin, daß die Reaktionszeiten natürlicher Systeme sich im Bereich zwischen Sekunden und Jahrtausenden bewegen.

Zu fragen ist, ob die Regeln noch in anderer Hinsicht ergänzungsbedürftig erscheinen, um die Erhaltung des Naturkapitals zu sichern. Manche Autoren vertreten beispielsweise die Auffassung, daß diese Nutzungsregeln durch Postulate im Hinblick auf Großgefahren wie z.B. Kerntechnik ergänzt werden müssen. Minsch (1993, 36f.) beispielsweise ist der Ansicht, daß Sustainable Development erfordere, derartige Großgefahren völlig zu vermeiden. Die Unfälle in Tschernobyl, Bhopal, Seweso und anderen Orten sind Signifikanten dieser Großgefahren geworden und verweisen darauf, daß technologische Großrisiken in der Tat nicht mit der Zielsetzung eines Sustainable Development vereinbar sind. Auch die Studie "Zukunftsfähiges Deutschland" (BUND/Misereor 1996, 76) fordert den Verzicht auf Kernenergie. Das Problem der Konkretisierung stellt sich auch hier, und zwar schon bei der Definition dessen, was denn als "Großgefahr" anzusehen ist. Im Gegensatz zu den ersten drei Regeln stellt diese Forderung auf die qualitative Dimension anthropogener Eingriffe ab. Angesichts der realen Bedrohung des Naturkapitals durch Großgefahren erscheint diese weitere Regel aber unerläßlich. Bei Nichtsubstituierbarkeit von Natur- und menschengemachtem Kapital können durch Großgefahren verursachte Schädigungen des Naturkapitals eben nicht durch eine Erhöhung des Bestands an menschengemachtem Kapital kompensiert werden. Noch mehr als bei den ersten drei Regeln sind bei der Bewertung von Großgefahren wissenschaftliche und gesellschaftliche Verfahren zur Festlegung des Gehalts dieser Regel erforderlich. Insbesondere die Definition dessen, was als Großgefahr zu gelten hat, ist offensichtlich ein umstrittener Gegenstand, wie schon die Auseinandersetzungen über Kernkraft und Gentechnologie zeigen.

Als weitere "ergänzende Postulate", die er aus dem Kriterium der starken Nachhaltigkeit ableitet, nennt Minsch (1993, 45ff.) folgende Regeln: "Gesunderhaltung der Biosysteme und Erhaltung der Artenvielfalt", "Erhaltung einer lebenswerten, menschenwürdigen Kulturlandschaft" sowie das "Verbot der Problemverschiebung". Alle diese Postulate setzen letztlich auf qualitativer Ebene an und verweisen darauf, daß rein quantitativ formulierte Regeln nicht hinreichen, um die Lebenschancen zukünftiger Generationen im Sinne der starken Nachhaltigkeit zu sichern. Die Notwendigkeit der Regel zum Erhalt von Biosystemen und Artenvielfalt begründet Minsch (1993, 46) mit der Komplexität ökologischer Systeme und den damit verbundenen Wissensproblemen. Eben diese Wissensprobleme machen freilich die Einhaltung einer solchen Regel zu einem äußerst schwierigen Unterfangen, zumal weder die Funktionszusammenhänge ökologischer Systeme noch der Artenbestand vollständig bekannt sind. Dennoch: Da die ersten drei Regeln diese Qualität nicht erfassen – die Assimilationsregel schließt nicht alle Dimensionen dieser Problematik ein –, erscheint die Einhaltung dieses Postulats als notwendige Bedingung für eine Entwicklung, die dem Kriterium der strong sustainability entsprechen würde.

Sustainable Development "beinhaltet auch die Erhaltung der belebten und unbelebten Natur und von Kulturgütern als ästhetischem Wert" (Enquete-Kommission 1994, 66). Daß im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung auch der ästhetische Wert der natürlichen Umwelt erhalten werden soll, ist in der Literatur unumstritten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die weitgehend quantitativ ausgerichteten Regeln hinreichen können, um dieses Ziel zu erreichen. Minsch (1993, 46) postuliert deshalb die Erhaltung einer "lebenswerten, menschenwürdigen Kulturlandschaft" als Regel für Nachhaltigkeit. Dieses Postulat ist angesichts des historisch und geographisch kontingenten Charakters, der jeder Definition einer lebenswerten und menschenwürdigen Landschaft zu eigen ist, kaum zu operationalisieren. Der Erhalt einer lebenswerten Landschaft trifft damit auf ein ähnliches Problem wie die Vermeidung von Großgefahren. Hier wie dort ist die Zielsetzung noch schwieriger konkretisierbar als die drei Regeln, die sich auf Quellen und Senken beziehen. Was als lebenswerte Landschaft zu schützen ist, kann nur durch gesellschaftliche Verfahren "festgelegt" werden und jedenfalls nicht durch wissenschaftliche Analyse. Gleichwohl ist eine Regel zum Schutz des ästhetischen Wertes der Natur als Teil des "Naturkapitals" schon deshalb erforderlich, weil auch die Einhaltung der anderen Regeln eine völlige Zerstörung dieses Wertes nicht ausschließt. Daß dieser Wert im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung nicht nur aus ökonomischen Gründen erhalten werden muß, ist in der Literatur unumstritten und gilt im übrigen allein schon deshalb, weil der Wunsch nach einer als ästhetisch empfundenen Umwelt gewiß zu den Bedürfnissen des Menschen gehört.

Minschs (1993, 47) "Verbot der Problemverschiebung" schließlich verweist auf die gegenseitige Abhängigkeit der Postulate. Es ist allerdings evident, daß sichergestellt werden muß, daß "prinzipiell kein Nachhaltigkeitspostulat zulasten eines anderen realisiert wird" (Minsch 1993, 47; seine Hervorhebung). Alle Autoren, die im Rahmen der starken Nachhaltigkeit Regeln zum Umgang mit der natürlichen Umwelt aufstellen, gehen explizit oder implizit davon aus, daß selbstverständlich alle Regeln einzuhalten sind, wenn das Naturkapital erhalten werden soll. Schon die Interdependenz zwischen Quellen- und Senkennutzung erfordert, daß die "Managementregeln" simultan einzuhalten sind. Minschs "Verbot der Problemverschiebung" ist folglich zwar richtig, aber redundant.

Welche Regeln sind also einzuhalten, um das Kriterium der Strong Sustainability zu erfüllen? Wie gezeigt wurde, sind die drei meistzitierten Regeln (für erneuerbare und nichterneuerbare Quellen sowie für die Senkennutzung) unerläßlich, um den Erhalt des Naturkapitals zu sichern. Darüber hinaus ist eine nachhaltige Entwicklung nur denkbar, wenn die Belegung von Flächen durch menschliche Nutzungen eingeschränkt wird. Da außerdem Großgefahren eine nachhaltige Entwicklung auch bei Einhaltung der ersten vier Regeln zu gefährden vermögen, müssen diese weitgehend ausgeschlossen werden. Darüber hinaus ist eine fünfte Regel zur Sicherung der Artenvielfalt erforderlich, weil dieses Gut durch die anderen Regeln nicht geschützt wird, es aber notwendige Bedingung für Nachhaltigkeit ist. Schließlich ist der Schutz der ästhetischen Qualität der natürlichen Umwelt zu gewährleisten. Es ist evident, daß man noch weitere Regeln nennen könnte, die Einzelaspekte deutlicher betonen oder die in anderer Weise zum Schutz des Naturkapitals beitragen. (29) Die hier genannten Regeln erscheinen als Mindestanforderung aber angemessen.

Die Einhaltung der folgende sieben Regeln sind also zum Erhalt des Naturkapitals unerläßlich:

  1. Erneuerbare Ressourcen dürfen nicht über ihre Regenerationsfähigkeit hinaus genutzt werden. Darüber hinaus müssen im Bereich erneuerbarer Ressourcen Substitute für den Abbau nichterneuerbarer Ressourcen geschaffen werden.
  2. Nichterneuerbare Ressourcen dürfen nur in dem Maße abgebaut werden, in dem Substitute für die abgebaute Menge geschaffen werden.
  3. Die Senken dürfen nur so weit belastet werden, daß ihre Funktions- und Regenerationsfähigkeit nicht zerstört wird.
  4. Die unmittelbare Nutzung von Fläche durch Menschen darf nicht zunehmen.
  5. Großgefahren sind zu vermeiden.
  6. Die Biodiversität muß erhalten werden.
  7. Der ästhetische Wert der natürlichen Umwelt muß geschützt werden.

 

4.4.2. Wie "operational" sind die Regeln?

Das Oberziel Sustainable Development kann in Form des starken Nachhaltigkeitskriteriums konkretisiert werden, das zu den genannten Regeln führt. Offen bleibt hier zunächst, wie diese Regeln in konkrete Maßnahmen übersetzt werden können. Daly (1990b, 1) nennt die ersten drei Regeln "operational". Allerdings implizieren sie mitnichten, "daß aus ihnen mit letzter Präzision eindeutige Handlungsanweisungen abgeleitet werden könnten" (Enquete-Kommission 1994, 33; s. auch Victor 1991, 209f.). Sie sind aber notwendige Leitlinie im Umgang mit der natürlichen Umwelt, namentlich für die Nutzung von erneuerbaren und nichterneuerbaren Ressourcen und von natürlichen Senken. Diese Regeln können zwei Funktionen erfüllen. Erstens können sie als wichtige "Hinweisschilder" im Umgang mit der natürlichen Umwelt dienen in dem Sinne, daß sie eine anstrebenswerte – aber eben nicht erreichbare – Orientierungsgröße darstellen. Zweitens sind diese Regeln zur theoretischen Analyse der Erfordernisse eines Sustainable Development im Hinblick auf die Umweltnutzung notwendig. Beide Funktionen können zu praktischen Schritten in Richtung Sustainable Development beitragen. Die Frage ist aber, ob diese "Hinweisschilder" nicht zu statisch ausfallen, um der Komplexität natürlicher Systeme gerecht zu werden. Die Naturkapitalmetapher ist, wie gesagt, aus verschiedenen Gründen problematisch, und die aus ihr hergeleiteten Regeln entgehen dieser Problematik nicht. Die natürliche Umwelt ist eben nicht ein Sparbuch, auf dem man ebenso abbuchen wie einzahlen kann, sondern ein selbstorganisierendes, evolvierendes und deshalb für Eingriffe äußerst empfindliches System.

Dennoch: Eine Orientierung auf den Erhalt des Naturkapitals und eine Anwendung der genannten Regeln wären ein großer Schritt in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung. Daß die ökonomische Literatur zu diesem Thema von der Kapitalperspektive dominiert ist, hat die vorangegangene Darstellung deutlich werden lassen. Problematisch ist und bleibt allerdings die "Überwachung" der Einhaltung dieser Regeln und folglich die praktische Anwendung der Regeln im Umgang mit natürlichen Quellen und Senken. Eine halbwegs kontrollierte Anwendung der Regeln setzt beispielsweise voraus, daß 1) die Regenerationsfähigkeit erneuerbarer Quellen, 2) die Bestände und Substitutionsmöglichkeiten im Hinblick auf nichterneuerbare Ressourcen, und 3) die Belastbarkeit der natürlichen Senken bekannt sind. Niemand kennt die Erschöpfungsgrenze nichterneuerbarer Ressourcen (Kappel 1994, 60). Noch schwieriger zu bestimmen sind Regenerations- und Assimilationskapazitäten von erneuerbaren Quellen und von Senken. Dazu kommt noch, daß Quellen- und Senkenfunktion nicht unabhängig voneinander sind. Aufgrund des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik führt jede Quellenentnahme früher oder später zur Belastung natürlicher Senken. Jede Beanspruchung von Quellen und Senken führt nach den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik außerdem zu einer Entropieerhöhung. Die Übernutzung von Quellen und die Überbeanspruchung von Senken sind also zwei Seiten der gleichen Medaille, folglich bestehen "erhebliche Interdependenzen und Überschneidungen" zwischen Quellen und Senken und zwischen nichterneuerbaren und erneuerbaren Ressourcen (Enquete-Kommission 1994, 44).

Auf diese Interdependenzen wird noch zurückzukommen sein, wenn es um die ökologische Plausibilität des Dalyschen Steady-State-Konzepts geht. Zunächst ist aber eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Steady-State notwendig. Nach der Erörterung dieses ökologisch-ökonomischen Beitrags zur Umsetzung der Forderung nach Sustainable Development geht es auch um die These vom "historischen" Steady-State und ausführlich um den Steady-State als Konzept der ökonomischen Theorie. Im Anschluß daran ist es möglich, auf die Zielsetzung einer nachhaltigen Entwicklung zurückzukommen und Dalys Steady-State darauf zu beziehen.