6. Ist Stationarität die historische Normalität?
"Die Arbeiten von Journalisten, Ökonomen und Soziologen leiden häufig unter dem Mangel,
daß sie nicht die historischen Dimensionen und Perspektiven berücksichtigen."
(Braudel 1986, 99)
6.1. Einleitung: Der "historische" Steady-State
"Of course, for most of man's existence on
earth he has lived in steady-state societies."
(Meadows 1977b, xxiv)
Dieses Kapitel verfolgt das Ziel, die These vom historischen Steady-State zu beleuchten und dabei einen entscheidenden Bruchpunkt in der Geschichte der anthropogenen Umweltnutzung herauszuarbeiten. Mit "historischem Steady-State" ist die Auffassung gemeint, daß der allergrößte Teil der Geschichte in einem stationären Zustand stattgefunden hat und also nicht im Kontext einer stetig wachsenden Wirtschaft. Für die umweltgeschichtliche Einordnung des Steady-State ist eine auf der "energetisch-materiellen Grundlage" gesellschaftlicher Evolution fußende Differenzierung zwischen zwei Entwicklungsmodi sinnvoll. Sieferle (1997) differenziert zwischen dem Solarenergiesystem, das keinen Zugriff auf fossile Energieträger hat, und dem fossilen Energiesystem, das sich in eben diesem Zugriff vom Solarenergiesystem unterscheidet. Etwas weiter gefaßt ist Wrigleys (1987, 1988) Unterscheidung zwischen organischer und mineralischer Wirtschaft. Auch Wrigley betont die Bedeutung der Energieressourcen, berücksichtigt darüber hinaus aber die Tatsache, daß die organische Wirtschaft nicht nur für Energieträger und Nahrungsmittel, sondern für fast alle zur Produktion erforderlichen Materialien auf organische (biotische) Rohstoffe zurückgreifen mußte. Die mineralische Wirtschaft nutzt demgegenüber mineralische Energieträger und nichterneuerbare Materialien. Wie im folgenden gezeigt wird, ist der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft gleichzeitig ein Übergang vom Solarenergiesystem und von der organischen Wirtschaft zum fossilen Energiesystem und zur mineralischen Wirtschaft. Dieser Übergang hat nicht nur fundamentale Auswirkungen auf die Umweltfolgen wirtschaftlicher Aktivitäten, sondern schafft auch bis dahin unvorstellbare Wachstumsmöglichkeiten.
Hier kommt es, dies sei betont, nicht auf die Erklärung der Ursachen der industriellen Revolution an, sondern auf die Tatsache, daß der Übergang von der organischen zur mineralischen Wirtschaft eine sehr wichtige Voraussetzung für die mit der industriellen Revolution einsetzende Wachstumsdynamik war. (37) Die Ursache dieser Revolution ist hier sekundär, entscheidend ist, daß sie ohne den genannten Übergang nicht hätte stattfinden können. Die industrielle Revolution basiert auf zwei verschiedenen Modi wirtschaftlichen Wachstums (Wrigley 1988, 130). Die Ursachen der genannten Übergänge bleiben umstritten. Mit der These des Übergangs von der organischen zur mineralischen Wirtschaft beispielsweise ist nicht gesagt, daß die Nutzung fossiler Energie hinreichende Voraussetzung für den explosiven Anstieg der Produktion war. Ohne Veränderungen im sozialen, politischen und institutionellen Bereich wäre eine industrielle Revolution und deren Fortführung nicht möglich gewesen (Wrigley 1987, 12ff.; Heilbroner 1985, 160ff.; Kromphardt 1987, 55; Landes 1969, 80ff.). Zwischen technischer, ökonomischer, sozialer und politischer Entwicklung besteht keine einfache Ursache-Wirkung-Beziehung. Der Übergang von der organischen zur mineralischen Wirtschaft ist entscheidend von sozioökonomischen Bedingungen geprägt. Ohne eine entsprechende gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamik wäre es nicht zu diesem Übergang gekommen (Sieferle 1997, 142f.).
Mokyr (1990, 83) hält verallgemeinernde Erklärungen der industriellen Revolution – zu denen er z.B. die Version von Wrigley rechnet – für falsch, weil sie der Vielfalt der technologischen Veränderungen nicht Rechnung trügen. "The reason some industries changed and others did not has little to do with either the demand side of the economy or the supply of raw materials and coal. Technological opportunities and constraints by and large determined where and when improvements were to occur. (...) What Wrigley does not stress sufficiently is that causality may have run not from resources to technology but rather in the opposite direction. Coal consumption increased because technological change increased its efficiency in use" (Mokyr 1990, 83, 160). Wrigley behauptet freilich nicht, daß allein technische Veränderungen (oder gar nur der Übergang von der organischen zur mineralischen Wirtschaft) die wirtschaftliche Entwicklung dieser Zeit bestimmt. Es sei eine Binsenwahrheit, daß ökonomische, demographische und soziale Bedingungen eng miteinander zusammenhingen. Die technischen Bedingungen seien nicht die entscheidende Variable, sondern in der Tat erst vor dem Hintergrund sozialer Veränderungen möglich geworden (Wrigley 1987, 13f.). Das Henne-Ei-Problem im Hinblick auf das Verhältnis von Technologie und Ressourcenknappheit ist hier aber nicht entscheidend. Auch Sieferle (1997, 126) wendet sich gegen die Vorstellung, die Änderung des Energiesystems als Ursache der "großen Transformation" zu sehen. Ihm geht es um die "Rekonstruktion eines funktionalen Zusammenhangs", also der Veränderung der Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Entwicklung und der erweiterten Spielräume, die die Veränderung des Energiesystems ermöglicht hat (Sieferle 1997, 126). Darum geht es auch hier: Nicht um die Erklärung der industrielle Revolution, sondern um die Darstellung der "ökologischen" Dimension dieser Revolution und ihrer Implikationen. Der Begriff der "Revolution" selbst ist – ebenso wie die genaue Datierung – umstritten, und zwar auch im Hinblick auf die neolithische Revolution (Sieferle 1997, 152). Die Identifizierung von historischen Brüchen ist aber möglich, wie sich im folgenden zeigen wird. Zwischen Agrar- und Industriegesellschaft findet ohne Zweifel ein Strukturbruch statt. Wenn dies aber der Fall sei, so Sieferle (1997, 153), komme es nicht auf die Bezeichnung dieser Übergangsphase an: "ob Revolution, Transformation oder Übergang, gemeint ist eben die Tatsache des historischen Phasenübergangs. Lediglich den Begriff einer 'Evolution' sollte man vermeiden, denn er verschleiert den Charakter des qualitativen Bruchs, der diese Phasenübergänge kennzeichnet."
Der Umstand, daß Wachstum zumindest in den seit der industriellen Revolution bekannten Dimensionen ein historisch relativ junges Phänomen ist, muß bei der Untersuchung des Steady-State-Ansatzes berücksichtigt werden. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil in der ökologischen Debatte oft darauf verwiesen wird, daß Wachstum gleichsam ein historischer Ausnahmezustand sei. Daly (1991b, 18) z.B. vertritt die Auffassung, daß "(i)n the long run, stability is the norm and growth the aberration. It could not be otherwise". Er meint, daß "(h)istorically, people have lived for 99 percent of their tenure on earth in conditions very closely approximating a steady state. Economic growth is essentially a phenomenon of the last 200 years, and only in the last 50 years has it become the dominant goal of nations. Growth is an aberration, not the norm" (Daly 1993e, 331; s. auch 1996a, 215). Und auch Georgescu-Roegen (1977c, 270), der dem ökologischen Steady-State-Konzept sehr skeptisch gegenübersteht, meint, daß "(f)or the longest part of its history, mankind has in fact lived in such a [steady; FL] state, in the traditional village communities which are not quite extinct yet" (s. auch 1971, 228). Boulding (1973a, 62) schließlich ist der Ansicht, daß "periods of rapid economic progress have been relatively rare even in the history of civilization, and are almost unheard of in precivilized societies." Daß der größte Teil der Menschheitsgeschichte in einem stationären Zustand stattgefunden hat, ist eine auch unter nicht ökologisch orientierten Ökonomen verbreitete Vorstellung. Um nur zwei prominente Beispiele zu zitieren: Keynes (1972c, 322f.) vertritt die Auffassung, daß "(f)rom the earliest times of which we have record – back, say to two thousand years before Christ – down to the beginning of the eighteenth century, there was no very great change in the standard of life of the average man living in the civilised centres of the earth. Ups and downs certainly. Visitations of plague, famine and war. Golden intervals. But no progressive, violent change. Some periods perhaps 50 per cent better than others – at the utmost 100 per cent better – in the four thousand years which ended (say) in A.D. 1700. This slow rate of progress, or lack of progress, was due to two reasons – to the remarkable absence of important technical improvements and to the failure of capital to accumulate" (meine Hervorhebung). Und für Schumpeter (1952, 121, Fn. 21) ist die stationäre Wirtschaft "für ungezählte Jahrtausende und auch in historischen Zeiten an manchen Stellen für Jahrhunderte unbestreitbare Tatsache". (38) Heute gilt Wachstum dagegen als Selbstverständlichkeit.
Ob die vorindustriellen Wirtschaften stationär waren und Wirtschaftswachstum ein modernes Phänomen ist, das erst mit der industriellen Revolution möglich wurde, ist unter Wirtschaftshistorikern umstritten (Snooks 1994a, 43ff.). Snooks (1994a, 44) bestreitet die These vom "historischen Steady-State" und bemerkt, daß "(t)he conventional wisdom tells us that economic systems in the distant past experienced, over very long periods of time, either the steady state envisaged by the classical economists, or zero-sum fluctuations in GDP per capita. According to both interpretations, ancient and medieval societies were unable to escape from poverty because they were dominated by custom rather than individual self interest. The implications of such a conclusion are fundamental to our view of both the past and the future of the human race. Ecologists, for example, believe that just as growth was turned on at the beginning of the Industrial Revolution, so it can – indeed must – be turned off again immediately" (meine Hervorhebung). Ich betone, daß es hier um eine solche primitive Übertragung von pre- auf postindustrielle Verhältnisse nicht geht, und daß ich insbesondere keinesfalls meine, Wachstum könne "abgestellt" werden (s. Teil IV)(es ist in der industriellen Revolution ja auch nicht einfach "angestellt" worden).
Snooks (1994a, 55f.) selbst geht davon aus, daß die englische Wirtschaft in den sechs Jahrhunderten vor 1700 mit ca. 0,3 % pro Jahr gewachsen ist. Dies impliziert einen Zuwachs des Pro-Kopf-Einkommens von 34% pro Jahrhundert oder von 8 % in jeder Generation (25 Jahre). Folglich, so Snooks (1994a, 56), "medieval populations were keenly aware of economic change, favourable as well as unfavourable." Auch Falkinger (1986, 25) meint, daß es im Mittelalter und besonders im 13. Jahrhundert Wachstum gegeben habe. Nach Snooks' Berechnungen waren die Wachstumsraten des Pro-Kopf-Inlandsprodukts in der Zeit von 1088 bis 1688 fast genauso hoch wie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Anders formuliert: Die Wachstumsraten während der ersten Hälfte der industriellen Revolution waren nur wenig höher als die durchschnittlichen Wachstumsraten der davor liegenden 600 Jahren (Snooks 1994a, 56f.; s. auch Boulding 1974, 192, der die Frage aber offenläßt). Daraus zieht Snooks (1994a, 57) die Schlußfolgerung, daß "the growth record of the Industrial Revolution, and even that of the last two centuries, was not at all remarkable in terms of past experience." Auch hätte es Strukturwandel und technische Innovationen schon in der Zeit vor der industriellen Revolution gegeben. Wirtschaftswachstum, so betont Snooks (1994a, 58), "is definitely not a modern invention." Und: "There are, and have always been, limits to growth, and these limits have been approached in the past. There is nothing 'new' in this" (Snooks 1994a, 76).
Trotz Snooks' Berechnungen ist m.E. davon auszugehen, daß die industrielle Revolution zu einer dramatischen Umwälzung der Lebensverhältnisse geführt hat. Mokyr (1990, 81) formuliert dies so: "(T)he last two centuries have been a period of ever accelerating change, a disequilibrium of epic proportions unlike anything that came before it. In two centuries daily life changed more than it had in the 7,000 years before. The destabilizing agent in this dizzying tale was technology, and Western technology alone" (s. auch Sieferle 1997, 151ff.). Bis vor zweihundert Jahren, so Ponting (1991, 316, 315) "all societies in the world have been overwhelmingly agricultural", während seitdem "a sizeable minority of the world's population has achieved a material standard of living that would have been unimaginable for previous generations" (meine Hervorhebung). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß das Wachstum in den letzten zweihundert Jahren in sich industrialisierenden und industrialisierten Ländern gewiß weit höher war als die von Snooks für die Zeit von 1100 bis 1700 kalkulierten 0,3 % (man denke an die Hochzeit der europäischen Industrialisierung oder die Wachstumsraten einiger asiatischer Staaten im letzten Drittel dieses Jahrhunderts). Selbst wenn man die Berechnungen von Snooks akzeptiert, könnte man die Zeit vor der industriellen Revolution dann wohl als quasi-stationären Zustand beschreiben (Lecomber [1979, 151] spricht von "relatively stationary states of the pre-industrial revolution era"). In der Tat wird sich im folgenden zeigen, daß auch das Neolithikum technische Innovationen nicht geringen Ausmaßes kannte. Es wird sich aber auch zeigen, daß der Übergang zur Nutzung mineralischer Rohstoffe und zur systematischen Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Produktionsprozeß einen in ökologischer und ökonomischer Hinsicht historischen Bruch bedeutete, der die Zeit vor der industriellen Revolution deutlich von den letzten zweihundert Jahren unterscheidet. Der "historische Steady-State" bedeutet mithin nicht, daß es vor der industriellen Revolution überhaupt kein Wachstum gegeben hat (dies widerlegt schon der Blick auf die Zunahme der Bevölkerung), sondern daß Wachstum vor dieser Revolution stets spürbaren Beschränkungen unterworfen war. Hierin liegt der Bruch zwischen der Zeit vor und nach der industriellen Revolution, wie sich im folgenden zeigen wird.
Der Mensch hat seit seiner Existenz immer in seine natürliche Umwelt eingegriffen, und auch in Jäger- und Sammlergesellschaften – eindeutig organische Wirtschaftsformen – haben Menschen die Umwelt in signifikanter Weise verändert (Goudie 1993, 374; Redclift 1987, 113; Sieferle 1997, 28ff.). Menschliches Handeln wirkt sich auf Pflanzen, Tiere, die Umweltmedien (Boden, Wasser, Luft), auf die geologische Gestalt der Erde und schließlich auf das Klima aus (vgl. als Überblicke: Goudie 1993; Ponting 1991; Sieferle 1997). Dabei sind Bevölkerungszahl und die von Menschen verwendeten Techniken entscheidende Determinanten der Quantität und Intensität der Umweltfolgen. In der Zeit vor der Einführung der Landwirtschaft war der Einfluß des Menschen auf die natürliche Umwelt vergleichsweise gering: "Overall, compared with later stages of cultural development, early hunters and gatherers had neither the numbers nor the technological skills to have a very substantial effect on the environment" (Goudie 1993, 15). Aus "moderner Sicht" waren (und sind) "primitive" Lebensweisen (Jäger- und Sammlergesellschaften) durch eine Unternutzung von Ressourcen gekennzeichnet (Sieferle/Müller-Herold 1996, 136ff.). Die Strategie des Sich-Einschaltens in gegebene Ressourcenflüsse "ist zwar nicht sonderlich fortschrittsträchtig, doch hat sie sich insofern als erfolgreich erwiesen, als sie der Menschheit ein Überleben über sehr lange Zeiträume ermöglicht hat" (Sieferle/Müller-Herold 1996, 138; s. auch Heilbroner 1985, 27). Jäger- und Sammlergesellschaften wirtschaften in einem stationären Zustand. Das Energiesystem dieser Gesellschaften ist ein "Solarenergiesystem auf der Basis unkontrollierter Biokonverter" (Sieferle 1997, 32; meine Hervorhebung). Allgemein wird angenommen, daß für diese Gesellschaftsform Knappheit kein Problem war: "Primitive" Gesellschaften sind in diesem Sinne Überflußgesellschaften. Matthaei (1984, 86) z.B. meint, daß "hunters and gatherers were content with their simple standard of living and were free from scarcity" (meine Hervorhebung). Mit der Einführung der Landwirtschaft änderte sich dies dramatisch: Knappheit wurde das ökonomische Problem. Mit der Landwirtschaft wird es möglich, die Ressourcenströme aktiv zu kontrollieren. Seßhaftigkeit ermöglicht und erzwingt Lagerhaltung, und dies ermöglicht eine kontinuierlichere Nahrungsmittelversorgung als vor der neolithischen Revolution. Dadurch wird es möglich, so Sieferle (1997, 73f.), daß Agrargesellschaften "den Sicherheitsabstand zu einem möglichen Versorgungsminimum verringern können. Dies hat aber weitreichende Konsequenzen: Es bedeutet nämlich nicht nur, daß sie ihre natürliche Umwelt intensiver nutzen, sondern auch, daß der Arbeitsaufwand beträchtlich steigt. Bauern können, im Gegensatz zu Wildbeutern, Brot essen – doch müssen sie dies im Schweiße ihres Angesichts tun!"
6.2. Neolithische Revolution: Systematische Nutzung biotischer Rohstoffe
"Before the eighteenth century it is safe to say that all human societies, both primitive and civilized, relied almost 100 percent on the energy income from the sun, through agriculture, forests, animals, human muscles, or wind power and water power, which are derivatives of solar energy."
(Boulding 1977, 115).
Gegenüber Jäger- und Sammlergesellschaften sind Agrargesellschaften dadurch gekennzeichnet, daß versucht wird, Ressourcenflüsse aktiv zu kontrollieren (Sieferle 1997, 61, 79). Der Übergang zur Landwirtschaft (der vor ca. 10.000 Jahren begann) bedeutet also das Abrücken von Jagen und Sammeln durch die Einführung eines zielgerichteten, systematischen Umgangs mit Pflanzen und Tieren. Die neolithische Revolution ermöglichte einen starken Anstieg der Bevölkerung. Einigen Schätzungen zufolge erhöhte sich die Bevölkerung von ca. 5 Millionen vor 10.000 Jahren auf 200 Millionen in der Zeit um Christi Geburt und 500 Millionen um 1650 (Goudie 1993, 9; Sieferle 1997, 100). Gleichzeitig wurde durch die Domestizierung von Pflanzen die für die Ernährung einer Person notwendige Fläche um den Faktor 500 (sic) verringert (Goudie 1993, 15). Die Carrying Capacity des Bodens im Hinblick auf die "tragbare Bevölkerungsgröße" wurde also erhöht. Durch die neolithische Revolution ist zunächst die Technologie in einer Weise verändert worden, die für die Lebensbedingungen der Menschen wohl vorteilhaft war, aber zu einer stärkeren Umweltbelastung geführt hat. Durch die erhöhte Ausstattung mit "exosomatischen Organen" erhöhte sich der "Wohlstand" und damit die Umweltbelastung, dasselbe gilt für die im Zuge dieser Entwicklung ansteigenden Bevölkerungszahl. Diese Veränderungen durch den Übergang vom Jäger- und Sammlerdasein zum Betrieb von Landwirtschaft und Viehzucht nehmen sich freilich bescheiden aus neben den Veränderungen, welche die industrielle Revolution mit sich brachte.
Wrigley (1988, 9) hält es gleichwohl für verfehlt, die Zeit vor der industriellen Revolution als eine Periode mit relativ wenigen Veränderungen anzusehen. In der Tat setzte schon "mit der neolithischen Revolution eine universalgeschichtlich sensationelle Serie von Erfindungen und Entdeckungen neuer Verfahren ein" (Sieferle 1997, 61). Es wäre auch falsch, sich agrarische Gesellschaften als harmonische Veranstaltung vorzustellen. Die Auseinandersetzung mit Parasiten z.B. bedeutet einen erheblichen Kontrollaufwand, ein "permanenter evolutionärer 'Rüstungswettlauf'" (Sieferle 1997, 65) ist für die landwirtschaftliche Produktionsweise charakteristisch. Dies führt dazu, "daß Agrargesellschaften grundsätzlich innovativ sein müssen und zur Entfaltung von Dynamik tendieren. Die Landwirtschaft befindet sich niemals in einem harmonischen 'Gleichgewicht' mit der von ihr genutzten Natur, sondern die Bauern haben immer damit zu rechnen, daß neuartige Probleme auftreten, auf die sie reagieren müssen" (Sieferle 1997, 65f.). Dies hängt auch mit dem Bevölkerungswachstum zusammen, das in der agrarischen Gesellschaft möglich war. Durch die "malthusianische" Steuerung der Bevölkerungsgröße (Krieg, Hunger, Seuchen) verliert die Regulierung der Geburtenzahl durch Verhaltensänderungen an Bedeutung. Daher sind agrarische Zivilisationen tendenziell überbevölkert (Sieferle 1997, 132). Damit befindet sich die Agrargesellschaft, so Sieferle (1997, 132f.), "in einer Art Dynamikfalle: Ihr sind von ihrer energetischen Basis letztlich stationäre Obergrenzen gesetzt, doch muß sie permanent versuchen, diese Grenzen zu überschreiten, sei es als Antwort auf Knappheit, sei es als autonome kulturelle Invention. Sie zerrt daher an den naturalen Fesseln, die ihr das Solarenergiesystem angelegt hat, und solange noch Spielräume existieren, hat sie damit auch Erfolg: Ihre Wachstumsgrenzen erweisen sich dann immer wieder als bloßes Wachstum der Grenzen." Diese "Spielräume" sind jedoch nicht unbegrenzt, und folglich ist langfristiges und "unbegrenztes" Wachstum nicht möglich. "Der einzige säkulare Ausweg aus diesem Dilemma bestand schließlich darin, daß sie [die Agrargesellschaft; FL] ihre systembedingten Fesseln sprengte und zu einem andersgearteten Energiesystem überging" (Sieferle 1997, 133).
Vor diesem Übergang gab es also spürbare Wachstumsbegrenzungen: "Within the confines of an organic economy (...) the process of economic growth is very likely to provoke problems if long sustained. Nor is there sound reason for optimism in the long term about the course of real wages" (Wrigley 1988, 93). Vor der industriellen Revolution bestanden auf der Inputseite des Wirtschaftssystems Wachstumsgrenzen. Grund dafür war die Tatsache, daß die im ökonomischen Prozeß verwendeten Rohstoffe fast ausschließlich aus biotischen, also erneuerbaren Ressourcenquellen gespeist wurden. Dadurch war der Anstieg der Produktion vor allem durch die Bodenproduktivität begrenzt: "The annual flow of vegetable and animal products from the soil set a ceiling to the productive potential of the economy, a ceiling which it appeared impossible to raise indefinitely" (Wrigley 1987, 10; meine Hervorhebung; s. auch 1994, 32). Die Existenz einer Obergrenze ("ceiling") ist für Rostow definierende Eigenschaft einer traditionellen Gesellschaft. Rostow führt dies allerdings nicht auf den mangelnden Zugriff auf bestimmten Ressourcen zurück, sondern auf den Mangel an technischem Fortschritt: "(T)he central fact about the traditional society was that a ceiling existed on the level of attainable output per head. This ceiling resulted from the fact that the potentialities which flow from modern science and technology were either not available or not regularly and systematically applied" (Rostow 1960, 4).
Weil das traditionelle Solarenergiesystem auf organische Rohstoffe angewiesen war, wurden seine Entwicklungsmöglichkeiten entscheidend durch den Faktor Fläche bestimmt. Diese Abhängigkeit von der Fläche war neben der Dezentralität der Energieversorgung das wichtigste Merkmal des traditionellen Solarenergiesystems. (39) Im Hinblick auf die Energiegewinnung ist die Flächennutzung ein "Nullsummenspiel", weil die Vermehrung einer Energieart stets nur zu Lasten einer anderen Energieform möglich war, da es um die alternative Nutzung einer nicht ausweitbaren Gesamtfläche ging (Sieferle 1997, 94f.; s. auch 134). Daraus folgte eine "den Agrargesellschaften innewohnende Tendenz, einem stationären Zustand zuzustreben. (...) Explosive und längerfristige Prozesse des 'Wachstums' waren nur in Ausnahmefällen möglich, und zwar in der Regel weniger aufgrund von technischen Durchbrüchen als infolge einer neuen Landnahme wie der Besiedlung Amerikas durch die Europäer, welche die Wachstumsgrenze ein Stück nach oben rückte. Diese Pionierphasen mündeten jedoch immer recht schnell wieder in einen neuen stationären Zustand ein, der wiederum ein Zustand allgemeiner Land- und Energieknappheit war" (Sieferle 1997, 96f.). In diesem Sinne kann im Hinblick auf vorindustrielles Wirtschaften von einem quasi-stationären Zustand gesprochen werden: Wachstum war nicht völlig ausgeschlossen, aber aufgrund der Systemeigenschaften definitiven Grenzen unterworfen.
Aus dieser Begrenztheit resultiert ein "Verteilungskampf um einen Kuchen, der prinzipiell nicht wachsen konnte" (Sieferle 1997, 97). Dieser Zusammenhang von Stationarität und Verteilungsproblematik ist für die aktuelle Diskussion von großer Bedeutung (s. Teil IV). Dies gilt auch für die resultierende Form der Umweltnutzung, denn: "Ausdruck dieses zentralen Motivs der Agrargesellschaft [des Nullsummenspiels; FL] war das Nachhaltigkeitsprinzip: Es war der Inbegriff des wohlgeregelten, störungsfreien und dauerhaften Gleichgewichts zwischen einer gegebenen Ressourcenmenge und ihrer stabilen Nutzung" (Sieferle 1997, 97f.; meine Hervorhebung). Ein Solarenergiesystem habe "prinzipiell die Eigenschaft der Nachhaltigkeit" – allein die Fläche sei ein begrenzender Faktor, dessen Verknappung zu verschärften Verteilungsproblemen führen würde, die allerdings durch ein besseres Flächenmanagement angegangen werden könnten (Sieferle 1997, 139).
Im Rahmen eines flächengebundenen Energiesystems, so Sieferle (1997, 126), sind "gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen naturale Grenzen gesetzt, die nicht überwunden werden können, ohne die Grenzen des Energiesystems zu sprengen." Dies bezieht sich natürlich nicht auf kommunikative Prozesse, sondern auf physische: "Das vorindustrielle Solarenergiesystem schnürte lediglich solche sozialen und kulturellen Dynamisierungstendenzen ein, die einen Niederschlag in 'Wirtschaftswachstum' und vergleichbaren materiellen Vergegenständlichungen fanden" (Sieferle 1997, 127). Dies ist ein entscheidender Punkt, und zwar in aktueller wie in historischer Hinsicht. Aktuell ist dies relevant für die Begrenzung wirtschaftlichen Wachstums, das zunehmend auf der Zunahme von Dienstleistungen beruht. Historisch zeigt sich hier, daß zwar Wachstum – als quantitative Zunahme – durch natürliche Grenzen begrenzt war, nicht jedoch eine – als qualitative Veränderung verstandene – Entwicklung. Bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrtausends hinein befand sich die Anthroposphäre in einem Quasi-Steady-State. Daß die Menschheit sehr lange in einem Steady-State gelebt hat und Wachstum eine "Abweichung" darstellt, sagt für sich genommen aber wenig aus. Entscheidend ist hier, daß dieser lange Steady-State eben nicht mit "Entwicklungslosigkeit" einherging. Niemand wird wohl behaupten, daß in den Tausenden von Jahren vor der industriellen Revolution keine Veränderungen, keine Innovationen, keine Entwicklung stattgefunden habe. Die Geschichte des Verhältnisses zwischen Anthroposphäre und Umwelt zeigt, daß in einem (Quasi-)Steady-State Entwicklung möglich ist. Dies heißt nicht, um auf die eingangs zitierte Äußerung von Snooks zurückzukommen, daß deshalb Wirtschaftswachstum einfach "abgestellt" werden könnte. Es heißt aber in der Tat, daß ein durch Umweltfaktoren begrenzter Wirtschaftsprozeß in der Vergangenheit sozioökonomische Entwicklung nicht ausgeschlossen hat. Damit ist natürlich nicht "bewiesen", daß dies auch in Zukunft so sein kann. Ob es möglich ist, daß Gesellschaften sich für die Einhaltung von erst in Zukunft spürbaren Begrenzungen "entscheiden", bleibt eine offene Frage (s. Abschnitt IV).
Ein Ausschöpfen des energetischen Potentials der Fläche impliziert, daß weiteres Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum nicht möglich ist, insofern es auf Energienutzung beruht. Umgekehrt heißt dies, so Sieferle (1997, 140), "daß Wirtschaftswachstum in dem Umfang, wie es mit der Industrialisierung verbunden war, nur möglich wurde, weil die Grenzen des agrarischen Solarenergiesystems durch den Übergang zum fossilen Energiesystem gesprengt wurden." Die organische Wirtschaft war durch negative Rückkopplungen geprägt. Diese Rückkopplungen führen dazu, daß der Wachstumsprozeß selbst näher an diejenigen Grenzen führt, die jedes weitere Wachstum schwieriger machen, z.B. die Notwendigkeit, auf die Nutzung von qualitativ immer schlechteren Böden zurückzugreifen. Jeder weitere "Schritt" macht weiteres Wachstum schwieriger (Wrigley 1988, 29). Dies änderte sich mit der industriellen Revolution.
6.3. Industrielle Revolution: Nutzung abiotischer Rohstoffe
"Economic growth based on fossil fuels is an ephemermal type of growth."
(Pirages 1977a, 3)
Wie in vor-neolithischen Gesellschaften wurden die genutzten Material- und Energieströme auch im Neolithikum in erster Linie aus erneuerbaren Ressourcen gespeist. Die Abhängigkeit der organischen Wirtschaft von der Flächennutzung setzt Wachstumsgrenzen, und diese Grenzen scheinen im 18. Jahrhundert erreicht worden zu sein. Im 18. Jahrhundert, so Sieferle (1997, 133), gab es Anzeichen für eine Krise des Solarenergiesystems, die erst der Übergang zum fossilen Energiesystem beenden konnte. Laut Sieferle (1997, 137) spricht einiges für die Annahme, "daß sich das vorindustrielle Solarenergiesystem im 18. Jahrhundert an einer Schwelle befand, die ein weiteres Wachstum wichtiger physischer Parameter (Bevölkerungsgröße, Stoffdurchsatz) verhinderte. Das energetische Potential der Fläche war gewissermaßen ausgereizt." Ein entscheidender Faktor für die Möglichkeit einer industriellen Revolution war die Nutzung nichterneuerbarer Ressourcen für den – agrarischen und industriellen – Produktionsprozeß, insbesondere als Energieträger. Der "Shift" von erneuerbaren zu nichterneuerbaren Ressourcen als Grundlage der Produktion war ein entscheidender Faktor für die industrielle Revolution und ist bis heute Grundlage für die Funktionsweise der Ökonomien des "Nordens". Möglich wurde dieser Übergang durch die Entdeckung der Möglichkeit, die in Mineralien (zunächst vor allem Kohle) gespeicherte Energie zu nutzen (Wrigley 1987, 9, 29). Die schnelle Verfügbarkeit und die hohe Dichte der Energie in mineralischen Rohstoffen ist für die Verwendung im Produktionsprozeß elementar.
Anders als in der organischen Wirtschaft werden in weiten Bereichen der mineralischen Wirtschaft positive Rückkopplungen wirksam, wodurch jeder weitere "Schritt" den nächsten einfacher macht: "The system as a whole could gain an increasing momentum of growth" (Wrigley 1988, 30). Energieknappheit wird nun quasi durch Energieüberfluß abgelöst, und "Energie bildete nicht mehr einen Engpaß, sondern die Relationen wurden gewissermaßen umgekehrt: Der Energieüberfluß drängte auf eine Dynamisierung, die in kurzer Zeit sämtliche Lebensprozesse ergreifen konnte" (Sieferle 1997, 140; meine Hervorhebung). Auch in der Spätphase der organischen Wirtschaft bestand ein enger Zusammenhang zwischen Bevölkerungszahl und der Inanspruchnahme der Landwirtschaft, der erst im 19. Jahrhundert durchbrochen wurde (Wrigley 1988, 64ff.). Im Laufe dieses Jahrhunderts wurde die organische Wirtschaft durch einen "new economic mode" und eine "new demographic order" ersetzt: die mineralische Wirtschaft. Wenn auch Wirtschaftswachstum vor dem endgültigen Übergang zur mineralischen Wirtschaft begann (wie z.B. die Arbeiten von Smith [1976] und Ricardo [1951b] zeigen): Die Überwindung quasi-stationärer Wachstumsgrenzen wird erst durch den Übergang zur Nutzung abiotischer Materialien und Energieträger ermöglicht. "The new system differed from the old above all in being able to deploy inanimate sources of energy in the production process, both manufacturing and agricultural, on a scale which dwarfed energy use in earlier periods" (Wrigley 1987, 45; s. auch Landes 1969, 1, 41). Die Substitution von Holz durch Kohle war hier ein entscheidender Faktor (Wrigley 1987, 78ff.; Ponting 1991, 281ff.). Durch den Übergang zur Nutzung von Kohle wurden ungleich größere Energiemengen verfügbar als bei der Nutzung erneuerbarer Quellen wie Holz.
Die zur industriellen Revolution führende Transformation ist für Wrigley (1988, 11f.) ein über zweihundert Jahre dauernder Prozeß, der durch zwei verschiedene Arten wirtschaftlichen Wachstums gekennzeichnet ist: die fortgeschrittene organische Wirtschaft ("advanced organic economy") und die auf Mineralien fußende Energiewirtschaft, also die mineralische Wirtschaft ("mineral based energy economy"). Wrigley (1988, 17) datiert die organische Wirtschaft bis in das frühe 19. Jahrhundert, danach wurde die mineralische Wirtschaft dominant. Es handelt sich nach Wrigley (1988, 112) um "two different growth paths with contrasting characteristics." Der Übergang von der organischen zur mineralischen Wirtschaft ist durch eine Zeit der parallelen Existenz dieser Wirtschaftsformen geprägt.
Eine wichtige Ursache für die Umweltfolgen der Industrialisierung ist die mit ihr einhergehende Urbanisierung (Baccini/Brunner 1991, 1ff.; Ponting 1991, 295ff.), die aber ohne Strukturveränderungen im Agrarbereich nicht möglich gewesen wäre. Schon die neolithische Revolution war für die sozioökonomische Entwicklung nicht zuletzt deshalb von entscheidender Bedeutung, weil die Bildung von Städten voraussetzt, daß auf den Land ein (Nahrungsmittel-)Überschuß produziert wird (Boulding 1974, 189). Steigerungen in der Nahrungsmittelproduktion zur Zeit der Industrialisierung waren notwendig, um eine wachsende Bevölkerung zu ernähren. Im Laufe dieser Entwicklung trug die industrielle Revolution ihrerseits zu erheblichen Steigerungen der landwirtschaftlichen Produktivität bei (Johnson 1997, 1, 5). Die industrielle Revolution ist durch grundlegende Veränderungen im Agrarsektor undenkbar: Im Zuge der industriellen Revolution wurden auch die agrarischen Produktionsbedingungen revolutioniert. "Prior to the era of large-scale foreign trade in primary produce, national agricultures supported the growth of industrial, urban, and rural populations detached from the land" u.a. "by supplying them with food and organic raw materials" (O'Brien 1996, 215). Vor dem Aufkommen von Kunstdünger spielten organische Rohstoffe auch eine wesentliche Rolle für die Steigerung der Bodenproduktivität (O'Brien 1996, 220). Viehwirtschaft war unter vorindustriellen Bedingungen folglich eine "engine for growth", die für die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität ebenso wichtig war wie für den damit eng verwobenenen gesamtwirtschaftlichen Strukturwandel (O'Brien 1996, 224f.). Im Zuge der Industrialisierung hörten Bauernhöfe auf, ökologisch autarke Einheiten zu sein (Wrigley 1987, 40f.).
Mit der industriellen Revolution ist mithin eine fundamentale Veränderung im Mensch-Umwelt-Verhältnis verbunden. In vorindustriellen Wirtschaften fungiert der Boden als Quelle nicht nur von Nahrungsmitteln, sondern auch von den allermeisten Rohmaterialien für die Produktion (Wrigley 1988, 34, 73). Und: "All organic economies dependend exclusively, or almost exclusively, upon their ability to capture some part of the flow of energy reaching the earth in the form of insolation, and to preserve a favourable balance between the energy spent in this pursuit and the energy made available by it" (Wrigley 1988, 50f.). Organische Wirtschaften sind mithin auf Energieflüsse angewiesen, weil sie keinen Zugang zu Energiebeständen (z.B. Kohle und Öl) haben (Wrigley 1988, 51). War Wirtschaften also bis zur industriellen Revolution fast ausschließlich an die Nutzung von erneuerbaren Ressourcen und damit Fluß-Ressourcen gebunden, beginnt mit der industriellen Revolution eine Abhängigkeit des Wirtschaftsprozesses von nichterneuerbaren Ressourcen (insbes. Mineralien und fossile Energieträger) und mithin von Ressourcenbeständen (Daly 1996a, 177, 185). Im Hinblick auf ökologische Nachhaltigkeit ist dies eine problematische Entwicklung, die aber durch erhebliche ökonomische Vorteile motiviert ist. Abiotische Ressourcen sind gegenüber den flächengebundenen biotischen "footlose and exportable" (Wrigley 1988, 117). Der Übergang zu einer "mobilen" Energieform (Kohle) bedeutete, sobald eine entsprechende Infrastruktur vorhanden war, "a fundamental shift in the ease with which energy could be obtained and led to a massive increase in energy consumption" (Ponting 1991, 286). Mit dem Übergang zur Nutzung mineralischer Rohstoffe und fossiler Energieträger wurde "das Rohstoffmonopol der lebendigen Natur endgültig beseitigt" (Bimboes/Tjaden 1992, 57).
Erst die Nutzung mineralischer Energieträger ermöglichte also die Überwindung der einer organischen Wirtschaft inhärenten Wachstumsbegrenzungen: "The transition to a partial dependence upon inorganic stocks of energy rather than upon organic energy flows played an important role in allowing the English economy to expand without debilitating pressure on the land in the early modern period" (Wrigley 1988, 55; seine Hervorhebungen; s. auch 1987, 66; 1994, 33). Mit dem Übergang von der organischen zur mineralischen Wirtschaft wird der Wirtschaftsprozeß also von "Energiekapital" abhängig, das sich in Jahrmillionen in Form von Öl, Kohle usw. akkumuliert hat. Um die einer organischen Wirtschaft inhärenten Wachstumsgrenzen zu überwinden, muß ein Land also gleichsam auf doppelte Weise kapitalistisch sein: Einmal im üblichen Sinne des Wortes, zum anderen aber auch in dem Sinn, daß "its raw materials were drawn increasingly from mineral stocks rather than from the annual flow of agricultural production, and, above all, in the sense that it could tap great stores of energy rather than depend upon the kinds of renewable energy sources that had always previously provided any heat or power needed for production" (Wrigley 1988, 115). Der eine Kapitalismus, so Wrigley (1988, 91f.), bezieht sich auf die von Smith (1976) beschriebenen sozioökonomischen Veränderungen, der andere auf die in Jevons (1965) Coal Question erörterten Fragen (s. Kapitel 7) – m.a.W.: auf die institutionellen und die physischen Aspekte des Wirtschaftens (s. auch Lal 1995, 519). Der Energiekapitalbestand hat zwar den Vorzug, vergleichsweise einfach zugänglich zu sein. Dieser Zugriff ist aber temporär: "In the very long run, of course, a capitalist economy, in this sense of capitalism, must have a finite life" (Wrigley 1988, 52). Der Übergang zur mineralischen Wirtschaft impliziert auch, daß zunehmend solche Ressourcen genutzt werden, deren Abbau nicht notwendigerweise – wie die Nutzung biotischer Rohstoffe – zunehmenden Druck auf die Bodennutzung ausübt (Wrigley 1988, 116). Ein wesentlicher Unterschied zur organischen Wirtschaft liegt in dem Zugriff auf Rohstoffe, und auch dies ist von entscheidender Bedeutung für die Rolle, die der Boden für wirtschaftliche Entwicklung spielt. In dieser Wirtschaft wurden biotische Ressourcen für die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen verwendet. Dies änderte sich in der mineralischen Wirtschaft: "The new age was built upon different foundations. The fruits of the earth were increasingly used as food alone. It was not from the soil but from beneath the soil that the raw materials of a new economic age were drawn" (Wrigley 1988, 73; s. auch 1987, 75).
Die Verwendung von mineralischen Rohstoffen und Energieträgern hat wirtschaftlichen Aktivitäten eine bis dahin unvorstellbare Dynamik ermöglicht. Auch diese "Revolution" hat dazu geführt, daß die zur Ernährung einer Person benötigte Fläche sich verringert hat (Goudie 1993, 25). Ist in der organischen Wirtschaft die Fläche ein definitiv begrenzender Faktor, koppelt sich ein fossiles Energiesystem genau von dieser Restriktion ab (Sieferle 1997, 145). Im Hinblick auf die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung liegt der entscheidende Bruch der mineralischen gegenüber der organischen Wirtschaft also in der "Befreiung" der durch den Boden diktierten Wachstumsgrenzen: "Under this economic system dependence on organic raw materials was much reduced in branches of industry which had been long established, and major new sectors of industry were opened up in which there was little or no consumption of organic materials. (...) Real income per head (...) could, for the first time in human history, rise substantially and progressively in all classes of society" (Wrigley 1988, 32). Dadurch, daß das "stationäre Nachhaltigkeitsprinzip" überwunden wird und "eine Phase von sensationellem 'Wachstum'" eingeleitet wird (Sieferle 1997, 146), werden die Restriktionen – die Grenzen – der organischen Wirtschaft also zumindest vorübergehend überwunden. Dabei spielte der (natur-)wissenschaftliche Fortschritt und seine Anwendung auf Produktionsprozesse eine zunehmend wichtige Rolle. Nach 1850 wurde Wissenschaft immer wichtiger für den technischen Fortschritt, "science became more important as a handmaiden of technology" (Mokyr 1990, 113; s. auch 169; Wrigley 1988, 81; Barnett/Morse 1963, 9; Boulding 1974, 191).
The Unbound Prometheus heißt Landes' (1969) Studie über die industrielle Revolution, und dieser Titel verweist auch auf die "ökologische" Dimension dieser Revolution (vgl. auch Georgescu-Roegens [1986] Begriff der "prometheischen" Technologie und die daran angelehnte Rede von "Prometheischen Revolutionen" bei Altvater [1993, 75] und Altvater/Mahnkopf [1996, 508ff.]). Mit der industriellen Revolution ist ein fundamentaler Wechsel im Hinblick auf die energetischen Grundlagen des Wirtschaftsprozesses verbunden. Und erst die industrielle Revolution führte zu einer Akkumulation von – menschengemachtem – Kapital, die bis dahin undenkbar schien. Freilich blieb die technische Entwicklung auch für die Landwirtschaft nicht folgenlos: Die Steigerung der Arbeitsproduktivität machte es möglich, Arbeitskräfte für die Industrie "freizusetzen". Die enorme Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Industrie ist im wesentlichen eine Konsequenz technischer Innovationen, die in ökologischer Hinsicht teilweise desaströse Folgen hatte. Gleichzeitig führte dies zu einem erheblichen Anstieg der Arbeitseinkommen und hatte ein Erhöhung des Lebensstandards zur Folge, die im Laufe der – langen – Zeit fast alle Bevölkerungsschichten erreichte. Diese Entwicklung führte zunächst zu einem erheblichen Bevölkerungsanstieg, der in den Industriestaaten heute jedoch gegen Null geht. Die dramatische Steigerung der Arbeitsproduktivität ist natürlich ein entscheidender Aspekt der industriellen Revolution (Kromphardt 1987, 52ff.). Hier kommt es darauf an, daß diese Steigerung ohne eine Änderung der energetischen und materiellen Grundlage des Wirtschaftens nicht möglich gewesen wäre: "The 'labor saving' bias of technical change since the industrial revolution has generally involved the invention and innovation of new machines and processes which replace labor with large requirements for inanimate power" (Christensen 1987, 84).
Als Folge der industriellen Revolution haben sich die Lebensbedingungen so sehr verbessert, daß "the necessaries of life are widely taken for granted and the conveniences enjoyed by most families cover a range of material objects and service provision which would have appeared utopian six generations ago" (Wrigley 1987, 35). Die der industriellen Revolution folgenden Lebensveränderungen sind vor allem auf die hohen und dauerhaften Steigerungen des Pro-Kopf-Einkommens zurückzuführen (Wrigley 1988, 9ff.). Diese Steigerung des Realeinkommens setzte freilich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein – d.h. zwischen der eigentlichen Revolution und den umfassenden Einkommenssteigerungen existiert eine zeitliche Lücke (Wrigley 1987, 60). Ein wichtiger Faktor für die Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens war darüber hinaus selbstverständlich ein verändertes Reproduktionsverhalten, das durch Familienplanung innerhalb der Ehe geprägt war (Wrigley 1987, 43). Die Hebung des Lebensstandards erklärt sich mithin aus der Zunahme der Produktion und aus der Abnahme des Bevölkerungswachstums: "Real income per head is affected by reproduction no less than production" (Wrigley 1988, 87). Die Folgen waren revolutionär: "The development of a capacity to raise substantially and progressively the output of material goods, both in aggregate and per head, has been a profoundly important distinguishing mark of west European history" (Wrigley 1987, 1). Dazu kommt, daß steigende Lebensstandards ihrerseits neue Bedürfnisse und neue Wege zu deren Befriedigung schaffen (Landes 1969, 9). Wachstum selbst schafft auch auf diese Weise neue Wachstumsmöglichkeiten, wenn neue Bedürfnisse zu neuen technischen Entwicklungen und neuen Berufen führen (s. Teil IV). Diese Veränderungen haben auch auf Konsummöglichkeiten und -verhalten auf Seiten der "Verbraucher" Einfluß – mit weitreichenden ökologischen Folgen.
Armut wird damit zum ersten Mal auf breiter Front überwindbar – und eben dadurch überhaupt erst zum Problem. Vorher war Armut eine Selbstverständlichkeit (Wrigley 1994, 32). Denn: "In a world where everyone is poor, there is nothing very remarkable about poverty" (Galbraith 1971, xxiii), und die Überwindung von weitverbreiteter Armut in den westlichen Gesellschaften ist es gerade, die das Zeitalter nach der industriellen Revolution von anderen Epochen unterscheidet (Mokyr 1990, 302). Wenn aber die "Selbstverständlichkeit" der Armut verschwindet, bleibt dies nicht folgenlos für die Zukunftserwartungen: "Mental begünstigt diese Entwicklung den Abschied vom überkommenen Nullsummenprinzip, an dessen Stelle eine sich verfestigende Erwartung materiellen Fortschritts tritt" (Sieferle 1997, 146f.). Dieser Wandel ist für Rostow (1960, 6) eine Voraussetzung für den vielzitierten Take-off von Volkswirtschaften: "The idea spreads not merely that economic progress is possible, but that economic progress is a necessary condition for some other purpose, judged to be good: be it national dignity, private profit, the general welfare, or a better life for children." Hier liegt eine fundamentale Differenz zu Weltbild und Gesellschaftsordnung des Mittelalters, die eindeutig statisch waren (Falkinger 1986, 25), und auch die Grundlage dessen, was sich später, folgt man Autoren wie Mishan und Daly, zu einer veritablen "Wachstumsmanie" ausweiten sollte. Vollendet wird diese Entwicklung im Take-off, in dem Wachstum der Gesellschaft zur Normalität wird und "(c)ompound interest becomes built (...) into its habits and institutional structure" (Rostow 1960, 7). Eine solche Gesellschaft hat mit einer, die in regelmäßigen Abständen an quasi-stationäre Grenzen stößt, nur noch wenig gemein. Darüber hinaus führte dieser Übergang aber auch dazu, daß die Möglichkeiten und Anforderungen dieser Inputs sich auf die Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft auswirken: "The value systems, knowledge systems, social organization, and technologies of Western and westernized cultures coevolved to fit the opportunities which the exploitation of fossil energy provided. Western and westernized social systems reflect these medium-term opportunities rather than the long-run opportunities of coevolutionary with renewable resources" (Norgaard 1994, 44). Damit wurde eine Entwicklung möglich, die zu einem kontinuierlichen Anstieg von Bevölkerung, Konsum und Umweltverbrauch führte.
6.4. Von der Industrie- zur Konsumgesellschaft?
"Angesichts weltweit wachsender Bevölkerungszahlen, schrumpfender Ressourcen und absehbarer Belastungsgrenzen der natürlichen Umwelt für die Effekte von Massenproduktion und Massen-konsum kann man damit rechnen, daß sich der materielle Konsum für die Mehrzahl der Menschen wieder auf einem niedrigeren Niveau einpendeln wird, wie es für die älteren Hochkulturen üblich war. Die Epoche des Massenwohlstands und des verbreiteten materiellen Luxus
wird in nicht zu ferner Zukunft wieder der Vergangenheit angehören."
(Sieferle/Müller-Herold 1996, 143; meine Hervorhebung)
Um die Mitte dieses Jahrhunderts hat sich die Intensität der Umweltnutzung ebenso verstärkt wie das Wachstum der (Welt-)Bevölkerung. Erst diese Dynamik hat auch dazu geführt, daß heute in vielen Fällen von globalen Umweltproblemen gesprochen werden muß. Bevölkerungswachstum und der Pro-Kopf-Konsum sind wichtige Ursachen dafür, daß "the complexity, frequency and magnitude of impacts is increasing" (Goudie 1993, 375). Der allergrößte Teil der anthropogenen Umweltveränderungen entstand nach der industriellen Revolution und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg (Goudie 1993, 377ff.). In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Umweltbelastungen erheblich zugenommen. Commoner (1972, 41) beispielsweise stellt fest, "that in most of the technological displacements that have accompanied the growth of the U.S. economy since 1946 the new technology has an appreciably greater environmental impact than the technology it displaced, and that the postwar technological transformation of productive activities is the chief reason for the present environmental crisis" (seine Hervorhebung; s. auch Commoner 1972, 63). Die Auffassung, daß die Mitte des 20. Jahrhunderts im Hinblick auf Umweltprobleme eine Wendemarke darstellt, hat sich unter Umwelthistorikern durchgesetzt (Sieferle 1997, 186). Danach sind die 1950er Jahre eine entscheidende Weichenstellung und Grundlage der aktuellen Umweltsituation. Pfister (1994) spricht deshalb vom "1950er Syndrom" und sieht hier eine "Epochenschwelle der Mensch-Umwelt-Beziehung zwischen Industriegesellschaft und Konsumgesellschaft" (s. auch Sieferle 1997, 186ff.).
Die Betrachtung des Übergangs von der organischen zur mineralischen Wirtschaft als Epochenschwelle bringt Pfister (1994, 72) mit den ökologischen Managementregeln für Quellen- und Senkennutzung in Verbindung. Wenn diese streng angewendet würden, erscheine der Übergang von der organischen zur mineralischen Wirtschaft neben der neolithischen Revolution als entscheidender Bruch. Er kritisiert dies als "öko-fundamentalistischen Blickwinkel". Es müsse berücksichtigt werden, daß die 1950er Jahre für die heutige Umweltsituation eine entscheidende Epochenschwelle seien. Eine Betrachtung globaler Umweltindikatoren (Energieverbrauch, Treibhauskonzentration, Bevölkerung) legt in der Tat nahe, daß "die Zeit seit der Industrialisierung in zwei deutlich getrennte Abschnitte mit unterschiedlicher Wachstumsdynamik zerfällt, deren Nahtstelle die 1950er Jahre sind" (Pfister 1994, 73f.). Er charakterisiert diese Phase und die Zeit danach als "Konsumgesellschaft" (Pfister 1994, 74). Nicht der Übergang zur Nutzung fossiler Energieträger sei der entscheidende Bruchpunkt, sondern der Übergang von der Nutzung von Kohle zur Nutzung von billigem Öl. Die übliche umweltgeschichtliche Periodisierung in Agrar- und Industriegesellschaft sei um diesen dritten Typus zu erweitern. Dessen entscheidende Eigenschaften sieht Pfister (1994, 77ff.) in der Verfügbarkeit von Erdöl (die "Schlüsselenergie der Konsumgesellschaft"), der Bedeutung des Automobils, Veränderungen im Konsumverhalten, Technisierung der Haushalte, Mobilitätssteigerungen, energieintensive Landwirtschaft.
Diese These vom 1950er-Syndrom bezieht sich also nicht nur auf die technischen Bedingungen der anthropogenen Umwelteinwirkungen, sondern vor allem auf den Konsum- und damit Verhaltensaspekt: "Nirgendwo ist die Unterbrechung historischer Kontinuitätslinien um 1950 so deutlich wie auf dem Feld der Konsum- und Lebensweise" (Pfister 1994, 79; s. auch Bierter 1995, 10ff.; Hinterberger et al. 1996, 56f.). Ein zentraler Faktor für die Zunahme der Umweltbelastung ist mithin das "fordistische" Produktions- und Konsummodell (Pfister 1994, 77f.), das durch die massenhafte Produktion und Verfügbarkeit hochwertiger Konsumgüter geprägt ist. (40) In der Tat ist der Fordismus "durch einen zentralen Widerspruch gekennzeichnet, nämlich zwischen einer ungeheuren ökonomischen Produktivitätssteigerung einerseits, aber dem Ausbleiben einer entsprechenden Revolutionierung der ökologischen Basis andererseits" (Hein 1994a, 643). Hirsch/Roth (1986, 83) weisen auf die (un-)ökologische Seite des Fordismus hin: "Die unbegrenzte Verfügbarkeit billiger Rohstoffe und Energien sowie die Möglichkeit, die Naturgrundlagen der Produktion als 'Gratisproduktivkraft' schrankenlos auszubeuten, war eine der entscheidenden Grundlagen der fordistischen Prosperität." Sie konstatieren eine "Tendenz des fordistischen Produktions- und Reproduktionszusammenhangs, mit seiner Ausdehnung immer schärfere Rohstoff-, Energie- und Umweltprobleme zu produzieren", und daß "die Dynamik des fordistischen Reproduktionsprozesses ökologische Zerstörungen auf progressiver Stufenleiter nach sich zieht" (Hirsch/Roth 1986, 83). Und Lipietz (1993, 91) beschreibt den Fordismus als "das Maximum an möglicher Produktion für das Maximum an möglichem Massenkonsum, paralleles Wachstum von Konsum und Produktion, das vom Staat gewährleistet wurde." Das bedeutete auch eine "Wegwerfgesellschaft" (Hein 1994b, 13f.). Aufgrund der Abhängigkeit des Fordismus von fossilen Brennstoffen als energetische Grundlage spricht Altvater (1992a, 154ff.) vom "fossilistischen Fordismus".
Für eine Identifikation der 1950er als "Schwelle" spricht, daß diese Zeit eine erneute Veränderung von Wachstumserwartungen bedeutet. Die Bedeutung des Wirtschaftswachstums ist in der Nachkriegszeit eine andere geworden: "(T)he contrast with the earlier Malthusian assumptions is striking. The European businessman of the fifties learned to look upon change as normal, even desirable, where he had once feared it and worked to dampen its effects. The European governments (...) now accepted the (...) obligation to sustain and foster growth. And the people of Europe (...) came to look at expansion and improvement as normal, even indispensable. This was in a way the greatest change of all – a revolution of expectations and values" (Landes 1969, 536; meine Hervorhebung). In der Nachkriegszeit wurde Wachstum "a central political preoccupation and gross national product a household phrase for the first time in history" (Heilbroner 1985, 173).
Bei der These vom "1950er Jahre-Syndrom" ist jedoch zu berücksichtigen, daß diese Phase bekanntlich unmittelbar auf den Zweiten Weltkrieg folgt, was nicht ohne Auswirkung auf die Entwicklung der betrachteten Indikatoren geblieben sein dürfte. "Die 1950er Jahre", so Pfister (1994, 78), "treten als Epochenschwelle besonders deutlich hervor, weil ihnen die entbehrungsvolle Periode des Zweiten Weltkriegs und der ersten Nachkriegsjahre unmittelbar voraufgegangen war." Es ist m.E. aber zu berücksichtigen, daß vor den 1950er Jahren der stetige Wachstumstrend in den Industrieländern unterbrochen wurde. "Spannend" ist in diesem Zusammenhang in der Tat "die Beobachtung, daß sich die exponentielle Entwicklung der Produktion seit den späteren vierziger Jahren fast nahtlos auf dem Niveau fortsetzt, auf welchem sie 1914 unterbrochen war. Könnte man die Jahre 1914 bis 1945 streichen, so würden die Wachstumskurven zu einer einheitlichen Tendenz verschmelzen", wie Sieferle (1997, 159) feststellt, der selbst die These vom 1950er-Syndrom für plausibel hält. Dies läßt m.E. den Strukturbruch der 1950er zumindest weniger dramatisch erscheinen. Gleichwohl zeigen die von Pfister präsentierten Indikatoren (global und für die Schweiz), daß sich das Wachstum umweltrelevanter Faktoren in den 1950er Jahren beschleunigt. Dies impliziert freilich auch, daß diese Faktoren auch vorher schon gewachsen sind. Und dieses Wachstum ist eine Folge der mit der industriellen Revolution begonnenen Umbrüche.
6.5. Zwischenbetrachtung II
Die historische Einordnung der Umweltveränderungen erfordert nicht, einen geschichtlichen Wendepunkt zu identifizieren. Plausibler ist es, von drei relevanten Brüchen auszugehen, von denen freilich der eine jeweils die Voraussetzung des anderen ist: Die neolithische Revolution war aus heutiger Sicht eine Voraussetzung für die industrielle, die ihrerseits notwendige Voraussetzung für das Entstehen der Konsumgesellschaft war. Ein wesentliches Kennzeichen der Konsumgesellschaft ist die Funktion, die der Konsum für die Darstellung des individuellen Lebensstils hat (Pfister 1994, 79, 88). Vor den 1950er Jahren habe sich der Konsument "an der kurzen Leine ökonomischer Zwänge" bewegt (Pfister 1994, 76) und einen ökologisch verträglichen Lebensstil geführt. Europa habe sich bis in die 1950er Jahre im Vergleich zu heute "auf einem umweltverträglichen, quasistationären Entwicklungpfad" bewegt (Pfister 1994, 77; meine Hervorhebung), den er als "'ancien régime ecologique'" bezeichnet (kursiv von ihm).
Allerdings schafft schon der Übergang zur Nutzung mineralischer Ressourcen im Zuge der industriellen Revolution grundlegend neue Wachstumsmöglichkeiten, wie Georgescu-Roegen (1986, 13) hervorhebt: "During the past two hundred years, at least, mankind has enjoyed a fantastic mineral bonanza which has been the great source of an equally fantastic economic growth" (meine Hervorhebung). Die hierdurch bewirkte Abkopplung von den "organischen" Bedingungen des Wirtschaftens hat tiefgreifende Folgen: "With industrialization, social systems coevolved to facilitate development through the exploitation of coal and petroleum. Social systems no longer coevolved to interact more effectively with environmental systems. (...) (T)he past century can be characterized as social system coevolution on stock resources and the neglect of environmental systems. The era of hydrocarbons drove a wedge between the earlier coevolution of social and ecological systems" (Norgaard 1994, 44). Dieser "Keil" kann aber nicht von Dauer sein. Im Hinblick auf die umfassende Nutzung nichterneuerbarer Ressourcen sprach schon Soddy (zit. in Daly 1996a, 185; s. auch Daly/Cobb 1994, 412) von der "flamboyant period", die notwendigerweise nicht dauerhaft sein könne. Die nachhaltige Nutzung biotischer Ressourcen bedeutet zumindest bei gegebener Technologie, daß eine Wachstumsgrenze existiert. Während biotische Energiequellen auf eine derartige Weise ("sustained yield" ) genutzt werden können, ist dies beim Abbau von "Energiekapital" nicht möglich (Wrigley 1988, 114). Im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Umweltnutzung besteht also ein fundamentaler Unterschied zwischen biotischen und abiotischen Ressourcen, Daly (1996a, 185) spricht von einer "critical asymmetry between our two sources of low entropy" (s. auch Daly/Cobb 1994, 11). Mit dem Übergang zur Nutzung nichterneuerbarer Quellen ist gegenüber der organischen Wirtschaft außerdem eine qualitativ und quantitativ veränderte Belastung der Senken verbunden: "Hydrocarbons freed societies from immediate environmental constraints but not from ultimate environmental constraints – the limits of the hydrocarbons themselves and of the atmosphere and oceans to absorb carbon dioxide and other greenhouse gases associated with fossil fuel economies" (Norgaard 1994, 44). Ein System, das auf Beständen und nicht – wie die organische Wirtschaft – auf Ressourcenflüssen basiert, steht "vor einem historischen Horizont der Endlichkeit. (...) (E)s ist zu einer permanenten 'Flucht nach vorn' genötigt, zu einer nicht abbrechenden Spirale von Erschöpfung, Substitution und Innovation. Dies führt auch zu einer nie dagewesenen Dynamik, zwingt aber auch dazu, diese Dynamik nicht abbrechen zu lassen" (Sieferle 1997, 147). Ein fossiles Energiesystem kann ebensowenig wie eine mineralische Wirtschaft von Dauer sein. Die genannte Spirale vermag den Horizont dieses Systems lange hinauszuschieben – aber eben nicht auf Dauer.
Einer Expansion des Solarenergiesystems sind dagegen Grenzen gesetzt, weshalb auch vorübergehende Wachstumsphasen immer wieder zu stationären Zuständen führen. Gleichzeitig kann ein solches System jedoch auf einem bestimmten Niveau ohne zeitliche Begrenzung und also dauerhaft existieren. Die Grenzen dieses Systems schränken auch alle mit Energieverbrauch verbundenen Innovationen ein. Lange Perioden hohen Wachstums sind in diesem System unmöglich, die ständige Spürbarkeit von Ressourcenknappheit ist ein Charakteristikum dieses Systems. Ein anderes Charakteristikum dieses Systems ist demgegenüber seine Dauerhaftigkeit. Sieferle (1997, 148) sieht hier "zwei komplementäre Eigenschaften, die unlösbar miteinander verbunden sind."
Das fossile Energiesystem ist dagegen durch zwei Eigenschaften charakterisiert, die denen des Solarenergiesystems konträr gegenüberstehen. Es ist zu drastischer Expansion fähig, die wie gezeigt seit der industriellen Revolution auch realisiert wurde. Ein im Gegensatz zum Solarenergiesystem dramatischer Anstieg des Zugriffs auf Energie erklärt zumindest in energetischer Hinsicht die "sensationellen" Wachstumsprozesse der letzten zweihundert Jahre (Sieferle 1997, 149). Gleichzeitig muß der Verbrauch irgendwann wieder auf Null sinken, weil die Bestände irgendwann aufgezehrt sind: "Das fossile Energiesystem ist sehr groß, aber beschränkt und damit endlich" (Sieferle 1997, 149). Diese Beschränkung gilt freilich nicht nur für Energieressourcen, sondern auch für die Nutzung abiotischer Materialien. Zunächst einmal abgesehen davon, ob der Zeithorizont für aktuelle Entwicklungen relevant ist: Auch die Materialversorgung ist zeitlich begrenzt, wenn sie sich aus abiotischen Rohstoffen speist. Da ein Material- und Energiedurchsatz nur dann dauerhaft aufrecht erhalten werden kann, wenn er auf erneuerbaren Quellen basiert, ist die mineralische Wirtschaft im Gegensatz zur organischen Wirtschaft zeitlich begrenzt. Der zeitlich endliche Charakter des fossilen Energiesystems gilt folglich auch für den Materialbereich und also für die gesamte mineralische Wirtschaft. In der Tat liegt es nahe, mit Sieferle vom gegenwärtigen System als "Transformationsgesellschaft" zu sprechen. Der Übergang zu einer (wieder) dauerhaft möglichen Wirtschaftsweise ist das Schlüsselproblem der Debatte über Sustainable Development. Dabei ist davon auszugehen, daß der Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft ebenso wie der Wechsel von der organischen zur mineralischen Wirtschaft durch eine Zeit der "Mischform" zweier Wirtschaftsweisen geprägt sein wird. Die entscheidende Frage ist letztlich, welchen Zeitraum dieser Übergang benötigt und unter welchen Umständen er stattfindet.
Bei allen Anstrengungen in Richtung Sustainable Development sind aber die weitreichenden Folgen dieses Transformationscharakters zu berücksichtigen. Die Systembedingungen dieser Transformation haben erhebliche (einschränkende) Wirkungen auf alle Bemühungen, die Umwelt zu "schützen". Um das eingangs zitierte Diktum von Braudel aufzunehmen: Es gilt, auch hinsichtlich der Umweltfolgen menschlichen Handelns die historischen Dimensionen und Perspektiven zu berücksichtigen (s. auch Hein 1997). Hinsichtlich der "Umweltbelastungsintensität" ist die Zeit seit der industriellen Revolution und insbesondere die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ohne geschichtliches Beispiel. Ein Solarenergiesystem, so Sieferle (1997, 133), könne gar nicht zusammenbrechen, solange die Sonne scheine. Die Krisenerscheinungen des 18. Jahrhunderts hätte es deshalb nur im Hinblick auf die an energetische Systemgrenzen stoßende soziale, technische und gewerbliche Dynamik gegeben. "Wenn diese Grenzen allerdings nicht gesprengt worden wären, hätte man mit einem langwierigen, konfliktbeladenen Tauziehen um Macht und Ressourcen in einer Dramatik rechnen können, wie es sich wohl erst gegen Ende des fossilen Energiesystems in einer überbevölkerten Welt einstellen wird" (Sieferle 1997, 133; meine Hervorhebung).
Die Zunahme der Umweltprobleme ist eine Ursache dafür, daß Sustainable Development zum Dauerthema von Umwelt- und Entwicklungspolitik werden konnte. Einige Autoren vergleichen den – erhofften – Übergang zur "sustainable society" mit den beiden großen "Brüchen" der Menschheitsgeschichte: Nach der neolithischen und der industriellen sei nun die dritte "Revolution" notwendig: die "Nachhaltigkeitsrevolution" (Meadows et al. 1992, 260ff.). Dabei besteht ein ganz entscheidender Unterschied zwischen diesen Umbrüchen: die "Nachhaltigkeitsrevolution" wird angestrebt, während die Einführung der Landwirtschaft und der Übergang zur industriellen Produktionsweise ungeplante Ergebnisse des sozioökonomischen Entwicklungsprozesses waren (s. Kapitel 12).
Wachstumsprozesse waren bis zum Übergang zur mineralischen Wirtschaft durch Obergrenzen der organischen Wirtschaftsweise beschränkt. Im Zuge der industriellen Revolution werden diese Beschränkungen gesprengt, ein bis dahin unvorstellbares Wachstum von Wirtschaft, Bevölkerung und Umweltbelastung setzte ein und dauert bis heute an. Die Zeit der Nutzung nichterneuerbarer Ressourcen muß aber als "extravagante Periode" der Geschichte gelten, weil sie notwendigerweise ein Übergangsphänomen ist. Wann der Übergang erfolgt, unter welchen Umständen und mit welchen sozioökonomischen Implikationen, sind zentrale Fragen des Diskurses über Sustainable Development. Das Leitbild der zukunftsfähigen Entwicklung und die Strategie eines Steady-State implizieren das Bemühen, die Folgen des mineralischen Wirtschaftens zu steuern und auf ein "nachhaltiges Maß" zu reduzieren, bevor dies zur Notwendigkeit wird.
Die Einordnung des historischen Steady-State läßt sich wie folgt zusammenfassen:
Der hier aufgezeigte Zusammenhang zwischen Form der Umweltnutzung und sozioökonomischer Entwicklung und die damit implizierte Begrenztheit ist bis heute kaum in das Bewußtsein der Mainstream-Ökonomik vorgedrungen. Dennoch: Spuren der Differenz zwischen organischer und mineralischer Wirtschaft könnten sich auch in der ökonomischen Theoriegeschichte finden. Bell (1967, 3) meint, daß die Geschichte ökonomischen Denkens "records some of the measures used by people in the struggle to gain economic satisfactions from nature's endowment." Inwieweit auch die Geschichte des ökonomischen Steady-State-Konzepts mit der Nutzung der Umwelt durch den Menschen und folglich mit der hier skizzierten "Umweltgeschichte" zusammenhängt, wird sich im folgenden Kapitel zeigen, in dem es freilich nicht um eine Geschichte der Umweltökonomik geht, sondern um die Entwicklung des theoretischen Konstrukts des stationären Zustands.
7. Stationarität in der ökonomischen Theorie
"We need to know the history of our concepts
in order to know what it is that we are handling."
(Hicks 1974, 308)
7.0. Über die Auseinandersetzung mit ökonomischen Theorien. Eine sehr lange Vorbemerkung
"Nichts kann den Historiker mehr bedrücken und verwirren, als wenn er die Kenntnis und Erkenntnis der Denker und Forscher in den verschiedenen Epochen zum Gegenstand seiner Arbeit macht. Er wird da nämlich wahrnehmen, daß auch der klarste Geist sich nicht über seinen Standpunkt erheben kann, seine Standortsgebundenheit nie ganz los wird."
(Montaner 1967, 20)
Es geht in diesem Kapitel um die Geschichte einer ökonomischen Idee – des Steady-State, des stationären Zustands. Wenn im folgenden gefragt wird, wie "ökologisch" bestimmte Stationaritätskonzepte sind, bezieht sich dies auf die Parallelen zu Dalys ökologischem Steady-State und nicht auf die ökologische Ausrichtung des jeweiligen Paradigmas. Werttheorien im allgemeinen und der von Immler (1985) dogmenhistorisch untersuchte Wert der Natur im speziellen spielen hier deshalb eine nachgeordnete Rolle. Für die Steady-State-Problematik ist zunächst einmal die Bedeutung "natürlicher" Faktoren für den Verlauf wirtschaftlicher Entwicklung interessant, nicht deren Implikationen für den Wert von Gütern und Dienstleistungen.
Die Einteilung der Geschichte und also auch der Dogmengeschichte ist "ein notwendiges Übel" (Schumpeter 1965, 475). Zwar gibt es wie in der Umweltgeschichte (mit der Periodisierung Jäger- und Sammlergesellschaften / Neolithikum / Industriegesellschaft / Konsumgesellschaft) auch in der Theoriegeschichte mehr oder weniger anerkannte Periodisierungen. Dennoch: "Geschichtliche Entwicklungen sind immer kontinuierlich, und man kann sie niemals in Abschnitte zerlegen, ohne Willkür und Verlust mit in Kauf zu nehmen" (Schumpeter 1965, 475). Die folgende Darstellung orientiert sich an der historischen Reihenfolge, die an zwei Punkten aus systematischen Gründen durchbrochen wird: Schumpeter wird zwischen Marshall und Keynes behandelt, weil das hier im Mittelpunkt stehende Werk Schumpeters (Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung) 1911 (also eben zwischen Marshalls Principles und Keynes' Economic Possibilites for Our Grandchildren) erschienen ist. Schumpeters Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, wird aufgrund der Zusammenhänge in Schumpeters Werk im selben Kapitel behandelt, obwohl 1942 nach Keynes' genanntem Aufsatz erschienen. Zweitens wird Marx vor Jevons verhandelt, obschon der erste Band des Kapitals zwei Jahre nach Jevons Coal Question erschien. Diese Darstellung hat m.E. den Vorzug, Marx zwischen die Klassik und die Neoklassik stellen zu können (was historisch zweifelsohne naheliegend erscheint). Die Reihenfolge lautet also (die hier im Mittelpunkt stehenden Ansätze in kursiv): Vorklassik – Klassik (Smith, Malthus, Ricardo, Mill) – Marx, Jevons, Marshall – Schumpeter – Keynes, Sombart – Neoklassische Wachstumstheorie (Solow et al.). Bei der Klassik steht die Vorstellung des stationären Zustands als Endpunkt wirtschaftlicher Entwicklung im Vordergrund, bei Schumpeter geht es vor allem um die Funktion von Stationarität als analytische Konstruktion, und bei der neoklassischen Wachstumstumstheorie interessiert vor allem das Verhältnis von analytischem und ontologischen Steady-State. (41)
Ich folge also im wesentlichen der verbreiteten Sequenz in der Darstellung ökonomischer "Dogmen", die meist "Antike – Merkantilismus – Physiokratismus – Klassik – Marx – Neoklassik – Keynes" lautet (s. z.B. Daly 1993a, 13f.; Ziegler 1991). Ich weise auf diese Sequenz deshalb hin, weil sie – als chronologische Gliederung – nur allzu selbstverständlich erscheint. Insbesondere wird dadurch leicht der Eindruck erweckt, es hätte andere ökonomische Theorien (z.B.: Institutionalismus und Österreichische Schule) gar nicht gegeben, was selbstverständlich nicht der Fall ist – d.h.: Es geht mir nicht darum, alle jemals erdachten stationären Konzepte auch nur zu erwähnen. (42) Das Kriterium für die Auswahl liegt in der Kombination aus qualitativer Zweckmäßigkeit und quantitativem Realismus, anders formuliert: Es kam darauf an, interessante Konzepte auszuwählen, deren Bearbeitung im Zeit- und Raumhorizont dieser Arbeit möglich erschien.
Tribe (1988, 5) vertritt die Auffassung, daß "if there is little virtue in the study of the past for its own sake, then there is certainly even less to be said for the employment of past doctrine to address the maladies of modern sciences." Entgegen dieser Auffassung meine ich, daß die Beschäftigung mit der Vergangenheit in der Tat hilfreich sein kann, aktuelle Defizite wenn nicht zu beheben, so doch zumindest ihrer bewußt zu werden - was ein erster Schritt zur Verbesserung wäre. Dieses Kapitel oszilliert also gleichsam zwischen historischer Betrachtung und aktuellem Bezug. Beides hängt zusammen, und ich meine, daß eine Berücksichtigung bestimmter historischer Wurzeln der ökologisch orientierten Ökonomie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen befördern kann. Ich beziehe meine Fragestellung auf die Klassiker et al. – dies impliziert überhaupt nicht, daß diese Autoren sich zu meine Fragestellung explizit geäußert haben. Insbesondere wäre es verfehlt, irgendeinem vor den 1960er Jahren aktiven Autoren "unterzuschieben", dieser hätte bei irgendeiner Äußerung den Material- und Energiedurchsatz im Blick gehabt. Vor Bouldings (1973c) 1966 erstmals erschienenen Aufsatz über das Spaceship Earth spielte dieser Durchsatz im ökonomischen Denken faktisch keine Rolle, und selbst heute beschäftigt sich fast ausschließlich die ökonomische Heterodoxie in Form der Ecological Economics mit diesem Problem.
Das Ziel dieser Arbeit erfordert im Verein mit der komplizierten Thematik der Theoriegeschichte einen Balanceakt. Einerseits ist die folgende Darstellung an der Fragestellung engzuführen, um den Argumentationsgang nicht zu zerfasern. Andererseits steht der Gedanke der Stationarität – sei es als Prognose oder als analytisches Instrument – niemals isoliert im theoriegeschichtlichen Raum: Das Verständnis der unterschiedlichen Steady-State-Konzepte erfordert stets die Einordnung in einen theoretischen Rahmen und deshalb oft Bemerkungen zur Einordnung eines Autors, die auf den ersten Blick mit der Frage der Stationarität nichts zu tun haben. Ich habe auf die Originalquellen und das aus meiner Sicht mindeste an Sekundärliteratur zurückgegriffen. (43) Die Balance zwischen konzentrierter Analyse und angemessener Berücksichtigung des theoretischen und historischen Kontextes diktiert dieses Vorgehen. Über die meisten der im folgenden untersuchten Autoren gibt es eine im Sinne des Wortes unüberschaubare Literatur. Es kann im Zusammenhang dieser Arbeit nicht darum gehen, diese gesamte Literatur heranzuziehen. Ich beanspruche damit nicht, eine ganz neue Lesart der Klassik, Neoklassik usw. hervorzubringen, sondern will die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt lenken, der bisher vernachlässigt wurde – die Bedeutung des theoretischen Konstrukts "stationärer Zustand".
Dieses Kapitel basiert auf der Prämisse, daß die Ökonomik eine "nützliche Vergangenheit" hat, um den Titel eines Aufsatzes von Stigler (1969) aufzunehmen. Es geht hier natürlich nicht darum, "überholte" Vorstellungen von wirtschaftlicher Entwicklung oder Stationarität zu referieren, sondern um die Frage, inwiefern alte Vorstellungen überholt sind, und wo sie sich als relevant für aktuelle Probleme im Sinne der Fragestellung dieser Arbeit erweisen können. "Es ist sicher besser," so Schumpeter (1965, 32), "veraltete Anschauungsweisen zum alten Eisen zu werfen, als beständig daran festzuhalten. Und dennoch kann ein Besuch in der Rumpelkammer uns bereichern, wenn wir nur nicht zu lange darin verweilen." Die "Schätze", die man dabei bergen kann, sind: "pädagogischer Gewinn, neue Anregungen und Einblick in die Wege des menschlichen Geistes" sowie die Einsicht, daß "der Gegenstand der Wirtschaftswissenschaft selbst ein historisch einmaliger Prozeß ist" (Schumpeter 1965, 32, 34). Pädagogischer Gewinn und Einblicke in den menschlichen Geist sind höchstens Kuppelprodukte dieses Kapitels, denn im Vordergrund stehen neue Anregungen bzw. Erkenntnisse zum Steady-State. Heutige Probleme und Methoden verkörpern, wie Schumpeter (1965, 33) es formuliert, die Errungenschaften und tragen die "Narben einer Arbeit (...), die in der Vergangenheit unter ganz anderen Bedingungen geleistet wurde." Diese ganz anderen Bedingungen sind hier ebenso von Bedeutung wie die Narben, die aktuelle ökonomische Theorie heute trägt. Es ist deshalb erforderlich, etwas länger als üblich in dieser "Rumpelkammer" zu verweilen.
Die Geschichte ökonomischen Denkens wird oft als "Dogmengeschichte" bezeichnet. (44) Es ist interessant, daß nur eine andere Wissenschaft ihre eigene Geschichte so bezeichnet: die Theologie. Die Rezeption "dogmengeschichtlicher" Publikationen muß in dem Bewußtsein erfolgen, daß der theoretische Standpunkt der jeweiligen Autoren ihre Interpretation ökonomischer Theorien beeinflußt. Die Gefahr, rezipierte Autoren auf die eigenen Zwecke "zurechtzubiegen", ist groß – derartige "Fälle" werden in diesem Kapitel noch des öfteren zu besichtigen sein. Diese Gefahr wird verschärft durch den Umstand, daß ich die im folgenden behandelten Versionen ökonomischen Denkens mit einer stark fokussierten Fragestellung angehen will. Über Autoren nachzudenken, die teilweise vor mehr als zweihundert Jahren ihre Vorstellungen von wirtschaftlicher Entwicklung formulierten, impliziert die Gefahr, heutige Maßstäbe in einer Weise anzulegen, die den jeweiligen Texten nicht gerecht werden. Die Verkürzung der Gedanken wichtiger Ökonomen ist ein weit verbreitetes Phänomen, und oft führt eine oberflächliche Betrachtung von Texten zu ungerechtfertigten Kritiken: Malthus z.B. war das Opfer von "careless misreadings and decontextualizing of what Malthus actually said" (Gilbert 1993, xix; s. auch Ayres 1993, 191, Fn. 5; Barbier 1989, 8; Schumpeter 1965, 593f.; Winch 1992, xviii).
Nicht nur deshalb ist der theoretische Kontext der jeweiligen Theorieelemente (hier: Steady-State) zu berücksichtigen (Bladen 1974, xviii). Der benefit of hindsight kann zu zwei extremen Zugängen zu "historischen" Texten führen. Einer liegt in der "erroneous idea that thinkers of the past were wrong, naive, ignorant, or foolish - that we, being much wiser, have discovered the final truth" (Oser 1970, 7) – ein Vorgehen, das vollständig in die Falle einer "gewalttätigen Nachbetrachtung" geht. Eine solche "Gewalt der Nachbetrachtung" ist in der Tat regelmäßig zu beobachten, wenn es um die Einschätzung "alter Theorien" geht. Ein gutes Beispiel für den hier in Rede stehenden Zusammenhang ist Rostow (1990), der den von ihm dargestellten Theorien eine streng neoklassische Interpretation aufzwängt: "Rostow exhibits a tendency to rewrite the works of his subjects as if they shared his conceptual apparatus" (Dorfman 1991, 589; meine Hervorhebung). Gerade die Verwendung neoklassischer Konzepte auf die klassische Ökonomik zeigt oft die Probleme der Nachbetrachtung. Wrigley (1987; 1988) spricht im Hinblick auf die Klassiker stets vom Gesetz sinkender Grenzerträge (z.B. 1988, 4, 17ff., 22, 47) und Spiegel (1991, 324) meint, daß mit Ricardos Rententheorie das Marginalprinzip Einzug in die Wirtschaftstheorie hält, obwohl vor der "Marginalrevolution" der 1870er lediglich vom Gesetz sinkender Erträge (erstmals bei Turgot; Brewer 1995, 619; Schumpeter 1965, 333) die Rede war. Auf die inhaltliche Problematik wird später zurückzukommen sein, hier geht es vor allem um den methodischen Punkt: Für die Analyse historischer Steady-State-Konzepte kann es nicht zielführend sein, sie in bestimmte – heute aktuelle – ökonomische Konzepte zu pressen, und zwar in neoklassische so wenig wie in ökologisch-ökonomische. Interessant und erkenntnisfördernd kann hier nur eine Vorgehensweise sein, die den sozioökonomischen Kontext bestimmter Theorien berücksichtigt – z.B. auch die Tatsache, daß man heute so sehr daran gewöhnt ist, in terms von Wachstum zu denken, daß man diese Perspektive nur allzu leicht auch historischen Texten "unterschiebt" und sie damit miß-interpretiert (Brewer 1995, 628, 619). Der andere extreme Zugang zu Texten liegt darin, alle Vorstellungen als "right, just and good in its time" (Oser 1970, 7) zu betrachten, und auch das soll hier vermieden werden. Eine solche Perspektive verhindert nämlich jede Möglichkeit der Kritik. Der historische Zusammenhang einer Theorie rechtfertigt nicht falsche Annahmen und Schlußfolgerungen. Es geht folglich auch nicht darum zu zeigen, was z.B. die Klassiker "alles schon gewußt haben", sondern darum, eine vernünftige Position zwischen Arroganz gegenüber "alten" Autoren und "ancestor worship" (Blaug 1985, 1) zu finden.
In diesem Kapitel sollen ökonomische Konzeptionen dargestellt und hinterfragt werden. Diesem Ziel ist es auch geschuldet, daß ich intensiv von wörtlichen Zitaten Gebrauch machen werde, die jeweiligen Autoren also im buchstäblichen Sinne zu Wort kommen lassen werde. Dies senkt die Gefahr der gewalttätigen Nachbetrachtung und hat darüber hinaus den Vorzug, die Relevanz und aktuellen Bezüge einiger Konzepte überzeugend hervortreten zu lassen. Ich werde die verschiedenen Theoriestücke auf den "ökologischen Steady-State" beziehen – aber eben ohne aus der Nachbetrachtung heraus nachweisen zu wollen, wie defizitär oder überlegen sie waren. Was vor allem die Klassiker angeht, will ich ganz im Gegenteil auch deren historische Situation berücksichtigen. Wie sich zeigen wird, erlaubt gerade der Kontext, in dem die Klassiker über ökonomische Zusammenhänge nachdachten, interessante Schlüsse hinsichtlich der Zielsetzung einer zukunftsfähigen Entwicklung.
7.1. Theoriegeschichte und Geschichte
7.1.1. "Dogmengeschichte": Progressive Wissenschaftsentwicklung?
Das übliche Verfahren der "Geschichte des ökonomischen Denkens" beruht wesentlich auf der Annahme, diese Geschichte ließe sich als evolutionäres Entwicklungsmodell verstehen, und zwar als Fortschritt der ökonomischen Analyse (Tribe 1988, 208). Montaner (1967, 13) beginnt seinen Aufsatz Über den Erkenntniswert der Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen mit dem Satz: "Die Entwicklung der Volkswirtschaftslehre erstreckt sich in ihrem Fortschreiten zur systematisch umfassenden und methodisch zielbewußten Wirtschaftstheorie über wenig mehr als zwei Jahrhunderte" (meine Hervorhebung). Niehans (1990, 527f.) stellt unzweideutig fest: "The history of economic theory has been one of progress." Und Helmstädter (1994) nennt seine dogmenhistorische Darstellung Die Geschichte der Nationalökonomie als Geschichte ihres Fortschritts. Er unterscheidet dabei zwischen kumulativem, substitutivem und zirkulärem Fortschritt (Helmstädter 1994, 2ff.). Danach liegt kumulativer Fortschritt vor, wenn neue Erkenntnisse den Wissensbestand erweitern. Wenn alte durch neue Erkenntnisse ersetzt werden, kann dieser Fortschritt als substitutiv beschrieben werden. Eine "unechte Form des Fortschritts" nennt Helmstädter (1994, 3) den zirkulären Fortschritt, bei dem obsolet gewordene Erkenntnisse wiederkehren. "Ob es sich also um Fortschritt handelt, ist beim zirkulären Fortschritt Ansichtssache. Der zirkuläre Fortschritt der Wissenschaft ist ein dialektischer Prozeß, ein Meinungsstreit, bei dem es keine endgültigen Sieger gibt" (Helmstädter 1994, 4; seine Hervorhebungen).
Nun sind endgültige "Sieger" in der Geschichte der Wissenschaften äußerst selten, wie nicht zuletzt die Arbeit von Kuhn (1989) über wissenschaftliche Revolutionen gezeigt hat (s. auch 2.1.). Die Geschichte dieser Revolutionen interpretiert Helmstädter (1994, 5) als substitutiven Fortschritt, während er gleichzeitig die Entwicklung naturwissenschaftlicher Entdeckungen sowie die Mathematisierung der Ökonomik als kumulativen Fortschritt beurteilt. Folglich sieht er bei der Entwicklung empirischen Wissens kumulativen Fortschritt, im methodischen Bereich substitutiven und bei Wertungen einen zirkulären Fortschritt (was mit der Auffassung, dieser Fortschritt sei Ansichtssache, in Übereinstimmung mit der üblichen Interpretation der Ökonomik als positiver Wissenschaft steht). Da es hier um die Geschichte eines Begriffs (von Stationarität) geht, ist die folgende Bemerkung Helmstädters (1994, 6) von Interesse: "Zweifellos hat es beim Aufbau des heute üblichen Begriffsapparates einen kumulativen Fortschritt gegeben, so daß unnötige Begriffsdiskussionen in der heutigen ökonomischen Literatur eigentlich ausgemerzt sind." Da kumulativer Fortschritt eine Erweiterung des Wissens bedeutet, ist in der Helmstädterschen Interpretation die Klärung von Begriffen mit der Zunahme von Wissen verbunden. Hier bleibt die Tatsache unberücksichtigt, daß Begriffsgeschichte auch die Geschichte des Verschwindens von Termini und damit auch des Vergessens von Wissen sein kann. Gerade das Wissen der Klassiker um die Bedeutung des Bodens als begrenzenden Faktor wirtschaftlicher Entwicklung spielt heute in der ökonomischen Diskussion kaum eine Rolle, wenn man von den Bemühungen der Ecological Economics absieht, diesem Problem wieder mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Die folgenden Abschnitte versuchen, dieses Wissen zur Kenntnis und ernst zu nehmen. Eine solche Interpretation ist schlechterdings unmöglich, wenn man die gesamte Geschichte ökonomischen Denkens von vorneherein als Geschichte ihrer fortschreitenden Höherentwicklung begreift. Die Annahme eines kumulativen Fortschritts tendiert im übrigen dazu, den Verlust von Wissen unberücksichtigt zu lassen. Wenn Wissen nicht verwendet wird, kann es verloren gehen (Norgaard 1994, 201). Es erscheint unplausibel, daß dieses Phänomen für wirtschaftswissenschaftliches Wissen nicht zutreffen sollte. Dennoch: "Normale" Geschichte des ökonomischen Denkens ist "history as exemplar of the march of wisdom, of progress, from the dark and uninformed past to the enlightened and scientifically sophisticated present" (Weintraub 1991, 5), z.B. in den Werken von Schumpeter (s. z.B. Schumpeter 1965, 75; vgl. auch Salin 1967, 195) und Blaug (s. z.B. Blaug 1985, 1ff.). (45) Blaug (1985, 7) sieht einen Fortschritt der ökonomischen Theorie, aber auch, daß die Entwicklung ökonomischen Denkens "has not taken the form of a linear progression toward present truths." Für Schumpeter (1965, 75) entspricht der wissenschaftliche Fortschritt dem technischen: Von wissenschaftlichem Fortschritt in der Zeit von Mill bis Samuelson könne im gleichen Sinne gesprochen werden, "in dem wir sagen können, daß in der Zeitspanne von John Stuart Mill bis heute ein technischer Fortschritt beim Zahnziehen erzielt worden sei."
Lowe (1975, 415) dagegen interpretiert die Geschichte ökonomischen Denkens in zur herrschenden Meinung diametraler Weise: "In tracing the historical development of a science one expects to encounter a more or less steady progress from initial fragmentary insights to an ever more comprehensive body of knowledge in which, first, empirical regularities, then explanatory laws and more inclusive theories, and, finally, a grand synthesis of all the special theories are established. The very contrary is true of the modern history of economics. At its beginning stand the grandoise designs of classical economics, marked by an expanse of substance and a stringency of deductive reasoning that during the subsequent development was achieved again only by the classical heretic Marx. Thereafter theoretical development presents itself under the curious aspect of a progressive erosion of the original system, to be partially reversed only during the present generation" (meine Hervorhebung). Ich gehe also nicht von der Prämisse einer progressiven Fortentwicklung ökonomischer Theorie aus. Ich schließe also "Rückschritte" nicht von vorneherein aus. Im folgenden wird sich zeigen, daß "scientific literature is not a linear stream of papers and books, each building on the other. Rather, it is a complex of forward motions, turnings, repeating, and contradictions" (Golley 1993, xiv). Denn: "Wissenschaftliche Analyse ist nicht einfach ein logisch konsistenter Prozeß, der mit gewissen primitiven Vorstellungen beginnt, um dann auf dieser Grundlage gradlinig aufzubauen. Sie ist nicht einfach die progressive Entdeckung einer objektiven Wirklichkeit – wie z.B. eine Entdeckung im Kongobecken" (Schumpeter 1965, 33).
7.1.2. Geschichte und Theorie: Beeinflußt wirtschaftliche Entwicklung die Ökonomik?
Ob Ideen den Gang der Welt verändern oder nur die Bedingungen dieser Welt widerspiegeln, ist bekanntlich eine alte Frage. Die Frage, ob eine "idealistische" oder "materialistische" Perspektive angemessen ist, geht gewiß über den Problemkreis dieser Arbeit hinaus. Auf den Einfluß wirtschaftlicher Entwicklung auf ökonomische Theorieentwicklung muß aber wenigstens kurz eingegangen werden. Daß ökonomische Bedingungen sich stetig ändern und jede Generation in eigener Weise auf eigene Probleme schaut (Marshall 1961, v), mag trivial erscheinen. Noch trivialer mag die Auffassung erscheinen, daß gesellschaftliche Entwicklungen diese Sichtweise beeinflussen. Manche Autoren verneinen aber einen solchen Zusammenhang. Die Verbindung zwischen der Weltwirtschaftskrise und Keynes General Theory ist das meistzitierte Beispiel für die Auswirkungen geschichtlicher Ereignisse auf Entwicklungen in der ökonomischen Theorie (s.u.), und Sowell (1994, xii f.) meint, daß "generalizing from such examples is the fatal mistep. (...) (T)he question of the relationship of ideas to surrounding circumstances is ultimately a matter of degree." Heilbroners Vorstellung z.B., nach der "laissez-faire economics originated in a laissez-faire world" sei "grotesque" (Sowell 1994, 8). Stigler (1965a, 20) sieht es als Zeichen der Reife einer Disziplin, daß sie ihre Probleme nicht von unmittelbaren, wechselnden Ereignissen bezieht. Folglich sieht er eine geringe und eher zufällige Bedeutung der wirtschaftlichen Umwelt für die Entwicklung der ökonomischen Theorie seit ihrer Herausbildung als Wissenschaft (Stigler 1965a, 23). Nach dieser Sichtweise liegt es nahe, keinerlei Zusammenhang zwischen einer sozioökonomischen Situation und den parallelen theoretischen Entwicklungen zu erkennen.
Demgegenüber gehe ich davon aus, daß in der Tat ein Zusammenhang zwischen Theoriebildung und gesellschaftlichen Entwicklungen besteht. (46) "Everyone's way of thinking is influenced by the events of his life" (Georgescu-Roegen, zit. in de Gleria 1995, 5). (47) Und: "Society is not an immutable entity, but evolves continuously in endless forms that differ with time and place as well. It is normal, therefore, that every great economist should have filled his analytical boxes with an institutional content inspired by the cultural patterns of the society he knew best: that in which he lived" (Georgescu-Roegen 1966, 110). Folgerichtig sind auch gesellschaftliche Entwicklungen Determinanten von theoretischen Entwicklungen. Wissenschaftliche Arbeit findet nicht im gesellschaftlichen Vakuum statt, sondern ist in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort angesiedelt, und dieser Umstand wirkt sich auf wissenschaftliche Arbeit aus. Ökonomische Theorien und Konzepte entwickeln sich nach dieser Sichtweise - zumindest teilweise - als Reaktion auf die Umwelt des Wissenschaftlers und damit auf realökonomische Probleme. (48)
In der Geschichte ökonomischer Theorien finden sich einige Beispiele für den Einfluß gesellschaftlicher Entwicklungen. Smiths Konzeption einer Konkurrenzwirtschaft richtet sich nicht zuletzt gegen die Staatsinterventionen seiner Zeit, die wiederum durch Merkantilismus und Physiokratismus theoretisch gestützt wurden (Kromphardt et al. 1979, 205). Und Ricardos Principles sind nicht unwesentlich durch seine Ablehnung der Korngesetze motiviert (Heilbroner 1986, 79ff.). Die Intention der Klassiker war so genuin eine politische, daß die Vermutung, ihre Theoriebildung sei von gesellschaftlichen Entwicklungen unabhängig, abwegig erscheinen muß. Die sozioökonomische Umwelt ist auch ein Faktor, der den "Erfolg" – im Sinne von Durchsetzung – von Theorien mitbestimmt. Smiths Wirkung hing damit zusammen, daß er zentrale Fragen seiner Zeit beantwortete, und die Wirkung von Keynes General Theory ist nicht ohne den Hintergrund der Weltwirtschaftskrise zu verstehen (Oser 1970, 5). Der "Öl-Schock" der frühen 1970er Jahre wirkte sich auf die Aktivitäten im Bereich der Ressourcenökonomik aus (Niehans 1990, 517). Der Übergänge zum Marginalismus und zur Gleichgewichtstheorie können aber, so Niehans (1990, 517), kaum auf wirtschaftliche Entwicklungen zurückgeführt werden. Andere Beispiele: Für Hirsch (1976, 15) ist z.B. das nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererwachte Interesse an Wirtschaftswachstum selbst ein Produkt der Verfügbarkeit von Statistiken. Wachstumstheorie, so Solow (1988b, 308), "like much else in macroeconomics, was a product of the depression of the 1930s and of the war that finally ended it." Die Geschichte der Ökonomik kann also nicht "auf eine Geschichte der reinen Denktechnik reduziert werden, isoliert von jenen gesellschaftlichen Überzeugungen und Kräften, die in der Welt der Tatsachen wirken" (Montaner 1967, 16).
Niehans (1990, 516f.) hält den Einfluß politischer Ereignisse auf wissenschaftliche Entwicklungen für schwach. Die Bedeutung gesellschaftlicher Veränderungen sei größer, könne aber nur einen kleinen Teil theoretischer Entwicklungen erklären. Für Heilbroner ist die Entstehung der Ökonomik selbst nur durch die historischen Umstände erklärbar. Heilbroner (1986, 19ff.; s. auch 1988, 15ff.; 1993, 22ff.) unterscheidet drei Modi zur Sicherstellung gesellschaftlicher Ordnung: Tradition, autoritäre Herrschaft und das Marktsystem. Erst das Aufkommen des Marktsystems habe dazu geführt, so Heilbroner, daß die Volkswirtschaftslehre überhaupt entstanden sei. Eine bestimmte sozioökonomische Entwicklung war nach dieser Sichtweise also ursächlich für das Aufkommen des ökonomischen Diskurses. Zweifelsohne ist festzustellen, daß das Aufkommen neuer Probleme theoretische Entwicklungen inspiriert hat: "Immer wieder waren es bestimmte ökonomische und gesellschaftliche Tatsachen, die in ihrer Erklärungsbedürftigkeit Anlaß zu wissenschaftlicher Verarbeitung und Ergründung boten" (Montaner 1967, 16) – das Entstehen der Ecological Economics ist ein aktuelles Beispiel.
Es geht hier ganz ausdrücklich nicht darum, im Sinne einer "sozialen Determination wissenschaftlicher Erkenntnisse" (Popper 1992, 249) zu argumentieren. Ich halte es allerdings in der Tat für offensichtlich, daß sozialwissenschaftliches Denken sich nicht in einem Vakuum vollzieht, sondern durch kulturelle, soziale, wirtschaftliche und ökologische Faktoren beeinflußt ist. Die folgende kurze "Dogmengeschichte" der Steady-State-Idee wird dies bestätigen, insbesondere im Falle der beiden wichtigsten wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams der letzten zwei Jahrhunderte, Klassik und Neoklassik. Zunächst jedoch zu der Zeit, die oft als "vorklassisch" bezeichnet wird – eine problematische Unterteilung, wenn man bedenkt, daß diese Periode über 2.000 Jahre umfaßt.
7.2. Vor der Klassik: Von Platon bis zu den Physiokraten
Die vorklassische "Periode" kennt keine systematische Auseinandersetzung mit wirtschaftlichem Wachstum. Wirtschaftswissenschaftliches Denken dieser "Periode" bewegt sich gleichsam in einem "stationären Rahmen". Dies ändert sich erst mit der klassischen politischen Ökonomie. Erst hier, mit dem Phänomen des Wirtschaftswachstums als Bestandteil des theoretischen Horizonts, kann über die Beziehung von Wachstum und stationärem Zustand nachgedacht werden. Da erst mit den Klassikern die Auseinandersetzung mit dem stationären Zustand als Endpunkt wirtschaftlicher Entwicklung einsetzt, setze ich mich mit "vor-klassischer Ökonomik" nicht ausführlich auseinander. Einige "vorklassische" Äußerungen, die Bezug zum Thema Steady-State haben, will ich aber nicht unerwähnt lassen.
Platons vollkommener Staat, so Schumpeter (1965, 94), "war ein Stadt-Staat, der auf eine geringe und möglichst gleichbleibende Zahl von Bürgern angelegt war. So gleichbleibend wie seine Bevölkerungsziffer sollte auch der Wohlstand sein" – ein ontologischer normativer Steady-State: Konstanz von Bevölkerung und Wohlstand (s. auch Georgescu-Roegen 1977a, 368). "Warum diese strenge Stationarität? Es ist schwer, sich der Antwort zu enthalten (so dilettantisch sie auch einem Anhänger Platons klingen mag), daß Platon den stationären Zustand zu seinem Ideal erhob, weil er die chaotischen Umwälzungen seiner Zeit mißbilligte" (Schumpeter 1965, 95; s. auch Falkinger 1986, 8ff.; Georgescu-Roegen 1977c, 266). Allerdings dominierte das stationäre Ideal nicht immer die Antike (Falkinger 1986, 16). Auf das ökonomische Denken der Antike wird im ökologischen Diskurs immer wieder zurückgegriffen, allerdings nicht auf Platons "stationäre" Überlegungen, sondern auf Aristoteles' Ethik. Ein wichtiger Beitrag Aristoteles' liegt in der Unterscheidung zwischen Ökonomik und Chrematistik (s. z.B. Daly/Cobb 1994, 138f.; Immler 1985, 30; Schefold 1994, 130ff.; Schumpeter 1924, 22f.). Ökonomik ist für Aristoteles bekanntlich die Kunde von der Hausverwaltung, Chrematistik dagegen die Kunst des Gelderwerbs (Aristoteles, Politik, Rdnrn. 1253b, 1256b). Charakteristisch für die Ökonomik ist für Aristoteles, daß diese – im Gegensatz zur Erwerbskunst – eine Grenze hat, "denn ein Reichtum jener Art ist ja nicht ihre Aufgabe" (Aristoteles, Politik, Rdnr. 1257b).
In der griechischen Antike ist ökonomischer Austausch sekundär, weil der Haushalt nicht nach Wachstum, sondern nach Selbstgenügsamkeit strebt (Schefold 1994, 114). Chrematistik, als "Bereicherungskunst" steht neben der natürlichen Erwerbskunst der Ökonomik und ist "Grenzen sprengender Erwerb" (Schefold 1994, 133). "In der Chrematistik (...) und im Bestreben, zu leben, statt gut zu leben, erkennt Aristoteles einen neuen, eigengesetzlichen und unnatürlichen Zusammenhang, in dem für uns die Triebkräfte des wirtschaftlichen Handelns liegen: Gewinnmaximierung und unbegrenzter Konsum. Aristoteles entdeckt beide und verwirft sie" (Schefold 1994, 137). Auch wenn Aristoteles "sich der praktischen Notwendigkeit der chrematistischen Erwerbskunst im Wirtschaftsleben bewußt [war]" und auch Warenproduktion als solche nicht kritisierte (Schefold 1994, 137, 139): Aufgrund seiner ethisch begründeten Kritik der Chrematistik kann es kaum verwundern, daß im ökologischen Zusammenhang gern auf Aristoteles zurückgegriffen wird. Das Standardargument dabei lautet, daß sich die Wirtschaftswissenschaft heute nicht mit ökonomischen sondern chrematistischen Fragestellungen beschäftige. Dies sei ein Grund für die Umweltblindheit weiter Teile der Ökonomik. Auch Daly nimmt die aristotelische Unterscheidung zwischen Ökonomik und Chrematistik auf und kritisiert, daß die heutige Ökonomik mehr Chrematistik als Ökonomik sei (Daly/Cobb 1994, 138). In der Interpretation von Daly/Cobb (1994, 138f.) ist Chrematistik an kurzfristiger Tauschwertvermehrung im Interesse von Individuen interessiert, Ökonomik an langfristiger Gebrauchswertvermehrung im Interesse aller Haushaltsmitglieder. Daraus resultiere auch, daß "for oikonomia, there is such thing as enough. For chrematistics, more is always better" (Daly /Cobb 1994, 139). Für eine nachhaltige Entwicklung ist es aus Sicht von Daly/Cobb notwendig, daß die Wirtschaftswissenschaft sich an der Ökonomik und nicht an der Chrematistik orientiert.
Mit dem Merkantilismus wird Reichtumsmehrung erstmals das zentrale Thema einer ökonomischen Doktrin – ohne daß dies ein Interesse an Wirtschaftswachstum für eine bessere Bedürfnisbefriedigung implizierte (Falkinger 1986, 31ff.). Auf die Physiokraten gehen so wichtige Konzepte wie Gleichgewicht und Kreislauf zurück (Spiegel 1991, xxi, 197). Den ökonomischen Gehalt des Wirtschaftskreislaufs erkannt zu haben, ist das Hauptverdienst der Physiokraten. Das physiokratische Tableau Economique ist für Marx (1965, 319) "ein höchst genialer Einfall, unstreitig der genialste, dessen sich die politische Ökonomie bisher schuldig gemacht hat."
Dieser Einfall war die Darstellung eines stationären Zustands: "Es war festzustellen, wie jede Wirtschaftsperiode zur Grundlage der nächsten wird, nicht etwa nur technisch, sondern in dem Sinn, daß sie gerade solche Resultate zeitigt, die die Wirtschaftssubjekte veranlassen und in den Stand setzten, in der nächsten Wirtschaftsperiode denselben Prozeß in der gleichen Form zu wiederholen (...). Aus einer solchen Analyse erst konnte sich die weitere Erkenntnis vom ökonomischen Lebensprozeß der Gesellschaft entwickeln" (Schumpeter 1924, 39; meine Hervorhebungen; Backhouse [1985, 117] nennt den stationären Zustand des Tableau ein "static equilibrium"; s. auch Schumpeter [1965, 313], Blaug [1985, 25], der von einem "closed stationary state'" spricht und Robbins [1930, 194ff.]). Im Tableau Economique gleichen sich für jeden Sektor die Einnahmen und Ausgaben aus, jeder Sektor verfügt also am Ende einer Periode über die selbe Geldmenge wie an deren Anfang. "The economy ends up in exactly the same state as that in which it started" (Backhouse 1985, 116). Das Tableau Economique ist also die "vollständige Beschreibung eines stationären Wirtschaftsablaufs" (Schumpeter 1965, 307). Quesnay konstruierte laut Spiegel (1991, 191) aber auch Fälle, in denen das Gleichgewicht "verloren gegangen" ist. Er hat also, so Walsh (1992, 12), das Tableau auch zur Darstellung von Wachstum verwandt (s. auch Brandis 1989, 71f.; Brewer [1995, 621] bestreitet dies). Die Physiokraten, so Schumpeter (1952, 79), "griffen direkt und unmittelbar nach der großen Tatsache des wirtschaftlichen Kreislaufs. Ihn zu schildern, seine Räder und deren Ineinandergreifen darzustellen war ihr vornehmstes, ihr einziges wissenschaftliches Ziel. Mit fast grotesker Deutlichkeit tritt bei ihnen der Gedanke des Kreislaufs hervor, die Absicht, seine Anatomie und Physiologie zu geben. Den Kreislauf schildern heißt aber ipso facto die statische Wirtschaft schildern – beschreiben, wie irgendwelche, aber stets gegebene Produktivkräfte ihren gewohnten Weg nach ihrer Bestimmung zurücklegen und welche Phänomene es dabei zu beobachten gibt. Und das blieb das Ziel der reinen Ökonomie bis auf unsere Tage" (meine Hervorhebungen; s. auch Schumpeter 1924, 46).
Die Physiokraten werden bisweilen als wichtige frühe "ökologische" Schule angesehen (vgl. (Bell 1967, 7; Cleveland 1987, 49f.; Immler 1985; Spiegel 1991, 183; Kappel [1994, 64] meint gar, die ökologische Ökonomik knüpfe an das physiokratische Kreislaufmodell an). In Quesnays Tableau Economique waren die Landwirte bekanntlich die (einzige) "produktive Klasse". Nach physiokratischer Vorstellung war der Boden der Faktor, der Werte schaffen konnte und nicht, wie bei der Klassik, die Arbeit. Die Physiokratie kann aber nicht umstandslos als frühe ökologische Ökonomie angesehen werden. Daß Physiokratie Naturherrschaft bedeutet (Immler 1985, 303ff.), ist in diesem Zusammenhang zunächst einmal völlig irrelevant, auch wenn die physiokratische Analyse des Produktionsprozesses sich "im Unterschied zu aller folgenden Ökonomie, in erster Linie auf das systematische Verstehen und das bewußte Organisieren der naturalen Seite der Produktion [richtet]" (Immler 1985, 410). Dennoch mag die Physiokratie durchaus, wie Immler (1985, 416) meint, "Ansätze zu einer ökonomischen Theorie der natürlichen Produktivkräfte" enthalten. Ob freilich die "Naturwertlehre" – als Gegensatz zur klassischen Arbeitswertlehre – ein geeigneter Ausgangspunkt für eine ökologisch orientierte Ökonomik ist, erscheint m.E. fraglich. "Kaum ist ein größerer Irrtum denkbar als dieser [physiokratische; FL] Glaube, daß in der Wirtschaft nur die Natur schöpferische Kraft besitze", so Salin (1967, 62), denn hier werde die Leistung von Gewerbe, Handel und Unternehmen verkannt. Was aber vom Physiokratismus bleibe, sei die Berücksichtigung der Naturgebundenheit der Wirtschaft. Diese sei "gewiß nicht der Grund, die Ursache aller Erzeugung, wohl aber ist sie ihre Voraussetzung und enthält ihre Begrenzung; sie erklärt nicht die Größe der Gütermenge, noch stellt sie die einzige Triebkraft des Wirtschaftsablaufs dar, wohl aber, auch heute noch, einen möglichen Antrieb des Kreislaufs und zugleich eine der möglichen Ursachen seiner Störung" (Salin 1967, 63; meine Hervorhebung). Die begrenzende Wirkung der natürlichen Umwelt für wirtschaftliche Expansion wird systematisch erst von der ökonomischen Klassik untersucht – der stationäre Zustand spielt dort genau deshalb eine Rolle, weil Wirtschaftswachstum in das theoretische Blickfeld gerät.
7.3. Klassik: Der stationäre Zustand als Endpunkt wirtschaftlicher Entwicklung
7.3.0. Was heißt Klassik? Grundsätzliche Anmerkungen
Der Begriff der Klassik bezieht sich im dogmengeschichtlichen Kontext sowohl auf eine Epoche als auch auf eine Theorie (Schefold/Carstensen 1994, 63). Dieser Begriffsverwendung wird auch hier gefolgt. Neben der zeitlich-theoretischen Bedeutung existieren im Kontext ökonomischer Theoriegeschichte allerdings mindestens zwei weitere Konnotationen des Begriffs. Klassisch kann danach sowohl "das Beste seiner Zeit" oder eine Situation grundsätzlicher theoretischer Übereinstimmung bezeichnen. "Klassisch" bezieht sich in der Ökonomik und anderen Bereichen oft auf eine maßgebende Tradition, die als Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen fungiert (Sowell 1994, 6). Für Niehans (1989, 13) ist klassische Nationalökonomie in diesem Sinne "zu jeder Zeit einfach die beste, die es gibt. 'Klassisch' ist nicht eine Parteibezeichnung, sondern ein Gütezeichen" (Niehans 1989, 13). Für Niehans (1989) ist "Klassik" nichts als ein "nationalökonomischer Mythus". Er hält die ganze übliche Phasenaufteilung für einen Mythus und behauptet, daß eine klassische oder neoklassische Schule nicht existiere (Niehans 1989, 13). (49) Schumpeter verwendet in seiner Geschichte der ökonomischen Analyse den Ausdruck "klassische Situation", der sich von den bisher genannten Begriffsverwendungen unterscheidet. (50) Schumpeter (1965, 90, Fn. 1) kennzeichnet mit diesem Begriff eine Situation, "in der nach einer langen Periode von Kampf und Kontroverse eine grundsätzliche Übereinstimmung erzielt wird: die Konsolidierung der neuartigen, schöpferischen Arbeit, die ihr vorausging." (51)
Ich verwende den "üblichen" Klassik-Begriff, also im Sinne einer zeitlich-theoretischen Periodisierung (Abweichungen hiervon sind dadurch gekennzeichnet, daß "klassisch" in Anführungszeichen gesetzt ist). Was meint also ökonomische Klassik im hier verwendeten Sinne? Der Begriff "klassische politische Ökonomie" geht auf Marx zurück (Niehans 1989, 3; Sowell 1994, x). Marx (1988, 95, Fn. 32) dient dieser Terminus zur Abgrenzung von der durch ihn so bezeichneten Vulgärökonomie: "Um es ein für allemal zu bemerken, verstehe ich unter klassischer politischer Ökonomie alle Ökonomie seit W. Petty, die den innern Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsverhältnisse erforscht im Gegensatz zur Vulgärökonomie, die sich nur innerhalb des scheinbaren Zusammenhangs herumtreibt, für eine plausible Verständlichmachung der sozusagen gröbsten Phänomene und den bürgerlichen Hausbedarf das von der wissenschaftlichen Ökonomie längst gelieferte Material stets von neuem wiederkaut, im übrigen aber sich darauf beschränkt, die banalen und selbstgefälligen Vorstellungen der bürgerlichen Produktionsagenten von ihrer eignen besten Welt zu systematisieren, pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren." Die wissenschaftliche Ökonomik von Petty bis vor Marx ist also klassische politische Ökonomie, zu deren "besten Repräsentanten" Marx (1988, 95, Fn. 32) übrigens nicht nur Ricardo, sondern auch Smith zählt. Der Begriff der Klassik ist geblieben, Marxens Periodisierung ist aber verändert worden: Als Beginn der Klassik gilt heute Smiths Wealth of Nations, als ihr Endpunkt Mills Principles of Political Economy, und dieser Aufteilung folge ich hier. (52)
Nun hat auch Keynes den Begriff der Klassik verwendet, allerdings in einer Interpretation, die wohl zumindest als eigenwillig bezeichnet werden kann. Im Prinzip ist für Keynes alles das klassisch, was vor seiner General Theory formuliert wurde. Er setzt sich damit explizit von der Marxschen Periodisierung ab: "'The classical economists' was a name invented by Marx to cover Ricardo and James Mill and their predecessors, that is to say for the founders of the theory which culminated in the Ricardian economics. I have become accustomed, perhaps perpetrating a solecism, to include in 'the classical school' the followers of Ricardo, those, that is to say, who adopted and perfected the theory of the Ricardian economics, including (for example) J.S. Mill, Marshall, Edgeworth and Prof. Pigou" (Keynes 1973, 3, Fn. 1; seine Hervorhebungen). Keynes ist sich bewußt, daß hierin ein Bruch mit der Etikette liegen könne. (53) Letztlich verhält es sich ähnlich wie bei Marx: Alle Autoren vor demjenigen, der die Einteilung selbst vornimmt, werden als klassisch bezeichnet. Der berühmte Aufsatz, in dem Hicks die IS/LM-Interpretation der "Allgemeinen Theorie" vorschlägt, ist denn auch Mr. Keynes and the 'Classics' betitelt (Hicks 1937; meine Hervorhebung), und die An- und Abführungszeichen deuten gewiß an, daß auch Hicks die Keynessche Verwendung des Terminus bemerkenswert fand. Vielleicht hängt Keynes' Auffassung, alle Ökonomik vor der General Theory sei klassisch, damit zusammen, daß "er glaubte, er habe die Wirtschaftswissenschaft aus einer 150 Jahre langen Periode des Irrtums heraus in das Reich der definitiven Wahrheit geführt" (Schumpeter 1965, 1424).
Immer wieder wird versucht, die Klassik im Nachhinein als ein kohärentes Gedankengebäude darzustellen. (54) Aus moderner Sicht wird "das" klassische Modell wie folgt dargestellt: Die drei Produktionsfaktoren bestimmen die relativen Preise, woraus Löhne und Profite resultieren, die ihrerseits – gemeinsam mit dem technischen Fortschritt – das Wachstum von Bevölkerung und Kapital und damit das Wachstum der Wirtschaft bestimmen. "Vom Widerstreit zwischen der Knappheit der Naturschätze und dem technischen Fortschritt hängt es ab, ob das Wachstum früher oder später zum Stillstand kommt" (Niehans 1989, 4). Dieses Modell ist – "mit Recht", so Niehans – in einem vielzitierten Aufsatz von Samuelson (1978) als The Canonical Classical Modell of Political Economy bezeichnet worden. Samuelson (1978, 1415) behauptet in diesem Aufsatz, daß Smith, Ricardo, Malthus und Mill "shared in common essentially one dynamic model of equilibrium, growth, and distribution. When the limitation of land and natural resources is added to the model of Karl Marx, he also ends up with this same canonical classical model" (meine Hervorhebung). Nun sieht auch Samuelson (1978, 1415), daß es sich hier um eine Konstruktion handelt: Er warnt den Leser, daß "any simple codification of the classical economists' discursive writings must be an oversimplification (...). Not a few of the stereotypes about the classical writers are, to paraphrase Voltaire, myths agreed-upon by later commentators – distortions that both improve and libel the originals." Dennoch behauptet Samuelson (1978, 1432) am Ende seines Beitrags eine "essential unity of the classical model" (meine Hervorhebung). Im Nachhinein kann eine solche Einheit sicher festgestellt werden, aber niemals als einfache Beobachtung, sondern nur als Konstruktion auf Basis des benefit of hindsight.
Doch, wie Wrigley (1987, 62) bemerkt, "hindsight is not always clear, and its benefit is sometimes questionable." Das klassische Modell ist selbstverständlich eine nachbetrachtende Konstruktion. Die einzelnen Klassiker unterscheiden sich voneinander, und folglich "any restatement of the classical analysis must be a synthesis" (Baumol 1970, 14; seine Hervorhebung). Gemeinsamkeiten existieren in der Tat – sonst könnte kaum von Klassik im hier gebrauchten Wortsinne gesprochen werden. Die Klassik als System ist u.a. durch folgende Eigenschaften charakterisiert: Wirtschaftliche Ordnung und Wachstum als zentrales Erkenntnisinteresse; Existenz von drei Produktionsfaktoren: Arbeit, Boden, Kapital; die Annahme, daß ein Lohnfonds ("wage fund") existiert, aus dem die Kapitaleigner den Lohn zahlen (dieser ist aus klassischer Sicht erforderlich, weil Produktion Zeit benötigt und die Arbeiter selbst nicht über die Mittel zu ihrer Reproduktion verfügen); Geltung des Bevölkerungsprinzips (55); Gesetz der sinkenden Erträge (56); Erwartung des stationären Zustands als Endpunkt wirtschaftlicher Entwicklung. In diesem Sinne kann – bei allen Unterschieden – von der Klassik gesprochen werden. Im folgenden beschränke ich mich auf Smith (als "Vater" der Klassik und der Ökonomik schlechthin), Malthus (als Begründer oder zumindest Popularisierer des für die Frage der Stationarität entscheidenden Bevölkerungsgesetzes), Ricardo (der eine systematische Herleitung des stationären Zustandes leistet; Malthus und Ricardo sind auch als [unfreiwillige] Namensgeber der "malthusianischen" und "ricardianischen" Knappheit relevant; s. auch Kapitel 9) und schließlich Mill (als Vollender der Klassik und Befürworter eines stationären Zustands).
7.3.1. Smith und der Wohlstand der Nationen
7.3.1.1. Smiths "Ordnung der Dinge"
Smith gilt als der Begründer der modernen Ökonomik. (57) Eines der wichtigsten gesellschaftstheoretischen Probleme des 18. Jahrhunderts war die Frage, wie sich aus einer potentiell "chaotischen" individualistischen Gesellschaft eine soziale Ordnung ergeben kann (Fusfeld 1975, 39ff.; Hinterberger/Hüther 1993). Diese Frage war auch eines der wichtigsten Anliegen von Smith. Smith versuchte zu zeigen, daß das eigennützige Verhalten der einzelnen zur gesellschaftlichen Wohlfahrt führt. (58) Gleichwohl war Wirtschaftswachstum Smiths wichtigstes Thema. (59) Der Wealth ist nicht zuletzt der Idee des Fortschritts gewidmet (Heinzelman 1995, 191). Ab Smith dominiert die Vorstellung wirtschaftlichen Wachstums als notwendigem "Vehikel gesellschaftlichen Fortschritts und als selbstverständliches Ziel" (Falkinger 1986, 35). Smiths Fortschrittsoptimismus grenzt ihn von den anderen Klassikern ab, wie noch zu zeigen sein wird (für Immler [1985, 125] ist der "zeitlose Glanz" Smiths auf eben diesen Optimismus zurückzuführen).
Im ersten Satz des Wealth betont Smith (1976, 10) die Bedeutung der Arbeit für den Wohlstand einer Nation: "The annual labour of every nation is the fund which originally supplies it with all the necessaries and conveniences of life which it annually consumes, and which consist always, either in the immediate produce of that labour, or in what is purchased with that produce from other nations." Die Hervorhebung menschlicher Arbeit als Quelle des Wohlstands grenzt Smith vom Physiokratismus ab (Kromphardt et al. 1979, 204). "To see that labor, not nature, was the source of 'value,' was one of Smith's greatest insights" (Heilbroner 1986, 49; meine Hervorhebung). Dies heißt freilich nicht, daß mit Smith die Wichtigkeit natürlicher Bedingungen für den Wirtschaftsprozeß aus dem Blickfeld verschwindet. Für Salin (1967, 73) hat man "das Doppelgesicht des Smithschen Systems so lange nicht verstanden", wie man die Äußerung Smiths nicht berücksichtigt, nach der das jährliche Produkt von Land und Arbeit als der wahre Reichtum und das wahre Einkommen aller Bewohner angesehen wird.
In der Tat spricht Smith (1976, 12) schon in der Einleitung vom "real wealth, the annual produce of the land and labour of the society" (meine Hervorhebung). Im dritten Kapitel des zweiten Buches Of the Accumulation of Capital, or of productive and unproductive Labour (worauf sich auch Salin bezieht) betont Smith mehrmals die Produkte von Arbeit und Boden und vertritt darüber hinaus die Auffassung, daß Wohlstandswachstum definitive Grenzen hat: "Both productive and unproductive labourers, and those who do not labour at all, are all equally maintained by the annual produce of the land and labour of the country. This produce, how great soever, can never be infinite, but must have certain limits" (Smith 1976, 332; meine Hervorhebungen). Der Wohlstand einer Nation ist also nicht ohne Grenzen, doch auch wenn Smith sich zu den Folgen eines stationären Zustands äußert, steht Wachstum im Zentrum seiner Analyse. Ein solches Wachstum hängt von der Bevölkerungszahl und der Arbeitsproduktivität ab: "The annual produce of the land and labour of any nation can be increased in its value by no other means, but by increasing either the number of its productive labourers, or the productive powers of those labourers who had before been employed" (Smith 1976, 343). Als wichtigste Quelle zur Steigerung dieser produktiven Kräfte gilt Smith bekanntlich die Arbeitsteilung.
In diesem Zusammenhang betont er – unmittelbar nach dem berühmten Stecknadelbeispiel – den Unterschied zwischen Manufaktur und Landwirtschaft, in der die Arbeitsteilung beschränkt sei: "This impossibility of making so complete and entire a separation of all the different branches of labour employed in agriculture, is perhaps the reason why the improvement of the productive powers of labour in this art, does not always keep pace with their improvements in manufactures" (Smith 1976, 16). Die Steigerung der Arbeitsmenge durch Arbeitsteilung führt Smith auf drei Faktoren zurück: höhere Geschicklichkeit der Arbeitenden, Zeitersparnis und "the invention of a great number of machines which facilitate and abridge labour, and enable one man to do the work of many" (Smith 1976, 17). Technischer Fortschritt wird hier also im Kontext der Arbeitsteilung gesehen. Smith erwähnt hier keine industrielle Großproduktion, spricht aber den Fall der Dampfmaschine an (Smith 1976, 20) und erwähnt auch Erzschmelze und Holzkohle (Smith 1976, 23) – ein Indiz dafür, daß Smith sich der Nutzung abiotischer Rohstoffe bewußt war (Stecknadeln werden im übrigen auch aus abiotischen Materialien hergestellt). Daß Smith die zunehmende Bedeutung mineralischer Rohstoffe nicht entging, belegt auch die Erwähnung der "fossils and minerals contained in the bowels of the earth; the precious metals, and the precious stones" (Smith 1976, 182) und von Kohleminen und Eisen (Smith 1976, 182ff.; 189f.), sowie der Hinweis auf die Bedeutung der Versorgung mit Rohstoffen aus drei Quellen, nämlich "the produce of land, of mines, and of fisheries" (Smith 1976, 284; meine Hervorhebung). Dennoch sollte nicht übersehen werden, daß der Wealth "describes the conditions of the small-scale manufacturing system that preceded full-scale industrialization" (Lowe 1975, 420). Daß deren "natürliche" Bedingungen im Gegensatz zur Landwirtschaft bei Smith keine ausführliche Analyse erfahren (Benton 1995, 167), vermag angesichts des analytischen Fokus' und historischen Hintergrunds des Wealth kaum zu überraschen.
Smith erwähnt in einem vielzitierten Abschnitt eine "nachfrageseitige" und damit soziale Wachstumsgrenze: "The rich man consumes no more food than his poor neighbour. In quality it may be very different, and to select and prepare it may require more labour and art; but in quantity it is very nearly the same. But compare the spacious palace and great wardrope of the one, with the hovel and the few rags of the other, and you will be sensible that the difference between their cloathing, lodging and houshold furniture, is almost as great in quantity as it is in quality. The desire of food is limited in every man by the narrow capacity of the human stomach; but the desire of the conveniencies and ornaments of building, dress, equipage, and houshold furniture, seems to have no limit or certain boundary" (Smith 1976, 180f.; meine Hervorhebung). Ricardo (1951b, 293) bemerkt zu diesem Zitat: "Nature then has necessarily limited the amount of capital which can at any one time be profitably engaged in agriculture, but she has placed no limits to the amount of capital that may be employed in procuring 'the conveniences and ornaments' of life." Und Benton (1995, 151) meint: "So far as Smith takes his argument at this point, it would seem that though demand for some kinds of goods (agricultural products) might be finite, overall demand for the products of labour is potentially limitless. If there are 'limits to growth' they do not, on the face of it, appear to derive from the satiation of human desire." Folglich verfügt Smith hier nicht über eine "distinctive answer to the question of possible limits to the accumulation of wealth", wie Benton (1995, 151) andeutet (s. auch Falkinger 1986, 42). Jedenfalls ist festzuhalten, daß zunehmende Bedürfnisbefriedigung oder gar Sättigung für Smith keine Wachstumsgrenze darstellen. Die Nachfrage nach "every sort of material which human invention can employ, either usefully or ornamentally, in building, dress, equipage, or houshold furniture; for the fossils and minerals contained in the bowels of the earth; the precious metals, and the precious stones" (Smith 1976, 181f.) ist also keine Wachstumsgrenze.
7.3.1.2. Smith über den stationären Zustand
Smith (1976, 87f.) hält Bevölkerungswachstum für ein Zeichen von Wohlstand: "The most decisive mark of the prosperity of any country is the increase of the number of its inhabitants." (60) Eine glückliche Gesellschaft erfordert aber, daß eine Mehrheit der Menschen am Wohlstand beteiligt ist: "No society can surely be flourishing and happy, of which the far greater part of the members are poor and miserable" (Smith 1976, 96). Hohe Löhne führen zu hoher Bevölkerung, denn "the demand for men, like that for any other commodity, necessarily regulates the production of men; quickens it when it goes on too slowly, and stops it when it advances too fast. (...) The liberal reward of labour (...) as it is the effect of increasing wealth, so it is the cause of increasing population. To complain of this is to lament over the necessary effect and cause of the greatest publick prosperity" (Smith 1976, 98f.). Dieser Zusammenhang ist ein für Smiths Modell "crucial feedback mechanism" (Heilbroner 1975, 527).
Einen "malthusianischen" Zusammenhang zwischen Subsistenzmitteln und Bevölkerungswachstum sah Smith (1976, 97) bei Tieren: "Every species of animals naturally multiplies in proportion to the means of their subsistence, and no species can ever multiply beyond it". An anderen Stellen heißt es freilich, daß "men, like all other animals, naturally multiply in proportion to the means of their subsistence" (Smith 1976, 162), und daß "(t)he number of workmen increases with the increasing quantitiy of food, or with the growing improvement and cultivation of the lands" (Smith 1976, 181). Dennoch ging Smith (1976, 86ff.) davon aus, daß ein Wohlstandswachstum allen Bevölkerungsschichten zugute kommen würde. Die Arbeitsteilung ist für Smith (1976, 22) Ursache für Wohlstand, der nach seiner Auffassung alle Bevölkerungsschichten erreicht: "It is the great multiplication of the productions of all the different arts, in consequence of the division of labour, which occasions, in a well-governed society, that universal opulence which extends itself to the lowest ranks of people" (meine Hervorhebung). Dies erfordert jedoch nicht ein hohes Wohlstandsniveau, sondern ein Wachstum dieses Wohlstands, weil nur dieses Wachstum zu einer hohen Nachfrage nach Arbeit führt: "The demand for those who live by wages (...) necessarily increases with the increase of the revenue and stock of every country, and cannot possibly increase without it. The increase of revenue and stock is the increase of national wealth. The demand for those who live by wages, therefore, naturally increases with the increase of national wealth, and cannot possibly increase without it. It is not the actual greatness of national wealth, but its continual increase, which occasions a rise in the wages of labour. It is not, accordingly, in the richest countries, but in the most thriving, or in those which are growing rich the fastest, that the wages of labour are highest" (Smith 1976, 86f.; meine Hervorhebung; s. auch Smith 1976, 103). Nicht Wohlstand als solcher sichert also hohe Löhne, sondern nur ein Wachstum dieses Wohlstands, das über der Zunahme der Bevölkerung liegt, führt zu Nominal- und Reallohnsteigerungen. Nur Wirtschaftswachstum kann verhindern, daß die Löhne auf Subsistenzniveau fallen (vgl. auch Falkinger 1986, 37; Schumpeter 1965, 344). In einem stationären Zustand müssen die Löhne folglich niedrig sein, und zwar auch bei Stationarität auf hohem Niveau: "Though the wealth of a country should be very great, yet if it has been long stationary, we must not expect to find the wages of labour very high in it" (Smith 1976, 89).
Aus diesem Zusammenhang folgt die positive Bewertung wirtschaftlichen Wachstums, und die entsprechende negative Bewertung von Stationarität oder gar Wohlstandsschrumpfung: "It deserves to be remarked, perhaps, that it is in the progressive state, while the society is advancing to the further acquisition, rather than when it has acquired its full complement of riches, that the condition of the labouring poor, of the great body of the people, seems to be the happiest and the most comfortable. It is hard in the stationary, and miserable in the declining state. The progressive state is in reality the chearful and the hearty state to all the different orders of the society. The stationary is dull; the declining, melancholy" (Smith 1976, 99; meine Hervorhebungen). (61) Im stationären Zustand, so Smith (1976, 266) an anderer Stelle, sind die Löhne der Arbeiter "soon reduced to what is barely enough to enable him to bring up a family, or to continue the race of labourers." Die Äußerung Smiths im Lohn-Kapitel des Wealth ist vermutlich die erste wirtschaftswissenschaftliche Verwendung des Begriffs "stationary state" überhaupt (Robbins 1930, 196; s. auch Boulding 1980a, 181f.).
Wachstum ist also möglich, solange die Gesellschaft nicht "its full complement of riches" erreicht hat, also vollständiger Wohlstand noch nicht verwirklicht ist. (62) Wenn dies der Fall ist, sind nicht nur die Löhne, sondern auch die Profite niedrig. Darauf weist Smith (1976, 111) an anderer Stelle hin, an der auch der stationäre Zustand etwas präziser beschrieben wird: "In a country which had acquired that full complement of riches which the nature of its soil and climate, and its situation with respect to other countries allowed it to aquire; which could, therefore, advance no further, and which was not going backwards, both the wages of labour and the profits of stock would probably be very low. In a country fully peopled in proportion to what either its territory could maintain or its stocks employ, the competition for employment would necessarily be so great as to reduce the wages of labour to what was barely sufficient to keep up the number of labourers, and, the country being already fully peopled, that number could never be augmented. In a country fully stocked in proportion to all the business it had to transact, as great a quantity of stock would be employed in every particular branch as the nature and extend of the trade would admit. The competition, therefore, would everywhere be as great, and consequently the ordinary profit as low as possible" (meine Hervorhebungen). Vermutlich habe noch kein Land diesen Zustand erreicht, außer vielleicht China. (63) Boden und Klima, so ist festzuhalten, determinieren für Smith den maximal möglichen Wohlstand einer Nation.
Eine Gesellschaft ist für Smith vor allem durch die Wachstumsrate, nicht durch das Niveau von Output oder Entwicklung geprägt (s. auch Brewer 1995, 632). Smith sieht ein Ende des Wachstums "as soon as society has built all the capital is needed" (Heilbroner 1993, 54). Es ist aber fraglich, ob Smith diese Frage für ein aktuelles Problem hielt. Brandis (1989, 72f.) vertritt die Auffassung, daß in Smith der Steady-State kein aktuelles Problem war: "The likelihood of a modern (i.e. eighteen-century) nation reaching the maximum possible capital accumulation is too remote to be considered seriously" (Brandis 1989, 73) – er sieht aber auch, daß "Smith's ambiguity can lead respected scholars to quite different conclusions about his position on the stationary state." Smith (1976, 345) bemerkt an einer Stelle, daß Englands "annual produce of its land and labour" ebenso wie das Kapital des Landes in der Vergangenheit zweifellos gewachsen sei. Dieses Kapital, so Smith (1976, 345), "has been silently accumulated by the private frugality and good conduct of individuals, by their universal, continual, and uninterrupted effort to better their own condition. It is this effort, protected by law and allowed by liberty to exert itself in the manner that is most advantageous, which has maintained the progress of England towards opulence and improvement in almost all former times, and which, it is to be hoped, will do so in all future times" (meine Hervorhebung). Hält Smith also den stationären Zustand für dauerhaft vermeidbar? Nein. Das "all" in "all future times", so Brewer (1995, 633, Fn. 43), "must surely mean 'without interruption' rather than 'forever.'" Wachstum erscheint im Wealth als Normalität, die lange anhalten kann – aber eben eindeutig nicht für immer. Nachdem der Wohlstand einer Nation entsprechend der gegebenen Bedingungen verwirklicht wurde, ist kein weiteres Wachstum möglich.
Heilbroner (1975) macht einen tiefen Pessimismus im Wealth aus und weist auf eine "insufficiently examined dark side of Smith's thought" hin: "(W)e are faced with the disconcerting prognosis of an evolutionary trend in which both decline and decay attend – material decline awaiting at the terminus of the economic journey, moral decay suffered by society in the course of its journeying" (Heilbroner 1975, 524; meine Hervorhebungen; s. auch Heilbroner 1988, 144ff., insbes. 154ff.; 1993, 123f.). Der Weg zum physischen stationären Zustand ist also durch moralischen Verfall geprägt – wahrlich kein Grund für Optimismus. Im Gegenteil, "moral deterioration suffered on account of economic growth, and economic growth terminating finally in economic misery" ist das "terrible dilemma" des Wealth (Heilbroner 1975, 538). Was in Smith System fehle, so Heilbroner (1975, 533), "is an element – a logic – in the historical scheme capable of transcending or transforming the fate to which Smith's system eventually falls victim." Technische Entwicklungen, die den stationären Zustand verschieben, oder Marxscher Klassenkampf sind für Heilbroner zwei Logiken, die sich hier aufdrängen. Bei Smith selbst sind diese aber nicht zu finden.
Ein stationärer Zustand wirkt sich, wie gesagt, gleichermaßen negativ auf Löhne und Profite aus. Wachstum hat dagegen nicht dieselben Folgen für Löhne und Profite: "The rise and fall in the profits of stock depend upon the same causes with the rise and fall in the wages of labour, the increasing or declining state of the wealth of the society; but those causes affect the one and the other very differently" (Smith 1976, 105; meine Hervorhebung). Kapitalwachstum führe zu höheren Löhnen, senke aber aufgrund der Konkurrenz die Profite: "The increase of stock, which raises wages, tends to lower profit. When the stocks of many rich merchants are turned into the same trade, their mutual competition naturally tends to lower its profit; and when there is a like increase of stock in all the different trades carried on in the same society, the same competition must produce the same effect in them all" (Smith 1976, 105). Sinkende Profite sind nach Smith also ausschließlich auf die Kapitalakkumulation und die Konkurrenz zwischen den Kapitalen zurückzuführen. Ebenso wie die Löhne steigen in einer wachsenden Wirtschaft die Bodenrenten (Smith 1976, 264f.). Die Interessen von Landeigentümern und Arbeitern sind also eng verbunden mit dem Interesse der Gesamtgesellschaft. Nicht so die Interessen der Kapitaleigner, denn "the rate of profit does not, like rent and wages, rise with the prosperity, and fall with the declension of society. On the contrary, it is naturally low in rich, and high in poor countries, and it is always highest in the countries which are going fastest to ruin" (Smith 1976, 266).
Die Kapitaleigner sind für die Zwangsläufigkeit des stationären Zustands entscheidende Figuren, denn es ist eindeutig nicht die Abhängigkeit der Wirtschaft von der Umwelt, die bei Smith zum stationären Zustand führt (Barbier 1989, 5). Der stationäre Zustand ist ökonomisch begründet. Das Wachstum des Kapitalbestands führt bei Smith zu einer stetig sinkenden Profitrate. Der daraus früher oder später resultierende stationäre Zustand führt zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiter. Eine solche Verschlechterung für den Großteil der Bevölkerung ist mit einer glücklichen Gesellschaft aber nicht vereinbar. Aus dieser Perspektive ist der stationäre Zustand äußerst negativ zu bewerten. Auch wenn Smith langfristig einen stationären Zustand für ebenso unausweichlich wie beklagenswert hält – der Wealth of Nations skizziert eine kapitalistische Entwicklung, deren Wachstum allen Bevölkerungsschichten zugute kommt und gilt nicht zuletzt deshalb im allgemeinen als "optimistisches" Werk. Demgegenüber vertritt Malthus eine weitaus pessimistischere Version sozioökonomischer Entwicklung.
7.3.2. Malthus und das Bevölkerungsproblem
Die Idee des Fortschritts, die bei Smith eine so prominente Rolle spielt, ist historisch betrachtet relativ jung. Erst am Ende des 17. Jahrhunderts entwickelte sich die Vorstellung von Geschichte als Fortschritt, und erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese Vorstellung in westlichen Gesellschaften kulturelles Gemeingut (Ponting 1991, 149ff.). Malthus "Bevölkerungsprinzip" ist nicht zuletzt eine biologisch begründete Kritik dieser Vorstellung. 1798 erschien (anonym) die erste Fassung des Essays über das Bevölkerungsgesetz. Malthus' Essay ist eine Attacke auf den Fortschrittsgedanken und das Dokument einer pessimistischen Haltung im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen – eine Abkehr vom Smithschen Optimismus (s. Benton 1989, 59; Falkinger 1986, 56; Schumpeter 1924, 76; Spiegel 1991, 266; Stigler 1965d, 164).
Malthus war, wie Smith, ein "growth economist" (Anderson 1986, 202). Während Smith von einer Verbesserung der Lebensbedingungen aller Bevölkerungsschichten durch Wachstum ausging, vertrat Malthus die Auffassung, daß eine solche Verbesserung für die Armen nicht zu erwarten sei. Hier weicht Malthus (1993, 133) explizit von Smith ab: "(T)he only point in which I should differ from Dr Adam Smith is where he seems to consider every increase of the revenue of stock of a society as an increase in the funds for the maintenance of labour, and consequently as tending always to ameliorate the condition of the poor." Malthus äußert also Zweifel an Smiths Definition des Wohlstands einer Nation als das jährliche Produkt von Boden und Arbeit. Wenn ein Land in Manufakturen investiert, aber nicht in die Landwirtschaft, ist es nach Smiths Definition zwar wohlhabender, aber "without a power of supporting a greater number of labourers, and therefore, without an increase in the real funds for the maintenance of labour" (Malthus 1993, 125). Er ist mit Smith nicht einer Meinung, "where he seems to consider every increase of the revenue of stock of a society as an increase of the funds for the maintenance of labour, and consequently as tending always to ameliorate the conditions of the poor" (Malthus 1993, 133).
Hier war Malthus also pessimistischer als Smith. Winch (1992, ix) meint, daß "Malthus embarked on a life-long attempt to show that those who attributed human suffering to defective social and political institutions overlooked one of its perennial sources and were guilty of fundamental error." Für Malthus existieren Knappheit und Ungleichheit auch in einer Gesellschaft, die sich von allen ungerechten Gesetzen und Institutionen befreit hat (Gilbert 1993, xiii). Aus den von Malthus postulierten Eigenschaften von Boden und Bevölkerung ergeben sich eindeutige Folgen für wirtschaftliche Entwicklung - ein Großteil der Bevölkerung wird niemals in der Lage sein, dem Schicksal der Armut zu entrinnen. Mit Malthus' Essay "perished at one blow all the fond hopes of a harmonious universe" (Heilbroner 1986, 78). Malthus' Ausführungen standen im Gegensatz zu optimistischen Fortschrittsaussichten, im Lichte seiner Theorie sah die Zukunft eher "meager, dreary, and chilling" aus (Heilbroner 1986, 78). Es kann daher nicht verwundern, daß der berühmte Begriff der Ökonomik als "dismal science" von Carlyle "erfunden" wurde, nachdem er den Essay gelesen hatte (Akhtar 1973, 78; Gilbert 1993, viii; Heilbroner 1986, 78; s. auch Kolb 1972, 17; Samuelson 1978, 1428; World Bank 1992, 37). Folglich, "Malthus' ultimate triumph was in identifying poverty with 'over'-population (...). He set a pattern by relying heavily on extrapolations and truisms that serve as impregnable refuges during critical attacks and as bases for empirical sorties at other times" (Sowell 1994, 94; seine Hervorhebung).
Malthus' Essay ist eines der bedeutsamsten Bücher seiner Zeit. Oft wird auf den Einfluß dieses Textes auf Darwin hingewiesen. (64) Der große Einfluß des ersten Essay wird oft seiner rhetorischen Qualität zugeschrieben (z.B. von Gilbert [1993, ix] und Keynes [1972f, 84ff.]; auf die rhetorische Qualität verweisen auch Blaug [1985, 69], Gilbert [1993, viii], Salin [1967, 77], Spiegel [1991, 274] und Stigler [1965d, 163]). Gilbert (1993, xx) meint, daß "in matters of population doctrine, wage theory, and social policy, Malthus was the all-but-official spokesman for Political Economy during his lifetime." Und: "Though the interpretation of this theory [der Bevölkerungstheorie, FL], and in particular the interpretation attached to 'subsistence', varied greatly both in Malthus' writings and in classical economics generally, some version of the Malthusian theory underlay most classical writings on economics" (Backhouse 1985, 25; meine Hervorhebung; s. auch Blaug 1985, 67). Jevons war noch 1865 von der Gültigkeit von Malthus' Aussagen überzeugt und lehnte sein "Law of Social Growth" an Malthus' Bevölkerungsprinzip an (Jevons 1965, 194f.; s. 7.4.2.).
Zwischen dem ersten Essay und den darauf folgenden Ausgaben besteht ein erheblicher Unterschied. Obschon der Titel sich nicht geändert hat, kann man durchaus von verschiedenen Büchern sprechen. Keynes (1972f, 84) hält die erste Fassung für "an almost completely different, and for posterity a superior book". In der Literatur wird die erste Ausgabe aus dem Jahre 1798 (Malthus 1993) oft als "First Essay" (z.B. bei Stapleton 1986) oder schlicht als "the Essay" (z.B. Cremaschi/Dascal, 1996) bezeichnet. Die folgenden Ausgaben werden hier als ("Malthus 1992") zitiert. Nach wie vor erscheinen Ausgaben des ersten Essay, und oft beziehen sich Autoren fast ausschließlich auf den ersten Essay (z.B. Bladen 1974, 135ff.; Samuelson 1978, 1429). Die zweite Ausgabe (Malthus 1992) trägt den Titel An Essay on the Principle of Population; or A View of its past and present Effects on Human Happiness; With an Inquiry into our Prospects respecting the future Removal or Mitigation of the Evils which it occasions.
Malthus hat das Bevölkerungsprinzip nicht entdeckt, sein Beitrag zum ökonomischen Denken lag in der Erkenntnis, daß dieses Prinzip nicht irgendwann in ferner Zukunft wirksam wird, sondern aktuelle Relevanz besitzt (Heilbroner 1975, 534). Malthus war also nicht der erste "Malthusianer". Als früher Vorläufer wird der Italiener Giovanni Botero genannt (Schumpeter 1965, 326; Spiegel 1991, 277). Aufgrund dieses und anderer Vorläufer, so Schumpeter (1965, 327) konnte Malthus auf diesem Gebiet nicht mehr sagen, was nicht vorher schon gesagt worden war. Schon Cantillon sah eine positive Korrelation zwischen Einkommen und Bevölkerung (Spiegel 1991, 181).
Der erste Essay war nicht zuletzt eine Reaktion auf andere Autoren (Malthus 1993, 10ff.). Der vollständige Titel lautete An Essay on the Principle of Population, as is Affects the Future Improvement of Society, with Remarks on the Speculations of Mr Godwin, M. Condorcet , and Other Writers (Gilbert 1993, viii). Malthus setzt sich darin mit dem aus seiner Sicht unangebrachten Enthusiasmus von Godwin, Condorcet und anderen Autoren für den Fortschritt auseinander: "Godwin had maintained that mind would gain hegemony over matter (...). Malthus countered by arguing that mind was neither separate from matter nor were its pleasures inherently superior to those arising from material pursuits" (Winch 1992, xv; s. auch Rostow 1990, 69; Salin 1967, 77; Spiegel 1991, 267ff.; Stigler 1965d, 157ff.). Mit seinem Essay wollte Malthus demonstrieren, daß die von Godwin und Condorced vorgebrachten Vorstellungen unrealistisch seien, weil sie gegen die Gesetze der Natur verstießen (Stigler 1965d, 160). Eine geometrisch wachsende Bevölkerung ist von einer nur arithmetisch steigerbaren Nahrungsmittelproduktion nicht einzuholen.
Malthus (1993, 12) postuliert, daß erstens Nahrung notwendig für die Existenz des Menschen ist und zweitens "the passion between the sexes is necessary, and will remain nearly in its present state." Und, so Malthus (1993, 13), "the power of population is indefinitely greater than the power in the earth to produce subsistence for man." Denn – und dies ist das zentrale Argument des Essay –: "Population, when unchecked, increases in a geometrical ratio. Subsistence increases only in an arithmethical ratio. A slight acquaintance with numbers will show the immensity of the first power in comparison to the second" (Malthus 1993, 13; meine Hervorhebung; Malthus eigene Untersuchung der Folgen dieses Prinzips für langfristige Wachstumsperspektiven, die er in seinen Principles vornahm, sind hier nicht das Thema). Das Wachstum der Nahrungsmittel kann also nicht mit dem Bevölkerungswachstum mithalten – unter der Annahme, daß letzteres nicht gehemmt wird. Entscheidend für Malthus' Argument sind die unterschiedlichen Eigenschaften von landwirtschaftlicher Produktion und Bevölkerungsentwicklung. Die landwirtschaftlich nutzbare Fläche ist grundsätzlich begrenzt, während eine solche Begrenzung für die menschliche Reproduktion grundsätzlich nicht gilt: "unlike population, land does not breed" (Heilbroner 1986, 89; Hervorhebung dort).
Malthus (1993, 16) geht davon aus, daß "population, when unchecked, goes on doubling itself every twenty-five years, or increases in a geometrical ratio" (s. auch Malthus 1992, 17). Auf einer Insel z.B. könnte in den ersten 25 Jahren vielleicht die landwirtschaftliche Produktion verdoppelt werden, aber eine Vervierfachtung in den nächsten 25 Jahren sei ausgeschlossen: "It would be contrary to all our knowledge of the qualities of land" (Malthus 1993, 16). Die Gegenüberstellung von arithmetischem und geometrischem Wachstum ist für Malthus' Argument Dreh- und Angelpunkt, und er verdeutlicht dies mit dem vielzitierten numerischen Beispiel: "Taking the population of the world at any number, a thousand millions, for instance, the human species would increase in the ratio of – 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512, &c. and subsistence as – 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, &c. In two centuries and a quarter, the population would be to the means of subsistence as 512 to 10; in three centuries as 4096 to 13; and in two thousand years the difference would be almost incalculable, though the produce in that time would have increased to an immense extent" (Malthus 1993, 17; s. auch 1992, 19). Daß die Bevölkerung ohne Nahrungsmittel nicht wachsen kann, ist für Malthus (1993, 21) so offensichtlich, daß "it needs no illustration." Entscheidend für Malthus' Pessimismus ist aber die Auffassung, daß jede Steigerung der Subsistenzmittel unweigerlich zu einem Bevölkerungswachstum führt, und daß dieses Wachstum nur auf sehr unerfreuliche Weise gebremst werden kann: "That population does invariably increase where there are the means of subsistence, the history of every people that have ever existed will abundantly prove. And, that the superior power of population cannot be checked without producing misery or vice, the ample portion of these too bitter ingredients in the cup of human life, and the continuance of the physical causes that seem to have produced them, bear too convincing a testimony" (Malthus 1993, 21).
Was aber hält die Bevölkerungsgröße innerhalb der "natürlichen" Grenzen, also innerhalb der – modern formuliert – "Carrying Capacity"? Die Natur begrenzt das Wachstum von Pflanzen, Tieren und eben auch Menschen. "Among plants and animals its effects [der Naturgesetze; FL] are waste of seed, sickness, and premature death. Among mankind, misery and vice" (Malthus 1993, 14; meine Hervorhebung; s. auch Malthus 1993, 61). Diese Zusammenhänge sind der Grund für Malthus' (1993, 14) Skepsis im Hinblick auf die "perfectibility of society", also gegenüber der Möglichkeit gesellschaftlichen Fortschritts. Malthus (1993, 21) ist überzeugt, daß "no possible form of society could prevent the almost constant action of misery upon a great part of mankind, if in a state of inequality, and upon all, if all were equal." An anderer Stelle (Malthus 1993, 44f.) heißt es: "To prevent the recurrence of misery is, alas! beyond the power of man." Hier wird die im Vergleich zu Smith pessimistischere Vision deutlich.
Malthus (1993, 31) unterscheidet zwei Hemmnisse ("checks"), die hier wirksam werden: "(A) foresight of the difficulties attending the rearing of a family acts as a preventive check; and the actual distresses of some of the lower classes, by which they are disabled from giving the proper food and attention to their children, acts as a positive check to the natural increase of population" (meine Hervorhebungen). (65) Die Hemmnisse sorgen dafür, daß die Bevölkerungsgröße innerhalb der Ressourcenlimits bleibt (Gilbert 1993, viii). Die positiven Hemmnisse (positive checks) steigern die Sterberate, die vorbeugenden Hemmnisse (preventive checks) senken die Geburtenrate (Gilbert 1993, viii). Zur ersten Gruppe gehören z.B. Hunger, Seuchen und Krieg, zur letzteren Abtreibung, Geburtenkontrolle, Prostitution (sic), Zölibat und die Verschiebung von Eheschließungen. Aus Sicht des ersten Essay führen all diese Hemmnisse entweder zu "misery" (z.B. Hungersnöte) oder "vice" (Promiskuität, Kriege). Mit anderen Worten: Im ersten Essay gibt es kein "gutes" Hemmnis (Gilbert 1993, viii). Während das vorbeugende Hemmnis nach Malthus' (1993, 33f.) Auffassung in allen Klassen wirkt, ist das positive Hemmnis "is confined chiefly, though not perhaps solely, to the lowest orders of society" (Malthus 1993, 35; meine Hervorhebung). Folglich, "(t)he Malthusian population theory made all kinds of income-transfer policies appear futile as a means of helping the poor" (Sowell 1994, 31). Aufgrund dieses Zusammenhangs lehnt Malthus auch die Armengesetze (poor laws) ab, denn "it is to be feared that, though they may have alleviated a little the intensity of individual misfortune, they have spread the general evil over a much larger surface" (Malthus 1993, 36). Aufgrund des Zusammenhangs zwischen Nahrungsmittelversorgung und Bevölkerungszahl seien die Armengesetze ungeeignet, das Los der Armen zu verbessern – im Gegenteil, diese Gesetze "tend to depress the general condition of the poor" (Malthus 1993, 39; s. auch 1993, 36ff.). Malthus geht dabei davon aus, daß es auf die "greatest sum of human happiness" ankomme (1992, 213). Die Armengesetze, die ein wichtiges Hemmnis beseitigen, werden von Malthus folgerichtig abgelehnt. Malthus' Essay ist, so Gilbert (1993, xiv), "a classic exposition of a 'conservative' position on poverty" (seine Hervorhebung). Malthus sah auch wenig Vorteile des Wirtschaftswachstums für die Armen. Hinsichtlich seiner Behandlung des Armenproblems wirft Stapleton (1986, 33) Malthus vor, nicht hinreichend die Situation von z.B. Alten, Kranken und Kindern berücksichtigt zu haben: "Reading the Essay conveys the impression that the poor were all young able-bodied adults with ever growing families" (kursiv von ihm).
In den Ausgaben von 1803ff. hat Malthus das grundlegende Argument nicht verändert. Er hat vor allem die historischen Betrachtungen zur Bevölkerungsentwicklung verändert und ausgebaut. Die wichtigste Änderung besteht in den gegenüber dem ersten Essay modifizierten Ausführungen zu den vorbeugenden und positiven Hemmnissen. In den folgenden Ausgaben betont Malthus weit mehr als im ersten Essay die Bedeutung der vorbeugenden Hemmnisse. Folglich, "the 'melancholy hue' of the 1798 Essay was replaced by shades of cautious hopefulness" (Gilbert 1993, xviii; kursiv von ihm). Da die erste Volkszählung in Großbritannien erst 1801 stattfand (die erste, die Informationen über die Beschäftigungsstruktur Aufschluß gab, erst 30 Jahre später [Wrigley 1988, 83]), schrieb Malthus zunächst in Unkenntnis der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung, er war nicht in der Lage, die Größe der britischen Bevölkerung zu quantifizieren (Stapleton 1986, 35; s. auch Brewer 1995, 612; Schumpeter 1965, 324f.) – die Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts schrieben "in virtually complete ignorance of statistical data" (Devletoglou, zit. in Brewer 1995, 612, Fn. 6). Beim Schreiben des ersten Essay war Malthus "ignorant even of the most elementary facts about the size of the population and its rate of growth" (Wrigley 1986, 7). Die mit der Volkszählung nun zur Verfügung stehenden Daten, so Wrigley (1986, 5ff.), überzeugten Malthus, daß die verbeugenden Hemmnisse die wichtigste Rolle in der Beschränkung des Bevölkerungswachstums spielten.
Im ersten Essay schreibt Malthus (1993, 61), daß "the superior power of population is repressed, and the actual population kept equal to the means of subsistence, by misery and vice". In den darauffolgenden Ausgaben heißt es an der entsprechenden Stelle, daß "the checks which repress the superiour power of population, and keep its effects on a level with the means of subsistence, are all resolvable into moral restraint, vice and misery" (Malthus 1992, 29; s. auch 1992, 207). Der entscheidende Unterschied zum ersten Essay liegt mithin in der Einführung eines neuen Hemmnisses, welches "does not strictly come under the head either of vice or misery " (Malthus 1992, 9) – nämlich moralische Zurückhaltung ("moral restraint"). "Moralische Zurückhaltung" wird also als neues Hemmnis eingeführt – innerhalb der Ehe: sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe galt Malthus als Selbstverständlichkeit –: "Of the preventive checks, the restraint from marriage which is not followed by irregular gratifications may properly be termed moral restraint." Diese Zurückhaltung wird von Malthus streng ausgelegt, wie eine in die dritte Ausgabe des Essay (1806) eingefügte Fußnote zeigt: "It will be observed that I here use the term moral in its most confined sense." (Malthus 1992, 23, Fn. 4). Nur moralische Zurückhaltung ist "the proper check to population" (Malthus 1992, 217). Mit diesem Hemmnis wird auch eine etwas optimistischere Vision gesellschaftlicher Entwicklung möglich, denn eine so erreichte Begrenzung der Bevölkerung "would give a real value to the rise of wages and the sums saved by labourers before marriage, very different from those forced advances in the price of labour, or arbitrary parochial donations which, in proportion to their magnitude and extensiveness, must of necessity be followed by a proportional advance in the price of provisions" (Malthus 1992, 218). Verantwortlich ist in diesem Kontext aber nicht die Gesellschaft sondern das Individuum, denn "it is in the power of each individual to avoid all the evil consequences to himself and society resulting from the principle of population, by the practice of a virtue clearly dictated to him by the light of nature, and expressly enjoined in revealed religion" (Malthus 1992, 224). Es sei notwendig, den Armen "the true nature of their situation" zu erklären (Malthus 1992, 230).
Mit der Möglichkeit eines "guten" Hemmnisses wird also auch gesellschaftlicher Fortschritt denkbar, denn "though our future prospects respecting the mitigation of the evils arising from the principle of population may not be so bright as we could wish, yet they are far from being entirely disheartening, and by no means preclude that gradual and progressive improvement in human society, which, before the late wild speculations on this subject, was the object of rational expectation. (...) A strict inquiry into the principle of population leads us strongly to the conclusion that we shall never be able to throw down the ladder by which we have risen to this eminence; but it by no means proves that we may not rise higher by the same means" (Malthus 1992, 331; meine Hervorhebung). Zusammengenommen nimmt Malthus also eine doppelte Aufteilung der Hemmnisse vor: die "positive" zwischen vorbeugenden und positiven Hemmnissen, und die "normative" zwischen moralischer Zurückhaltung auf der einen und Sünde und Not auf der anderen Seite (Blaug 1985, 68f.).
Winch sieht in dem im Essay postulierten arithmetischen Anstieg der Nahrungsmittelproduktion die Wurzeln des Gesetzes von den abnehmenden Erträgen und verweist auf seine erhebliche Bedeutung für die Klassik. Die arithmetische Steigerung, so Winch (1992, xii), "developed in the hands of Malthus and others into a generalization known later as the law of diminishing returns – a law, held to be peculiar to agriculture and the mining of raw materials, that was to dominate English political economy for over half a century." Im zweiten Essay heißt es – und in der expliziten Formulierung des Problems liegt der zweite große Unterschied zur ersten Fassung: "When acre has been added to acre till all the fertile land is occupied, the yearly increase of food must depend upon the amelioration of the land already in possession. This is a stream which, from the nature of all soils, instead of increasing, must be gradually diminishing. But population, could it be supplied with food, would go on with unexhausted vigour; and the increase of one period would furnish the power of a greater increase the next, and this without any limit. (...) The improvements of the barren parts [eines Landes; FL] would be a work of time and labour; and it must be evident to those who have the slightest acquaintance with agricultural subjects that, in proportion as cultivation extended, the additions that could yearly be made to the former average produce must be gradually and regularly diminishing" (Malthus 1992, 17, 18; meine Hervorhebungen). Dieser Zusammenhang ist auch für die Theorie Ricardos von entscheidender Bedeutung.
7.3.3. Ricardo und die Schrecken des stationären Zustands
7.3.3.1. Ricardo als Verteilungs- und Werttheoretiker
"There are books, some of them rather bad books,
after which the world is never quite the same again."
(Boulding 1971b, 9).
Auch Ricardos Werk bedeutet eine Abkehr vom Smithschen Harmonieglauben (Blaug 1990a, 155). Hatte sich Smith vor allem mit den Bedingungen wirtschaftlichen Wachstums beschäftigt, so galt Ricardos Aufmerksamkeit in stärkerem Maße den Begrenzungen dieses Wachstums: "Where Smith's emphasis was overwhelmingly on the possibilities for growth through increased division of labour and capital accumulation, Ricardo and, following him, many of the later classical economists, focussed on the obstacles to growth" (Backhouse 1985, 26). Smith war, wie gezeigt, vor allem an den Wirkungen der Arbeitsteilung interessiert, während Ricardo den Schwerpunkt seiner Analyse auf die Kapitalakkumulation legte. Weil er diese als wichtigste Quelle wirtschaftlicher Expansion – und als "only hope for the great majority" (Walsh 1992, 15) – ansah, ist er auch als "Apostel der Kapitalakkumulation" (Fusfeld 1975, 61) bezeichnet worden. Ricardo war im Hinblick auf ökonomischen Fortschritt pessimistischer als Smith (Backhouse 1985, 32).
Mit Ricardo vollzieht sich ein wesentlicher Schritt der Abstraktion und "Verwissenschaftlichung" der ökonomischen Analyse (Blaug 1990a, 157; Sowell 1994, 113; Spiegel 1991, 312, 336). Dies äußert sich auch im Hinblick auf die Behandlung natürlicher Ressourcen: "Whereas Malthus evoked scarcity to lend point to a polemical, inexact, and untested population theory, Ricardo did so to explain the phenomenon and behaviour of rent in a closely reasoned and very abstract theory of economic growth" (Barnett/Morse 1963, 60). Rostow (1990, 89) sieht in Ricardos Modell "a rather pure exercise in limits to growth analysis": "Ricardo's method of utilizing abstract, simple cases to illuminate his basic propositions rendered the stationary state (or worse) more vivid [als z.B. bei Smith; FL] and, apparently, inescapable." Die Prognose des stationären Zustands ist also bei Ricardo – und wie Baumol (1970, 35f.) meint: in der Klassik allgemein – "not a guess – it is a matter of straightforward deduction". (66) Ricardo legt eine systematische Untersuchung der Tendenz der Wirtschaft vor, einem stationären Zustand zuzustreben – Ausgangspunkt und Motivation dieser Untersuchung ist jedoch sein Interesse an Verteilungsfragen. Der stationäre Zustand kann als ein Nebenprodukt von Ricardos Verteilungstheorie angesehen werden. (67)
Schon im Vorwort der Principles hebt Ricardo (1951b, 5) sein Interesse an der Verteilung hervor; außerdem betont er die Bedeutung der "Produkte der Erde": "The produce of the earth – all that is derived from its surface by the united application of labour, machinery, and capital, is devided among three classes of the community; namely, the proprietor of the land, the owner of the stock or capital necessary for its cultivation, and the labourers by whose industry it is cultivated. But in different stages of society, the proportions of the whole produce of the earth which will be allotted to each of these classes, under the names of rent, profit, and wages, will be essentially different; depending mainly on the actual fertility of the soil, on the accumulation of capital and population, and on the skill, ingenuity, and instruments employed in agriculture. To determine the laws which regulate this distribution, is the principle problem in political Economy" (meine Hervorhebung). Die Frage nach der Verteilung des Sozialprodukts gilt Ricardo also als die Frage der politischen Ökonomie, und er läßt keinen Zweifel daran, daß er in diesem Zusammenhang die Landwirtschaft gleichsam für den "strategischen Sektor" hält. (68)
Die Bodenrente – die durch andere Faktoren bestimmt wird als der Profit (Ricardo 1951b, 68) – ist die entscheidende Variable für die Bewegung zum stationären Zustand. "Rent", definiert Ricardo (1951b, 67), "is that portion of the produce of the earth, which is paid to the landlord for the use of the original and indestructible powers of the soil" (meine Hervorhebung). Die Formulierung "original and indestructible powers of the soil" verwendet Ricardo auf den folgenden Seiten mehrmals. Für sich genommen bilden diese Kräfte aber keinen hinreichenden Grund für die Existenz von Bodenrente. Für im Überfluß vorhandenes Land wird ebensowenig Bodenrente gezahlt wie für "the use of air and water, or for any other of the gifts of nature which exist in boundless quantitiy. With a given quantity of materials, and with the assistance of the pressure of the atmosphere, and the elasticity of steam, engines may perform work, and abridge human labour to a very great extent; but no charge is made for the use of these natural aids, because they are inexhaustible, and at every man's disposal" (Ricardo 1951b, 69; meine Hervorhebungen). Ricardo (1951b, 75) geht davon aus, daß sich die Eigenschaften von Boden und anderen "Naturkräften" grundlegend unterscheiden: "It is singular that this quality in the land, which should have been noticed as an imperfection, compared with the natural agents by which manufacturers are assisted, should have been pointed out as constituting its peculiar preeminence" (meine Hervorhebung). Ricardo meint hiermit freilich nicht mineralische Rohstoffe, sondern gleichsam "bodenungebundene" Faktoren. Wenn diese besessen werden könnten und knapp wären, so Ricardo (1951b, 75), würde auch ihre Nutzung zur Zahlung von Renten führen: "If air, water, the elasticity of steam, and the pressure of the atmosphere, were of various qualities; if they could be appropriated, and each quality existed only in moderate abundance, they, as well as the land, would afford a rent, as the successive qualities were brought into use."
Die Ausnahmestellung des Bodens (die auf seine Begrenztheit und unterschiedliche Bodenqualitäten zurückgeht) ist für die Existenz der Bodenrente ursächlich, denn, so Ricardo (1951b, 70): "If all land had the same properties, if it were unlimited in quantity, and uniform in quality, no charge could be made for its use, unless where it possessed peculiar advantages of situation." Nur die von anderen Ressourcen differenten Eigenschaften und die Notwendigkeit der Nutzung immer schlechterer Böden führen dazu, daß Bodenrente gezahlt wird: "It is only, then, because land is not unlimited in quantity and uniform in quality, and because in the progress of population, land of an inferior quality, or less advantageously situated, is called into cultivation, that rent is ever paid for the use of it. When in the progress of society, land of the second degree of fertiliy is taken into cultivation, rent immediately commences on that of the first quality, and the amount of that rent will depend on the difference in the quality of these two portions of land" (Ricardo 1951b, 70) – und so weiter: "With every step in the progress of population, which shall oblige a country to have recourse to land of a worse quality, to enable it to raise its supply of food, rent, on all the more fertile land, will rise" (Ricardo 1951b, 70).
Es ist der Bevölkerungsdruck in Kombination mit der Knappheit von Land, der zur Existenz von Bodenrente führt. Bevölkerungswachstum ohne Bodenknappheit würde ebensowenig zur Zahlung von Bodenrenten führen wie Bodenknappheit bei stationärer Bevölkerung. Bodenrente ergibt sich aus der Differenz zwischen den sukzessive zu bearbeitenden Böden unter der Annahme gleichen Arbeits- und Kapitaleinsatzes, sie ist eine Differentialrente: "(R)ent is always the difference between the produce obtained by the employment of two equal quantities of capital and labour" (Ricardo 1951b, 71). Ohne sinkende Erträge und Bevölkerungswachstum keine Bodenrente: "If (...) good land existed in a quantity much more abundant than the production of food for an increasing population required, or if capital could be indefinitely employed without a diminished return on the old land, there could be no rise of rent; for rent invariably proceeds from the employment of an additional quantitiy of labour with a proportionally less return" (Ricardo 1951b, 72; meine Hervorhebung). Von entscheidender Bedeutung für Ricardos Argumentationsgang ist seine Auffassung, daß jeder zusätzlich notwendige Arbeitsaufwand unweigerlich zu einer Wertzunahme des produzierten Gutes führt. Wenn Boden geringerer Qualität bearbeitet wird, "the exchangeable value of raw produce will rise, because more labour is required to produce it" (Ricardo 1951b, 72; meine Hervorhebung). Die Differentialrente ergibt sich dann aus der Differenz zwischen den guten und schlechten Böden, auch wenn der physische Ertrag der guten Böden gleich bleibt: "It is true, that on the best land, the same produce would still be obtained with the same labour as before, but its value would be enhanced in consequence of the diminished returns obtained by those who employed fresh labour and stock on the less fertile land" (Ricardo 1951b, 74). Die Vorzüge guter Böden gehen also nicht verloren, sondern werden gleichsam zum Landbesitzer transferiert. Aus diesem Zusammenhang ergeben sich die resultierenden Wertsteigerungen: "The reason then, why raw produce rises in comparative value, is because more labour is employed in the production of the last portion obtained, and not because a rent is paid to the landlord" (Ricardo 1951b, 74). Die auf den schlechtesten Böden einzusetzende Arbeitsmenge ist wertbestimmend. Ricardo (1951b, 75) hebt hier noch einmal hervor, daß es die schlechte Qualität des Bodens ist, der zur Existenz der Bodenrente führt, und eben nicht die produktive Kraft des Bodens: "Nothing is more common than to hear of the advantages which the land possesses over every other source of useful produce, on account of the surplus which it yields in the form of rent. Yet when land is most abundant, when most productive, and most fertile, it yields no rent; and it is only when its powers decay, and less is yielded in return for labour, that a share of the original produce of the more fertile proportions is set apart for rent" (meine Hervorhebung).
Die Zahlung von Renten ist nach Ricardo nicht auf die Gewinnung organischer Rohstoffe (landwirtschaftlich gewonnene Bodenprodukte) beschränkt, sondern existiert auch beim Abbau mineralischer Rohstoffe, wie er in Kapitel III On the Rent of Mines ausführt: "Mines, as well as land, generally pay a rent to their owner; and this rent, as well as the rent of land, is the effect, and never the cause of the high value of their produce" (Ricardo 1951b, 85). Auch hier ist die Arbeit der wertbestimmende Faktor: "The metals, like other things, are obtained by labour. Nature, indeed, produces them; but it is the labour of man which extracts them from the bowels of the earth, and prepares them for our service" (Ricardo 1951b, 85). Wie bei der Bodenbearbeitung ist also der erforderliche Arbeitseinsatz wertbestimmend, und dort wie hier wird die Rente durch die schlechtesten Qualitäten bestimmt, denn "there are mines of various qualities, affording very different results, with equal quantities of labour. (...) The return for capital from the poorest mine paying no rent, would regulate the rent of all the other more productive mines. This mine is supposed to yield the usual profits of stock. All that the other mines produce more than this, will necessarily be paid to the owners for rent" (Ricardo 1951b, 85). Die Entstehung von Bodenrente und Renten für Minen folgt also exakt derselben Logik, weshalb die Rente für Minen aus Ricardos (1951b, 85) Sicht keiner weiteren Erörterung bedarf: "Since this principle is precisely the same as that which we have already laid down respecting land, it will not be necessary further to enlarge on it."
Wie später Marx rang Ricardo mit dem Problem, "das Element der Dienste natürlicher Kräfte zu eliminieren, die selbstverständlich durch eine Werttheorie, die allein auf der Arbeitsmenge beruht, ihres angemessenen Platzes im Produktions- und Verteilungsprozeß beraubt werden. Die bekannte Ricardianische Theorie der Bodenrente ist im wesentlichen ein Versuch, diese Eliminierung zu vollziehen, und die Marxsche Theorie ist ein anderer" (Schumpeter 1993, 49). Interessant sind die "Folgen" des ricardianischen Modells für die Naturvergessenheit und die "mechanistischen Sünden" des ökonomischen Mainstreams, auf die Georgescu-Roegen (1971, 2) hinweist: "The contact some of these models [des Mainstream; FL] have with the natural environment is confined to Ricardian land, which is expressly defined as a factor immune to any qualitative change. We could very well refer to it simply as 'space.'"
Daß Ricardo "eine unendlich verfügbare und sich unendlich reproduzierende Natur" voraussetzt, ist für Immler (1985, 187) der "Fixpunkt seiner Werttheorie". Immler (1985, 188) betont die Annahme Ricardos, die Kräfte des Boden seien "original and indestructable". Die Konsequenz der ricardianischen Werttheorie sei "ein paradoxer circulus vitiosus zu Lasten der Natur: Je mehr die als solche gar nicht erkannte Naturproduktivität sinkt, desto größer erscheint der Wert der Waren, weil für die gleiche Menge an Produkten mehr an Arbeitszeit aufgebracht werden muß" (Immler 1985, 190). In der Tat ist dies, wie gezeigt, die logische Folge von Ricardos Arbeitswerttheorie: Jeder zusätzliche notwendige Arbeitseinsatz führt zur Erhöhung des Wertes der produzierten Güter. Ohne diese Annahme macht seine gesamte Argumentation keinen Sinn. Daß zunehmende Knappheit des Bodens aufgrund des erhöhten notwendigen Arbeitseinsatzes zu Wertsteigerungen der Bodenprodukte führt, ist Dreh- und Angelpunkt der ricardianischen Verteilungstheorie.
Immler (1985, 210ff.) kritisiert Ricardos Annahme einer "gespaltenen Natur". Er weist darauf hin, daß sich auch z.B. in der Kohleproduktion [sic] das Prinzip der Grundrentenbildung ergebe, das Ricardo nur bei der Bodenproduktion sehe (Immler 1985, 214). Und: "(Ü)berall, wo Natur unterschiedlicher Güte sich mit Arbeit verbindet, also wo materielle Produktion stattfindet, würden im Sinn Ricardos Renten entstehen. (...) Die wirkliche physische Natur erlaubt Ricardos Spaltungsversuch nicht. Sie zeigt sich praktisch überall in unterschiedlicher Güte und Qualität" (Immler 1985, 215; s. auch 217, 223). Folglich erweise sich "die Trennung von konstanter Natur des Gewerbes und differenzierter Natur des landwirtschaftlichen Bodens (...) als eine Fiktion. Damit bricht aber Ricardos Werttheorie in sich zusammen" (Immler 1985, 223; s. auch 225; meine Hervorhebung). Ob dies so ist, kann hier nicht erörtert werden, aber gewiß kann gesagt werden, daß Ricardos Annahmen im Hinblick auf die Eigenschaften der natürlichen Umwelt falsch sind, und folglich steht seine Theorie in dieser Hinsicht auf schwachen Füßen (falsche Annahmen führen bekanntlich nicht notwendigerweise zum "Zusammenbruch" einer Theorie). Im Hinblick auf den stationären Zustand führt diese Problematik zu einer "Verschärfung", weil sinkende Erträge in einem umfassenderen Sinne wirksam werden als von Ricardo angenommen.
Die natürlichen Bedingungen des Wirtschaftens führen selbst nicht zum stationären Zustand, dieser ergibt sich erst aus dem Zusammenhang von Bodenrente, Lohn und Profit. Zunächst zum Lohn: "Labour, like all other things which are purchased and sold, and which may be increased or diminished in quantity, has its natural and its market price. The natural price of labour is that price which is necessary to enable the labourers, one with another, to subsist and to perpetuate their race, without either increase or diminution." Diese Stelle, die Galbraith (1971, 28) für die vielleicht meistzitierte der ökonomischen Literatur hält, formuliert das "eherne Lohngesetz" (s. auch Spiegel 1991, 325). Dabei kommt es nicht auf den Nominal- sondern den Reallohn an, also auf "the quantity of food, necessaries, and conveniences become essential to him from habit" (Ricardo 1951b, 93), die mit dem Lohn erworben werden kann. Dieser Lohn hat in einer wachsenden Wirtschaft die Tendenz zu steigen, und zwar aufgrund des schon erörterten Zwanges, zur Nahrungsmittelproduktion immer schlechtere Böden zu bebauen, also weil "one of the principal commodities by which its natural price is regulated, has a tendency to become dearer, from the greater difficulty of producing it" (Ricardo 1951b, 93; meine Hervorhebung). Ricardo (1951b, 96f.) betont den kontingenten Charakter der natürlichen Lohnhöhe: "It is not to be understood that the natural price of labour, estimated even in food and necessaries, is absolutely fixed and constant. It varies at different times in the same country, and very materially differs in different countries. It essentially depends on the habits and customs of the people." Im ricardianischen stationären Zustand befinden sich die Löhne also zwar auf Subsistenzniveau (s. auch Sowell 1994, 35), dies heißt aber eben nicht notwendigerweise, daß das Lohnniveau sich gleichsam an der Hungergrenze befindet: Was zur Subsistenz gehört, ist kulturell und nicht physiologisch bestimmt.
Wenn der Marktlohn diesen natürlichen Lohn übersteigt, verbessert dies die Lebensbedingungen der Arbeiter: "It is when the market price of labour exceeds its natural price, that the condition of the labourer is flourishing and happy, that he has it in his power to command a greater proportion of the necessaries and enjoyments of life, and therefore to rear and healthy and numerous family" (Ricardo 1951b, 94). Dies ist aber dauerhaft unmöglich, und zwar aufgrund des Zusammenhangs zwischen Lohnhöhe und Reproduktionsverhalten: "When, however, by the encouragement which high wages give to the increase of population, the number of labourers is increased, wages again fall to their natural price, and indeed from a re-action sometimes fall below it" (Ricardo 1951b, 94; meine Hervorhebung; der Zusammenhang zwischen Subsistenzmitteln und Bevölkerungszahl wird auch an anderen Stellen [Ricardo 1951b, 78, 292] betont). Ricardo (1951b, 98) bezieht sich explizit auf Malthus' Auffassung, daß die Bevölkerung sich unter günstigen Umständen in 25 Jahren verdoppeln kann, meint aber, daß "under the same favourable circumstances, the whole capital of a country might possibly be doubled in a shorter period." (69) Dauerhaft könnten die Produktivkräfte mit dem Bevölkerungswachstum jedoch nicht Schritt halten, und auch hier ist der Zwang zur Bearbeitung schlechterer Böden die entscheidende Variable: "Although (...) it is probable, that under the most favourable circumstances, the power of production is still greater than that of population, it will not long continue so; for the land being limited in quantitiy, and differing in quality, with every increased portion of capital employed on it, there will be a decreased rate of production, whilst the power of population continues always the same" (Ricardo 1951b, 98; meine Hervorhebung). Das Bevölkerungsprinzip führt zu einer sinkenden Lohnhöhe: "In the natural advance of society, the wages of labour will have a tendency to fall, as far as they are regulated by supply and demand; for the supply of labourers will continue to increase at the same rate, whilst the demand for them will increase at a slower rate" (Ricardo 1951b, 101; meine Hervorhebung).
Aufgrund der sinkenden Erträge in der Nahrungsmittelproduktion steigt der natürliche Getreidepreis und damit auch der natürliche Lohn (Ricardo 1951b, 120). "The natural tendency of profits then is to fall; for, in the progress of society and wealth, the additional quantity of food required is obtained by the sacrifice of more and more labour. This tendency, this gravitation as it were of profits, is happily checked at repeated intervals by the improvements in machinery, connected with the production of necessaries, as well as by discoveries in the science of agriculture which enable us to relinquish a portion of labour before required, and therefore to lower the price of the prime necessary of the labourer" (Ricardo 1951b, 120). Ricardo sieht also, daß technologische Verbesserungen in der Landwirtschaft die Folgen sinkender Erträge (über-)kompensieren können. Er elaboriert diesen Punkt jedoch nicht, sondern weist darauf hin, daß die Steigerungen der Nahrungsmittelpreise und Löhne begrenzt seien, denn: Sobald die Löhne die Höhe der Gesamteinnahmen des Landwirts erreicht haben, "there must be an end of accumulation; for no capital can then yield any profit whatever, and no additional labour can be demanded, and consequently population will have reached its highest point. Long indeed before this period, the very low rate of profits will have arrested all accumulation, and almost the whole produce of the country, after paying the labourers, will be the property of the owners of land and the receivers of tithes and taxes" (Ricardo 1951b, 120f.; meine Hervorhebung) – der stationäre Zustand.
7.3.3.2. Ricardos stationärer Zustand
"The rise of rent is always the effect of the increasing wealth of the country,
and of the difficulty of providing food for its augmented population. (...) Rent
increases most rapidly, as the disposable land decreases in its productive powers."
(Ricardo 1951b, 77)
Die Natur ist an jedem Produktionsprozeß beteiligt, und nicht ihre Freigebigkeit, sondern ihre Knausrigkeit ist wertbildend - wachsende Bevölkerung führt zu knapperen Böden und steigenden Renten. In Ricardos System führt – anders als bei Smith – nicht die Kapitalakkumulation zu einem Sinken der Profitrate, sondern die Verknüpfung von Profiten und Löhnen und damit von Profiten und den Subsistenzkosten. Wenn die Nahrungsmittelproduktion teurer wird, führt dies zu hohen Löhnen und niedrigen Profiten – umgekehrt umgekehrt (Spiegel 1991, 317). Es sind also nicht rein ökonomische Gründe, die zum stationären Zustand führen. Es sind aber eben auch nicht "ökologische" Gründe. Wenn z.B. Georgescu-Roegen (1977c, 266) meint, daß für Ricardo die stationäre Wirtschaft "will come about only because of the pressure of population on food" (meine Hervorhebung), ist hinzuzufügen: in Kombination mit den von Ricardo dargestellten Verteilungszusammenhängen, die wiederum von seiner Arbeitswertlehre abhängen.
Letztlich entscheidend für das Erreichen des stationären Zustands ist aber das Fehlen eines Akkumulationsmotivs. Ricardo (1951b, 122) hebt hervor, daß "long before this state of prices [hohe Nahrungsmittelpreise; FL] was become permanent, there would be no motive for accumulation; for no one accumulates but with a view to make his accumulation productive, and it is only when so employed that it operates on profits. Without a motive there could be no accumulation, and consequently such a state of prices never could take place. The farmer and manufacturer can no more live without profit, than the labourer without wages. Their motive for accumulation will diminish with every diminution of profit, and will cease altogether when their profits are so low as not to afford them an adequate compensation for their trouble, and the risk which they must necessarily encounter in employing their capital productively" (meine Hervorhebung). Ohne ein Motiv zur Kapitalakkumulation ist ein stationärer Zustand unvermeidbar: "There cannot (...) be accumulated in a country any amount of capital which cannot be employed productively, until wages rise so high in consequence of the rise of necessaries, and so little consequently remains for the profits of stock, that the motive for accumulation ceases. While the profits of stock are high, men will have a motive to accumulate. Whilst a man has any wished-for gratification unsupplied, he will have a demand for more commodities; and it will be an effectual demand while he has any new value to offer in exchange for them" (Ricardo 1951b, 290f.).
Der Zwang zur Bearbeitung stetig schlechterer Böden führt über den Verteilungszusammenhang also zum Ende der Akkumulation und damit zum stationären Zustand. Wenn Land im Überfluß vorhanden ist, können Löhne vorübergehend steigen, "but the stimulus which will thus be given to population, will speedily reduce the labourers to their usual consumption." Anders bei Landknappheit: "But when poor lands are taken into cultivation, or when more capital and labour are expended on the old land, with a less return of produce, the effect must be permanent. A greater proportion of that part of the produce which remains to be devided, after paying rent, between the owners of stock and the labourers, will be apportioned to the latter" (Ricardo 1951b, 125f.) Die Profite werden also gleichsam von Bodenrente und Löhnen "eingeklemmt". "Each man may, and probably will, have a less absolute quantity; but as more labourer are employed in proportion to the whole produce retained by the farmer, the value of a greater proportion of the whole produce will be absorbed by wages, and consequently the value of a smaller proportion will be devoted to profits. This will necessarily be rendered permanent by the laws of nature, which have limited the productive powers of the land" (Ricardo 1951b, 126; meine Hervorhebung). (70)
Diese Ergebnisse, so Wrigley (1987, 34), "left no grounds for optimism over the long haul about real wages, profit levels or the kind of sustained economic growth which constitutes an industrial revolution", und in der Tat ist in Ricardos System ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum ausgeschlossen. Also: "(I)n all countries, and all times, profits depend on the quantity of labour requisite to provide necessaries for the labourers, on that land or with that capital which yields no rent. The effects then of accumulation will be different in different countries, and will depend chiefly on the fertility of the land" (Ricardo 1951b, 126; meine Hervorhebung). Im Anschluß daran heißt es – der Zusammenhang zwischen Ricardos Argumentation und seiner außenwirtschaftlichen Auffassung (Ablehnung der Korngesetze) wird hier offensichtlich –: "However extensive a country may be where the land is of poor quality, and where the importation of food is prohibited, the most moderate accumulations of capital will be attended with great reductions in the rate of profit, and a rapid rise in rent" (Ricardo 1951b, 126; meine Hervorhebung).
Cremaschi/Dascal (1996, 502) meinen, daß Ricardo im Gegensatz zu Malthus, der stets aktuelle Probleme im Blick hatte, an langfristigen Problemen orientiert war. Blaug (1985, 108) dagegen ist der Auffassung, daß es in Ricardos Modell nicht um langfristige Wachstumsmöglichkeiten geht (s. oben). Für Schumpeter (1924, 90) beziehen sich manche Äußerungen Ricardos auf die unmittelbare Gegenwart, andere auf eine "unendlich ferne Zukunft". Hält Ricardo den stationären Zustand nun für ein aktuelles Problem? Stigler (1965d, 193) meint, daß "Ricardo pays little attention to this final, historical equilibrium, so we are entitled to infer that he did not believe that it was near." Auch Blaug (1985, 108) ist der Ansicht, daß es keine Anzeichen gäbe, daß aus Ricardos Sicht der stationäre Zustand zeitlich nahe sei. Im Zusammenhang seiner Diskussion der Armengesetze in den Principles bemerkt Ricardo (1951b, 109), daß "I trust we are yet far distant" vom stationären Zustand. Ricardo weist also in sehr ausführlicher Manier auf die Unausweichlichkeit des stationären Zustands hin, hält aber die Fortsetzung des wirtschaftlichen Wachstumsprozesses für einen langen weiteren Zeitraum für möglich. Auch an anderer Stelle (einem drei Jahre nach der ersten Auflage der Principles erschienenen Beitrag über das Funding System) betont er nachdrücklich, daß er den stationären Zustand für unausweichlich hält. Diese Stelle ist gleichsam eine Kurzfassung des in den Principles elaborierten Arguments und verdeutlicht, was Ricardo unter einem stationären Zustand versteht: "With every increased difficulty of producing additional supplies of raw produce from the land, corn, and the other necessaries of the labourer, would rise. Hence wages would rise. A real rise of wages is necessarily followed by a real fall of profits, and, therefore, when the land of a country is brought to the highest state of cultivation,– when more labour employed upon it will not yield in return more food than what is necessary to support the labourer so employed, that country is come to the limit of its increase both of capital and population" (Ricardo 1951a, 179; meine Hervorhebung). Stationarität heißt also Nicht-Wachstum von Kapital und Bevölkerung. Ricardo betont, daß bis heute kein Land diesen Zustand erreicht hat und weist – wie schon in den Principles (Ricardo 1951b, 126), s. oben) – auf die Bedeutung des Außenhandels für dieses Problem hin: "The richest country in Europe is yet far distant from that degree of improvement, but if any had arrived at it, by the aid of foreign commerce, even such a country could go on for an indefinite time increasing in wealth and population, for the only obstacle to this increase would be the scarcity, and consequent high value, of food and other raw produce" (Ricardo 1951a, 179). Er relativiert aber sogleich die "unendliche" Steigerung: "Let these be supplied from abroad in exchange for manufactured goods, and it is difficult to say where the limit is at which you would cease to accumulate wealth and to derive profit from its employment. This is a question of the utmost importance in political economy" (Ricardo 1951a, 179; meine Hervorhebung). Kein Zweifel: Für Ricardo werden Profite und also Kapitalakkumulation durch die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und Rohstoffen begrenzt.
Bei Ricardo führen nicht "ökologische Grenzen des Wachstums" unmittelbar zum stationären Zustand. Entscheidend sind Struktur und Annahmen seines Modells: Erst aus dem Zusammenspiel von Verteilungszusammenhang, Akkumulationsmotivation, Arbeit als wertbestimmendem Faktor, sinkenden Erträgen und Bevölkerungswachstum ergibt sich die Erwartung des stationären Zustands. Der Wirtschaftsprozeß selbst führt unter Bedingungen zunehmender Bodenknappheit zum stationären Zustand. Freilich erkennt Ricardo, "daß die Wirksamkeit des Gesetzes der abnehmenden Erträge vom technologischen Fortschritt unterbrochen wird" (Schumpeter 1965, 715). Ob und wann ein stationärer Zustand tatsächlich erreicht wird, hängt im ricardianischen Modell davon ab, inwieweit technische Verbesserungen das Sinken der Erträge zu (über-)kompensieren vermögen (Sowell 1994, 85). Ricardo (1951b, 80) sieht durchaus Möglichkeiten zur Steigerung der Bodenproduktivität: "(I)mprovements in agriculture are of two kinds: those which increase the productive powers of the land, and those which enable us, by improving our machinery, to obtain its produce with less labour." (71) Wie eben gezeigt, macht Ricardo aber hinreichend deutlich, daß aus seiner Sicht der stationäre Zustand dennoch nicht zu vermeiden ist.
7.3.4. Mill und die Wünschbarkeit des stationären Zustands
7.3.4.1. Mills Principles, die "Ökonomen alter Schule" und die "statische" Analyse von Produktion und Verteilung
"(A) projectile force which launches a cannon ball into space,
produces a motion which would continue for ever
unless some other force counteracted it."
(Mill 1973, 509; meine Hervorhebung) (72)
Mill wird seit einiger Zeit häufig zitiert, wenn es um das Verhältnis von Wirtschaftswachstum und nachhaltiger Entwicklung geht, und dazu hat sicher auch Daly beigetragen. (73) Auch wenn Schumpeter (1993, 332) meint, Mill sei "gewiß kein Zauberer in Voraussicht oder Einsicht" gewesen: Mills Auffassungen über den stationären Zustand erscheinen vielen Autoren zurecht als "heute sehr modern" (Nutzinger/Radke 1995a, 18) und "visionär" (Elsholz 1989, 542). Hampicke (1992, 300) vertritt die Auffassung, daß einige frühere Ökonomen ökologische Fragen zwar ernst nahmen, aber kaum den Versuch unternahmen, diese Probleme systematisch in ihre Theorien zu integrieren. Folglich seien "aus früheren Zeiten überwiegend berühmte Zitate überliefert" (Hampicke 1992, 300). In der Tat kann man insbesondere aus der Rezeption Mills (auch Hampicke zitiert aus dem berühmten Abschnitt über den stationären Zustand) diesen Eindruck gewinnen. Leider bleibt es bei dem Rückgriff auf Mill im ökologischen Kontext oft beim Zitat. "Alle Anschauungen und Ideen, die wir in Mills Text finden, wiederholen sich in aktuellen Arbeiten, die sich mit einer Wirtschaft des Gleichgewichts und der Notwendigkeit, dem Wachstum Grenzen zu setzen, beschäftigen. (...) Obwohl Mill der vielleicht einflußreichste wirtschaftswissenschaftliche Denker des vergangenen Jahrhunderts war, scheiterte er doch daran, seine Zeitgenossen zu überzeugen. Dies sollte uns heutzutage eine Warnung sein" (van Dieren 1995, 41). Mill ist ein wesentlicher Referenzpunkt für Daly, und wie sich zeigen wird, finden sich erstaunliche Parallelen in den Schriften Mills und Dalys – Parallelen, auf die Daly selbst interessanterweise nicht hinweist. All dies rechtfertigt es, sich Mill ausführlicher als den anderen Klassikern zuzuwenden.
Mill war nicht nur Ökonom, sondern neben anderem auch Philosoph und Politikwissenschaftler. Hier steht der Ökonom Mill im Vordergrund. "In economics he [J.S. Mill; FL] was both the last important thinker in the classical tradition and a sharp critic of existing capitalism" (Welch 1989, 260). Schumpeter (1965, 736) bezeichnet Mills Principles als "Zwischenposition" zwischen Ricardo und Marshall – also zwischen Klassik und Neoklassik. Die Principles sind gleichsam "die Summe" der Klassik und beinhalten Gedanken von Smith, Malthus und Ricardo – Mill gilt als Synthetisierer der Klassik (s. auch Schefold 1994, 41). "One must search carefully in Mill's Principles to discover his own ideas. (...) Yet however one judges Mill, it cannot be denied that he was original. In terms of identifiable theories, he was one of the most original economists in the history of the science. (...) Mill was not trying to build a new system but only to add improvements here and there to the Ricardian system" (Stigler 1965b, 7, 11). Sein stationärer Zustand ist gewiß ein origineller Beitrag, ebenso wie die Trennung von Produktion und Verteilung – und auch sein Einsatz für einen "'genossenschaftlichen Sozialismus'" unterscheidet Mill definitiv von den anderen Klassikern (Schefold 1994, 41). Mit dem Kapitel über den stationären Zustand "brach Mill mit der zentralen Tradition in Smith' und Ricardos politischer Ökonomie" (Claeys 1987b, 199). Mill war, und das kann mit Recht auch für die anderen Klassiker gesagt werden, ein "socially concerned economist" (Oakley 1994, 239), und die Principles betonen die sozialphilosophische Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse (Elsholz 1989, 542). Darauf deutet der vollständige Titel seines ökonomischen Hauptwerkes – Principles of Political Economy with Some of Their Applications to Social Philosophy – ebenso hin wie die breite Anlage der Principles, die in ihrer Struktur dem Wealth von Smith ähnlicher ist als den Principles von Ricardo (s. auch Spiegel 1991, 384). In der Struktur der Principles spiegelt sich auch das große Interesse am Verteilungsproblem. Mill behandelt – und hier unterscheidet er sich von den anderen Klassikern – erst Produktion (Buch I) und Verteilung (II) und erst dann (im III. Buch) das Wertproblem. (74)
Mill geht - wie alle Klassiker – davon aus, daß Produktion drei Faktoren erfordert: Arbeit, Kapital und Boden (Mill 1965, 160). Mill (1965, 28) äußert sich auch zur Frage, welcher der "ursprünglichen" Produktionsfaktoren wichtiger ist, und betont, daß dies nicht zu klären ist: "The part which nature has in any work of man, is indefinite and incommensurable. It is impossible to decide that in any one thing nature does more than in any other. One cannot even say that labour does less." Und er macht klar, daß er – und hier liegt eine wichtige Differenz zu Ricardo – nicht nur den Boden für begrenzt hält: "Coal, metallic ores, and other useful substances found in the earth, are still more limited than land" (Mill 1965, 29f.). Mill (1965, 26) weist explizit darauf hin, daß die Umwelt nicht nur Materialien, sondern auch Energie ("powers") bereitstellt. Eine weitere Differenzierung von Material und Energie nimmt er allerdings nicht vor. Mill (1965, 36) sieht, daß die im Manufakturprozeß verwendeten Materialien "are of a most miscellaneous character, drawn from almost every quarter of the animal, vegetable, and mineral kingdoms". Er unterscheidet zwischen Materialien und Werkzeugen, und bemerkt die Schwierigkeit, hier die Energie einzuordnen, hält diese aber nicht für bedeutsam: "To avoid a multiplication of classes and denominations answering to distinctions of no scientific importance, political economists generally include all things which are used as immediate means of production (...) either in the class of implements or in that of materials" (Mill 1965, 36; seine Hervorhebung) – möglicherweise eine folgenreiche Weichenstellung im Hinblick auf die wirtschaftswissenschaftliche Berücksichtigung der natürlichen Umwelt bei der Analyse von Produktionsprozessen (Christensen 1989, 22).
Produktion, so Mill (1965, 153) "is not a fixed, but an increasing thing", und "(n)othing in political economy can be of more importance than to ascertain the law of this increase of production; the conditions to which it is subject: whether it has practically any limits, and what these are." Mill sieht deutlich die Möglichkeiten und Vorteile des technischen Fortschritts, er weist aber ebenso deutlich auf dessen Grenzen hin, und das Bewußtsein über diese Grenzen ist ein wichtiges Charakteristikum der politischen Ökonomie Mills: "We cannot (...) foresee to what extent the modes of production may be altered, or the productiveness of labour increased, by future extensions of our knowledge of the laws of nature, suggesting new processes of industry of which we have at present no conception. But howsoever we may succeed in making for ourselves more space within the limits set by the constitution of things, we know that there must be limits" (Mill 1965, 199; meine Hervorhebung). Mill trennt Produktion und Verteilung, denn während "(t)he laws and conditions of the production of wealth partake of the character of physical truths" (Mill 1965, 199), gilt dies nicht für die Verteilung des Wohlstands: "That is a matter of human institution solely. The things once there, mankind, individually or collectively, can do with them as they like. They can place them at the disposal of whomsoever they please, and on whatever terms. (...) The distribution of wealth (...) depends on the laws and customs of society" (Mill 1965, 199f.). (75) Für Mill sind Produktion und Verteilung voneinander unabhängig.
Wirtschaftliche "Gesetze" gelten mithin nur für die Erzeugung, nicht jedoch für die Verteilung, die sozial geregelt werden kann. Verteilung von Einkommen und Vermögen gelten Mill folglich als politisch veränderbar. Die Trennung von Produktion und Verteilung, so Spiegel (1991, 385), war "meant to give resonance to the clarion call for economic reorganization and reform which resounds throughout his work." Auch Schumpeter (1965, 650) sieht einen Zusammenhang zwischen der Trennung von Produktion und Verteilung und dem Umstand, daß sich in den Principles "eine sehr warmherzige humanitäre Gesinnung und die Sorge um das Wohl der Arbeiterklasse" finde. Es gab für Mill, wie Schumpeter (1965, 650) betont, "keine unwandelbare natürliche Ordnung der Gesellschaft, und die wirtschaftliche Notwendigkeit bedeutete für ihn weitgehend eine Notwendigkeit in bezug auf einen gegebenen Zustand des sich ändernden institutionellen Rahmens. So sehr er sein Zeitalter in anderer Hinsicht pries, betrachtete er den tatsächlichen gesellschaftlichen Zustand seiner Zeit weder als ideal noch als beständig" (s. auch Schumpeter 1965, 665). In der Tat ist die von Mill behauptete Differenz zwischen Produktion und Verteilung von entscheidender Bedeutung dafür, wie die Möglichkeit sozialer Reformen eingeschätzt wird (s. auch Heilbroner 1986, 129ff.; Salin 1967, 91). Überhaupt hat Mill Fragen der Verteilung "um ihrer selbst willen große Aufmerksamkeit geschenkt" (Elsholz 1989, 542), und die Relevanz dieses Umstands auch für Mills Auffassung vom stationären Zustand wird noch sehr deutlich werden.
Während die Produktion also von Naturgesetzen abhängig ist, kann die Gesellschaft die Verteilung ausschließlich nach ihrem Gutdünken regeln: "Society can subject the distribution of wealth to whatever rules it thinks best: but what practical results will flow from the operation of those rules, must be discovered, like any other physical or mental truths, by observation and reasoning" (Mill 1965, 200). Hieraus schließt Sowell (1994, 96f.) allerdings, daß die ursprüngliche Unterscheidung zwischen Gesetzen der Produktion und solchen der Verteilung zusammenbreche: "In the same sense in which society may distribute as it pleases and take the consequences, it may also produce as it pleases and take the consequences. In substance, Mill does not postulate any greater freedom in one area than in the other" (meine Hervorhebungen). Diese Einschätzung scheint durch Mills Ausführungen aber, wie gezeigt, nicht gedeckt, der an anderer Stelle bemerkt, daß "(i)t is a case of the error too common in political economy, of not distinguishing between necessities arising from the nature of things, and those created by social arrangements" (Mill 1965, 455).
Die Unterscheidung von Produktion und Verteilung ist ein wichtiges Charakteristikum der Principles (Spiegel [1991, 384] sieht hier eine "great innovation"). Spiegel (1991, 384) mutmaßt, daß "Mill may have meant to stress that nature places a ceiling on output, hanging on to the old idea of the niggardliness of nature, which seems to be less emphasized in other parts of his work" (meine Hervorhebung). Mills Diskussion sinkender Erträge im Kapitel Of the Laws of the Increase of Production from Land zeige, daß er sich über den flexiblen Charakter einer solchen Wachstumsgrenze bewußt sei; diese Grenze sei von Technologie abhängig, die wiederum von Bildung und Institutionen und also dem gesellschaftlichen Fortschritt abhängig sei (Spiegel 1991, 385). Die Knausrigkeit der Natur ist ganz gewiß zentral für Mills Version – und der Umstand, daß sie in der Tat eine Grenze setzt, deren Verschiebung durch technologische Veränderungen eine unbekannte Größe ist.
Daß die Knausrigkeit der Natur Teil der Vision Mills ist, verdeutlichen auch seine Äußerungen zum Bevölkerungsproblem. Mill ist davon überzeugt, daß Bevölkerungswachstum eingedämmt werden muß, und zwar unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen. Mill (1965, 188) betont, daß "the necessity of restraining population is not, as many persons believe, peculiar to a condition of great inequality of property. A greater number of people cannot, in any given state of civilization, be collectively so well provided for as a smaller. The niggardliness of nature, not the injustice of society, is the cause of the penalty attached to over-population." Hier argumentiert Mill sehr "malthusianisch", weil er den "natürlichen" Charakter der Grenzen des Wachstums hervorhebt. Nur technische Verbesserungen "in an almost unexampled degree" könnten verhindern, daß Bevölkerungswachstum zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen führt, und "(i)f the population continued to increase at the same rate, a time would soon arrive when no one would have more than mere necessaries, and, soon after, a time when no one would have a sufficiency of those, and the further increase of population would be arrested by death" (Mill 1965, 188), also einem "positiven" Hemmnis im Sinne Malthus'. Technische Verbesserungen hätten in dieser Hinsicht in der Tat positive Effekte gehabt, könnten aber dauerhaft nicht mit Bevölkerungswachstum mithalten: "(E)ver since the great mechanical inventions of Watt, Arkwright, and their contemporaries, the return to labour has probably increased as fast as the population; and would have outstripped it, if that very augmentation of return had not called forth an additional proportion of the inherent power of multiplication in the human species" (Mill 1965, 189f.). In den letzten Jahrzehnten hätte es zwar so erhebliche technische Verbesserungen in der Landwirtschaft gegeben, daß der Bodenertrag im Verhältnis zur eingesetzten Arbeit sogar gestiegen sei. "But though improvement may during a certain space of time keep up with, or even surpass, the actual increase of population, it assuredly never comes up to the rate of increases of which population is capable" (Mill 1965, 190; meine Hervorhebung). Mill zeigt hier einen technologischen Pessimismus, der zumindest im Hinblick auf die Bevölkerung und ihre Lebensbedingungen nicht bestätigt wurde.
Wie oben ausgeführt, ist die Bevölkerungsfrage ein Dreh- und Angelpunkt der klassischen Vorstellungen über Stationarität. Die malthusianische Betonung der Bevölkerungsfrage war auch in Mills Schriften allgegenwärtig (Backhouse 1985, 42). "Population has the power of increasing in an uniform and rapid geometrical ratio" (Mill 1965, 160) – dieser Satz macht deutlich, daß Mill von der Richtigkeit des Malthusianischen Bevölkerungsgesetzes ausgeht, nach der die Nahrungsmittelproduktion sich höchstens nach dem Muster einer arithmetischen Reihe steigern läßt, die Bevölkerungsentwicklung sich aber wie eine geometrische Reihe verhält. Mill hat sich mit Bevölkerungskontrolle als notwendiger Bedingung für verbesserte Lebensbedingungen beschäftigt. Er sieht, daß sich das potentielle Bevölkerungswachstum nicht unbedingt auch realisieren muß (Barnett/Morse 1963, 65). Mill war, so Oakley (1994, 224), absolut überzeugt davon, "that the rate of population increase need not be treated as a given socioeconomic parameter" (seine Hervorhebung). Mill (1965, 154) folgt also zunächst Malthus' Bevölkerungsgesetz, meint aber, daß das Potential zum Wachstum nie voll ausgeschöpft wird. Er weist darauf hin, daß sich menschliches Reproduktionsverhalten von dem anderer Arten unterscheidet, z.B. aufgrund der Berücksichtigung zukünftiger Konsequenzen (Mill 1965, 156f.). Mill (1965, 159) betont, daß eine Verbesserung der "intellectual and moral culture" der arbeitenden Menschen dazu beitragen kann, Bevölkerungswachstum einzuschränken – und zwar auch dann, wenn sich die Lebensbedingungen verbessern. Die Klassiker vor Mill sind, wie gezeigt, davon ausgegangen, daß jede Steigerung des Lebensstandards steigende Geburtenzahlen zur Folge hat – Mill dagegen betont, daß dies nicht zwangsläufig ist und z.B. durch verbesserte Bildung verhindert werden kann.
Mill hält eine Bevölkerungsstabilisierung für anstrebenswert, und zwar bevor äußere Grenzen diese Stabilisierung erzwingen würden (Oakley 1994, 230) – dies ist von zentraler Bedeutung für Mills stationären Zustand, denn eine stabile Bevölkerung ist neben konstantem Kapital seine wichtigste Eigenschaft. Mill hatte die Hoffnung, daß die Kontrolle des Bevölkerungswachstum möglich sei (Falkinger 1986, 40; Oakley 1994, 225; Levy 1987, 252). Ohne diese Hoffnung ist die Sichtweise Mills auf den stationären Zustand nicht zu verstehen. Mit der Möglichkeit der Geburtenkontrolle würde der Druck einer ständig wachsenden Bevölkerung auf die Lohnhöhe verschwinden. Hier weicht Mill von Smith und Ricardo ab: "As before, the tendencies of the accumulation process would bid up wages, but this time there would be no flood of children to lessen the pressure of wages on profits. As a result, wages would rise and the accumulation of capital would come to an end. Thus Mill's system approached a high stationary plateau, just as Smith's or Ricardo's would have done had it not been for their relentless population pressures" (Heilbroner 1986, 133; seine Hervorhebung). Mill hat denn auch eine andere Einstellung zur Armengesetzgebung als Malthus. Mill unterstützte die Armengesetze u.a. deshalb, weil er sah, daß "eine Verweigerung jeglicher Armenunterstützung schwerwiegende soziale Folgen für die körperlich nicht leistungsfähigen Armen, d.h. für die Blinden, Kranken, Alten und Kinder usw., haben würde" (Ekelund/Tollison 1987, 230; ihre Hervorhebung).
Kapital ist für Mill (1965, 160) das Ergebnis von Sparen: "All accumulation involves the sacrifice of a present, for the sake of a future good" (Mill 1965, 162). Auch dieser Produktionsfaktor ist nicht begrenzt. Nur ein Sinken der Kapitalerträge könnte hier zum Problem werden, wenn dadurch das Akkumulationsmotiv wegfallen würde. "But why should any possible increase of capital have that effect?" (Mill 1965, 172). Kapitalakkumulation, so Mill (1965, 172), "shows no tendency to become deficient. So far as that element is concerned, production is susceptible of an increase without any assignable bounds." Da nun weder Bevölkerungswachstum noch Kapitalakkumulation eine Wachstumsgrenze darstellen, fragt Mill, ob der Boden eine solche Grenze ist. "The limitation to production, not consisting in any necessary limit to the increase of the other two elements, labour and capital, must turn upon the properties of the only element which is inherently, and in itself, limited in quantity. It must depend on the properties of land" (Mill 1965, 172; meine Hervorhebung). Nur der Boden ist – im Gegensatz zu Arbeit und Kapital – ein beschränkender Faktor. "Land differs from the other elements of production, labour and capital, in not being susceptible of indefinite increase" (Mill 1965, 173). Die Möglichkeiten zur Steigerung der Bodenproduktivität seien ebenfalls begrenzt. "This limited quantity of land, and limited productiveness of it, are the real limits to the increase of production" (Mill 1965, 173; meine Hervorhebung).
Im Rahmen seiner Erörterungen zum Einfluß von Angebot und Nachfrage auf den Wert äußert Mill (1965, 464), daß – vorausgesetzt, jemand nimmt Arbeit und Ausgaben auf sich – "there needs be no limit to the multiplication of the product. If there were labourers enough and machinery enough, cottons, woollens, or linens might be produced by thousands of yards for every single yard now manufactured" (sic). Er sagt zwar sogleich, daß die Umwelt einer solchen Steigerung Grenzen setzt – diese seien aber nicht von aktueller Bedeutung: "There would be a point, no doubt, where further increase would be stopped by the incapacity of the earth to afford more of the material. But there is no need, for any purpose of political economy, to contemplate a time when this ideal limit could become a practical one" (Mill 1965, 464; meine Hervorhebungen). Mill sagt hier sehr deutlich, daß er Grenzen des Wachstums keine aktuelle Bedeutung beimißt. Der stationäre Zustand ist für Mill unvermeidbar, liegt aber in ferner Zukunft. "Aktuell" wird Stationarität für Mill dadurch, daß er sie für anstrebenswert hält (siehe unten). Mill macht im Abschnitt über die begrenzende Wirkung des Bodens jedoch auch sehr deutlich, daß er Wachstumsgrenzen für höchst bedeutsam hält. "That they [the limits, FL] are the ultimate limits, must always have been clearly seen. But since the final barrier has never in any instance been reached (...); it is commonly thought, and is very natural at first to suppose, that for the present all limitation of production or population from this source is at an indefinite distance, and that ages must elapse before any practical necessity arises for taking the limiting principle into serious consideration" (Mill 1965, 173; meine Hervorhebungen).
Mill (1965, 173) fährt fort: "I apprehend this to be not only an error, but the most serious one, to be found in the whole field of political economy. The question is more important and fundamental than any other; it involves the whole subject of the causes of poverty, in a rich and industrious community: and unless this one matter be thoroughly understood, it is to no purpose proceeding any further in our inquiry." Mill vertritt also die Auffassung, daß das Verständnis der Grenzen des Produktionswachstums, die durch den Boden und also durch die natürliche Umwelt gesetzt werden, notwendige Bedingung ist, um überhaupt sinnvoll über ökonomische Probleme nachzudenken. Die Begrenztheit des Bodens und seiner Produktivität hält Mill folglich für "the most important proposition in political economy. Were the law different, nearly all the phenomena of the production and distribution of wealth would be other than they are" (Mill 1965, 174).
Ob mit steigender Bevölkerung die Produktionskosten und also die Preise landwirtschaftlicher Güter steigen, hängt für Mill (1965, 179f.) von zwei Faktoren ab, von "two antagonizing principles. There is another agency, in habitual antagonism to the law of diminishing return from land (...). It is no other than the progress of civilization. I use this general and somewhat vague expression, because the things to be included are so various, that hardly any term of a more restricted signification would comprehend them all." Viele Faktoren wirken also der Tendenz sinkender Erträge entgegen. "Of these, the most obvious is the progress of agricultural knowledge, skill, and invention. Improved processes of agriculture are of two kinds: some enable the land to yield a greater absolute produce, without an equivalent increase of labour; others have not the power of increasing the produce, but have that of diminishing the labour and expense by which it is obtained" (Mill 1965, 180). Technischer Fortschritt kann also einerseits die Bodenproduktivität, andererseits die Produktivität der Arbeit im Agrarbereich steigern. Eine zweite Gruppe von Verbesserungen sind "improved means of communication" (Mill 1965, 181), also Straßen ("Good roads are equivalent to good tools"), Eisenbahnen und Kanäle.
"(P)urely mechanical improvements" haben, so Mill (1965, 181), zwar keine besondere Verbindung zur Landwirtschaft, aber: "A great improvement in the process of smelting iron, would tend to cheapen agricultural implements (...) and would thence diminish the cost of production of food. The same effect would follow from an improvement in those processes of what may be termed manufacture, to which the material of food is subjected after it is separated from the ground" (Mill 1965, 181). Er hebt die Verbindung von Landwirtschaft und Manufakturproduktion hervor: "The materials of manufacture being all drawn from the land, and many of them from agriculture, which supplies in particular the entire material of clothing; the general law of production from the land, the law of diminishing return, must in the last resort be applicable to manufacturing as well as to agricultural history" (Mill 1965, 182). Der Zusammenhang von Bevölkerungswachstum und Ertragsentwicklung wird von Mill (1965, 182) genauso gesehen wie von Ricardo: "As population increases, and the power of the land to yield increased produce is strained harder and harder, any additional supply of material, as well as of food, must be obtained by a more than proportionally increasing expenditure of labour."
Mill (1965, 182) meint, daß "(m)anufactures are vastly more susceptible than agriculture, of mechanical improvements, and contrivances for saving labour (...). In manufactures, accordingly, the causes tending to increase the productiveness of industry, preponderate greatly over the one cause which tends to diminish it: and the increase of production, called forth by the progress of society, takes place, not at an increasing, but at a continually diminishing proportional cost." Er sieht im Manufaktursektor also große Möglichkeiten zur Steigerung der Arbeitsproduktivität durch technischen Fortschritt. Einerseits sei es vorstellbar, daß die Arbeitseffizienz im landwirtschaftlichen Bereich mit zunehmender Produktion abnehme, folglich immer mehr Arbeitskräfte in der Landwirtschaft eingesetzt werden müßten und folglich die Nahrungsmittelpreise steigen, andererseits "the productive power of labour in all other branches of industry might be so rapidly augmenting, that the required amount of labour could be spared from manufactures, and nevertheless a greater produce be obtained, and the aggregate wants of the community be on the whole better supplied, than before. The benefit might even extend to the poorest class" (Mill 1965, 182f.). Mill, so Wrigley (1988, 24), war also unsicher "about future prospects and about the severity of constraints upon growth in output per head" und "about the secular prospect for the living standards of the mass of the population." Was für die Landwirtschaft gilt, ist mit geringfügigen Änderungen auch auf andere Bereiche anwendbar, und zwar für "all the arts which extract materials from the globe. Mining industry, for example, usually yields an increase of produce at a more than proportional increase of expense. It does worse, for even its customary annual produce requires to be extracted by a greater and greater expenditure of labour and capital. As a mine does not reproduce the coal or ore taken from it, not only are all mines at last exhausted, but even when they as yet show no signs of exhaustion, they must be worked at a continually increasing cost" (Mill 1965, 184). Das Gesetz sinkender Erträge gilt folglich auf für Minen. Zusammenfassend stellt Mill (1965, 185) fest, daß "all natural agents which are limited in quantity, are not only limited in their ultimate productive power, but, long before that power is stretched to the utmost, they yield to any additional demands on progressively harder terms." Die Wirkung dieses Gesetzes kann freilich hinausgezögert werden, u.a. durch verbesserte "general power of mankind over nature" und "consequent command, of the properties and powers of natural agents" (Mill 1965, 185). Mill sieht also die Implikationen, die Innovationen für landwirtschaftliche Produktion haben können.
Auch hinsichtlich der Zukunftsperspektiven der arbeitenden Bevölkerung ist Mill (1965, 188f.) optimistisch, weil er die Möglichkeiten technischer Innovationen, institutioneller Verbesserungen und Bildung recht klar erkennt: "(T)he progress of improvement has a counteracting operation, and allows of increased numbers without any deterioration, and even consistently with a higher average of comfort. Improvement must here be understood in a wide sense, including not only new industrial inventions, or an extended use of those already known, but improvements in institutions, education, opinions, and human affairs generally, provided they tend, as almost all improvements do, to give new motives or new facilities to production." Hier zeigt sich deutlich, daß Mill ganz sicher kein Wachstumsgegner war, der positive Wirkungen wirtschaftlicher Expansion nicht zu erkennen vermochte.
Mills hat sich auch mit steigenden Erträgen auseinandergesetzt. Die Klassik ging davon aus, daß fruchtbare Böden zuerst bearbeitet werden. Daß das "most fertile, and most favorably situated, land will be first cultivated" (Ricardo 1951b, 72), ist, wie gezeigt, eine für Ricardos Verteilungstheorie entscheidende Annahme. Der U.S.-amerikanische Ökonom Henry Charles Carey (1793 - 1879) hat demgegenüber argumentiert, daß die Nutzung landwirtschaftlicher Flächen in einer Weise verläuft, die Ricardos Annahmen geradezu auf den Kopf stellt: Carey behauptet, daß zuerst schlechtere Böden bearbeitet werden und erst dann sukzessive bessere Böden unter den Pflug genommen werden. Der Grund hierfür liege in den schwierigeren und gefährlicheren Bedingungen bei der Erstbearbeitung von Flußniederungen (Gesundheitsgefahren, erheblicher Aufwand für Entwässerung) – wenn ein Land "neu" besiedelt wird, kann eine Bearbeitung höher liegender und weniger fruchtbarer Böden vorteilhafter sein. Daraus resultiert, daß eine Ausweitung landwirtschaftlicher Produktion unter Bedingungen steigender Erträge erfolgt (Mill 1965, 178f.; Barnett/Morse 1963, 67; Galbraith 1971, 46ff.). Mill (1965, 178) akzeptiert Careys Behauptung nicht, gesteht aber zu, daß dessen Beobachtung die Allgemeinheit des Gesetzes sinkender Erträge in Frage stellt: "As far as words go, Mr. Carey has a good case against several of the highest authorities in political economy, who certainly did enunciate in too universal a manner the law which they laid down, not remarking that it is not true of the first cultivation in a newly settled country" (meine Hervorhebung). Diese Ausnahme hält Mill (1965, 178) freilich nicht für bedeutsam, denn "it is not pretended that the law of diminishing returns was operative from the very beginning of society: and though some political economists may have believed it to come into operation earlier than it does, it begins quite early enough to support the conclusions they founded on it." Er weist allerdings an anderer Stelle darauf hin, daß "Neuentdeckungen" den üblichen Nutzungsverlauf "unterbrechen" können: "Both in the case of mines and of fisheries, the natural order of events is liable to be interrupted by the opening of a new mine, or a new fishery, of superior quality to some of those already in use" (Mill 1965, 493f.). Den "normalen" Verlauf, nach dem die am ergiebigsten nutzbaren Quellen (Böden, Minen usw.) als erstes genutzt werden, stellt Mill aber ebensowenig in Abrede wie die grundsätzliche Gültigkeit des Gesetzes abnehmender Erträge.
7.3.4.2. Mills "Dynamik": Influence of the Progress of Society on Production and Distribution
Zu Beginn des IV. Buches der Principles heißt es: "The three preceding Parts include as detailed a view as our limits permit, of what, by a happy generalization of a mathematical phrase, has been called the Statics of the subject. We have surveyed the field of economical facts, and have examined how they stand to one another as causes and effects (...). We have thus obtained a collective view of the economical phenomena of society, considered as existing simultaneously. We have ascertained, to a certain extent, the principles of their interdependence; and when the state of some of the elements is known, we should now be able to infer, in a general way, the contemporaneous state of most of the others. All this, however, has only put us in possession of the economical laws of a stationary and unchanging society" (Mill 1965, 705; meine Hervorhebungen). Es sei jedoch erforderlich, zu einer dynamischen Betrachtungsweise zu kommen, "adding a theory of motion to our theory of equilibrium – the Dynamics of political economy to the Statics" (Mill 1965, 705). D.h.: Die ersten drei Bücher der Principles (über Produktion, Verteilung und Tausch) sind für Mill Statik, die sich mit einer stationären Wirtschaft befaßt. Hatte Mill sich aber nicht, wie gezeigt, in den Kapiteln 10ff. des ersten Teils ausführlich mit Wachstum befaßt? Schon dort hatte er, wie bereits angemerkt, gesagt, daß Produktion "is not a fixed, but an increasing thing. When not kept back by bad institutions, or a low state of the arts of life, the produce of industry has usually tended to increase" (Mill 1965, 153). Ist aber nicht jede die historische Zeit berücksichtigende Theorie dynamisch?
Angesichts der Ausführungen im ersten Buch ist die im vierten Buch geäußerte Auffassung, bisher seien nur die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten einer stationären Gesellschaft untersucht worden, in der Tat "a rather surprising assertion" (Blaug 1985, 211), und immer wieder haben sich Ökonomen mit Interpretationen an dieser Formulierung versucht (s. z.B. Robbins 1930, 202f.). Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, wie Blaug (1985, 211) hervorhebt, daß Statik und Dynamik heute etwas anderes bedeuten als vor 150 Jahren. Für Mill, so Blaug (1985, 212), "'dynamics' means analysis of historical change, whereas 'statics' seems to denote what we now call comparative static analysis: the comparison of an initial equilibrium situation that is disturbed by an exogenous 'shock' with the subsequent equilibrium situation after the disturbance has worked itself out." Mills Vorgehen sei hiermit aber nicht konsistent.
Erst im dynamischen Buch IV der Principles leistet Mill das Zusammendenken der verschiedenen Effekte. Erst dort wird auch die Entwicklung der Profitrate analysiert. Die Untersuchung des Einflusses des "Fortschritts" auf die Einkommensverteilung gleicht dem Vorgehen Ricardos. Oakley (1994, 209) weist auf dem Comteschen Ursprung von Mills Statik-Dynamik-Konzeption hin und meint, daß Mill in den ersten drei Büchern der Principles "treated several key issues of dynamics as immediate extensions of the otherwise static analyses. Dynamics proper, as he thought of it specifically in secular terms, was to be the topic of Book IV (...). It was (...) the dynamics of production from Book I, including the growth of labour productivity, the labour force, the capital stock and production from land, which comprised the bases of these later analyses" (meine Hervorhebungen). Nach Oakleys (1994, 222) Interpretation hat Mill "already analysed the economic dynamics of growth and distribution in Books I and II and his intention in Book IV was to give the processes some additional meaning in terms of their welfare consequences over the longer run" (meine Hervorhebung). Spiegel (1991, 388) weist darauf hin, daß die Statik-Dynamik-Unterscheidung in Mills Logik mehr ausgeführt sei als in den Principles. In seiner Logik schreibt Mill: "It is necessary to combine the statical view of social phenomena with the dynamical, considering not only the progressive changes of the different elements, but the contemporaneous condition of each; and thus obtain empirically the law of correspondence not only between the simultaneous states, but between the simultaneous changes, of those elements" (zit. in Spiegel 1991, 388; meine Hervorhebungen). Auch die Analyse von Veränderungen im Zeitablauf (z.B. Wachstum von Bevölkerung und Kapital) ist für Mill dann statisch, wenn diese Veränderungen getrennt voneinander behandelt werden. Erst die Gesamtschau von langfristigen und interdependenten Veränderungen ist für Mill Dynamik. Der scheinbare Widerspruch zwischen der Dynamik des I. Buches und dem Beginn des IV. Buches löst sich also auf, wenn man Mills Dynamik-Begriff berücksichtigt.
Nach Spiegels (1991, 388) Auffassung werden die Überlegungen aus der Logik in den Principles aber nicht weiter verfolgt: "Instead Mill's dynamics follows the main lines of Ricardian economics, with rents rising, profits falling, and wages remaining near subsistence" – und in der Tat weist Mills Analyse der Produktionskostenentwicklung in einer wachsenden Wirtschaft klare Bezüge zu Ricardo auf. Die Produktionskosten der "most important classes of commodities, food and materials" haben die Tendenz zu steigen (Mill 1965, 712). Der Grund hierfür liegt aber nicht in diesen Gütern selbst, sondern – wie bei Ricardo – im Zusammenhang von Bevölkerungswachstum und Zwang zur Bearbeitung immer schlechterer Böden: "If population were stationary, and the produce of the earth never needed to be augmented in quantity, there would be no cause for greater cost of production. Mankind would, on the contrary, have the full benefit of all improvements in agriculture, or in the arts subsidiary to it, and there would be no difference, in this respect, between the products of agriculture and those of manufactures" (Mill 1965, 712). Kostensteigerungen ergeben sich ohne Bevölkerungswachstum nur bei nichterneuerbaren Ressourcen: "The only products of industry, which, if population did not increase, would be liable to a real increase of cost of production, are those which, depending on a material which is not renewed, are either wholly or partially exhaustible; such as coal, and most if not all metals; for even iron, the most abundant as well as most useful of metallic products, which forms an ingredient of most minerals and of almost all rocks, is susceptible of exhaustion so far as regards its richest and most tracable ores" (Mill 1965, 712). Hier wird auch deutlich, daß Mill bereits die Bedeutung mineralischer Rohstoffe erkannte. Seine Vision war also nicht auf die organische Wirtschaft beschränkt.
Wenn die Bevölkerung wächst, steigt die Nachfrage nach den Produkten der Erde entsprechend, und dann wird das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag wirksam, "the law, that increased labour, in any given state of agricultural skill, is attended with a less than proportional increase of produce. The cost of production of the fruits of the earth increases, cæteris paribus, with every increase of the demand" (Mill 1965, 712; kursiv von ihm). Die Umstände, die für die Gültigkeit dieses Zusammenhangs gleichbleiben müssen, sind, wie das Zitat verdeutlicht, die technischen Voraussetzungen der landwirtschaftlichen Produktion. Abnehmende Bodenerträge setzen konstante Technologie voraus. An anderer Stelle spricht Mill (1965, 488) von der "fundamental truth, that in agriculture, the state of the art being given, doubling the labour does not double the produce; that if an increased quantity of produce is required, the additional supply is obtained at a greater cost than the first" (meine Hervorhebung). Im Manufakturbereich, so Mill (1965, 712), gelte diese Tendenz nicht, im Gegenteil: "The larger the scale of which manufacturing operations are carried on, the more cheaply they can in general be performed." Zwar wirken sich sinkende Erträge in der Landwirtschaft indirekt auf die Manufakturen aus, weil diese "depend for their materials either upon agriculture, or mining, or the spontaneous produce of the earth, manufacturing industry is subject, in respect to one of its essentials, to the same law as agriculture. But the crude material generally forms so small a portion of the total cost, that any tendency which may exist to a progressive increase in that single item, is much over-balanced by the diminution continually taking place in all the other elements; to which diminution it is impossible at present to assignany limit" (Mill 1965, 713). Folglich führen technische Verbesserungen tendenziell zu einer Senkung der Produktionskosten, während Bevölkerungswachstum tendenziell zu ihrer Erhöhung beiträgt (Mill 1965, 713).
Mill kommt hier auf die schon im ersten Buch gemachte Beobachtung zurück, daß die Entwicklung der Produktionskosten in der Landwirtschaft "depends on the conflict of the two antagonist agencies, increase of population, and improvement in agricultural skill" (Mill 1965, 713). Hier kommt sehr klar die Auffassung zum Ausdruck, daß der Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung – und also das (notwendige) Erreichen eines stationären Zustands – davon abhängt, ob das Bevölkerungswachstum oder der technische Fortschritt die Oberhand behält. Mill (1965, 714) macht klar, daß nicht zuverlässig vorhergesagt werden kann, welcher Faktor letztlich obsiegt. Er läßt aber keinen Zweifel daran, daß die Wirtschaft seiner Zeit den stationären Zustand (noch) nicht erreicht hat, also eine wachsende ist. Diese analysiert er im dynamischen Teil der Principles.
Mills Dynamik untersucht also eine "progressive society", die durch Wachstum des Kapitals, Bevölkerungswachstum und technischen Fortschritt ("improvements in production") gekennzeichnet ist (Mill 1965, 719). Folglich unterscheidet Mill (1965, 719ff.) bei seiner "dynamischen Analyse" fünf Fälle: (1) Bevölkerungswachstum mit stationärem Kapital; (2) Kapitalwachstum bei stationärer Bevölkerung; (3) Bevölkerungs- und Kapitalwachstum bei stationärer Technologie ("arts of production stationary"); (4) technischer Fortschritt ("arts of production progressive") bei Stationarität von Kapital und Bevölkerung; (5) technischer Fortschritt bei Wachstum von Kapital und Bevölkerung ("all three elements progressive"). Das Ergebnis seiner Erörterungen faßt Mill (1965, 731f.) wie folgt zusammen: "The economical progress of a society constituted of landlords, capitalists, and labourers, tends to the progressive enrichment of the landlord class; while the cost of the labourer's subsistence tends on the whole to increase, and profits to fall. Agricultural improvements are a counteracting force to the two last effects; but the first, though a case is conceivable in which it would be temporarily checked, is ultimately in a high degree promoted by those improvements; and the increase of population tends to transfer all the benefits derived from agricultural improvement to the landlords alone." Nach Meinung von Bladen (1974, 265) ist diese Zusammenfassung "Ricardian and Malthusian in its pessimism; the relatively optimistic dynamism of his Chapter 1 seems forgotten."
In der Erörterung der sinkenden Profite in einer sinkenden Wirtschaft verweist Mill zunächst auf Smiths oben referierte Auffassung, daß die Profitrate durch Konkurrenz gesenkt werde. Allerdings, so Mill (1965, 733f.), sei es "not quite certain what sort of competition Adam Smith had here in view. (...) The doctrine (...) that competition of capital lowers profits by lowering prices, is incorrect in fact, as well as unsound in principle. But it is not certain that Adam Smith really held that doctrine; for his language on the subject is wavering and unsteady, denoting the absence of a definite and well-digested opinion." Die minimale Profitrate, so Mill (1965, 736), "varies according to circumstances. It depends on (...) the strength of the effective desire of accumulation" und "the degree of security of capital engaged in industrial operations." Auch wenn dieses Minimum schwanke und nicht genau zu spezifizieren sei, "such a minimum always exists; and whether it be high or low, when once it is reached, no further increase of capital can for the present take place. The country has then attained what is known to political economists under the name of the stationary state" (Mill 1965, 738; meine Hervorhebung). Reiche Länder seien normalerweise diesem Minimum nahe, und dies ist der entscheidende Punkt des Kapitels über den Fall der Profitrate: "When a country has long possessed a large production, and a large net income to make savings from, and when, therefore, the means have long existed of making a great annual addition to capital; (the country not having, like America, a large reserve of fertile land still unused;) it is one of the characteristics of such a country, that the rate of profits is habitually within, as it were, a hand's breadth of the minimum, and the country therefore on the very verge of the stationary state. By this I do not mean that this state is likely, in any of the great countries of Europe, to be soon actually reached, or that capital does not still yield a profit considerably greater than what is barely sufficient to induce the people of those countries to save and accumulate. My meaning is, that it would require but a short time to reduce profits to the minimum, if capital continued to increase at its present rate, and no circumstances having a tendency to raise the rate of profit occured in the meantime. The expansion of capital would soon reach its ultimate boundary, if the boundary itself did not continually open and leave more space" (Mill 1965, 738f.; meine Hervorhebung). Die hervorgehobene Qualifikation, daß dies nur für ein Land gilt, das nicht über große Reserven fruchtbaren Bodens verfügt, ist wichtig: Ohne knappe Böden ist ein stationärer Zustand nicht notwendige Folge des Wachstums. In England besteht freilich kein Überfluß an fruchtbaren Böden. Eine Fortsetzung der aktuellen Akkumulation würde ohne gegenläufige Tendenzen in wenigen Jahren die Profitrate auf 1% drücken (Mill 1965, 739, s. auch 741).
Dies alles gilt aber nur unter der Voraussetzung, wie Mill mehrfach betont, daß keine "counteracting circumstances" wirken. "An augmentation of capital, much more rapid than that of population, must soon reach its extreme limit, unless accompanied by increased efficiency of labour (through invention and discoveries, or improved mental and physical education), or unless some of the idle people, or of the unproductive labourers, became productive. (...) On the whole, (...) we may assume that in such a country as England, if the present annual amount of savings were to continue, without any of the counteracting circumstances which now keep in check the natural influence of those savings in reducing profit, the rate of profit would speedily attain the minimum, and all further accumulation of capital would for the present cease" (Mill 1965, 740f.; meine Hervorhebungen). Nach einer längeren krisenfreien Zeit, so Mill (1965, 742), sei soviel Kapital akkumuliert, daß weitere profitable Investitionen unmöglich würden: "all public securities rise to a high price, the rate of interest on the best mercantile security falls very low, and the complaint is general among persons in business that no money is to be made. Does not this demonstrate how speedily profit would be at the minimum, and the stationary condition of capital would be attained, if these accumulations went on without any counteracting principle?" Die wichtigste Gegenkraft ist, modern formuliert, der technische Fortschritt: "All improvements (...) in the production of almost any commodity, tend in some degree to widen the interval which has to be passed before arriving at the stationary state: but this effect belongs in a much greater degree to the improvements which affect the articles consumed by the labourer, since these conduce to it in two ways; they induce people to accumulate for a lower profit, and they also raise the profit itself" (Mill 1965, 743). Internationaler Handel kann zu einer Entspannung im Wettrennen zwischen Bodenknappheit und technischen Verbesserungen beitragen (Mill 1965, 746; s. auch 739, 744f.; hier erinnert Mills Position erneut an Ricardos Ausführungen). In einer geschlossenen Volkswirtschaft aber kann definitiv nur technischer Fortschritt den stationären Zustand verhindern.
In den führenden Nationen, so Mill (1965, 705f.), "there is at least one progressive movement which continues with little interruption from year to year and from generation to generation; a progress in wealth; an advancement of what is called material prosperity." Mill geht davon aus, daß diese Steigerung des materiellen Wohlstands sich auch in anderen Nationen vollziehen wird. Der progressive Zustand ist nicht zuletzt durch eine Änderung des Verhältnises von menschlichen Aktivitäten und natürlicher Umwelt geprägt: "Of the features which characterize this progressive economical movement of civilized nations, that which first excites attention, through its intimate connexion with the phenomena of Production, is the perpetual, and so far as human foresight can extend, the unlimited, growth of man's power over nature" (Mill 1965, 706; meine Hervorhebung). Diese Macht steigere sich ständig, und ihre Grenzen seien nicht absehbar. Mill weist auch auf die Bedeutung der Wissenschaft, insbesondere der Physik, hin: "This increasing physical knowledge is now, too, more rapidly than at any former period, converted, by practical ingenuity, into physical power" (Mill 1965, 706). Mill sieht also deutlicher als noch Ricardo das Potential des technischen Fortschritts. Für Mill (1965, 706) ist es deshalb unmöglich, "not to look forward to a vast multiplication and long succession of contrivances for economizing labour and increasing its produce; and to an ever wider diffusion of the use and benefit of those contrivances." Und: "The progress which is to be expected in the physical sciences and arts, combined with the greater security of property, and greater freedom in disposing of it, which are obvious features in the civilization of modern nations, and with the more extensive and more skilful employment of the joint-stock principle, afford space and scope for an indefinite increase of capital and production, and for the increase of population which is its ordinary accompaniment" (Mill 1965, 708f.). Nach Auffassung Samuelsons (1978, 1416) betont Mill, daß "technological innovation, continued in the long-run steady state, would imply rising output forever" (seine Hervorhebung). Samuelson meint, daß "we can show on Mill's behalf that if the technical change is land-augmenting at a steady exponential rate, then labor and capital will grow forever at the same balanced exponential rate" (seine Hervorhebung). Eine solche rein theoretische Möglichkeit ewigen Wachstums läßt sich natürlich zeigen, aber wohl kaum "in Mills Namen". Exponentieller und ewiger bodenvermehrender technischer Fortschritt ist gewiß nichts, was Mill sich hätte vorstellen können. Mill erkannte weitaus deutlicher als Smith, Malthus und Ricardo die Möglichkeiten technischen Fortschritts. Der stationäre Zustand als Endpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung, als Ergebnis dieser Entwicklung erschien ihm deshalb vielleicht zeitlich weiter entfernt als den anderen Klassikern. Im Gegensatz zu diesen hoffte Mill allerdings, daß sich die Menschen für einen stationären Zustand entscheiden mögen, bevor dieser notwendig würde.
7.3.4.3. Vom stationären Zustand
Zum stationären Zustand äußert sich Mill bereits im I. Buch, und zwar im Abschnitt über das Law of the Increase of Capital: "When a country has carried production as far as in the existing state of knowledge it can be carried with an amount of return corresponding to the average strength of the effective desire of accumulation in that country, it has reached what is called the stationary state; the state in which no further addition will be made to capital, unless there takes place either some improvement in the arts of production, or an increase in the strength of the desire to accumulate" (Mill 1965, 169; meine Hervorhebung). Allerdings war Mill, so Schumpeter (1965, 698) "klug genug zu erkennen, daß es keinen Grund gab, die Zukunft der Massen 'anders als hoffnungsvoll' zu beurteilen", hatte aber "keine Vorstellung davon, was die kapitalistische Produktionsmaschine später leisten sollte. (...) Da er das Schreckgespenst der Überbevölkerung überwunden hatte, konnte er dem stationären Zustand ohne unheilvolle Vorahnungen entgegensehen (...), worin er sich von A. Smith und Ricardo unterschied. (...) Er betrachtete den stationären Zustand als recht behaglich" (meine Hervorhebung). Schumpeter (1965, 698, Fn. 74) meint, Mills stationärer Zustand schließe "den technologischen Fortschritt und den Kapitalzuwachs nicht völlig aus. Er war eigentlich nur in bezug auf die Bevölkerung wirklich stationär, wobei angenommen wurde, daß dies ganz allgemein zu einer ruhigeren Entwicklung führen würde" – eine falsche Interpretation, wie sich schon gezeigt hat.
Unmittelbar nach dem Kapitel VI über den stationären Zustand, zu Beginn des Kapitels VII On the Probable Futurity of the Labouring Classes erörtert Mill (1965, 758) den Zweck jenes Kapitels: "The observations in the preceding chapter [VI; FL] had for their principal object to deprecate a false ideal of human society. Their applicability to the practical purposes of present times, consists in moderating the inordinate importance attached to the mere increase of production, and fixing attention upon improved distribution, and a large remuneration of labour, as the two desiderata" (meine Hervorhebungen). Nicht die absolute Zunahme des Sozialprodukts sei ab einem bestimmten Wohlstandsniveau entscheidend, sondern das Pro-Kopf-Wachstum, also "that it should increase relatively to the number of those who share in it, is of the utmost possible importance" (Mill 1965, 758). Für Mill ist also nicht Wachstum wichtig, sondern die Verbesserung der Lebensbedingungen.
Mills Version der Stationarität geht, so Levy (1987, 250), großenteils auf Ricardo zurück. "For Mill, it was ultimately the limits to production from land which would finally render capital accumulation untenable because of the negative influence on rates of return of the rising costs of food, and hence real wages, and of raw materials" (Oakley 1994, 228). Letztlich unterscheidet sich der Millsche stationärer Zustand von dem der anderen Klassiker allerdings weniger in seiner Herleitung als vielmehr in seiner Bewertung. Wie oben gezeigt wurde, sahen die anderen Klassiker dem stationären Zustand äußerst pessimistisch entgegen. Mills positive Einschätzung ist die entscheidende Differenz zu den anderen Klassikern. "Eine der bedeutsamsten und wahrscheinlich am stärksten vernachlässigten theoretischen Neuerungen (...) war seine vollkommene Bejahung eines unausweichlich herannahenden zukünftigen 'stationären Zustands' der Gesellschaft. (...) Mill (...) begrüßte diesen Zustand als eine Zeit, in der die materiellen Bedürfnisse der Menschen im wesentlichen befriedigt sein würden, so daß sie sich anderen, erfüllenderen Tätigkeiten widmen könnten und die geselligere Seite ihres Wesens frei entfalten könnten, die in der hektischen und angespannten Konzentration auf kommerzielle und wirtschaftliche Ziele zwangsläufig verschüttet geblieben war" (Claeys 1987a, 13).
Mill (1965, 752) meint, die vorhergehende Analyse des wirtschaftlichen Fortschritts – verstanden als Wachstum von Kapital, Bevölkerungszunahme und technischer Fortschritt – sei unbefriedigend, und fragt nach den Zielen des Fortschritts: "(T)o what goal? Towards what ultimate point is society tending by its industrial progress? When the progress ceases, in what condition are we to expect that it will leave mankind?" Das Ziel der Millschen Ausführungen geht also eindeutig über eine rein ökonomische Fragestellung hinaus. Mill (1965, 752) erinnert daran, daß praktisch alle Ökonomen davon ausgehen, daß wirtschaftliche Entwicklung zu einem stationären Zustand hinstrebt: "It must always have been seen, more or less distinctly, by political economists, that the increase of wealth is not boundless: that at the end of what they term the progressive state lies the stationary state, that all progress in wealth is but a postponement of this, and that each step in advance is an approach to it. (...) This impossibility of ultimately avoiding the stationary state – this irresistible necessity that the stream of human industry should finally spread itself out into an apparently stagnant sea – must have been, to the political economists of the last two generations, an unpleasing and discouraging prospect" (meine Hervorhebungen). Mill geht also davon aus, daß ein stationärer Zustand unausweichlich, unvermeidbar ist. Mill (1965, 753f.) sieht dem freilich nicht so pessimistisch entgegen wie die Ökonomen "alter Schule" – im Gegenteil: "I cannot (...) regard the stationary state of capital and wealth with the unaffected aversion so generally manifested towards it by political economists of the old school. I am inclined to believe that it would be, on the whole, a very considerable improvement on our present condition. I confess I am not charmed with the ideal of life held out by those who think that the normal state of human beings is that of struggling to get on; that the trampling, crushing, elbowing, and treading on each others heels, which form the existing type of social life, are the most desirable lot of human kind, or anything but the disagreeable symptoms of one of the phases of industrial progress. (...) (T)he best state for human nature is that in which, while no one is poor, no one desires to be richer, nor has any reason to fear being thrust back, by the efforts of others to push themselves forward."
Mill legt eine Art kulturelle Wachstumskritik vor. Für ihn ist klar, daß Umverteilung notwendig ist, nicht weiteres Wachstum, zumindest in den reichen Ländern: "I know not why it should be a matter of congratulation that persons who are already richer than any one needs to be, should have doubled their means of consuming things which give little or no pleasure except as representative of wealth. (...) It is only in the backward countries of the world that increased production is still an important object: in those most advanced, what is economically needed is a better distribution, of which one indispensable needs is a stricter restraint on population" (Mill 1965, 755). Hier wird erneut deutlich, daß Mill eine Begrenzung des Bevölkerungswachstum für möglich hielt und er dies als ein Mittel zur Erreichung einer besseren Verteilung ansah. Durch vernünftiges Verhalten der Individuen und eine verbesserte Gesetzgebung könnte eine Gesellschaft mit folgenden Eigenschaften geschaffen werden: "a well-paid and affluent body of labourers; no enormous fortunes, except what were earned and accumulated during a single lifetime; but a much larger body of persons than at present, not only exempt from coarser toils, but with sufficient leisure, both physical and mental, from mechanical details, to cultivate freely the graces of life, and afford examples of them to the classes less favourably circumstanced for their growth. This condition of society, so greatly preferably to the present, is not only perfectly compatible with the stationary state, but, it would seem, more naturally allied with that state than with any other" (Mill 1965, 755; s. auch 1965, 757). Die hier von Mill skizzierte Gesellschaft ist also nicht nur im stationären Zustand möglich, sie ist in ihm eher möglich als in einem anderen Zustand.
Mill (1965, 756) argumentiert nicht zuletzt mit einer höheren Lebensqualität, die im stationären Zustand erreichbar sei, und in dieser Argumentation unterscheidet er sich deutlich von den "Ökonomen alter Schule". Ein Land könne auch bei guter Versorgung mit Nahrung und Kleidung überbevölkert sein – nämlich dann, wenn es nicht mehr möglich sei, allein zu sein: "It is not good for man to be kept perforce at all times in the presence of his species. A world from which solitude is extripated, is a very poor ideal. Solitude, in the sense of being often alone, is essential to any depth of meditation or of charakter" – Mill betont also die Möglichkeit, Zeit zur Kontemplation zu haben, als Teil der Lebensqualität, die für ihn also deutlich mehr umfaßt als Güterversorgung. Mill hebt die Bedeutung einer intakten natürlichen Umwelt hervor, wenn er fortfährt: "(S)olitude in the presence of natural beauty and grandeur, is the cradle of thoughts and aspirations which are not only good for the individual, but which society could ill do without. Nor is there much satisfaction in contemplating the world with nothing left to the spontaneous activity of nature (...). If the earth must lose that great portion of its pleasentness which it owes to things that the unlimited increase of wealth and population would extirpate from it, for the mere purpose of enabling it to support a larger, but not a better or a happier population, I sincerely hope, for the sake of posterity, that they will be content to be stationary, long before necessity compels them to it" (Mill 1965, 756; meine Hervorhebung). Er vertritt also die Auffassung – wie groß auch hier der Unterschied zu den anderen Klassikern –, daß Wachstum schon "aufhören" soll, bevor die wirtschaftliche Entwicklung aufgrund ihrer inneren Logik den stationären Zustand erreicht. Er ist sich sicher, daß ein solcher Zustand mit Entwicklung und Fortschritt vereinbar ist: "It is scarcely necessary to remark that a stationary condition of capital and population implies no stationary state of human improvement" (Mill 1965, 752ff.). Mill sieht die Aufgabe des technischen Fortschritts nicht darin, den stationären Zustand zu verschieben: "There would be as much scope as ever for all kinds of mental culture, and moral and social progress; as much room for improving the Art of Living, and much more likelihood of its being improved, when minds ceased to be engrossed by the art of getting on. Even the industrial arts might be as earnestly and as successfully cultivated, with this sole difference, that instead of serving no purpose but the increase of wealth, industrial improvements would produce their legitimate effect, that of abridging labour" (Mill 1965, 756; meine Hervorhebung). (Technischer) Fortschritt spielt in Mills System also eine wichtige Rolle, und zwar auch im Hinblick auf den stationären Zustand.
Verteilung wird bei Stationarität zum Nullsummenspiel – aber weshalb dann diese positive Bewertung des stationären Zustands? Levy (1987, 252) bezeichnet Mills Einschätzung des stationären Zustands als "utopischen Optimismus": "Während andere vielleicht Revolution, Klassenkampf oder brutale staatliche Repression vorausgesagt hätten, betrachtete Mill den bevorstehenden stationären Zustand als eine Chance, eine neue harmonische Sozialordnung zu schaffen. Dennoch glaubte er ebenso wie Marx, daß die neue Ordnung erst nach einer Veränderung der Gesellschaftsstruktur, die der jetzigen Produktion zugrundelag, verwirklicht werden könnte." Genau hier sieht Levy (1987, 252) den Grund für die Kompatibilität von Stationarität und Fortschritt bei Mill: "Eben diese strukturelle Transformation (...) kann erklären, weshalb Mill das Ende der privaten Akkumulation und der privaten Investitionen dennoch für vereinbar mit industriellem Fortschritt hielt." Mill, so Levy (1987, 269), "bewahrte sich einen naiven Glauben daran, daß der Kapitalismus bloß ein Übergangsstadium darstelle und sich, getrieben von seiner eigenen immanenten Dynamik, bald selbst umwandeln würde." Und Oakley (1994, 231) meint, daß seine "radical perception of a reformed capitalism involved Mill in advocating at least the idea of the demise of the traditional relationship between capitalists and workers" (meine Hervorhebung).
Blaug (1985, 213) hält das Kapitel der Principles über den stationären Zustand für "strongly colored by Mill's social views." Und für Bladen (1974, 228) fällt Mills stationärer Zustand aus dem Zusammenhang der Principles heraus: "While Mill the Preacher might doubt the importance of increasing production except in 'the backward countries,' Mill the political economist was more realistic and put the problem of production, the causes of productivity and of increasing productivity, at the forefront of his study. (...) The preacher was contemplating the Stationary State, the political economist was concerned with the practical problems of contemporary society." Haben wir also in den Principles gleichsam zwei Mills vor uns, die nichts miteinander zu tun haben: Hier der Prediger, der seinen "social views" nachhängt, dort der politische Ökonom, der sich den wirklichen Problemen stellt? Zu Blaugs Bemerkungen meint Daly (1993a, 28): "While giving full credit to Mill for his many other contributions to economics, most economists consider his discussion of the stationary state as something of a personal aberration." Es wurde hier aber gezeigt, daß der stationäre Zustand sehr wohl in den Gesamtkontext der Principles "paßt". Im Gegensatz zu Blaug und Bladen vertritt Levy (1987, 248) gar die Auffassung, daß Mills stationärer Zustand "mit einer Reihe ökonomischer und sozialer Voraussetzungen die logische Ergänzung zu Mills Vision bedeutete" (meine Hervorhebung). Der stationäre Zustand, so Levy (1987, 253), wurde von Mill benötigt, um Spannungen in seinem Denken aufzulösen. Der stationäre Zustand steht also nicht isoliert und abgehoben vom Rest der Principles, sondern ist ohne deren Kontext nicht zu verstehen.
7.3.4.4. Stationarität, gesellschaftliche Reformen und evolutionärer Sozialismus
Mill war ohne Zweifel der optimistischste aller klassischen Ökonomen. Mill stand der Gesellschaftsordnung seiner Zeit außerordentlich kritisch gegenüber, er sah aber sehr deutlich die Fortschritte seiner Zeit: "The evils and injustices suffered under the present system are great, but they are not increasing; on the contrary, the general tendency is towards their slow diminution" (Mill 1967a, 736). Mill nahm, wie Spiegel (1991, 369) formuliert, den Stachel aus Problemen wie Bevölkerungswachstum, Subsistenzlohn und Stationarität: "Mill's measured optimism redeemed classical economics by making it compatible again with the belief in progress" (meine Hervorhebung). Dies liegt auch daran, daß Mill sich bei der Bewertung der Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderungen grundlegend von den anderen Klassikern unterscheidet. Für Heilbroner (1975, 537) ist die von Smith dargestellte Entwicklungsdynamik eine, "from which any possibility of a fundamental change in socioeconomic structure has been removed." Auch Malthus (1992, 331) glaubte nicht an grundlegende Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen: "The structure of society, in its great features, will probably always remain unchanged. We have every reason to believe that it will always consist of a class of proprietors and a class of labourers; but the condition of each, and the proportion which they bear to each other, may be so altered as greatly to improve the harmony and beauty of the whole." Mill dagegen hielt die Gesellschaft für grundlegend veränderbar. Er sah die sozialen und wirtschaftlichen Institutionen seiner Zeit nicht als universell, dauerhaft oder wünschenswert an und war "highly critical of contemporary society and was concerned with the possibility of 'progress'" (Bladen 1974, 226).
Mill glaubte fest an die Möglichkeit, daß soziales Verhalten veränderbar sei (Heilbroner 1986, 133) – die Veränderbarkeit war, wie oben ausgeführt, zentral für die Bewertung des Bevölkerungsgesetzes. Er ging von einem Spannungsverhältnis zwischen Subsistenzmitteln und Bevölkerungszahl aus, war aber "less afraid of the population effect than was Malthus" (Bladen 1974, 242). Mill sah es als Möglichkeit an, daß das Bevölkerungswachstum die Zunahme der Nahrungsmittelproduktion übersteigt, nicht aber als Notwendigkeit. In seiner Diskussion sozialistischer Autoren spricht Mill (1967a, 728) vom "error which was at first committed by Malthus and his followers, that of supposing that because population has a greater power of increase than subsistence, its pressure upon subsistence must be always growing more severe." Eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft sei nicht notwendig, um dieses Problem zu lösen, denn "experience shows that in the existing state of society the pressure of population on subsistence, which is the principal cause of low wages, though a great, is not an increasing evil; on the contrary, the progress of all that is called civilisation has a tendency to diminish it." Der Grund hierfür liege in technischen Verbesserungen, Emigration, neuen Beschäftigungsmöglichkeiten und in "a general improvement in the intelligence and prudence of the population", also in Verhaltensänderungen (Mill 1967a, 729). Dieser Fortschritt sei langsam, aber er finde statt. Folglich: "Society as at present constituted is not descending into that abyss [Überbevölkerung; FL], but gradually, though slowly, rising out of it, and this improvement is likely to be progressive if bad laws do not interfere with it" (Mill 1967a, 729). Mill war von der Möglichkeit gesellschaftlichen Fortschritts tief überzeugt.
Im stationären Zustand sah Mill, so Levy (1987, 248), die Voraussetzung für "die völlige Verwirklichung des liberalen Ideals". Vieles spricht allerdings dafür, daß es sich hier um eine sozialistische Version dieses Ideals gehandelt hat. Mill erwartete, so Levy (1987, 253), "daß das Stadium des Stillstands mit einer neuen, post-kapitalistischen politischen Ökonomie einhergehen würde, die durch Genossenschaften der Produzenten gekennzeichnet wäre" (meine Hervorhebung). Levy (1987, 254, 269) spricht denn auch von einem "im genossenschaftlichen Eigentum gipfelnde(n) stationäre(n) Zustand" und vom "Marktsozialismus des stationären Zustands" (s. auch 270). In dieser Vision liegt auch der Grund dafür, daß Mill im Gegensatz zu den anderen Klassikern den stationären Zustand nicht mit Schrecken, sondern Hoffnung entgegensah: "Mill endeavoured to convey a feeling of sanguinity, not to say Utopianism, about any tendency towards a stationary state which was for him (...) a very real possibility given the impending limits to the expansion of output at realistic rates of return to capital" (Oakley 1994, 229). Mill sah im stationären Zustand eben nicht lediglich das Ende der Wachstumswirtschaft, sondern etwas Neues, Besseres: "Rather than seeing a stationary state as the finale for capitalism and economic progress Mill sees it as the first stage of a benign socialism, where mankind would turn its energies to serious matters of justice and liberty, not just to economic growth" (Heilbroner 1986, 133). Den stationären Zustand, so Heilbroner (1988, 61), sieht Mill als "staging ground for a kind of associationist socialism."
Spiegel (1991, 392) meint zwar, Mills Befürwortung des Sozialismus sei "waveringly and halfheartedly", dessen Sympathie für sozialistische Ideen ist jedoch unbestreitbar. Von der sozialistischen Kritik an Wettbewerb und Konkurrenz setzt Mill sich jedoch deutlich ab: "I agree (...) with the Socialist writers in their conception of the form which industrial operations tend to assume in the advance of improvement; and I entirely share their opinion that the time is ripe for commencing this transformation, and that it should by all just and effectual means be aided and encouraged. But while I agree and sympathize with Socialists in this practical portion of their aims, I utterly dissent from the most conspicuous and vehement part of their teaching, their declamations against competition." (Mill 1965, 794; s. auch 1967a, 715f., 729ff.). Er hält diese Position für völlig verfehlt: "It is the common error of Socialists to overlook the natural indolence of mankind; their tendency to be passive, to be the slaves of habit, to persist indefinitely in a course once chosen" (Mill 1965, 795). Konkurrenz sei nicht der beste Ansporn, aber absolut notwendig und bis auf weiteres unverzichtbare Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt, jede Einschränkung von Konkurrenz sei ein Übel (Mill 1965, 795).
Mill (1965, 203) unterscheidet zwischen Kommunismus und Sozialismus. Kommunismus bedeute die vollständige Abschaffung von Privateigentum. Sozialismus sei ein allgemeinerer Begriff, "applied to any system which requires that the land and the instruments of production should be the property, not of individuals, but of communities or associations, or of the government" (s. auch 1967a, 738). Mill zeigt sich kritisch gegenüber den bestehenden Verhältnissen: Wenn diese oder der Kommunismus die Alternative seien, "all the difficulties, great or small, of Communism would be but as dust in the balance" (Mill 1965, 207). Und: "The restraints of Communism would be freedom in comparison with the present condition of the majority of the human race" (Mill 1965, 209). Auf den Vergleich mit dem schlechten Zustand der tatsächlich existierenden Gesellschaft komme es freilich nicht an: "The question is, whether there would be any asylum left for individuality of character; whether public opinion would not be a tyrannical yoke; whether the absolute dependence of each on all, and surveillance of each by all, would not grind all down into a tame uniformity of thoughts, feelings, and actions. (...) It is yet to be ascertained whether the Communistic scheme would be consistent with that multiform development of human nature, those manifold unlikenesses, that diversity of tastes and talents, and variety of intellectual points of view, which not only form a great part of the interest of human life, but by bringing intellects into stimulating collision, and by presenting to each innumerable notions that he would not have conceived of himself, are the mainspring of mental and moral progression" (Mill 1965, 209). Dem Kommunismus stand Mill also weit kritischer gegenüber als dem Sozialismus. Kommunismus stelle erhebliche Anforderungen an die moralische und intellektuelle Erziehung der Menschen. "Now I reject altogether the notion that it is impossible for education and cultivation such as is implied in these things to be made the inheritance of every person in the nation; but I am convinced that it is very difficult, and that the passage to it from our present condition can only be slow. (...) (T)o force unprepared populations into Communist societies, even if a political revolution gave the power to make such an attempt, would end in disapointment" (Mill 1967a, 746). Auch die Einführung von Sozialismus unter den gegebenen Bedingungen "could have no effect but disastrous failure" (Mill 1967a, 749). Ein umfassender Umbau der Gesellschaft zu einer mit anderen Grundlagen als Privateigentum und Konkurrenz, "however valuable as an ideal, and even as a prophecy of ultimate possibilities, is not available as a present resource, since it requires from those who are to carry on the new order of things qualities both moral and intellectual, which require to be tested in all, and to be created in most; and this cannot be done by an Act of Parliament, but must be, on the most favourable supposition, a work of considerable time" (Mill 1967a, 749f.).
Mill erhofft für die Zukunft eine andere Organisation der Wirtschaft, und seine Vision des stationären Zustands ist nicht von seinem Glauben an den Fortschritt, seiner Trennung von Produktion und Verteilung und seinem "evolutionären Sozialismus" zu trennen. Dieser Sozialismus war, wie gezeigt, weder "marxistisch" noch revolutionär. (76) Im Gegenteil: "Socialism was to Mill a matter of the future, to be tested empirically and grounded in voluntary associations of the cooperative type, which would gradually emerge and would compete with each other" (Spiegel 1991, 392). Für Schumpeter (1965, 650) ist Mill ein "evolutionärer Sozialist mit assoziationistischen Zügen", und diese Position ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Millschen Stationarität. Mill, so Schumpeter (1965, 651), war der Auffassung, "daß der Kapitalismus der Erfüllung seiner Aufgabe nahe sei (...). Gleichzeitig leugnete er jedoch hartnäckig jede Tendenz des kapitalistischen Systems, die auf die Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse oder auf eine Reduktion des relativen oder absoluten Anteils der Arbeiter am Sozialprodukt hinwirkt; und ebenso hartnäckig wies er die Idee des revolutionären Übergangs zum Sozialismus zurück" (meine Hervorhebungen).
7.3.4.5. Mills Bedeutung für die Ökologiedebatte
"Die meisten Schöpfungen des Verstands oder der Phantasie entschwinden für ewig
nach einer Frist, die zwischen einer Stunde nach dem Essen und einer Generation
variieren kann. Einige jedoch nicht."
(Schumpeter 1993, 17)
Es ist bekannt, daß "(t)he direction in which political economy has evolved in the last hundred years is not along the path suggested by Mill" (Daly 1993a, 28). Gerade der Diskurs über Sustainable Development hat allerdings dazu geführt, daß Mills Ideen wieder vermehrt diskutiert werden (s. oben). Nicht nur Daly (1993a, 28) ist der Ansicht, daß "Mill is even more relevant today than in his own time." Penn (1990, 229) meint, das Konzept einer Steady-State-Wirtschaft habe – auch wenn Stationaritätsideen eine ökonomische Minderheitenposition seien – eine "long and respectable intellectual heritage extending back to John Stuart Mill." Mit der Rezeption Mills im Zusammenhang mit der Diskussion um Sustainable Development scheint auch die "conspiracy of silence" (Leiss 1978, 114; s. zur langen Nichtbeachtung von Mills Stationaritätsgedanken auch Levy 1987) im Hinblick auf seine Vorstellungen über den stationären Zustand endgültig beendet. Daly (1996a, 3) interpretiert Mill gar als frühen Vertreter der Forderung nach Sustainable Development: "In today's jargon, Mill was arguing for sustainable development – development without growth – that is, qualitative improvement without quantitative increase." Nun plädiert Mill in der Tat für Entwicklung ohne Wachstum. Ihm aber eine Perspektive zuzuschreiben, die er nicht haben konnte, ist problematisch. Entwicklung ohne Wachstum ist in Dalys Augen identisch mit Sustainable Development – Mill aber konnte die Dinge so nicht sehen. Daly macht hier einen etwas groben Gebrauch vom benefit of hindsight.
Mill wird immer wieder auch als früher "Ökologe" eingestuft. Teile des Abschnitts über den stationären Zustand, so Oakley (1994, 230), "today would be read as a piece of 'Green' environmentalist propaganda" (s. auch Barbier 1989, 14). Rostow (1990, 321) sieht eine Linie von Mills bis Meadows in der Verbindung von positiven Wachstumsgrenzen und der "anxiety about resources and the environment in a regime of progressive industrial expansion." "Mill was the first major environmentalist. But it should be underlined that his stationary state implies only a fixed population: technological change could proceed elevating real income per capita. (...) (H)e did not rule out continued technological progress and net investment" (Rostow 1990, 117, 143). Rostow (1990, 143) spricht von "Mill's affluent Stationary State". In der Tat schloß Mill technischen Fortschritt aus seiner Vision des stationären Zustands nicht aus, aber Kapitalakkumulation – Nettoinvestitionen – sind entgegen Rostows Auffassung bei Mill ganz eindeutig ausgeschlossen.
Welche Rolle spielt nun die Sorge um die natürliche Umwelt in Mills Plädoyer für einen "freiwilligen" stationären Zustand? Mill äußert sich, wie dargestellt, an vielen Stellen der Principles sehr deutlich über die Rolle des Bodens und anderer natürlicher Faktoren für die Produktion. Über diese mit anderen Klassikern geteilte Perspektive geht er jedoch hinaus, indem er die Bedeutung einer intakten Umwelt für die Lebensqualität herausstellt. Im Abschnitt über Regierungsfunktionen vertritt Mill (1965, 801) vehement, wie wichtig der Schutz der natürlichen Umwelt ist: "Is there not the earth itself, its forests and waters, and all other natural riches, above and below the surface? These are the inheritance of the human race, and there must be regulations for the common enjoyment of it. What rights, and under what conditions, a person shall be allowed to exercise over any portion of this common inheritance, cannot be left undecided. No function of government is less optional than the regulation of these things, or more completely involved in the idea of civilized society" (meine Hervorhebungen). Der Begriff "optional" bezieht sich auf Mills (1965, 799f.) Unterscheidung zwischen notwendigen und optionalen Regierungsfunktionen. Die Bedingungen der Nutzung der natürlichen Umwelt zu regeln, ist für Mill also eine absolut notwendige Funktion der Regierung.
Zum Verhältnis von natürlichen Ressourcen und Wirtschaft, so Barnett/Morse (1963, 51) hat Mill zwei wesentliche Beiträge geleistet: "He systematized, clarified, elaborated, and qualified the ideas of Malthus and Ricardo. And he extended the scope of natural resource scarcity and effect to living space and the quality of life, thus adding a new – though imperfectly developed – dimension to the earlier versions." Mills Behandlung der Bedeutung natürlicher Ressourcen verläuft weitgehend entlang ricardianischer Linien (Barnett/Morse 1963, 66). Daß Mill (1965, 173f.) die Begrenzung des Produktionswachstums durch den Boden nicht für eine starre Schranke hält, verdeutlicht er mit folgender Metapher: "The limitation to production from the properties of the soil, is not like the obstacle opposed by a wall, which stands immovable in one particular spot, and offers no hindrance to motion short of stopping it entirely. We may rather compare it to a highly elastic and extensible band, which is hardly ever so violently stretched that it could not possibly be stretched any more, yet the pressure of which is felt long before the final limit is reached, and felt more severely the nearer the limit is approached." Mill geht mit der Berücksichtigung abiotischer Ressourcen über das klassische Konzept der Ressourcenknappheit hinaus – wie er in seiner Sicht auf diese Knappheit modernen Ansätzen näher ist als denen von Malthus und Ricardo (Barbier 1989, 11f.). Über die Umwelt als Inputfaktor für wirtschaftliche Aktivitäten geht Mill aber hinaus, in dem er die Bedeutung der Umwelt als Lebensraum betont. Mill berücksichtigt als einer der ersten die ästhetische Qualität der Landschaft (Bladen 1974, 222f.). Mill sieht, daß bestimmte "Dienstleistungen" der Natur (z.B. ihre ästhetische Qualität) durch Wachstum gefährdet sein können und diese Gefährdung sich negativ auf den Lebensstandard auswirken kann (Barbier 1989, 13f.). Mills Plädoyer für den stationären Zustand hängt damit zusammen, daß er "does not suggest that the imminent scarcity of these environmental services will be reflected in market prices" (Barbier 1989, 14). Dadurch, daß er in seinem Kapitel über den stationären Zustand heute wieder aktuelle Themen anspricht, er technische Verbesserungen mehr als die anderen Klassiker betont und die Bedeutung der eben erwähnten Umweltdienstleistungen als einer der ersten betont, stellt Mills Analyse der Ressourcenknappheit "an important bridge between classical and more contemporary views" dar (Barbier 1989, 14).
7.3.5. Klassische Stationarität: Nur Prognose oder auch analytische Fiktion?
"Growth might eventually come to a halt, as a stationary state was
reached, but the classics treated that as such a distant prospect that
it is not easy to tell whether they thought of the stationary state
as a real future possibility or a mere analytical device."
(Brewer 1995, 609; meine Hervorhebung)
Sowohl Malthus als auch Ricardo, so Rostow (1990, 70), "used the stationary state as an expositional device to illustrate the operation of certain abstract forces" (meine Hervorhebung). Rostow (1990, 70) lehnt sich hier an das an, was er selbst als "a somewhat belated revisionist literature" bezeichnet, namentlich Aufsätze von Kolb (1972; 1973) und Akhtar (1973). Kolb (1972, 17) insistiert – in meiner Terminologie – auf der Unterscheidung von ontologischem und analytischem Steady-State auch im Falle der Klassik, namentlich bei Malthus und Ricardo, und er vertritt die Auffassung, daß "the treatment of Ricardo und Malthus as pessimists denies them credit for having been able to distinguish between theoretical statements and descriptive remarks." Er führt die von ihm behauptete Mißinterpretation nicht zuletzt auf die Popularisierungen Ricardos zurück. Er meint, demonstrieren zu können, daß "the two writers held rather optimistic views of the future", und zitiert einige "optimistische" Stellen aus den Werken Malthus' und Ricardos. Unendliches Wachstum sei zwar für Ricardo unvorstellbar gewesen, es gebe aber überhaupt kaum Ökonomen, die ein grenzenloses Bevölkerungs- und Kapitalwachstum für möglich hielten. Wachstumsgrenzen seien für Malthus und Ricardo aber kein aktuelles Problem gewesen: "Although Ricardo and Malthus both accepted the idea that there must be a limit to economic growth, they rejected the view that the limit is a relevant one in terms of expected reality. That is, the stationary state remains an analytical device rather than a view of reality because in terms of the time horizons which Ricardo and Malthus felt were operationally meaningful the stationary state was not considered to have substance at the level of reality" (Kolb 1972, 26; seine Hervorhebung). Kolb (1972, 30) spricht deshalb von der "legend of classical economics' pessimism" – weder Ricardo noch Malthus seien Pessimisten gewesen, und "(t)hose writers who suggest that they were are simply wrong" (meine Hervorhebung). Akhtar (1973, 78) sekundiert und insistiert, daß "(t)here is no doubt that Ricardo's stationary state was a fiction – an analytical tool." Für ihn ist die übliche ontologisch-pessimistische Interpretation der Klassik darauf zurückzuführen, daß die klassische Behandlung technischen Fortschritts falsch verstanden worden sei (Akhtar 1973, 79). Rostow (1990, 71, 586, En. 82) spricht im Zusammenhang mit der Bewertung Malthus' und Ricardos von "considerable confusion" und meint, daß "(e)ven so sedulous a scholar as Schumpeter fails to capture the post-1812 transition of Malthus and Ricardo to, at least, quasi-optimism" (meine Hervorhebung).
Zu den eben zitierten "Revisionismus"-Versuchen ist zunächst festzustellen: Bei einem rein analytischen stationären Zustand kann gar nicht von Optimismus oder Pessimismus die Rede sein: Man kann in dieser Weise einen erwarteten Entwicklungsverlauf bewerten, aber keine analytische Fiktion (jedenfalls nicht in derselben Weise). Der Titel von Kolbs (1972) Aufsatz The Stationary State of Ricardo and Malthus: Neither Pessimistic nor Prophetic ist deshalb ein "weißer Schimmel": Ein "nicht-prophetischer" stationärer Zustand kann gar nicht pessimistisch (oder optimistisch) sein. Wichtiger ist der Umstand, daß sich analytische und ontologische Verwendung des stationären Zustands nicht ausschließen. Man kann Stationarität als analytische Fiktion verwenden und an anderer Stelle den stationären Zustand als Endpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung erwarten – dieser Zustand kann dann optimistisch oder pessimistisch eingeschätzt werden (diese Einschätzung hängt dann im wesentlichen davon ab, was unter Subsistenz verstanden wird, siehe unten). Auch aus der von Rostow betonten Phase nach 1812 existieren, nebenbei bemerkt, "pessimistische" Äußerungen der Klassiker, Ricardos (1951a) oben zitierter Aufsatz über das Funding System beispielsweise erschien 1820.
Schumpeter setzt Ricardos analytischen Steady-State in Verhältnis zum ontologischen: "Wenn überhaupt, so kann die in den Gütern enthaltene Arbeitsmenge ihren Tauschwert nur im Gleichgewichtszustand der Konkurrenzwirtschaft bestimmen und auf die Erfassung dieses Zustands ist seine ganze Betrachtungsweise eingestellt. Nur durch Datenveränderungen wird er gestört, nur seine Reaktion auf Datenänderungen wird unter dem Begriff 'progreß' erfaßt" (Schumpeter 1952, 82f.; meine Hervorhebung). Ricardo bleibe streng im Rahmen der Statik, auch indem er das Vorhandensein der Produktionsmittel einfach voraussetze. Bei der Analyse von Steuern und internationalen Werten zeige Ricardo, "wie sich die Volkswirtschaft geänderten Verhältnissen anpaßt und wie das auf die einzelnen Kategorien von Wirtschaftssubjekten wirkt. Voraussetzung ist immer, daß die Wirtschaftsweise und überhaupt die Gesamtheit aller Daten gleichbleibt" (Schumpeter 1952, 83; meine Hervorhebung). Ein weiteres Beispiel für diesen Ansatz sei Ricardos Analyse der Einführungen von Maschinen, wie Schumpeter schon früh betont hat: "Spricht Ricardo von dem Einflusse der Einführung von Maschinen, so geht er von einem bestimmten gegebenen Zustande der Volkswirtschaft, einem Kapitale, bestimmtem Beschäftigungsgrade der Arbeiter aus. Malthus' bevölkerungstheoretische Resultate nehmen eine bestimmte Technik oder doch einen bestimmten Entwicklungsgang derselben, eine bestimmte Organisation der Volkswirtschaft und eine bestimmte Bevölkerungsvermehrung als gegeben an – und wohl auch noch andere Umstände. Und diese Annahmen sind essentiell zum Verständnisse seiner Theorie, und zur Beurteilung ihrer Resultate" (Schumpeter 1970, 178; zur Verwendung analytischer Stationarität durch Ricardo [1951b, 386ff.] im Maschinenkapitel der Principles s. auch Schumpeter 1924, 97; 1965, 688f.).
Schumpeter (1965, 578) meint – im Kontext der Auseinandersetzung mit Thünen –, daß Ricardo den "'beständigen Zustand' des Wirtschaftsprozesses" als "Werkzeug der Analyse" verwendet habe. An anderer Stelle vertritt er die Auffassung, daß das Verfahren, Stationarität als Analysewerkzeug zu nutzen, zumindest implizit von allen Klassikern angewandt wurde: "Der erste, der die methodologische Bedeutung dieses Verfahrens deutlich erkannte, war J.S. Mill. Marx aber, dessen Schema der einfachen Reproduktion (...) das Bild eines Wirtschaftsablaufes darstellt, der sich im Zeitablauf selbst reproduziert, ging viel weiter als Mill. Alle anderen Autoren, einschließlich A. Smith und Ricardo, verwandten dieses Werkzeug ebenfalls; da sie sich aber nicht der Tatsache bewußt waren, daß sie eine bestimmte Konstruktion dieser Art verwandten, taten sie dies in einer willkürlichen und unbefriedigenden Weise" (Schumpeter 1965, 687f.; seine Hervorhebung). Schumpeter sieht im analytischen Steady-State den Kern der ricardianischen Analyse. Gerade bei der Analyse von Steuern und internationalen Werte trüge "diese Anlage seines Systems ihre Früchte in der Gestalt präziser und einfacher Resultate" (Schumpeter 1952, 83). Die Entwicklungstheorie Ricardos bewertet Schumpeter (1952, 84) dagegen negativ: "Allerdings kommt es oft genug vor, daß gelegentliche Erklärungen über soziale und wirtschaftliche Umgestaltungen der Gesellschaft versucht werden, stets aber fallen dieselben aus dem Kapital der Theorie hinaus. Es sind meistens gelegentliche Erklärungen und zum anderen Teile wieder nur Untersuchungen der Frage, wie die Wirtschaft auf eine allgemeine Expansion des sozialen Lebens reagiert" (meine Hervorhebungen).
Mit Ricardos Verwendung analytischer Stationarität hängt auch Schumpeters berühmtes Diktum von der "Ricardian vice" zusammen. Ricardo, so Schumpeter (1965, 583f.), "war an eindeutigen Ergebnissen interessiert, denen eine unmittelbare und praktische Bedeutung zukam. Um solche Resultate zu erzielen, zerlegte er das allgemeine System in einzelne Teile, die er in möglichst großen Komplexen zusammenfaßte und auf Eis legte – so daß möglichst viele Dinge 'eingefroren' und 'gegeben' sein mußten. (...) Es ist eine fabelhafte Theorie, die niemals widerlegt werden kann und die alles hat – nur keinen Sinn*. Die Methode, Resultate solcher Art zur Lösung praktischer Probleme heranzuziehen werden wir künftig als Ricardianisches Übel bezeichnen" (meine Hervorhebung). (77)
Auf die mit Mills Verwendung der Begriffe Statik und Dynamik verbundenen Probleme wurde bereits hingewiesen. Die Statik-Definition Mills, so Schumpeter (1965, 688), "dreht sich um den Begriff des (stabilen oder labilen) Gleichgewichts, der bei Mill, wie auch in der 'klassischen' Literatur im allgemeinen, beispielsweise im Gewande solcher Konstruktionen wie der 'natürlichen' oder 'notwendigen' Preise auftritt. Etwas später aber erfahren wir, daß er an der zitierten Stelle [s.o.; FL] gar nicht die Statik meinte (...), sondern daß er sie vielmehr mit 'den ökonomischen Gesetzen einer stationären und unveränderlichen Gesellschaft' verwechselte." Zwischen statischer/dynamischer "Realität" und statischer/dynamischer Analyse besteht kein notwendiger Zusammenhang. "Mill aber folgte dem Beispiel vom Comte und verstand unter Dynamik etwas ganz anderes, nämlich die Analyse jener Kräfte, die langfristig grundsätzliche Veränderungen hervorbringen (...). All dies ist schon verwirrend genug; aber wir müssen zur Verwirrung noch ein letztes Element hinzufügen. Abgesehen davon, daß er von einer statischen Theorie und einem stationären Zustand sprach, der ein analytisches Werkzeug darstellt, erwartete Mill, wie es auch Ricardo getan hatte, daß der Wirtschaftsablauf in der Zukunft einmal in einen stationären Zustand der besonderen Art übergehen würde, der dann nicht mehr eine analytische Konstruktion zur Erleichterung der Untersuchung einer nichtstationären Wirklichkeit sein würde, sondern selbst Wirklichkeit sein wird" (Schumpeter 1965, 688; seine Hervorhebungen; s. auch Schumpeter 1924, 67). Mills Principles enthalten also einen ontologischen und einen analytischen Steady-State.
Schumpeter betont, daß "statische" Aussagen aus seiner Sicht im Zentrum der Klassik stehen, "dynamische" dagegen eher am Rande des klassischen Systems: "Das allgemeine Bild des Wirtschaftsprozesses, das die Klassiker entwarfen, entbehrt nicht des historischen Moments. Aber entsprechend ihrem analytischen Vorhaben ist dasselbe nur auf eine Andeutung beschränkt" (Schumpeter 1924, 73; meine Hervorhebungen). Für Schumpeter (1924, 86) "war die Verteilungstheorie für die Klassiker weitaus das wichtigste Problem und zwar die verhältnismäßige Verteilung eines im übrigen als gegeben betrachteten Sozialprodukts, dessen absolute Größe und absolute Veränderungen nur nebenbei – und fast niemals als abhängig auch von der Art der Verteilung – ins Auge gefaßt wurden" (meine Hervorhebungen). Das klassische System, so Schumpeter (1924, 67), sei vor allem auf "die Untersuchung der Volkswirtschaft im Gleichgewicht" angelegt – "Eine äußere oder innere Anlehnung an die Naturwissenschaft liegt darin nicht. So wollten die Klassiker zunächst eine 'Statik' der Wirtschaft geben, der sich dann gewisse Sätze über Entwicklungstendenzen anschlossen – eine 'Dynamik'. Die Ausdrücke sowie die Durchführung der äußern Scheidung wurden von John St. Mill in die Oekonomie gebracht, dieser hat die ersteren aus Comte." Es ist aber evident, daß eben jene "gewissen Sätze" für andere Autoren geradezu das Kernstück der Klassik ausmachen.
Die Vorstellung, daß Wachstum aufgrund der Knappheit natürlicher Ressourcen früher oder später ein Ende finden muß, so Blaug (1985, 88), sei "(a)t the heart of the heart of the Ricardian system", wenn auch, wie gezeigt, das verteilungstheoretische Interesse Grundlage für dieses Ergebnis der Principles ist. An anderer Stelle vertritt Blaug (1990a, 153) allerdings die Auffassung, daß Ricardo "had no real interest in the forces that govern the historical patterns of economic change", im Gegensatz z.B. zu Mill. Ricardo, so Blaug (1985, 96), "assumed at the outset that the purchasing power of money over all goods and services, as measured by the average level of prices in the economy, is constant and hence that distribution is a matter of dividing a given real national product among landlords, capitalists, and labourers" (meine Hervorhebung). In der Tat heißt es bei Ricardo (1951b, 35): "There can be no rise in the value of labour without a fall of profits. If the corn is to be devided between the farmer and the labourer, the larger the proportion that is given to the latter, the less will remain for the former" – Ricardo formuliert hier in geradezu "klassischer" Weise ein Nullsummenspiel und also einen stationären Zustand – und zwar als Annahme – und also als analytischen Steady-State. Blaug (1985, 70) bestreitet auch, daß das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag irgend etwas mit dynamischer Analyse zu tun hat: "The law of diminishing returns, properly understood, is a static proposition about returns to varying factor proportions under given technical knowledge, having nothing to do with the dynamic problem of an actually growing population working a given land area under conditions of constantly improving technology" (meine Hervorhebungen).
Ganz anders Sowell (1994, 74) – und damit zu der Auffassung, dynamische Analyse und also ontologische Stationarität mache den Kern der Klassik aus: "The analytical law of diminishing returns, as a static concept, was only a point of departure for discussing historical diminishing returns and its implications. The Ricardian scheme of functional distribution under static equilibrium was used as a basis for discussing Ricardo's real concern, the changes in distributional patterns over time with economic growth and development" (kursiv von ihm; fett von mir). Und: "The static law of diminishing returns was the foundation of a whole system of analysis that depended upon historically diminishing returns, driving up the cost of labor, increasing the landlord's rent, driving down the rate of profit, and moving the economy toward the 'stationary state.' In this sense, the law of diminishing returns was part of the general classical preoccupation with the problem of long-run growth" (kursiv von ihm; fett von mir) – welch ein Unterschied zur Auffassung Schumpeters und Blaugs. In der Tat war säkulares Wachstum (secular growth) unter den Bedingungen sinkender Erträge das zentrale Thema der ökonomischen Klassik (Sowell 1994, 130). Neben der Verteilungsfrage stand im Zentrum der klassischen Analyse die Frage nach der Möglichkeit einer Steigerung der Produktion – klassische Theorie ist nicht zuletzt Wachstumstheorie, und dieses Interesse an Wachstumsfragen ist prägend für die klassische Makroökonomik (Oser 1970, 6; Sowell 1994, 71f.). Auch für Baumol (1970, 13ff.) beispielsweise ist die Klassik eindeutig dynamische Analyse. Er betont, daß ein "basic theme in the dynamic analysis of the early English [sic; FL] economists was the development of the economy from a progressive state into a stationary state, the latter generally being considered less desirable than the former. This was considered to constitute an outline of the whole of economic history, although the ultimate arrival at the stationary state at which wages would have reached a minimum acceptable level and net investment would have ceased because of low profits, could be postponed indefinetely by a stream of highly productive inventions" (Baumol 1970, 14; daß im klassischen Modell eine "unendliche Verschiebung" des stationären Zustands möglich sei, ist, wie gezeigt, eine problematische Auffassung).
Die Bedeutung des stationären Zustands als Endpunkt wirtschaftlicher Entwicklung im klassischen Modell wird immer wieder hervorgehoben (Chaudhuri 1989, 7; Falkinger 1986, 54; Wrigley 1988, 19). Die klassische Analyse sei dadurch geprägt, daß sie sich mit der langfristigen Entwicklung ganzer Volkswirtschaften befasse (Baumol 1970, 8f., 13). Baumol (1970, Part I) spricht in diesem Zusammenhang – und mit Blick auf Marx, Schumpeter und Harrod – von "Magnificent Dynamics". Die "Großartigkeit" dieser Dynamik liegt in der dezidiert langfristigen Analyse und die Kühnheit der Annahmen dieser Theorie (Baumol 1970, 8). Harrod (1973, vii) meint gar, daß "(t)o find any exposition of dynamic principles one has to go back to Adam Smith and Ricardo and their followers." Und Malthus' Essay beispielsweise ist für Mokyr (1990, 283) "the quintessential statement of scarcity in a dynamic context." Samuelson (1978) bezeichnet die klassische Analyse in seinem berühmten Aufsatz als dynamisch (s. oben). Für Lowe (1975, 421) ist das klassische System – und hier liege ein fundamentaler Unterschied zur Neoklassik – gerade dadurch gekennzeichnet, daß "the equilibrium of the aggregate is never truly stationary, but always dynamic, making growth the frame of reference for all sectoral movements" (meine Hervorhebung). Smith, so Walsh (1992, 37), "certainly did not see growth as balanced, and regarded technical advance and growth of demand both as integral features of the accumulation of capital" (meine Hervorhebung). Walsh (1992, 16) meint, daß Ricardos Analyse der Bedeutung von Getreideimport für die Kapitalakkumulation und -struktur "quite obviously points beyond steady-state assumptions." Es ist in der Tat eine zentrale – und über analytische Stationarität hinausweisende Erkenntnis Ricardos, daß der wirtschaftliche Entwicklungsprozeß selbst das Erreichen des stationären Zustands hervorbringt. Daß er gezeigt hat, "that the process of growth contains within itself the causes of its ultimate stagnation, in the approach to the 'stationary state'", hält Chaudhuri (1989, 9) für Ricardos wichtigsten Beitrag (meine Hervorhebung). Auch Caravale betont den "wachstumstheoretischen" Aspekt Ricardos: "The basic problem Ricardo had in mind – in political and historical terms before analytical terms – was that of the relation between decreasing returns in agriculture and the growth prospects of the economy" (Caravale 1989, 104; meine Hervorhebung). Und: "The whole dynamic process in Ricardo is in point of fact 'activated' by population growth. It is the necessity to feed a growing number of mouths that compels the system to either import corn from abroad or to cultivate progressively poorer lands" (Caravale 1989, 110). Bei Ricardo ist es in der Tat eine wachsende Wirtschaft, in der die Nachfrage nach Land zunimmt und die die Bearbeitung immer schlechterer Böden erfordert und damit zum stationären Zustand führt. Der stationäre Zustand als Zukunftsprognose konnte in der Klassik m.E. überhaupt nur deshalb einen so prominenten Platz einnehmen, weil sie sich intensiv mit dem Problem des Wirtschaftswachstums befaßte. "Unlike modern growth theory, classical economists were not primarily concerned with the adjustments of the economy to the growth process, but with how such a process could be generated and sustained. The full title of Adam Smith's classic included the nature and causes of the wealth of nations. Even the static Ricardian model was concerned, as a practical matter, with the progress of the economy towards the stationary state, and with what this implied for the functional distribution of income 'in different stages of society'" (Sowell 1994, 33, mit Referenz zu Ricardo; kursiv von ihm, fett von mir).
Man kann diese Debatte sicherlich ebenso unendlich wie ergebnislos fortsetzen. Festzuhalten bleibt: Der stationäre Zustand als – wann auch immer – sicher zu erwartendes Endergebnis wirtschaftlicher Entwicklung ist Teil der Vision aller Klassiker. Darüberhinaus verwandten einige Klassiker den stationären Zutand auch als analytische Fiktion, wie z.B. Ricardo in seinem berühmten Maschinenkapitel. Alle Klassiker teilten die Vorstellung eines durch die Kombination von Bevölkerungswachstum und sinkenden Erträgen verursachten stationären Zustands. "Die Klassik" war weder nur dynamisch noch nur statisch, und der stationäre Zustand taucht als spekulative Prognose ebenso auf wie als analytisches Werkzeug. Man kann selbstverständlich eine dynamische Wachstumstheorie und gleichzeitig eine statische Verteilungsanalyse vertreten. Die Klassik kennt ontologische und analytische Stationarität. Im Hinblick auf den ökologischen Steady-State ist die ontologische Bedeutung die interessantere, insbesondere im Hinblick auf die sozioökonomische Umwelt, die für die Klassiker und ihre Zukunftserwartungen prägend war. Die ökonomischen Klassiker hatten keine Vorstellung von der bevorstehenden industriellen Revolution, und dies hängt mit ihrer Vision des Wirtschaftsprozesses zusammen.
7.3.6. Klassische politische Ökonomie und die industrielle Revolution
"To falsify the expectations of the classical economists required an
industrial revolution, the burgeoning of a new economic regime."
(Wrigley 1988, 50)
Das 18. Jahrhundert markiert, wie oben (Kapitel 6) gezeigt, einen historischen Bruch, und zwar nicht nur in sozialer und wirtschaftlicher, sondern auch in ökologischer Hinsicht. Dieses Jahrhundert war eines der "allgemeinen wirtschaftlichen Beschleunigung" (Braudel 1986, 30), und diese Beschleunigung konnte nicht folgenlos für die natürliche Umwelt bleiben. Die An- oder Einsicht freilich, daß sich "die Industrielle Revolution bereits lange vor dem 18. Jahrhundert angekündigt hatte" (Braudel 1986, 47; s. auch Boulding 1973b, 316), ist nur im Nachhinein möglich. Für Braudel (1986, 93) ist die industrielle Revolution "das Beispiel einer langsamen Bewegung par excellence, die am Anfang kaum zu spüren war. Adam Smith, zum Beispiel, lebte inmitten der ersten Anzeichen dieser Revolution und hat sie dennoch nicht bemerkt" (Hervorhebung dort). Auch Malthus' Theorie gilt als gescheitert und historisch widerlegt (Schefold/Carstensen 1994, 71; Swan 1956, 341f.; Stapleton 1986, 26; Wrigley 1986, 4). Das Scheitern der klassischen Prognose eines stationären Zustands wird immer wieder hervorgehoben, wie einige Kostproben belegen: "At the height of the industrial revolution, when great technological advances were crowding hard upon one another, the main tradition of classical economics treated the state of the arts as a datum. The arts were held to be subject to sporadic improvements, but not of a magnitude comparable to the force of diminishing returns in agriculture. Here, then, the almost overwhelming characteristic of economic life was excluded from economic theory" (Stigler 1965a, 19). "Neither Ricardo nor Malthus took account of the industrial revolution going on just outside their windows" (Dorfman 1991, 577). "Smith was the economist of preindustrial capitalism (...) For although he saw an evolution for society, he did not see a revolution – the Industrial Revolution" (Heilbroner 1986, 72).
Smith, so Salin (1967, 70f.), war "Zeitgenosse nur des Anbruchs, nicht der Durchführung der industriellen Revolution", und er wußte "zu viel von der Bedeutung der neuen Wirtschaftsform, um sich der agraren Einseitigkeit der Physiokraten zu verschreiben." Auch wenn sich Smith zum stationären Zustand äußert: "His vision was of an advancing national community, not a stagnant or declining one" (Galbraith 1971, 23). Auch Wilson (1975, 601) meint, daß "Smith's starting point was the remarkable growth that had already taken place, even by the latter part of the eighteenth century, in the wealth of nations." Zu Smiths Zeiten war Landwirtschaft weitaus wichtiger als die Industrie (Eltis 1975, 430f.), und die Landwirtschaft war bereits in einer Phase drastischer Veränderungen (Bladen 1974, 15) – Smiths Leistung besteht nicht zuletzt darin, in diesem Kontext die Bedeutung des Manufaktursektors erkannt zu haben (Heilbroner 1988, 142; Walsh 1992, 13). Die industrielle Revolution veränderte das Wirtschaftsleben in einer viel dramatischeren Weise, als Smith dies sehen konnte (Immler 1985, 172). Smith "wrote at the very inception of the industrial revolution, and therefore could have no idea of how violently manufacturing and transportation were about to be transformed" (Dorfman 1991, 575; meine Hervorhebung). Smith schrieb zwar im Kontext einer zunehmenden Kommerzialisierung des Wirtschaftslebens, doch "the great technological transformations of nineteenth-century industrialism were yet to come" (Benton 1995, 145; s. auch 146). Technischer Fortschritt spielte für Smith zwar eine Rolle, aber damit war vor allem eine zunehmende Arbeitsteilung gemeint und nicht die technologischen Innovationen, die für die industrielle Revolution und die Zeit danach so charakteristisch sind (Mokyr 1990, 245; Lowe 1975, 419f.).
Warum aber lagen die Klassiker mit ihren Prognosen so grundfalsch? Die Standarderklärung hierfür ist die "Blindheit" der Klassik für technologische Veränderungen, und hier liegt in der Tat ein Teil der Erklärung. Eine andere – und für diese Arbeit außerordentlich wichtige – Erklärung liegt auf "ökologischer" Ebene, nämlich bei der Nutzung von Rohstoffen. Dieser Aspekt ist eng mit technischen Entwicklungen verknüpft, weist aber über sie hinaus. Das Interessanteste an der pessimistischen Vision – z.B. von Malthus und Ricardo – sei, so Schumpeter (1965, 697f.), "das völlige Fehlen schöpferischer Vorstellungskraft. Diese Autoren lebten an der Schwelle der großartigsten wirtschaftlichen Entwicklung aller Zeiten. Unter ihren Augen reiften große Möglichkeiten zur Wirklichkeit heran. Sie aber sahen nichts als eine verkrampfte Wirtschaft, die mit stetig rückläufigem Erfolg um ihr tägliches Brot kämpft. Sie waren überzeugt, daß der technologische Fortschritt und die Kapitalvermehrung das schicksalhafte Gesetz der abnehmenden Erträge letzten Endes nicht überwinden könnten. (...) (S)ie alle waren Stagnationisten. Oder, um ihre eigenen Worte zu gebrauchen, sie alle erwarteten für die Zukunft den Übergang in einen stationären Zustand, der hier nicht mehr analytisches Werkzeug ist, sondern eine in der Zukunft liegende Wirklichkeit." Samuelson (1978, 1428) schreibt in seinem vielzitierten und bereits erwähnten Aufsatz über das klassische Modell: "The classisists earned for our subject Carlyle's title of the dismal science precisely because their expositions erred in overplaying the law of diminishing returns and underplaying the counterforces of technical change. They lived during the industrial revolution, but scarcely looked out from their libraries to notice the remaking of the world." Noch weiter geht Blaug (1985, 698): "(D)espite the knowledge that population was no longer 'pressing' upon the food supply; that 'agricultural improvements' were winning the race against numbers, that the rise of productivity in agriculture was steadily reducing the real cost of producing wage goods, the classical writers clung to a belief in the imminent danger of natural resource scarcities" (meine Hervorhebung).
Galbraith (1971, 30) dagegen vertritt die Auffassung, daß "it is hard to think that economists ever came much closer to interpreting the world in which they lived that did Smith, Ricardo and Malthus." Wrigley (1987, 35, Fn. 43) bemerkt in diesem Zusammenhang, daß "Samuelson's writings illustrate the danger of exploiting the benefit of hindsight without giving sufficient weight to circumstances in the past." Es habe Smith, Ricardo und Malthus durchaus nicht am Kontakt zu praktischen ökonomischen und politischen Problemen ihrer Zeit und ihres Landes gefehlt: "It is closer to the truth to regard their immersion in the affairs of a world still deeply affected by the constraints of all pre-industrial economies as an obstacle to making the leap of imagination, one might almost say of faith, necessary to detect a new world in embryo, rather than as a source of knowledge about the future" (Wrigley 1987, 35, Fn. 43).
Heilbroner (1986, 316) sieht wie viele Autoren den Grund für das Ausbleiben der klassischen Prognose in der Unterschätzung des technischen Fortschritts: "A major reason that applies particularly to the work of the earlier economists was their failure to anticipate the advent, or the consequences, of technological change." Dies gelt für alle Klassiker: "The essential omission from Smith's understanding then – and from that of Ricardo and John Stuart Mill – was the failure to perceive the intensity and ubiquity of the search for technological change as an intrinsic part of the regime of capital, a search that could not guarantee the success of its efforts, but that would infuse the system with a momentum unlikely to end because it had exhausted the possibilities of any given technical structure. It was Marx who saw the power of this inherent source of socioeconomic change, and who perceived the implications for the changeful logic of a system founded on so protean an element of its nature" (Heilbroner 1988, 164; zur Unterschätzung technischer Möglichkeiten durch die Klassiker s. auch Mokyr 1990, 81; Nordhaus 1973, 1156).
Heute erscheint andauerndes Wirtschaftswachstum als Normalität, und dies ist gewiß nicht die Perspektive der ökonomischen Klassiker gewesen. Sie sahen Wachstum, aber sie sahen in gleicher Deutlichkeit einen unausweichlichen stationären Zustand. Smith beispielsweise "held to a model of growth that was asymptotic in character rather than exponential. Substantial achievement was possible but is was necessarily limited" (Wrigley 1988, 48; meine Hervorhebung). Aus Smiths Sicht war also das zu erwartende Ergebnis des Modernisierungsprozesses asymptotisches – begrenztes – Wachstum (s. auch Wrigley 1987, 58, 72). Im Hinblick auf die langfristigen Aussichten hinsichtlich Wirtschaftswachstum vertritt Smith eine Position, die kaum anders als dezidiert pessimistisch bezeichnet werden kann (s. auch Wrigley 1988, 47), was auch an seiner Wahrnehmung der Landwirtschaft lag. Die späteren technologischen Veränderungen in der Landwirtschaft wurden von Smith nicht vorhergesehen (Benton 1995, 166).
Von entscheidender Bedeutung für die "Years of Miracles" (Mokyr 1990, 81) war die Verbindung von (natur-)wissenschaftlichem Fortschritt und Produktion, worauf z.B. Hicks (1969, 145) hinweist: "It is science, especially physical science, which has opened up such seemingly illimitable prospects for industry." Die wissenschaftlich-technische Revolution ist in der Tat eine der wesentlichen Ursachen der industriellen Revolution und der ihr folgenden rapiden Expansion anthropogener Umwelteingriffe. Diese wurde von den Klassikern nicht gesehen. Zwar waren die klassischen Ökonomen ein Produkt und ihre Werke Ausdruck der Aufklärung. "But the Enlightments's systematic, analytic engine, the scientific method, was just starting to evolve. A method of discovery was being discovered. It is not hard to understand why the classical economists could not grasp fully the implications of this other product of the Enlightenment" (Ayres/Kneese 1971, 18).
Eine für die Produktivitätssteigerungen der industriellen Revolution entscheidende Veränderung wurde von den Klassikern nicht berücksichtigt: die Verwendung neuer Energiequellen. Wrigley (1987, 37) vertritt die Auffassung, daß die Nichtberücksichtigung dieses Faktors die Vorhersage des stationären Zustandes erklärt: "Their pessimism about long-term economic prospects, their views on real wage trends, their insistence on the strictness of the limits to growth should be understood to be closely linked to their implicit belief that the only major sources of energy in the production process were all animate" (meine Hervorhebung). Mit dem Übergang zur Verwendung abiotischer Rohstoffe änderten sich aber die Bedingungen wirtschaftlicher Entwicklung auf grundlegende Weise (s. Kapitel 6). "The fear that rising marginal costs of raw material production would hamper and eventually arrest industrial growth for the same reason that the price of food must eventually rise had haunted the classical economists. A predominantly mineral-based industry rendered such fears irrelevant" (Wrigley 1987, 38; meine Hervorhebung).
Für die Prognose des stationären Zustands ist die klassische Behandlung des Bodens als Produktionsfaktor von entscheidender Bedeutung. Hirsch (1976, 19) meint, daß "the limited availability of land was the centerpiece of classical economics" und auch Swan (1956, 339) sieht in den begrenzten Bodenkräften "a characteristic feature of the classical model" – eine für die aufkommende mineralische Wirtschaft scheinbar nicht angemessene Sichtweise. "The consideration that caused the classical economists to exercise so much caution in assessing future growth was their thinking about the land. The surface area of the earth was indisputably incapable of expansion, as was any sub-category of the surface, such as cultivable land" (Wrigley 1988, 4). Die Eigenschaften landwirtschaftlicher Aktivitäten (z.B. zeitliche und räumliche Inflexibilität, "natürliche" Rhythmen der Pflanzen- und Tierproduktion, Bedeutung der Jahreszeiten) geben der Agrarproduktion spezielle Charakteristika (Benton 1995, 160). Diese Eigenschaften kontrastieren mit einer auf abiotischen Rohstoffen gründenden Industrieproduktion, deren wesentliches Merkmal ja der Zugriff auf Inputs ist, deren Nutzung zumindest kurzfristig nicht durch natürliche Zeitmaße beschränkt ist. "Declining marginal returns on the land meant the extinction of any hope of the type of growth which in hindsight was to be christened an industrial revolution" (Wrigley 1987, 10; s. auch 27). Natürlich, und das sieht auch Wrigley (1994, 36), sahen die Klassiker in den Begrenzungen einer organischen Wirtschaft nicht den wichtigsten Grund für Armut und niedrige Produktiviät in der Vergangenheit.
Über die Begrenztheit des Wachstums bestand zwischen Smith, Malthus, Ricardo und ihren Zeitgenossen, wie oben gezeigt, Einigkeit: "All rejected the possibility of general exponential economic growth because the supply of cultivable land was limited and increasing its productivity tended to require large and larger inputs of other production factors to secure a unit increase in output" (Wrigley 1986, 4). Den Grund hierfür sieht Wrigley (1986, 4) darin, daß "(t)here was no warrant in past experience for the belief that such a radical break [wie die industrielle Revolution; FL] could occur, and abundant evidence of the extreme difficulty of securing it." Wrigley weist darauf hin, daß keiner der klassischen Ökonomen eine industrielle Revolution für möglich hielt, und zwar genau aufgrund der oben genannten Abhängigkeit von biotischen Rohstoffen und damit von der Bodenproduktivität. Die Klassiker gingen – wenn auch mit unterschiedlicher Bewertung dieser Entwicklung – davon aus, daß früher oder später ein stationärer Zustand erreicht würde: "Declining individual productivity, lowered real wages, depressed profits, all imposed by the laws of nature, are scarcely grounds for entertaining an industrial revolution even as a remote possibility" (Wrigley 1987, 34). Für die ökonomischen Klassiker, "the momentum of growth was to be expected to peter out after a time, arrested by changes endogenous to the growth process itself, and giving rise in due course to the supervention of the stationary state" (Wrigley 1988, 3; meine Hervorhebungen).
Wrigley meint, daß die Sichtweise der Klassiker darauf zurückzuführen ist, daß sie von der Abhängigkeit des Wirtschaftsprozesses von biotischen (also regenerierbaren) Rohstoffen ausgingen. Eine "organische Wirtschaft" kann bestimmte Wachstumsgrenzen nicht überschreiten. "It was their appreciation of these constraints which led the classical economists to make use of the concept of the stationary state as a device to epitomize the nature of the limits to growth, and to disbelieve in the possibility of a radical and permanent upward movement in real wages" (Wrigley 1988, 34). Ein wesentliches Charakteristikum der industriellen Revolution war, daß sie zu einer Abhängigkeit von abiotischen Rohstoffen führte bzw. auf der Nutzung dieser Rohstoffe beruhte. In den Augen der klassischen Ökonomen, so Wrigley, "virtually all the raw materials of industry were either animal or vegetable in origin so that industrial expansion, just like population growth, posed insuperable raw material supply difficulties if carried beyond a certain point, hard to identify no doubt, but part of the rational expectations of well-informed men. (...) Societies might reasonably expect to make progress to a plateau of economic prosperity well in advance of that attained in feudal times, but had no hope of indefinite progress" (Wrigley 1987, 29; meine Hervorhebungen; s. auch 1988, 26). Smiths und Ricardos System waren durch Mechanismen gekennzeichnet, die als negative Rückkopplungen interpretiert werden können (Wrigley 1987, 44). Die Aufhebung der negativen Rückkopplungsmechanismen der organischen Wirtschaft durch den Übergang zur mineralischen Wirtschaft wurde von den Klassikern nicht gesehen (Wrigley 1994, 40). Der Übergang zur mineralischen Wirtschaft hat auch fundamentale Veränderungen im Agrarsektor zur Folge, und dies führt dazu, daß selbst in der Landwirtschaft "declining marginal returns no longer apply, or apply only in a radically modified form" (Wrigley 1988, 30). Aus Sicht der Klassiker versorgt das Land die Städte nicht nur mit Nahrung, sondern auch mit zur Produktion erforderlichen Rohmaterialien: "It was common to Adam Smith, Malthus and Ricardo not only to accept that men would naturally multiply in proportion to the means of their subsistence, but also to suppose that the land was the predominant source of industrial raw materials no less than food" (Wrigley 1987, 28f.; s. auch 1988, 18). Die Bedeutung der Bodenproduktivität für alle produktiven Aktivitäten wird in den Schriften der Klassiker erkannt (Wrigley 1988, 19). Wachstumsprozesse spielen in der klassischen Analyse zwar eine zentrale Rolle, ein Ende des "organischen" Systems wird aber nirgends angedeutet. In den Schriften der Klassiker, "(i)t is an implicit assumption (...) that the constraints imposed by a universal dependence on organic raw materials were severe and permanent" (Wrigley 1988, 23). Unbegrenzter Fortschritt im Sinne von Wachstum schien unter der Prämisse des Einsatzes von biotischen Rohstoffen undenkbar. Während zunehmende Arbeitsteilung und der Einsatz von Maschinen von den Klassikern klar erkannt wurden, "the crucial significance of the scale and type of energy employed in the productive process was not discussed by them" (Wrigley 1987, 37; s. auch 1988, 75). Letztlich hat also die Annahme, daß nur biotische Rohstoffe als Energieträger verfügbar seien, zum Ergebnis geführt, daß die wirtschaftliche Entwicklung einem stationären Zustand entgegenstrebe (Wrigley 1987, 37).
Vor dem Hintergrund des Übergangs von der "bodengebundenen" organischen zur mineralischen Wirtschaft, der zu den Zeiten von Smith, Malthus und Ricardo zumindest nicht als umwälzendes Phänomen zu erkennen war, wird also die Gewißheit der Klassiker verständlich, ein stationärer Zustand sei unabweisbar. Wie gezeigt, ist Mills Position zu diesem Problem eine andere als die der anderen Klassiker, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Bewertung des stationären Zustands, sondern auch hinsichtlich des Erkennens technischer Veränderungen im Produktionsprozeß. Hat Mill also, wie Rostow (1990, 115) meint, Zeitverlauf und Ursachen des britischen "Take-off" richtig eingeschätzt? Wrigley (1988, 25) meint, daß die "radical nature of the change in the basis of economic growth then in train escaped him." Dennoch lebte er in einer anderen sozioökonomischen und technischen Umwelt als die anderen Klassiker, er erwähnt z.B. ausdrücklich technische Innovationen wie die Spinning Jenny und die Dampfmaschine (Mill 1965, 183). Smiths Wealth und Malthus' Essay sind Werke des ausgehenden 18., Ricardos Principles eines des frühen 19. Jahrhunderts. Mills Principles dagegen gehört angesichts der verschiedenen Auflagen bis zu Mills Tod im Jahre 1873 in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zwischen den ökonomischen Hauptwerken von Smith und Mill liegt knapp ein dreiviertel Jahrhundert, und zwischen den Principles von Mill und denen von Ricardo liegen mehr als drei Jahrzehnte. Angesichts der zu dieser Zeit sich vollziehenden Veränderungen liegen zwischen den klassischen Werken erhebliche Zeiträume. Im Hinblick auf die "Zeugenschaft" technischer Veränderungen ist es also trotz aller Gemeinsamkeiten problematisch, von der klassischen Einschätzung technischer Möglichkeiten zu sprechen. Die mineralische Wirtschaft war zu Mills Zeit bereits viel weiter vorgedrungen als zu der Zeit des Wealth of Nations, in der die organische Wirtschaft dominant war.
Die Klassiker haben nach vorherrschender Meinung die industrielle Revolution deshalb nicht gesehen bzw. ihre Wirkungen unterschätzt, weil sie die wachstumsbeschränkenden Wirkungen der Kombination von Bevölkerungsentwicklung, Bodenknappheit und sinkenden Erträgen überschätzten, während sie die Möglichkeiten des technischen Fortschritts unterschätzten. Vor dem Hintergrund der Differenzierung zwischen organischer und mineralischer Wirtschaft zeigt sich, daß diese Differenz für alle diese Faktoren von entscheidender Bedeutung ist. Wenn im Wirtschaftsprozeß nicht mehr nur auf biotische Rohstoffe zurückgegriffen werden muß, verlieren einerseits sinkende Erträge ihren Schrecken und werden andererseits erst die technologischen Durchbrüche möglich, die die industrielle Revolution und die auf sie folgenden Wachstumsprozesse ermöglichten. Die Beschränktheit auf eine organische Wirtschaft und die Unterschätzung des technischen Fortschritts machen die Klassik scheinbar ungeeignet für die Analyse von Wachstumsprozessen. Bleibt die Frage, was aus der klassischen Analyse für den ökologischen Steady-State zu lernen ist.
7.3.7. Wie "ökologisch" ist der klassische stationäre Zustand?
"Malthus's problem of finding sufficient 'subsistence' – food, principally – has been replaced
by the much more formidable challenge of finding sufficient absorptive capacity for the
exponentially growing inventory of human-generated wastes."
(Hardin 1991, 52f.)
Die Klassiker haben sich nicht zu "ökologischen" Fragen geäußert. Im Gegenteil: Mit der Klassik verschwindet die Natur "als Kategorie der ökonomischen Theorie" (Immler 1985, 128). Freilich konnten die Klassiker – übrigens auch die Physiokraten – sich zu "ökologischen Problemen", wie sie heute verstanden werden, schon deshalb nicht äußern, weil derartige Probleme außerhalb ihres gesellschaftlichen und theoretischen Hintergrunds lagen. Dennoch wird immer wieder auf die Klassik zurückgegriffen, wenn es um Umweltfragen geht. Daly beruft sich auf die Klassiker, und die einflußreichste neoklassische Studie zum Thema Ressourcenknappheit (Barnett/Morse 1963) beruft sich bei der Unterscheidung verschiedener Knappheitsbegriffe auf Malthus und Ricardo.
Sind die Ecological Economics und der Dalysche Steady-State Ausdruck eines "Neomalthusianismus"? Bei der Beantwortung dieser Frage ist zunächst zu berücksichtigen, daß dieser Begriff schon vor den ökologischen Debatten der 1960/70er Verwendung fand, und zwar im 19. Jahrhundert. Das "contraceptive movement" hatte im Laufe der Zeit an Einfluß gewonnen, und die Befürworter von Empfängnisverhütung wurden Neo-Malthusianer genannt (Bladen 1974, 137). Dies ist nicht ohne Ironie, denn damit wurde dieser Begriff "coined to denote the very behaviour Malthus had consistently disapproved" (Gilbert 1993, xxi; s. auch Winch 1992, xiv), denn Malthus lehnte den Einsatz von Verhütungsmitteln in der Ehe ab.
Spätestens seit den 1970er Jahren bedeutet Neomalthusianismus etwas anderes. Malthus gilt ganz allgemein als der Übervater all jener, die sich um die "Grenzen des Wachstums" sorgen. Malthus' Essay, so Ophuls/Boyan (1992, 3), "was the first explicit statement of the environmental limits on human activity." Die Grenzen des Wachstums sind für Nordhaus (1992a, 1) Teil eines "long intellectual cycle of pessimism about economic growth that originated with Reverend T.R. Malthus in the early 1800s", für Harborth (1991, 17) ist Malthus gar "der unbestrittene Vater der sogenannten 'Weltmodelle'" à la Forrester und Meadows. Hirsch (1976, 19) spricht im Zusammenhang mit Malthus von der "first round of ecological pessimism", Hampicke (1992, 129) mit Blick auf die ökologische Debatte der 1970er vom "neomalthusianischen 'Doomsday'-Pessimismus" (meine Hervorhebung). Malthus' Essay, so Barnett/Morse (1963, 52), "may be credited with having widely propagated the belief that natural resource scarcity impairs economic growth." Daß (ökologische) Knappheit eine Wachstumsgrenze darstellt, ist, wie gesagt, Kern des Dalyschen Arguments für die Notwendigkeit eines Steady-State.
Heute ist der Name Malthus ein Symbol für die Warnung vor Überbevölkerung (Spiegel 1991, 284), wie Begriffe wie "Malthusian spectre" (Renshaw 1976, Ch. 10) oder "Malthusian trap" (Barnett/Morse 1963, 47) verdeutlichen. "His [Malthus'; FL] remains the classic apocalyptic voice on the subject. (...) 'Malthusian' has become a pejorative to designate those deemed overly alarmed about population and the environment" (Gilbert 1993, xxiv; meine Hervorhebungen) – Gilbert bezieht den Begriff also auf Positionen, die aus seiner Sicht "überzogen" sind, er verweist in diesem Zusammenhang auf Die Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1990), Ehrlichs (1971) Bevölkerungsbombe und auf die Arbeiten des World Watch Institute (s. z.B. Brown 1993). Als Anti-Malthusianer zitiert er Simon (s. z.B. Simon/Kahn 1984). In Kapitel 4 wurde bereits auf den Umstand hingewiesen, daß "Ökologen" oft eine "pessimistische" Haltung einnehmen, während Ökonomen oft "optimistische" Positionen vertreten. Gilbert (1993, xxv) sieht hier eine Parallele zu der Auseinandersetzung zwischen Malthus und seinen "fortschrittsoptimistischen" Kritikern: "Much like the 'unamicable contest' between the perfectibilists and their opponents in the 1790s, the debate between the Malthusian pessimists (mainly ecologists) and the anti-Malthusian optimists (mainly economists) rages on" (meine Hervorhebungen). Der "malthusianische" Charakter des LTG-Modells wird immer wieder hervorgehoben (s. z.B. Nordhaus 1973, 1157). Die Warnungen von Forrester und Meadows et al. vor den Folgen exponentiellen Wachstums sind in der Tat wenig mehr als eine moderne Version von Malthus' "geometrical ratio". Auch die von Malthus dargestellte Interaktion von Reallohn, Bevölkerung und Hemmnissen kann als Rückkopplungssystem ("feedback system") interpretiert werden (Wrigley 1986, 5f.), und das LTG-Modell weist in der Tat große Ähnlichkeiten zu Malthus auf.
Der aktuelle Neomalthusianismus geht aber im verschiedener Hinsicht über Malthus hinaus. "NeoMalthusians argue that, since resources grow only arithmetically if at all, our exponential growth in population and in consumption levels is bound to bring us up against scarcity, shortages (even widespread famine) and the destruction of life on the planet. (...) NeoMalthusians also added new force to the Malthusian tradition by incorporating into it an awareness of the fragility of the ecological balance upon which all life depends" (Matthaei 1984, 83; ihre Hervorhebung). Von ausgewiesenen Neomalthusianern – den Ehrlichs (Ehrlich/Ehrlich 1991) – popularisiert, erscheinen in der vielzitierten IPAT-Formel neben der Bevölkerung die Faktoren Technologie und Wohlstand als entscheidende Determinanten für die Umweltbelastung. Ein weiterer offensichtlicher Unterschied zu Malthus liegt in der aktuellen Senkenproblematik, die für Malthus keine Rolle spielte. "Malthusianisch" ist dieses Problem auch deshalb, weil kaum Möglichkeiten bestehen, die Senkenkapazität der Umwelt zu steigern. Matthaei (1984, 92, En. 3 u. 4) zählt z.B. Georgescu-Roegen, Daly, Ehrlich und Meadows zum aktuellen Neomalthusianismus. Daly sieht sich selbst als Neomalthusianer, und Georgescu-Roegen (1966, 102) sieht Malthus gar durch thermodynamische Erwägungen bestätigt: "Malthus alone argued that there is also an interconnection between the biological growth of the human species and the economic process. Economists in general have rejected his doctrine because to this day they have failed to see that, in spite of his unfortunate choice of expressing it, Malthus was in essence right. This can be immediately seen from our entropic analysis of the economic process" (meine Hervorhebung; s. auch Georgescu-Roegen 1971, 317). Die meisten Ökonomen gehen allerdings davon aus, daß heute ein Malthusianischer Pessimismus nicht angebracht sei – angesichts technologischer Durchbrüche wie der "Grünen Revolution" könne man auch im Hinblick auf die Bevölkerungsfrage optimistischer sein (Heilbroner 1986, 91). In der Tat haben sich, wie bereits hervorgehoben, die technischen Bedingungen nicht nur des Zusammenspiels von Bevölkerung und Nahrungsmittelproduktion seit Malthus' Zeiten grundlegend verändert.
Gleichwohl wird oft betont, daß Malthus die Bevölkerungsentwicklung einer vor-industriellen Gesellschaft letztlich richtig analysiert habe (z.B. Winch 1992, xiii). "Modern apologists for Malthus have argued that technological progress in the West has 'postponed' the Malthusian result, while exploding population growth in the poorer or 'underdeveloped' countries vindicates his prediction. But if population growth is regulated by the food supply or by the potential cost of production in agriculture, then it is precisely the West which should have the more rapidly increasing population" (Sowell 1994, 94f.). In der Tat, die Bevölkerungsentwicklung in den Industriestaaten hat Malthus' Befürchtungen gewiß nicht bestätigt. Dies ändert aber wenig an der Tatsache, daß die Nahrungsmittelproduktion – und die Carrying Capacity – eine für die Lebensqualität entscheidende Determinante bleibt. "In essence Neo-Malthusianism rests on the Malthusian principle that population cannot exceed resources without famine or desease providing natural checks on population growth. In the view of Neo-Malthusians recent successes in reducing mortality rates, especially dramatic in many Third World countries, have given added importance to the Malthusian edict" (Redclift 1987, 9; s. auch Nordhaus 1973, 1156). Daß die ökologische Bedrohung auf globaler Ebene durchaus "malthusianische Züge" zeigt, verdeutlicht das Verhältnis von Boden und Bevölkerung: Alle 15 Sekunden werden 44 Menschen geboren – und in derselben Zeit geht ein Hektar landwirtschaftlich nutzbare Fläche verloren (UNFPA 1991, 72).
Zu berücksichtigen ist auch, daß Malthus Bevölkerungswachstum und einer großen Bevölkerung als solcher nicht negativ gegenüberstand (Spiegel 1991, 278). Ihm ging es vielmehr um die negativen Konsequenzen einer zu großen Bevölkerung, namentlich um "vice" und "misery". Dies ist im Falle des aktuellen Neomalthusianismus anders. Ein offensichtlicher Bezug zur aktuellen Diskussion liegt allerdings darin, daß Malthus – modern formuliert – argumentiert, daß die Carrying Capacity der Erde das Bevölkerungswachstum beschränkt. Wenn Malthus (1992, 15, 17) schreibt, daß "population can never actually increase beyond the lowest norishment capable of supporting it" und daß "(m)an is necessarily confined in room", sind die Bezüge zu aktuellen Debatten über Carrying Capacity und Umweltraum offensichtlich. Bezüge – mehr nicht, denn Konzepte wie Carrying Capacity und Umweltraum existierten zu Malthus' Zeiten nicht.
Die Wirkung von Malthus und Ricardo geht weit über ihre theoretische Leistung hinaus: "They changed the viewpoint of their age from optimism to pessimism" (Heilbroner 1986, 103; s. auch Hansen 1939, 3; Schumpeter 1965, 697). Im bezug auf den stationären Zustand heißt das, daß – während Smith diesen als zwar unerfreuliche aber nicht nahe Erwartung formulierte – Malthus und Ricardo die Notwendigkeit dieses Zustandes zeigten. Alle drei - Smith, Malthus, Ricardo - sahen in der Stationarität eine unerfreuliche Zukunftsperspektive. Ricardo verdankt seinen Ruf als Pessimist in der Tat seinem stationären Zustand (Schumpeter 1952, 91), und mit Ricardo und Malthus, "the notion of massive privation and great inequality became a basic premise" (Galbraith 1971, 25). Fortschritt würde das Los weniger verbessern, nicht aber die Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten erreichen (Galbraith 1971, 33). In dieser Hinsicht besteht ein fundamentaler Unterschied zu John Stuart Mill. Mills Optimismus ist durch seine Einschätzung, Bevölkerungswachstum ließe sich beeinflussen, ebenso zu erklären, wie durch den Umstand, daß er klarer als andere Klassiker das Potential technischen Fortschritts erkannte (wenn er auch die tatsächliche Entwicklung unterschätzte).
Aber sind die anderen Klassiker wirklich als Pessimisten zu bewerten? Die Wünschbarkeit von Wachstum und die Furcht vor dem stationären Zustand hängt wesentlich von der Einschätzung der Bevölkerungsentwicklung ab (s. auch Falkinger 1986, 39). Wie gezeigt, gilt dies für Smith und Malthus ebenso wie für Ricardo, der von der Richtigkeit des Malthusschen Bevölkerungsprinzips überzeugt war, und dies zur Grundlage seiner Verteilungstheorie machte. Smith erschien der stationäre Zustand nur deshalb als "dull", weil er von einem bestimmten Zusammenhang von Bevölkerung, Lohnhöhe und Lebensstandard ausging. Wachstum ist nicht als Wachstum erwünscht, sondern weil es Grundbedingung dafür ist, daß die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung sich nicht verschlechtern. Bei nicht wachsender Bevölkerung entsteht eine völlig andere Situation. "Nicht ständig steigender Wohlstand per se ist erwünscht, sondern eine Niveauanhebung des Lebensstandards der Massen, und dazu ist fortgesetztes Wachstum notwendig. (...) Bei stationärer Bevölkerung oder auch schon bei schwächerem Bevölkerungsdruck löst sich das scheinbare Paradoxon – ständig steigender Gesamtwohlstand als unabdingbares Mittel zur Erreichung eines zufriedenstellenden Wohlstandsniveaus pro Kopf –, und die Erwünschtheit eines zufriedenstellenden Wohlstandsniveaus für alle tritt klarer hervor, während diejenige von fortgesetztem Wachstum in den Hintergrund rückt" (Falkinger 1986, 40f.; s. auch 44). Bei stabiler Bevölkerung und entsprechender Einkommensverteilung ist der progressive Zustand nicht mehr notwendige Bedingung für eine Erhöhung des Lebensstandards der arbeitenden Bevölkerung. Der progressive Zustand erschien den Klassikern also unter zwei Voraussetzungen notwendig: Das Bevölkerungswachstum folgt der Lohnentwicklung und die Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung sollen sich nicht verschlechtern.
Der von den Klassikern postulierte Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Bevölkerungswachstum schloß eine Erhöhung des Pro-Kopf-Realeinkommens für breite Bevölkerungsschichten geradezu definitionsgemäß aus (Wrigley 1987, 5). Erst durch das veränderte Reproduktionsverhalten (Kontrolle der Geburten innerhalb der Ehe statt durch Ehe) wurde dieser Zusammenhang durchbrochen. Eine Verbesserung der Lebensbedingungen führte nun statt zu einer Steigerung der Geburtenrate zu deren Reduktion (Wrigley 1987, 43; s. auch 1988, 31f.). Grundsätzlich gilt: Im klassischen stationären Zustand herrscht Vollbeschäftigung bei Subsistenzlohn und stabiler Bevölkerung, die Profitrate tendiert gegen Null, folglich gibt es keine Kapitalakkumulation. Sämtliche Klassiker gingen freilich nicht von einem physisch determinierten Subsistenzlohn aus – die Höhe des "natürlichen" Lohns war im Gegenteil vom geschichtlichen, kulturellen und geographischen Kontext abhängig. (78) Im seinem Lohnkapitel, so Robbins (1930, 199), mache Ricardo deutlich, daß "for him the 'natural wage' is not so much a wage which enables the labourer to subsist and bring up the conventional family, as a wage which induces him to do so. It is not a physiological so much as a psychological variable" (seine Hervorhebungen). Wenn das Subsistenzniveau aber historisch kontingent ist, wird der oft geäußerte Vorwurf des "Pessimismus" fragwürdig. "If subsistence is a function of 'habit and custom', as Ricardo was to emphasize, and not just a biological minimum, the statement that wages are at subsistence has no specific implications for the desired level of population. This should dispel the notion, which is the small coin of popular social histories, that the classical economists were 'pessimists' simply because they believed that wages tend to be held at subsistence" (Blaug 1985, 74; s. auch Schumpeter 1924, 92). Bei Ricardo ist es auch ohne Wachstum möglich, die Lage der Arbeiter dauerhaft zu verbessern – nämlich dann, "wenn das sozio-kulturell bestimmte Subsistenzniveau steigt; sie [die Arbeiter; FL] bleiben zwar am Subsistenzniveau, aber dieses ist höher" (Falkinger 1986, 38). Die undifferenzierte Zuweisung einer pessimistischen Weltsicht an die Klassiker ist also ungerechtfertigt. Es wäre aber ebenso unpassend, die Einschätzung der Zukunftsaussichten für die arbeitende Bevölkerung als optimistisch zu bewerten. Es wäre verfehlt, sich den klassischen stationären Zustand als für die Arbeiter "gute" Situation vorzustellen, wenn man damit umfassende Reallohnerhöhungen meint: Die Klassiker gingen definitiv nicht von umfassenden Lohnsteigerungen im stationären Zustand aus.
Für Malthus, so Salin (1967, 78), ist die Ökonomik "eine Lehre vom Menschen, genauer: vom Verhältnis von Reichtum und Mensch" – die Parallele zu Dalys Vorstellung der Economics as a life science ist offensichtlich. Daly versteht sich selbst als Neomalthusianer (wie Formulierungen in 1991b, 267; 1996a, 129ff; Daly/Cobb 1994, 238f. deutlich machen) und äußert an einer Stelle, daß Malthus in ideologischer Hinsicht unbequem sei, daß aber "logically (...) Malthus cannot be got rid of" (1971, 30). Weitaus wichtiger als Malthus ist für das Verständnis von Dalys Konzept allerdings John Stuart Mill. Mit Blick auf Mills Vision von Stationarität bemerkt Barbier (1989, 31, En. 53), daß "(o)f all the modern theorists on natural-resource scarcity, particularly those adherents to the more alternative view, Daly ([Referenz]) has followed Mill's conclusion the most rigorously by arguing that a stationary economic state is the necessary condition for ensuring the preservation of essential 'natural' services." Georgescu-Roegen (1977c, 266) nennt Dalys Steady-State (und auch Bouldings "Raumschiff") eine "recently revived version of an old theme of John Stuart Mill (...), according to which ecological salvation lies in a steady-state mankind." Mill, den Daly (1973d, 119) als "the early originator of the concept of a 'stationary state'" bezeichnet, ist in der Tat der für sein Konzept wichtigste Autor. In der programmatischen Introduction wird der berühmte Abschnitt On the Stationary State aus den Principles (Mill 1965, 752 – 757) ausführlich zitiert und dient als Ausgangspunkt von Dalys Erörterungen (Daly 1993a, 27f.). Bei seiner Forderung nach einem Paradigma, daß die physische, soziale und moralische Dimension von Wissen zu integrieren vermag, beruft Daly (1993e, 357) sich auf Mill, dessen Vorstellung vom stationären Zustand ein solches Paradigma biete. Mills Stationary State bietet also gleichsam die Folie, auf der Daly seinen ökologisch, ethisch und ökonomisch begründeten Steady-State für die (post-)moderne Welt entwickelt. Daly (1974, 16) behauptet, daß "the fundamental idea [Dalys Steady-State-Konzept; FL] is found in John Stuart Mill's discussion of the stationary state of classical economics."
In der Nähe zum klassischen stationären Zustand könnte auch ein Grund dafür liegen, daß Daly lange an der – aus ökologischer Sicht problematischen – "bestandsorientierten" Definition festgehalten hat: Er orientierte sich am stationären Zustand der Klassik. Die "flußorientierte" Definition hat mit der klassischen Stationarität nichts zu tun – kein Klassiker verfügte über ein Konzept wie "Material- und Energiedurchsatz". Die größte Nähe zum ökologischen Steady-State ist bei Mills Stationary State dddds e
zu konstatieren, den Daly ja auch als wichtigste Inspirationsquelle nennt. Die Nähe zu Mill zeigt sich beim Verhältnis von Verteilung und Produktion – Daly geht wie Mill davon aus, daß beide voneinander unabhängig gesteuert werden können – ebenso wie bei der Bewertung von Stationarität. Sowohl Mill als auch Daly stellen Stationarität als etwas zu Begrüßendes dar – beide bewerten den Steady-State als etwas Anstrebenswertes – hier liegt eine normative Gemeinsamkeit. Beide Konzepte heben sich damit von "Mainstream" zeitgenössischen Denkens ab: Ökonomisches Denken war zu Mills Zeiten von der Befürchtung von Stationarität geprägt, und heute ist ein "technologischer Optimismus" dominant, der Stationarität nicht nur als nicht wünschenswert, sondern gar nicht als zu befürchten ansieht. Zu den Unterschieden zwischen Mill und Daly: Bei Mill ist der stationäre Zustand notwendiger Endpunkt wirtschaftlicher Entwicklung, wenn er auch hofft, daß dieser Zustand Wirklichkeit wird, bevor er unvermeidbare Notwendigkeit wird. Der stationäre Zustand ist für Mill also das zu erwartende ungeplante Endergebnis wirtschaftlicher Entwicklung (so auch Levy 1987, 249). Er wird nach Mills Vorstellungen erreicht werden, ohne daß wirtschaftlich Handelnde oder politische Entscheidungsträger dies "wollen". Zwar hofft er, daß die Gesellschaft sich vorher mit einem stationären Zustand zufriedengeben wird, letztlich ist er aber ein unvermeidliches Ergebnis ökonomischer Entwicklung. Bei Daly dagegen ist der Steady-State ausschließlich Ergebnis einer bewußten Entscheidung. In Dalys Fall ergibt sich also ein Steuerungsproblem. Für beide ergibt sich die Kompatibilität von Stationarität und Fortschritt erst aus grundlegenden Gesellschaftsreformen, die in Mills Vision allerdings weitergehender sind als bei Daly. Mit Mill teilt Daly allerdings die Auffassung, daß Reformen möglich sind. Mill "appeared to believe that rational, properly educated agents could be led to see the ultimate advantages of stationarity as a socioeconomic destiny" (Oakley 1994, 229).
Aus Wrigleys (1987, 12) Sicht lag die Absicht der Klassiker nicht zuletzt darin, "to instruct their contemporaries about the limits to growth, about the nature of the pressures which must result in the 'stationary state'." Wrigley (1994, 30) meint, daß die Befürchtungen der Klassiker sich als unbegründet herausgestellt haben und daß "the land, at least in the sense understood by the classical economists, no longer appears as an inevitable element in all material production. (...) Economic growth has brought with it other fears, to the point where it is now questionable whether indefinite growth is compatible with a safe and stable environment. But no-one fears a future which bears a close resemblance to the stationary state of the classical economists." Dazu ist zu bemerken, daß langfristig eine nachhaltige Wirtschaftsweise in ähnlicher Weise auf den Boden angewiesen sein wird wie die organische Wirtschaft – eine nachhaltige Wirtschaft ist eine organische Wirtschaft. Perman et al. (1996, 51) meinen, daß "the early classical writers, stressing the constraints imposed by finite resources and the principle of diminishing returns, regarded the economy as sustainable in the sense that it could be reproduced over indefinite periods of time" (meine Hervorhebung). Die Klassiker haben eine empirische Realität beschrieben, die heute aus ökologischen Gründen angestrebt wird. Benton (1995, 146) ist deshalb darin zuzustimmen, daß "(i)t is possible that Smith, writing before the great delusion of progressive emancipation from nature took hold, may have something to offer for us" (seine Hervorhebung). In der Tat, und Lehren in dieser Hinsicht sind auch aus den Arbeiten der anderen Klassiker zu ziehen. Die Ansichten der Klassiker zum stationären Zustand waren ein Produkt einer sozioökonomischen Umwelt, die durch die Abhängigkeit von biotischen Material- und Energieströmen und eine im Vergleich zum 20. Jahrhundert geringe Bedeutung wissenschaftlich-technischen Fortschritts geprägt war. Daraus folgt, so Wrigley (1988, 5), daß die Klassiker "remain authoritative for the analysis of growth within the confines of a traditional economy, an economy bounded by the productivity of the land" (meine Hervorhebung).
Nicht die natürlichen Grenzen allein sorgen im klassischen Modell für eine Begrenzung wirtschaftlicher Expansion, sondern deren Interaktion mit ökonomischen Zusammenhängen. Es ist das Zusammenspiel der Grenzen einer organischen Wirtschaft und der dem Wirtschaftsprozeß inhärenten Eigenschaften, die ein Ende des Wachstums bringen, wie auch Wrigley (1988, 96) betont: "(T)he secular prospects for growth of the type that could occur in an organic economy were very different from those to which recent generations have become accustomed. The classical economists not only regarded growth as necessarily bounded but considered that it was the growth process itself which ensured that the inherent limitations associated with it would begin to bite" (meine Hervorhebung) – ökologische Grenzen werden erst durch ökonomische Mechanismen zur "Wachstumsbremse". Wenn, wie eingangs bemerkt, aktualisierende Vereinnahmung – oder vereinnahmende Aktualisierung – verhindert werden soll, ist festzuhalten, daß der stationäre Zustand der Klassiker eben nicht (unmittelbare) Folge "ökologischer" Wachstumsgrenzen ist: Es sind nicht – wie die Darstellung der klassischen Argumente gezeigt hat – "ökologische" Gründe, sondern eben die Reaktionen des ökonomischen Systems auf Knappheiten, die in der Klassik zum stationären Zustand führen – das Fehlen eines Akkumulationsmotivs. "The stationary state came about not because inadequate supplies of capital were unavoidable but because there would be inadequate incentives to encourage would-be investors. Equally, they [die Klassiker; FL] were not concerned that the supply of labour might prove insufficient, though deeply worried about the level of its future remuneration. Their pessimism stemmed from their views about the third production factor, land, and each viewed its supply as posing problems which there was no prospect of overcoming" (Wrigley 1994, 35; meine Hervorhebung).
Der ökologische Steady-State basiert auf biophysikalischen und ethischen Erwägungen, und hier besteht eine Nähe zu Malthus. Der ökologische Bias der Ecological Economics ähnelt der Betonung biologischer Gegebenheiten gegenüber politischer Gestaltbarkeit bei Malthus: Der Essay ist ein "statement of the primacy of nature over political culture", mit dem Malthus "shifted the terms of debate from political culture towards biology" (Winch 1992, ix, viii; s. auch Salin 1967, 80). Bladen (1974, 136) spricht vom "animal-vegetable approach to human population." Auf der anderen Seite argumentiert Malthus aber genuin ethisch, wenn er aus religiösen Motiven heraus misery and vice verhindern will. Daly steht z.B. Familienplanung sicher toleranter gegenüber, aber die Nähe zu seiner religiös-ethischen Argumentation, wo es um sozioethischen Wachstumsgrenzen geht, ist unübersehbar.
Seinen Aufsatz über die Suche nach Historical roots for Ecological Economics schließt Christensen (1989, 34f.) mit folgenden Sätzen: "Ecological and socio-economic systems are highly interdependent and a theory is needed which reflects that interdependence at the physical level. Obviously, the ideas of classical theory are only a beginning but they provide a possible starting point for developing a more ecologically (and socially) informed economic theory" (meine Hervorhebung; s. auch Christensen 1987, 87). Die Betrachtung der klassischen Auseinandersetzung mit dem stationären Zustand zeigt m.E., daß die Klassik darüberhinaus auch für die (Weiter-) Entwicklung des ökologisch-ökonomischen Steady-State-Gedankens eine wichtige Wurzel ist und bleibt. Sicher sind die Klassiker auch in diesem Kontext nur der Ausgangspunkt – aber ein sehr wichtiger. Unter Bedingungen, die in "ökologischer Hinsicht" – weitgehende Abhängigkeit des Wirtschaftsprozesses von biotischen Rohstoffen – einige Ähnlichkeit mit dem Leitbild nachhaltiger Umweltnutzung haben, kamen sie zu dem Ergebnis, daß wirtschaftliche Entwicklung selbst dem stationären Zustand zustrebt. Für die aktuelle Debatte ist aber ein entscheidender Unterschied zur "klassischen Umwelt" zu berücksichtigen: Die wissenschaftlich-technischen Entwicklungen, die den Charakter der anthropogenen Umweltnutzung grundlegend verändern. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den wirtschaftstheoretischen Entwicklungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wider.
7.4. Das Ende der Klassik und der Übergang zur Neoklassik: Marx, Jevons, Marshall
7.4.1. Marxens stationärer Zustand: Einfache Reproduktion
Marx gilt vielen als klassischer – mindestens als ricardianischer – Ökonom (s. z.B. Schumpeter 1965, 488; Walsh 1992, 17). Marxsche Ökonomie ist für Blaug (1990a, 160) ohne Smith, Ricardo und Mill schlicht unvorstellbar. Auf Samuelsons (1978, 1415) Diktum, daß, wenn man Boden und natürliche Ressourcen zu seinem Modell hinzunehme, man beim "kanonischen" Modell der Klassiker lande, wurde bereits hingewiesen. Der Boden als Produktionsfaktor verliert an Bedeutung, Marxens Entwicklungskonzept kreist um die Faktoren Arbeit und Kapital. Marx ist im Gegensatz zu den Klassikern – und hierin steht er der Neoklassik gewiß näher – ein optimistischer Ökonom: "Marx (...) inveighed against the emphasis on scarcity in Malthusian thought and developed Ricardian political economy in a way that was distinctly optimistic" (Redclift 1987, 8).
Marxens einfache Reproduktion ist das Modell eines stationären Zustands (Blaug 1985, 27). Für Blaug (1990a, 160) ist Marxens Reproduktionsschema gar "the true starting point of the modern theory of steady-state growth". "Einfache Reproduktion" bedeutet bei Marx die "bloße Wiederholung des Produktionsprozesses auf derselben Stufenleiter" (Marx 1988, 592). Dient die "Revenue dem Kapitalisten nur als Konsumtionsfonds oder wird sie ebenso periodisch verzehrt wie gewonnen, so findet, unter sonst gleichbleibenden Umständen, einfache Reproduktion statt" (Marx 1988, 592). Mit anderen Worten: Einfache Reproduktion liegt dann vor, wenn die Nettoinvestitionen gleich null sind. Es handelt sich hier ganz eindeutig um einen analytischen Steady-State, also um eine analytische Hilfskonstruktion: "Die einfache Reproduktion auf gleichbleibender Stufenleiter erscheint insoweit als eine Abstraktion, als einerseits auf kapitalistischer Basis Abwesenheit aller Akkumulation oder Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter eine befremdliche Annahme ist, andrerseits die Verhältnisse, worin produziert wird, nicht absolut gleichbleiben (und dies ist vorausgesetzt) in verschiednen Jahren" (Marx 1984a, 393f.).
Marx verwendet den stationären Zustand als analytische Fiktion, die nichts mit der Realität gemein hat. Marxens Analyse zielte gewiß nicht auf einen empirischen stationären "Gleichgewichtszustand (...), den nach seiner Ansicht die kapitalistische Gesellschaft nie erreichen kann" (Schumpeter 1993, 54). In der Tat ist der stationäre Zustand ziemlich genau das Gegenteil dessen, was sich Marx unter Kapitalismus vorstellt. So liegt Baumol (1970, 36) sicher richtig mit seiner Auffassung, daß "the classical vision of a stationary capitalist state must, from a Marxist point of view, be an impossible monster." Gegenüber Smith hatte Marx den "Vorteil", daß er beobachten konnte, daß "production could grow exponentially rather than tending to level off to some asymptote reached when the modernization process had exhausted the openings for profitable investment" (Wrigley 1987, 61; seine Hervorhebung). Gleichwohl hatte Marx seine eigene Vision vom – ontologischen – stationären Zustand, der sich allerdings jenseits des Kapitalismus befindet. In diesem Sinne spielt ein ontologischer Steady-State auch in Marxens Zukunftsvision eine zentrale Rolle, zumindest in Rostows (1990, 144) Interpretation: "So far as a formal model of stages of and limits to growth is concerned, what Marx's system asserted was that, under socialism, the economy would be organized to exploit science and invention in a steady flow; cycles would be eliminated along with 'the senseless extravagance of the ruling classes;' output and real wages would increase up to the point where the society would decide, through some unspecified mechanism, that enough is enough; and income distribution would proceed on the principle of 'from each according to his ability, to each according to his need.' It is not diminishing returns but diminishing relative marginal utility that brings Marx's system to a more or less steady state, and this is also essentially true of Mill's version and, later, Keynes's."
In der Tat scheint Marxens (und Engels') kommunistische Gesellschaft als eine des stationären Überflusses – als eine, "wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden" (Marx/Engels 1983, 33). Und in der Kritik des Gothaer Programms heißt es (Marx 1987, 21): "In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!"
Noch deutlicher zeigt m.E. die folgende Stelle aus dem dritten Band des Kapitals, daß Marxens Zukunftsvorstellung ein stationärer Zustand ist: "Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion" (Marx 1984b, 828). Marx (1984b, 828) sieht deutlich die Abhängigkeit von der Umwelt, der keine Gesellschaft entkommen kann: "Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen." Marx (1984b, 828) betont hier die Bedeutung des "rationellen" Umgangs mit der Umwelt, der nichts anderes als die perfektionierte Beherrschung der Natur impliziert: "Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung" (Marx 1984b, 828). Zwischen Marxens einfacher Reproduktion und seiner stationären Zukunftsvision liegen freilich buchstäblich Welten, Zeitalter, Epochen – ebenso wie zwischen dieser Vision und der kapitalistischen Realität der erweiterten Reproduktion. Für Jevons dagegen war der stationäre Zustand eine reale und bedrohliche Zukunftsvision.
7.4.2. Jevons' Coal Question – Die klassische Studie eines Neoklassikers
"Had Jevons referred to the reserves of low entropy in the earth's crust instead of coal
in speaking of 'a certain absolute and inexorable limit, uncertain and indefinable that
limit may be,' and had he also added that free energy cannot be used more than once,
he would have presented us with a clear picture of one side of man's struggle with the
limited dowry of mankind's existence on earth."
(Georgescu-Roegen 1971, 296)
Jevons, bekanntlich einer der Gründerväter der Neoklassik, hat ein Buch verfaßt, das als eines der ersten über die "Grenzen des Wachstums" gelten kann: The Coal Question. Dieses Buch, das ganze sieben Jahre nach der ersten Auflage der Millschen Principles erschien, ist "consistent with the classical approach" (Backhouse 1985, 76). Und es beginnt mit einem klassischen Zitat, nämlich mit Smiths schon erwähnter Bemerkung über den stationären Zustand: "The progressive state is in reality the cheerful and the hearty state to all the different orders of the society; the stationary is dull; the declining, melancholy" (Jevons 1965, iv). Er selbst macht ebenfalls deutlich, daß er Stationarität für keinen anstrebenswerten Zustand hält: "Surely the wish could never rise into the mind of any Englishman that Britain should be stationary and lasting as she was, rather than of growing and world-wide influence as she is" (Jevons 1965, 456). Langfristig werden aber physische Grenzen einen stationären Zustand unausweichlich machen: "If we lavishly and boldly push forward in the creation of our riches, both material and intellectual, it is hard to over-estimate the pitch of beneficial influence to which we may attain in the present. But the maintenance of such a position is physically impossible. We have to make the momentous choice between brief but true greatness and longer continued mediocrity" (Jevons 1965, 459f.; seine Hervorhebung). The Coal Question reflektiert auch die Verschiebung im Hinblick auf die Bedeutung natürlicher Ressourcen (neben der Kohle betont Jevons [1965, 127ff.; 245ff.] auch die Bedeutung von Eisen). Ein Vergleich von Smiths Wealth mit der Coal Question verdeutlicht, daß "(c)oncern about the adequacy of comparative mineral endowment replaces worry about the productivity of agriculture" (Wrigley 1987, 12). Jevons (1965, xxx) geht es um das Problem, daß der beschleunigte Abbau der Kohlevorräte zu einem Ende der "progressive condition of the kingdom" führen könnte, weshalb er davor warnt, daß "we cannot long progress as we are now doing" (s. auch 1965, 11). Wenn aber Wohlstands- und Bevölkerungswachstum begrenzt sind, erfordert dies eine Auseinandersetzung mit den Lebensmöglichkeiten zukünftiger Generationen (Jevons 1965, xlvi f.).
Kohle ist für Jevons (1965, 1) die Haupttriebfeder moderner Zivilisation. Im Zeitalter der Kohle, so Jevons (1965, 2), "(c)oal in truth stands not beside, but entirely above, all other commodities. It is the material source of energy of the country–the universal aid–the factor in everything we do." Für Jevons (1965, 3) ist Kohle "almost the sole necessary basis of our material power, and is that, consequently, which gives efficiency to our moral and intellectual capabilities." Jevons (1965, 245) meint, daß "our trade and manufactures are being developed without apparent bounds in a geometric, not an arithmetic series–by multiplication, not by mere addition –and by multiplication always in a high and often in a continuously rising ratio" (kursiv von ihm, fett von mir) – man beachte den "malthusianischen" Charakter des Arguments. Kohle ist auch deshalb ein überlegener Energieträger, weil sie den Vorteil der Kontrollierbarkeit hat, was sie von solaren Energiequellen unterscheidet: "(W)hile the sun annually showers down upon us about a thousand times as much heat-power as is contained in all the coal we raise annually; yet that thousandth part, being under perfect control, is a sufficient basis of all our economy and progress. The first great requisite of motive power is, that it shall be wholly at our command, to be exerted when and where and in what degree we desire" (Jevons 1965, 164; seine Hervorhebung). Wind- und Wasserkraft beispielsweise erfüllten diese Bedingung nicht (Jevons 1965, 164, 170f.), und auch andere Substitute für Kohle vermag Jevons nicht zu erkennen. Er kritisiert die optimistische – und aus heutiger Sicht erstaunlich korrekte – Vorhersage von Lardner über die Möglichkeiten wissenschaftlicher Entdeckungen. Jevons (1965, 160ff.) vertritt eine deutlich pessimistische Position. Zusammenfassend stellt er fest, daß "it is not reasonable to suppose or expect that the power of coal will ever be superseded by anything better. It is the naturally best source of power, as air and water and gold and iron are, each for its own purposes, the most useful of substances, and such as will never be superseded. (...) The progress of science, and the improvement in the arts, will tend to increase the supremacy of steam and coal" (Jevons 1965, 187f.; seine Hervorhebung). Für Jevons (1965, xliii) ist es offensichtlich, daß eine breite Verwendung von Öl in der Produktion gemeinsam mit der steigenden Nachfrage der Gaswerk die besten Öl- und Gasvorräte schnell aufbrauchen würde.
Jevons (1965, 191ff.) warnt vor den Folgen einer geometrischen Steigerung des Kohleverbrauchs und spricht vom "Natural Law of Social Growth". Keynes (1972g, 113) sieht hierin eine "extension of Malthus's law of population". In der Tat verweist Jevons auf Malthus' Bevölkerungsgesetz, dessen Konsequenzen von den meisten Ökonomen akzeptiert seien und fährt fort: "What is true of the mere number of the people may be expected to hold true of other elements of their condition. If our parents made a definite social advance, then, unless we are unworthy of our parents, or in different circumstances, we should make a similar advance. If our parents doubled their income, or doubled the use of iron, or doubled the agricultural produce of the country, then so ought we, unless we are changed either in character or circumstances" (Jevons 1965, 194). Wie Keynes (1972g, 113) bemerkt, ist es von hier ein kurzer Schritt "to put coal into the position occupied in Malthus's theory by corn" (seine Hervorhebungen). Und in der Tat meint Jevons (1965, 195f.), daß "(t)he whole question turns upon the application of these [Malthusian; FL] views to the consumption of coal. Our subsistence no longer depends upon our produce of corn. The momentous repeal of the Corn Laws throws us from corn upon coal. It marks, at any rate, the epoch when coal was finally recognised as the staple produce of the country; – it marks the ascendency of the manufacturing interest, which is only another name for the development of the use of coal. (...) In every kind of enterprise we shall no doubt meet a natural limit of convenience, or commercial practicability, as we do in the cultivation of the land" (seine Hervorhebung).
Jevons Arbeit markiert insofern einen Bruch zu den klassischen Arbeiten, als er die Bedeutung abiotischer Rohstoffe (der Kohle) klar erkennt. Gemeinsam mit den Klassikern ist ihm jedoch eine Auffassung, die man heute als "technologischen Pessimismus" kennzeichnen kann. Er verweist z.B. darauf, daß die Möglichkeiten zur Verbesserung der Dampfmaschine eindeutig begrenzt seien "(A)s we go on improving, the margin for further improvement becomes narrower, and its attainment more difficult and costly" (Jevons 1965, 150; s. auch 148). Jevons (1965, 112f.) setzt sich mit den Bedingungen technischen Fortschritts auseinander und nennt als essentielle Bedingungen den Zweck (Bedarf), ein Prinzip (Modus) und die Konstruktion (Material, Energie, Fertigkeit). Ein Blick auf große technische Veränderungen in der Vergangenheit zeige, daß Zweck und Konstruktion in gleichem Maße von der Verwendung von Kohle abhingen (Jevons 1965, 125). Und im Hinblick auf die Bevölkerungsfrage ist die Coal Question sehr klassisch – malthusianisch, wie vor allem Kapitel X Of the Growth and Migrations of our Population (Jevons 1965, 202ff., bes. 232) verdeutlicht (in dem er auf die von ihm so empfundene "laxness of the Poor-laws" aufmerksam macht [1965, 210f.]). Freilich bewertet er die Bedeutung der Migration höher als die Klassiker: "Population seemed to them [Ricardo, Malthus, und andere Ökonomen jener Zeit; FL] always full to the brim, so that each ship-load taken to the colonies would no more tend to empty the country, than a bucketful of water would tend to empty the ever running fountain from which it is drawn" (Jevons 1965, 222).
Weist Jevons Position zur Bevölkerung trotz der Differenzen eher in klassische Richtung, trägt seine Auffassung von den Wirkungen ressourcensparenden Fortschritts überaus moderne Züge: Jevons (1965, 137ff.) postuliert einen Zusammenhang im Hinblick auf die produktivere Nutzung energetischer Ressourcen, der über ein Jahrhundert später als "Rebound-Effekt" Eingang in die ökologische Wachstumsdiskussion finden sollte. Er meint, daß eine ökonomischere Verwendung von Kohle zu einem Anstieg des Verbrauchs führen müsse. "It is wholly a confusion of ideas to suppose that the economical use of fuel is equivalent to a diminished consumption. The very contrary is the truth" – die "economy of fuel leads to a great increase of consumption" (Jevons 1965,140, xxxiv; seine Hervorhebung). Folglich könne die wirtschaftlichere Verwendung von Kohle deren Verbrauch nicht reduzieren: "On the contrary, economy renders the employment of coal more profitable, and thus the present demand for coal is increased" (Jevons 1965, 8). Der wirtschaftlichere Gebrauch selbst führt also zu einer Verbrauchszunahme (Jevons 1965, 141; s. auch 137, 152ff.). Denn: "Economy multiplies the value and efficiency of our chief material; it indefinitely increases our wealth and means of subsistence, and leads to an extension of our population, works, and commerce, which is gratifying in the present, but must lead to an earlier end" (Jevons 1965, 156; meine Hervorhebung).
Jevons (1965, xxxvii, 21) verweist außerdem darauf, daß die Kosten der Kohlegewinnung mit zunehmender Abbautiefe überproportional ansteigen und daß auch die Qualität der Kohle in Betracht gezogen werden müsse. Er betont, daß "the resources of nature are almost unbounded, but that economy consists in discovering and picking out those almost infinitesimal portions which best serve our purpose" (Jevons 1965, 163). Jevons weist auf die Verbesserungen der Energieeffizienz hin: "The steam-engine is the motive power of this country, and its history is a history of successive steps of economy" (Jevons 1965, 142f.; meine Hervorhebung; s. auch 144). Die Effizienz von Dampfmaschinen im Hinblick auf den Energieverbrauch habe sich in 100 Jahren um den Faktor 10 [sic] verbessert (Jevons 1965, 145f.). Mit Hilfe billiger Energie sei es möglich "to put in motion the great system of our machine labour, which may be said, as far as any comparison is possible, to enable us to do as much as all the inhabitants of the world with their unaided labours could accomplish but a few decades since" (Jevons 1965, 147). Dieser Pessimismus hängt mit der (geographischen) Perspektive Jevons' zusammen. Es geht ihm nicht um die globale Bedeutung der Kohle, sondern um die Relevanz dieses Energieträgers für die Entwicklung Großbritanniens. Die Unmöglichkeit, ein Substitut für Kohle zu finden, beschränkt sich auf England. Er zitiert Tyndall: "We have, it is true, our winds and streams and tides; and we have the beams of the sun. But these are common to all the world" (Jevons 1965, xl; meine Hervorhebung). Wenn es möglich werden sollte, Sonnenstrahlen als Energiequelle zu nutzen, würde dies nur "destroy our peculiar industrial supremacy" (Jevons 1965, 190).
Was aber folgt aus Jevons Beantwortung der Kohle-Frage? Vor allem: Was bedeutet dieses Problem für kommende Generationen? "The only suggestion I can make towards compensating posterity for our present lavish use of cheap coal is (...) the reduction or paying off of the National Debt. (...) It is growing wealth that makes a happy and prosperous country, and, no matter what be the absolute wealth of the country at a future time, it is idle to suppose that a popular government with a stationary revenue would ever impose new taxes to pay off an old debt" (Jevons 1965, 448, 451). Jevons (1965, 231) betont, daß die gegenwärtige günstige Situation außergewöhnlichen Umständen geschuldet ist und nicht von Dauer sein kann: "A multiplying population, with a constant void for it to fill; a growing revenue, with lessened taxation; accumulating capital, with rising profits and interest. This is a union of happy conditions which hardly any country before enjoyed, and which no country can long expect to enjoy" (seine Hervorhebung). Hierzu bemerkt Keynes (1972g, 117)(s. auch Abschnitt 4.3.2.): "Thus it was easy to invoke the proposition that we were living on our natural capital, as a reason why the times were suitable for the rapid reduction of the dead-weight debt" (meine Hervorhebung). In der Tat vertritt Jevons (1965, 455) explizit die Auffassung, daß "to disperse so lavishly the cream of our mineral wealth is to be spendthrifts of our capital – to part with that which can never be reproduced." Er betont die fundamentale Eigenschaft nichterneuerbarer Ressourcen – ihre Endlichkeit. Keynes (1972g, 117) – der sich von der Coal Question, gelinde gesagt, wenig begeistert zeigt – führt Jevons' Pessimismus auf den Einfluß eines "psychological trait, (...) a certain hoarding instinct" zurück und berichtet darüber, daß Jevons die Kohlefrage auch bei seinen privaten Investitionsentscheidungen berücksichtigte. Keynes Hinweis auf Jevons' Umgang mit Papier zeigt, wie ernst Jevons die Folgen exponentiellen Wachstums nahm: "Jevons held similar ideas as to the approaching scarcity of paper as a result of the vastness of the demand in relation to the supplies of suitable material", so daß seine Kinder noch 50 Jahre nach Jevons Tod seinen Papierbestand nicht aufgebraucht hätten. Keynes meint, daß "here again he [Jevons; FL] omitted to make adequate allowance for the progress of technical methods."
Nicht nur deshalb warnt Jevons (1965, 200) eindringlich vor dem Erreichen von Wachstumsgrenzen: "We are like settlers spreading in a rich new country of which the boundaries are yet unknown and unfelt. (...) In the increasing depth and difficulty of coal mining we shall meet that vague but inevitable limit which will stop our progress" (meine Hervorhebung). Und er weist auf den Unterschied zwischen – modern formuliert – erneuerbaren und nichterneuerbaren Ressourcen hin: "A farm, however far pushed, will under proper cultivation continue to yield for ever a constant crop. But in a mine there is no reproduction; the produce once pushed to the utmost will soon begin to fail and sink towards zero. So far, then, as our wealth and progress depend upon the superior command of coal we must not only cease to progress as before – we must begin a retrograde career" (Jevons 1965, 201; seine Hervorhebung). Anders formuliert: Der Abbau der Kohlereserven führt nicht bloß zum stationären Zustand, sondern zum declining state. Die Ausbeutung der Minen muß jedoch im Verein mit dem Bevölkerungswachstum gesehen werden: "(P)opulation, when it grows, moves with a certain uniform impetus, like a body in motion; and uniform progress of population (...) is multiplication in a uniform ratio. But long-continued progress in such a manner is altogether impossible – it must outstrip all physical conditions and bounds; and the longer it continues, the more severely must the ultimate check be felt. (...) I do not say that the failure of our coalmines will be the only possible check. Changes here, or in other parts of the world, may, even before the failure of our mines, reduce us to a stationary condition, and bring upon us at an earlier period the sufferings and dangers incident to our position. But such a grievous change, if it does not come before, must come when our mines have reached a certain depth" (Jevons 1965, 232; kursiv von ihm, fett von mir).
Äußerst erstaunlich ist angesichts dieser Zeilen die Auffassung von Nordhaus (1992b, 846), daß Jevons "took a rather optimistic view of the role of coal". Er zitiert Jevons mit den Worten "Day by day it becomes more evident that the Coal we happily possess in excellent quality and abundance is the mainspring of modern material civilization" (Jevons 1965, 1). Dieses angesichts des Gesamttextes als "rosy view" (Nordhaus 1992b, 846) zu bezeichnen, ist gewiß eine Fehlinterpretation. Auch die Kontrastierung von Jevons "rosy view" mit den "gloomy views" (Nordhaus 1992b, 846) der Grenzen des Wachstums und des IPCC (sic!) wird der Coal Question in keiner Weise gerecht. Boulding (1977, 123) liegt mit seiner Einschätzung, die Coal Question sei "an early Club of Rome-type of report", sicher richtiger als Nordhaus. Nicht ohne Grund findet sich zu Beginn des Buches Smiths schon zitierte Aussage über den stationären Zustand. Jevons Coal Question ist ein Buch über die Grenzen des Wachstums, und nicht nur die graphische Darstellung exponentiellen Wachstums (Jevons 1965, vii ff.) erinnern an die Studie des Club of Rome. Jevons will mit diesen Darstellungen zeigen, daß "the rate of growth manifested in them could not be maintained for any long period of time" (Flux 1965, xi), und er weist auf die Problematik exponentiellen Wachstums und steigender Wachstumsraten hin (s. v.a. Jevons 1965, 245ff.). Bei der Betrachtung des Kohleproblems komme es weniger auf die genaue Kenntnis der Reserven an als vielmehr auf die "rate at which our consumption increases, and the natural laws which govern that consumption" (Jevons 1965, 25).
Auch in der 1871 erschienenen Theory of Political Economy äußert sich Jevons zum stationären Zustand, und auch hier bricht er nicht mit der klassischen Tradition: "It is one of the favourite doctrines of economists since the time of Adam Smith, that as society progresses and capital accumulates, the rate of profit, or more strictly speaking, the rate of interest, tends to fall. The rate will always ultimately sink, so low, they think, that the inducements to further accumulation will cease. This doctrine is in striking agreement with the result of the somewhat abstract analytical investigation [by Jevons] given above" (zit. in Brandis 1989, 76). War das Bevölkerungsprinzip noch eine wichtige Inspiration für das "Law of Social Growth" der Coal Question, spielt es nun keine Rolle mehr: "The doctrine of population has been conspicuously absent, not because I doubt in the least its truth and vast importance, but because it forms no part of the direct problem of Economics" (zit. in Brandis 1989, 76). Das Bevölkerungsproblem gehörte also nicht mehr zum Bereich der Ökonomik.
Um zusammenzufassen: Jevons geht es um die Möglichkeit eines durch Abbau der Kohlevorräte verursachten stationären Zustands, es handelt sich hier also um einen ontologischen Steady-State. In gewisser Weise ist dieser "ökologischer" als der stationäre Zustand der Klassiker, weil anders als dort kein genuin ökonomischer Mechanismus den Knappheitsfaktor mit dem Steady-State verbindet. Ein Wegfallen des Akkumulationsmotivs ist nicht die Voraussetzung für den Steady-State: dieser wird unmittelbar durch die Ressourcenknappheit herbeigeführt. Das "Law of Social Growth" beschleunigt diese Entwicklung, ist aber nicht deren Ursache. Der Produktionsfaktor "Kohle" ist (neben Eisen) für Jevons die entscheidende Determinante wirtschaftlicher Entwicklung. Im Gegensatz zu den Klassikern betont Jevons mithin die Bedeutung abiotischer Rohstoffe. Jevons betont die Differenz zwischen energetischen Beständen und Flüssen. Obwohl Jevons den wissenschaftlich-technischen Fortschritt – weitaus klarer als die Klassiker – zur Kenntnis nimmt, vertritt er eine dezidiert pessimistische Position – und wie bei den Klassikern erscheint dieser Pessimismus im Nachhinein als übertrieben. Technischer Fortschritt findet in Jevons' Darstellung zwar statt, vermag aber die Wirkungen des "Law of Social Growth" – eine Erweiterung des Malthusschen Bevölkerungsgesetzes – nicht zu kompensieren. Technischer Fortschritt kann die physischen Begrenzungen des Wirtschaftsprozesses nicht aufheben. Jevons hält den stationären Zustand für ebenso unerfreulich wie unausweichlich. Weit von Mills positiver Einschätzung entfernt, ist Stationarität für ihn gleichbedeutend mit Entwicklungslosigkeit und Mittelmaß. Er formuliert deutlich, daß die Begrenzung des Wachstums neue Verantwortlichkeiten begründe und die Erörterung der Möglichkeiten zukünftiger Generationen erfordere. Er hat als einer der ersten auf den begrenzenden Charakter der Verwendung abiotischer Rohstoffe hingewiesen. Jevons hat als erster auf die Wachstumseffekte von Effizienzverbesserungen ("Rebound-Effekt") hingewiesen und außerdem die heute aktuelle Frage der Substitutionsmöglichkeiten erörtert.
7.4.3. Von der (klassischen) Politischen Ökonomie zur (neoklassischen) Ökonomik
In der Coal Question betont Jevons (1965, xxxix) noch, daß "no writer can approach the subject of Political Economy without falling into the deepest obligations to Mr. Mill" – kurze Zeit später trug er zur Verabschiedung des klassischen Paradigmas bei. Jevons schlug vor, den Begriff der politischen Ökonomie durch "Ökonomik" zu ersetzen (Salin 1967, 155; s. auch Söderbaum 1992, 129). Dieser Übergang von Political Economy zu Economics ist folgenreich und nicht nur sprachlicher Natur. Nach der Marginalrevolution wurden Mills Principles kaum noch gelesen (Claeys 1987a, 10f.). Jevons gilt neben Walras und Menger als einer der Initiatoren der "Marginalrevolution". Diese Revolution hat 1871 eine Bewegung eingeleitet, die zur Verdrängung der ökonomischen Klassik durch die "Neoklassik" geführt hat. Schumpeter (1970, 17) meint, daß die genannten Autoren mit dem Anspruch auftraten, "die exakte Ökonomie auf eine neue Grundlage zu stellen, die keine Fortbildung, sondern eine Vernichtung des klassischen Systems der Theorie bedeute" (meine Hervorhebung). Jevons charakterisiert die Absetzbewegung von der Klassik wie folgt: "When at length a true system of economics comes to be established it will be seen that that able but wrong-headed man, David Ricardo, shunted the car of economic science on to a wrong line – a line, however, on which it was further urged towards confusion by his equally able and wrong-headed admirer, John Stuart Mill. There were economists, such as Malthus and Senior, who had a far better comprehension of the true doctrines (though not free from Ricardian errors), but they were driven out of the field by the unity and influence of the Ricardo-Mill school" (zit. in Backhouse 1985, 76).
Das Jahr 1871 ist eine Wendemarke in der ökonomischen Theorieentwicklung – und die letzte Auflage von Mills Principles, die zu seinen Lebzeiten erschien. Ließ Jevons sich zu seinem "Law of Social Growth" noch von Malthus inspirieren, spielte Ende des 19. Jahrhunderts das Bevölkerungsprinzip schon keine Rolle mehr. Dieser Wandel, so Schumpeter (1965, 1085), trat nicht deshalb ein, weil Bevölkerungsdruck kein Problem mehr war, sondern "weil das Grenznutzen-System nicht mehr von irgendeiner Hypothese über Geburten- und Sterberaten abhing, sondern geeignet war, jede beliebige Hypothese zu berücksichtigen, die der betreffende Autor für richtig hielt". Damit verlor das Bevölkerungsthema an Bedeutung für die Ökonomik und wurde zum Thema der sich herausbildenden Bevölkerungswissenschaft. Dennoch akzeptierten die meisten Ökonomen die Gültigkeit des Bevölkerungsprinzips zumindest für lange Zeiträume (Schumpeter 1965, 1085).
In die Zeit des geschilderten Übergangs fällt auch die Herausbildung des Selbstverständnisses der Ökonomik als Wissenschaft im Sinne von "science" (Heilbroner 1986, 183). Gleichzeitig ist mit dem Übergang zur neoklassischen Ökonomik eine Verengung des wirtschaftswissenschaftlichen Blickfelds verbunden, die Vor- und Nachteile hatte: "In the period 1870-1939, when economics became a professional and specialized academic discipline, not many mainstream economists were willing and able to work on a multidimensional social science basis, in conformity with the older tradition of political economy" (Rostow 1990, 313). Diese Verengung führte zu einem Bedeutungsgewinn einer wissenschaftlichen Arbeitsweise, in der Stationaritätsannahmen implizit eine zentrale Rolle spielen, und zwar lange vor dem Aufkommen der Wachstumstheorie. In den Worten von Blaug (1985, 699f.): "By limiting the scope of the analysis (...), greater rigor in model construction became possible. (...) All the growth-producing factors, such as the expansion of wants, population growth, technical change and even the passage of time itself, were placed in the box of ceteris paribus. The remaining system of endogeneous variables was then shown to have a unique steady-state solution. The problem of achieving equilibrium in the first place was passed over by the method of comparative statics" (kursiv von ihm).
Mit der Neoklassik wurde Allokation zum zentralen Erkenntnisinteresse der Ökonomik. "In the classical system land was treated differently from the other factors of production because its supply was taken as given, as independent of price. Once the supply of labour, or capital, is taken as given, the distinction disappears and the concept of rent applies to all. The stage is set for the development of a new position (...). The study of equilibrium distribution of given resources between alternative uses became the core of modern economics" (Bladen 1974, 345). Nach der "Einführung" der Marginalanalyse Ende des 19. Jahrhunderts, "the dominant theme in twentieth century economic theory has been the development and use of a system of economic equilibrium, in which maximizing behaviour on the part of individuals is brought into some sort of equilibrium through markets" (Backhouse 1985, 123). Die Betonung von Gleichgewichten steht in krassem Gegensatz zu den Vorstellungen der Klassiker: "The earlier economists, from Smith through Mill and of course Marx, had a compelling image in their minds of a society that was by its inner nature expansive. True, its expansion might encounter barriers, or might run out of steam, or might develop into economic downturns, but the central force of the economic world was nonetheless inseparable from a tendency toward growth" (Heilbroner 1986, 177; seine Hervorhebung). "Image in their minds" ist ein anderer Begriff für den Schumpeterschen Begriff der voranalytischen Vision (s. 2.1.). Diese Vision verschiebt sich mit dem Übergang von Politischer Ökonomie zur Neoklassik in dem Sinne, daß die Metapher des Gleichgewichts die Vorstellung eines inhärent dynamisch-evolutionären Systems ablöst. Mit dieser Verschiebung ändert sich selbstverständlich auch die Wahrnehmung der kapitalistischen Wirtschaftsweise: War der Kapitalismus bisher als dynamische Gesellschaftsformation erschienen, wurde er von der Ökonomik jetzt als geschichtsloser Organisationsmodus wirtschaftlicher Aktivitäten gesehen. Der innere Antrieb des kapitalistischen Systems wurde forthin "overlooked, ignored, forgotten" (Heilbroner 1986, 178).
Wie sich zeigen wird, ist der Übergang von der Klassik zur Neoklassik auch im Hinblick auf das Konzept der Stationarität ein drastischer Bruch: Während der stationäre Zustand im klassischen Denken "realistisch" gemeinte Zukunftsprognose war, dient er der Neoklassik lediglich als analytisches Instrument, was auch daran liegen mag, daß "(w)ith the early neoclassicists, the economic order has been placed squarely within the realm of the artificial" (Schabas 1994, 329) – die begrenzende Wirkung der Umwelt auf wirtschaftliche Aktivitäten scheint durch moderne Technik "aufgehoben" zu sein und spielt in der ökonomischen Theorie keine Rolle mehr. Der ontologische wird durch den analytischen Steady-State abgelöst. Mit dem Übergang von der Klassik zur Neoklassik vollzieht sich auch ein dramatischer Wechsel in der Einschätzung der Perspektiven wirtschaftlicher Entwicklung. Der stationäre Zustand galt den Klassikern als unvermeidlicher Endpunkt wirtschaftlicher Entwicklung, er war in diesem Sinne Normalität. Die Standardökonomik im Form des neoklassischen Paradigmas dagegen sieht Wachstum als Normalität, Stationarität (oder "Stagnation") dagegen "with great horror" (Georgescu-Roegen 1977c, 266). Wachstum wird nicht nur zur normalen Möglichkeit, sondern zu einer "axiomatic necessity" (Georgescu-Roegen 1977c, 266) – die freilich ebensowenig einer Analyse zu bedürfen scheint wie das Ende des Wachstumsprozesses.
Wie gezeigt, betont Wrigley die Bedeutung des vor-industriellen Kontextes für diese klassische Perspektive. Daly (1996a, 4) interpretiert den Übergang von der Klassik zur Neoklassik in ganz ähnlicher Weise: "With the Industrial Revolution, the idea of a stationary state, and classical economics in general, was retired to history. Neoclassical economics, with its subjectivist theory of value, shifted attention away from resources and labor and onto utility, exchange, and efficiency" (meine Hervorhebung). Wachstum war kein Thema mehr, weil eben Tausch ins Zentrum wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses geriet: "Neoclassical economics is distinguished from classical theory by the wholesale shift from a production and growth approach to a static analysis of an exchange economy" (Christensen 1989, 22; s. auch 27 und Salin 1967, 160f.). Das Erkenntnisinteresse der Neoklassik liegt nicht wie in der klassischen politischen Ökonomie beim Wachstum von Bevölkerung und Kapital, sondern bei der Allokationseffizienz (Barbier 1989, 4; Blaug 1990a, 159). Der Übergang zur neoklassischen Theorie mit ihrer Konzentration auf die Analyse von Austauschprozessen hat auch manifeste Konsequenzen für die Bedeutung des stationären Zustands.
Wachstum als sozioökonomische Realität wird also selbstverständlich, und zwar so sehr, daß die Wachstumstheorie – und folglich auch der ontologische Steady-State – erheblich an Bedeutung verliert. Im Hinblick auf die Wachstumsfrage liegt hier eine "klassische Situation" im Sinne Schumpeters vor: "On one point (...) both orthodox and heterodox economic analysts of the 1870 - 1914 period – with a few exceptions (...) – more or less silently agreed: the analysis of economic growth could be dropped from the agenda. Both groups assumed the existence of an ongoing, viable, expanding economic system" (Rostow 1990, 155) – die wichtigste der wenigen Ausnahmen ist natürlich Schumpeters (1952) Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Blaug (1985, 700f.) bemerkt zu dem geringen Interesse an Wachstum und Entwicklung in dieser Periode: "It takes no effort of historical perspective to realize that the second half of the 19th century invited a complacent attitude to economic growth: it is only natural than an author like Marshall should think that growth would take care of itself, provided that 'free' competition, supported by minimum state controls, would furnish an appropriate sociopolitical environment." Die sozioökonomische Entwicklung hatte das Interesse an Wachstum in den Hintergrund gerückt, und Sorgen um einen stationären Zustand schienen angesichts des zu beobachtenden Wachstums von Wirtschaft und Lebensstandard unbegründet. Im Gegensatz zur von Bevölkerungswachstum und sinkenden Erträgen dominierten klassischen Perspektive, so Barbier (1989, 23), "the views of Mill [sic; FL], Jevons and Marshall on natural-resource scarcity signal an important transition from the classical to the more modern analysis of the problem. Of particular importance was the recognition of the new role of exhaustible resources in an industrialized economic process and the welfare implications of essential environmental services. But most significantly, the failure of the gloomier classical prognoses on the fate of the economy from increasing scarcity of land as well as the erroneous assumptions that Jevons made in analysing the future scarcity of coal, allowed Marshall and the new neo-classical economists to adopt a far more optimistic view of natural-resource scarcity – if they bothered to think it a problem worth considering any longer." Bei Marshall erscheint der stationäre Zustand – trotz einiger wachstumsskeptischer Äußerungen Marshalls – denn auch nicht mehr als realwirtschaftliche Prognose, sondern nur noch als analytische Konstruktion.
7.4.4. Marshall und die "Fiktion" des stationären Zustands
Marshalls Principles of Economics markieren nicht nur die Etablierung neoklassischen Denkens als Mainstream, sondern auch einen Bruch im Hinblick auf die Rolle von Stationarität im ökonomischen Denken.: "His (very slight) use of the stationary state marks a clear end to its significance in economic analysis. For Marshall, the stationary state is a 'fiction' that is a conveniently simple model with which to begin analysis" (Brandis 1989, 77). Marshall (1961, 366) spricht von der "famous fiction of the 'Stationary state'" – der stationäre Zustand erscheint als Phantasiegebilde, das mit wirtschaftlicher Realität so gut wie nichts gemein hat. "Smith thought the stationary state might actually arrive, that it had, in fact, appeared in China and other places. Marshall is quite clear that the stationary state is a fiction, an analytical instrument simply. But the basic conception is there, and that, of course, in a form whose effectiveness is vastly enhanced by all Marshall's own analytical improvements. (...) It is the stationary state of the classics lifted on to a new plane of scientific precision" (Robbins 1930, 201). Marshall läutet damit eine Bedeutungsverschiebung des Steady-State in der ökonomischen Theorie ein: "In the neoclassical economics following Alfred Marshall, the equilibrium concept [Boulding meint den stationary state; FL] became more a construct and a heuristic device than a description of something which it was expected would be realized" (Boulding 1973d, 89; meine Hervorhebung).
Der stationäre Zustand, so Marshall (1961, 366f.), "obtains its name from the fact that in it the general conditions of production of consumption, of distribution and exchange remain motionless; but yet it is full of movement; for it is a mode of life" (meine Hervorhebung). Für ihn ist also der stationäre Zustand nicht durch Stillstand, sondern durchaus durch Bewegung gekennzeichnet. Ein stationärer Zustand mit konstanter Produktion und Bevölkerung habe aber nichts mit der realen Welt zu tun: "Here every economic force is constantly changing its action, under the influence of other forces which are acting around it" (Marshall 1961, 368). Ein stationärer Zustand könne aber auch mit Wachstum einhergehen, denn "(n)early all its distinctive features may be exhibited in a place where population and wealth are both growing, providing they are growing at about the same rate, and there is no scarcity of land: and provided also the methods of production and the conditions change but little; and above all, where the character of man himself is a constant quality. For in such a state by far the most important conditions of production and consumption, of exchange and distribution will remain of the same quality, and in the same general relations to one another, though they are all increasing in volume" (meine Hervorhebungen). Ein wachsender stationärer Zustand bleibt also eine Fiktion, die aber der Realität näher kommt als ein wachstumsloser.
Marshalls Bedeutung für das Steady-State-Konzept liegt im "Vollzug" des Übergangs vom ontologischen zum analytischen Steady-State. Dennoch soll folgende Einschätzung Marshalls durch Rostow (1990, 188f.) nicht unerwähnt bleiben: "As for the long-term prospect for growth in the world economy as a whole, Marshall was (...) something of a limits-to-growth pessimist. Looking back and projecting forward the prospects for increase in population and the demands for food and raw materials, his sense was that, despite the potentialities of science, diminishing returns to natural resources would constrain the expansion of the world economy rather than diminishing relative marginal utility for real income itself, and he concluded that this constraint would prevail before the end of the twenty-first century. Thus, Marshall, on this point, was more kin to the older classical economists than to J.S. Mill and Marx" (die letzte Äußerung erklärt sich aus Rostows Auffassung, der stationäre Zustand bei Mill und Marx sei auf sinkenden Grenznutzen zurückzuführen). Marshall hat durchaus auch eine konsum- und wachstumskritische Seite (s. auch Falkinger 1986, 70ff.; Rostow 1990, 167; Stabile 1996, 693f.) – für seine Verwendung des stationären Zustands blieb dies freilich folgenlos.
7.5. Schumpeter und der stationäre Zustand
7.5.1. Schumpeters stationäre Zustände
Gegenüber Marshall steht bei Schumpeter Diskontinuität im Vordergrund. Robbins (1955, 20) weist darauf hin, daß gegenüber Marshall Schumpeters "conception of the world involved much more of discontinuity and seismic convulsions" (s. auch Schumpeter 1961, 237). Die zeitliche und paradigmatische Einordnung Schumpeters ist schwierig. Ist er aufgrund von Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie und seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung den 1910er Jahren zuzuordnen, angesichts der Konjunkturzyklen den 1930ern, oder aufgrund des Erfolgs von Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie den 1940ern? Wenn man die posthum veröffentlichte Geschichte der ökonomischen Analyse hinzunimmt, erstrecken sich Schumpeters Publikationen über fast ein halbes Jahrhundert. Theoretisch ist er ebenso schwer zu verorten. Bei aller Sympathie für Marx ist Schumpeter sicher kein Marxist, ein Keynesianer ist er auf gar keinen Fall, auch kein Neoklassiker. Er selbst hat sich stets gegen eine "Schumpeter-Schule" ausgesprochen (Seifert 1993, 13), und auch angesichts der in den letzten Jahren so expandierenden evolutorischen Ökonomik, für die Schumpeter den Referenzpunkt bildet, kann man wohl kaum von "Schumpeterismus" sprechen. Schumpeter entzieht sich – wie sonst nur wenige Ökonomen (z.B. Leontief) – der Zuordnung zu einem bestimmten Paradigma. Schumpeter ist Schumpeter.
Schumpeter hat sich Zeit seines Lebens mit stationären Zuständen befaßt. In den Epochen und noch mehr in der Geschichte setzt er sich mit den stationären Zuständen anderer Autoren auseinander, und im Wesen und Hauptinhalt der Nationalökonomie geht es um statische Analyse. In Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie geht es um den ontologischen Steady-State, d.h. um den stationären Zustand als Kennzeichen des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Hier steht der analytische Steady-State der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung im Mittelpunkt, eine Konstruktion, die von ihrer Anlage her der Marxschen einfachen Reproduktion näher als irgend einer anderen Steady-State-Konzeption steht. Marx hatte diese, wie gesagt, als analytische Konstruktion verwendet, mit der er die realwirtschaftliche Wachstumsdynamik kontrastierte. Dieselbe Funktion hat der "Kreislauf" in Schumpeters Theorie. Es ist sinnvoll, sich vor der Auseinandersetzung mit der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung kurz den nach und vor diesem Text erschienenen Werken zuzuwenden – wobei ich aus inhaltlichen Gründe mit dem jüngsten Werk beginne.
In der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung dient Stationarität als analytischer Ausgangspunkt für die theoretische Untersuchung wirtschaftlicher Entwicklung. In Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie unternimmt Schumpeter (1993, im Original 1942) eine historisch-prognostische Untersuchung des Entwicklungsprozesses, und hier erscheint Stationarität als Endpunkt dieser Entwicklung. Schumpeter legt gleichsam eine nicht-marxistische Zusammenbruchsthese vor. Der Kapitalismus, so Schumpeter, werde an seinem eigenen Erfolg zugrundegehen. Dieser Erfolg werde dazu führen, daß die zentrale Funktion des Unternehmers, die Gegenstand der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung ist, zu existieren aufhört. Wenn schöpferische Zerstörung aufhört, bedeutet dies das Ende des Kapitalismus.
"Schöpferische Zerstörung" ist ein Schlüsselbegriffs dieses Werkes. Schumpeter (1993, 137f.) spricht vom "Prozeß einer industriellen Mutation (...), der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozeß der 'schöpferischen Zerstörung' ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum. Darin besteht der Kapitalismus und darin muß auch jedes kapitalistische Gebilde leben" (seine Hervorhebung). Im Zuge der kapitalistischen Entwicklung verliert die schöpferische Zerstörung an Bedeutung, und dieser Bedeutungsverlust ist im kapitalistischen System selbst angelegt: "Indem der Kapitalismus den prae-kapitalistischen Gesellschaftsrahmen zerbrach, hat er nicht nur Schranken niedergerissen, die seinen Fortschritt hemmten, sondern auch Strebepfeiler, die seinen Einsturz verhinderten" (Schumpeter 1993, 225f.). Einer dieser Strebepfeiler ist die Klasse derjenigen, die Träger der schöpferischen Zerstörung sind, und deren Funktion wird zunehmend ausgehöhlt: "Der kapitalistische Prozeß vermindert (...) letzten Endes die Bedeutung der Funktion, dank welcher die kapitalistische Klasse lebt" (Schumpeter 1993, 231).
Die gesellschaftlichen Bedingungen dieser Klasse verschlechtern sich: "Angesichts der zunehmenden Feindseligkeit der Umgebung und angesichts der aus dieser Feindseligkeit geborenen gesetzgeberischen, administrativen und richterlichen Praxis werden die Unternehmer und Kapitalisten – de facto die ganze Schicht, die die bürgerliche Lebensform angenommen hat – zuletzt zu funktionieren aufhören" (Schumpeter 1993, 252). Die beiden Hauptakteure der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung – der Unternehmer, der die Dinge verändert und der Kapitalist, der diese Veränderung finanziert – verlieren im Lauf der kapitalistischen Entwicklung also an Bedeutung – was nicht weniger zur Folge hat als das Ende dieser Entwicklung. "Der gleiche ökonomische Prozeß, der die Stellung der Bourgeoisie unterhöhlt, indem er die Bedeutung der Unternehmer- und der Kapitalistenfunktion vermindert, die schützenden Schichten und Institutionen zerbricht und eine Atmosphäre der Feindseligkeit schafft, zersetzt somit auch von innen heraus die treibenden Kräfte des Kapitalismus" (Schumpeter 1993, 261; meine Hervorhebung). Schumpeter (1993, 261) meint, damit etwas wiederentdeckt zu haben, was schon oft – allerdings mit unzulänglicher Begründung – entdeckt worden sei: "dem kapitalistischen System wohnt eine Tendenz zur Selbstzerstörung inne, die in ihren ersten Stadien sich sehr wohl in der Form einer Tendenz zur Verlangsamung des Fortschritts äußern kann" (meine Hervorhebungen).
Letztlich führt die Entwicklung auch dazu, daß die Politik den Systemanforderungen nicht mehr gerecht wird: "Die soziale Atmosphäre (...) erklärt, warum die allgemeine Politik den kapitalistischen Interessen immer feindlicher wird, letzten Endes so sehr, daß sie grundsätzlich ablehnt, die Erfordernisse der kapitalistischen Maschine zu berücksichtigen, und daß sie für ihr Funktionieren zu einem ernsthaften Hindernis wird" (Schumpeter 1993, 249). Dies leitet über zu einem Verschwinden des Kapitalismus, allerdings nicht ohne das Hervorbringen eines neuen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems: "Der kapitalistische Prozeß zerstört nicht nur seinen eigenen institutionellen Rahmen, sondern schafft auch die Voraussetzungen für einen anderen" (Schumpeter 1993, 262) – nämlich den sozialistischen. "Der kapitalistische Prozeß bringt Dinge und Seelen für den Sozialismus in Form" (Schumpeter 1993, 351).
Führt dies auch in eine stationäre Wirtschaft? Eine kapitalistische Wirtschaft könne, so Schumpeter (1993, 59, 136) nicht stationär sein. Folgt daraus aber, daß eine nicht-kapitalistische Wirtschaft stationär sein muß? Es spricht einiges für die Annahme, daß aus Schumpeters Sicht der auf den abgestorbenen Kapitalismus folgende Sozialismus eine stationäre Wirtschaft ist (vgl. z.B. Schumpeter 1993, 284f., 310f., 335). Für Schumpeter sind wirtschaftliche Dynamik und Kapitalismus zwei Seiten derselben Medaille – wirtschaftlicher Entwicklung. Das eine kann ohne das andere nicht exisitieren. Verlust an Dynamik, das Einschwenken in einen stationären Zustand ist deshalb mit dem Ende des Kapitalismus identisch. Schumpeters Prognose über die Zukunft des Kapitalismus ähnelt der Marxschen: Der Kapitalismus ist nicht dauerhaft überlebensfähig.
Schumpeters 1939 erschienenes Werk über Konjunkturzyklen betont den evolutionären Charakter wirtschaftlicher Entwicklung, er spricht von der "wissenschaftliche(n) Analyse eines organischen Prozesses" und vom "Funktionieren des wirtschaftlichen Organismus" (Schumpeter 1961, 6, 13). "Wo das Wirtschaftssystem nicht als ein stationäres behandelt wird, wird es von den besten Autoritäten als ein Prozeß organischen Wachstums angesehen, das sich einfach den sich verändernden Daten anpaßt" (Schumpeter 1961, 41). Mit "stationärem Kreislauf" meint Schumpeter das Modell "eines sich nicht verändernden Wirtschaftsprozesses, der mit konstanter Geschwindigkeit abläuft und lediglich sich selbst reproduziert" (Schumpeter 1961, 42). Auch in den Konjunkturzyklen betont Schumpeter (s. 1961, 234) die Bedeutung kreditfinanzierter Innovationen.
Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie (Schumpeter 1970) ist eine Auseinandersetzung mit ökonomischer Statik. Dort dient ein Steady-State als analytisches Konstrukt: Konstanz der Qualität und Menge der Güter. Schumpeter (1970, 128) kennzeichnet diese Annahmen als "Fiktionen" und verdeutlicht seine Herangehensweise mit folgender Analogie: "Wir nehmen sozusagen eine Momentphotographie der Volkswirtschaft auf. Das Bild zeigt alle Vorgänge in einem bestimmten Stadium und in scheinbarer Ruhe. Wir sind uns aber bewußt, daß in Wirklichkeit lebensvollste Bewegung herrscht und wünschen, Einiges davon zu beschreiben" (Schumpeter (1970, 142; meine Hervorhebung). Schumpeter (1970, 186) betont, daß Phänomene der Entwicklung der Statik nicht zugänglich sind: "Ja – die Entwicklung und alles, was zu ihr gehört, entzieht sich unserer Betrachtung, das reinökonomische System ist essentiell entwicklungslos. (...) Für jenes große Problem sind ganz andere Momente entscheidend, als jene, die unser System zur Darstellung bringt und die Kompliziertheit der in Betracht kommenden Verhältnisse wird wohl noch für lange eine exakte Betrachtung ausschließen." Dieses "lange" dauerte drei Jahre: 1911 erscheint Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Dieses Buch schließt sich an das Wesen und Hauptinhalt an (Schumpeter 1952, X).
7.5.2. Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung – Der "Kreislauf" als analytischer Steady-State
Der Untersuchungsgegenstand der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung wurde von Schumpeter später stets wieder aufgenommen, immer wieder werden die Verbindungen dieses Werkes mit anderen Texten hervorgehoben, z.B. mit Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (s. Baumol 1970, 22, Fn. 2; Rostow 1990, 234). In seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung grenzt Schumpeter (1952, im Original 1911) den stationären Zustand von wirtschaftlicher Entwicklung ab (er geht dabei von einer geschlossenen Volkswirtschaft aus). "Der Kreislauf der Wirtschaft in seiner Bedingtheit durch gegebene Verhältnisse" (1952, Kap. 1), wie Schumpeter den stationären Zustand nennt, dient dabei quasi als Hilfsmittel, um im Anschluß an die Darstellung dieses Kreislaufs die Merkmale wirtschaftlicher Entwicklung herauszuarbeiten. Schumpeter (1952, 85f.) glaubt nachweisen zu können – und hier unterscheidet er sich nach eigener Einschätzung von Mill –, "daß der statische Zustand nicht alle ökonomischen Grundphänomene enthält, sondern daß das Leben einer stationären Volkswirtschaft sich von dem einer nichtstationären wesentlich und in seinen Grundprinzipien unterscheidet" (meine Hervorhebung). Diese Kontrastierung von Stationarität und Entwicklung ist von offensichtlichem Interesse für die Beantwortung der Frage, ob ein Steady-State Grundlage einer nachhaltigen Entwicklung sein kann. Schumpeter (1952, 54) beschreibt im ersten Kapitel einen stationären Zustand und versteht darunter eine Wirtschaft, in der "in jeder Wirtschaftsperiode nur Produkte – konsumtiv oder produktiv – verbraucht werden, die in der vorhergehenden Wirtschaftsperiode erzeugt wurden, und nur Produkte erzeugt werden, die in der folgenden – konsumptiv oder produktiv – verbraucht werden". Im stationären Zustand existieren also, wie bei der Marxschen einfachen Reproduktion, keine Nettoinvestitionen.
Der Kreislauf "mit seiner starren Konstanz, seiner Friktionslosigkeit, seinen Menschen, die sich stets gleichbleiben, und seinen Gütermengen, die sich in stets gleicher Weise erneuern" (Schumpeter 1952, 77), ist ein analytisches Schema. Diese analytische Konstruktion des Kreislaufs, der durch "(s)tets gleiches wirtschaftliches Handeln zu größtmöglicher Bedürfnisbefriedigung auf Grund gegebener Verhältnisse" (Schumpeter 1952, 75) geprägt ist, stellt eine Wirtschaft im Gleichgewichtszustand dar. Aufgrund der Eigenschaften des Kreislaufs spricht er "von einer ruhenden, passiven, von den Umständen bedingten, stationären, von einer statischen Wirtschaft. Der Ausdruck 'statisch' ist nicht glücklich, ruft er doch die Vermutung einer tatsächlich durchaus nicht vorliegenden Anlehnung an die Mechanik wach. Aber auch die übrigen Ausdrücke haben ihre Mängel, und zwar solche, vor denen sich nicht so einfach warnen läßt. Die statische Wirtschaft 'ruht' nicht, es läuft ja der Kreislauf des wirtschaftlichen Lebens ab; sie ist nicht schlechthin 'passiv', sondern nur in einem bestimmten Sinne; sie ist nicht absolut durch die Umstände 'bedingt', die Wirtschaftssubjekte könnten ja auch anders handeln; sie ist endlich auch nicht einfach 'stationär', vielmehr würde sich das Wesen der Sache auch nicht ändern (...), wenn z.B. die Bevölkerung stetig wüchse" (Schumpeter 1952, 75f.; seine Hervorhebungen). Schumpeter (1952, 8) grenzt seine analytische Konstruktion explizit von einer sich entwickelnden Wirtschaft ab: "(W)enn wir eine schlechthin bewegungslose Wirtschaft schildern, so nehmen wir wohl eine Abstraktion vor, aber nur zum Zwecke der Darlegung des Kernes dessen, was wirklich geschieht" (meine Hervorhebung). Diese Abstraktion wird auch nicht in Frage gestellt, im Geleitwort zur vierten Auflage der Theorie deutet Schumpeter (1952, XIX) aber an, daß sie bisweilen durchaus ihre Entsprechung in der wirtschaftlichen Realität haben kann: "Wir können zwar das theoretische Bild des wirtschaftlichen Gleichgewichts dem Ungleichgewichtszustand eines jeden historischen Zeitpunkts entgegenhalten, aber dieses wirkliche Ungleichgewicht ist an gewissen, statistisch und historisch feststellbaren Strecken oder Punkten des geschichtlichen Ablaufs dem theoretischen Gleichgewicht näher als an anderen" (seine Hervorhebungen). Dennoch ist Schumpeters Theorie nicht als Darstellung eines historischen Prozesses zu interpretieren, wie Heilbroners (1986, 294) Formulierung das andeutet: "The model resembles the stationary state envisaged by Ricardo and Mill, with the difference that the stationary state seemed the end of capitalism to the earlier writers, whereas for Schumpeter it was the setting for the beginning of capitalism" (s. auch 1988, 167). Im Rahmen der konjunkturtheoretischen Erörterungen am Ende der Theorie klingt zwar an, daß Schumpeter den entwicklungslosen Zustand durchaus als historische Vorphase der kapitalistischen Entwicklung sah. Zwar werde nie "ein Zustand erreicht, der dem theoretischen Bild der Entwicklungslosigkeit völlig entspricht und in dem es etwa kein Zinseinkommen mehr gäbe" (1952, 357). Eine Annäherung an diesen Zustand sei im Laufe des Zyklus' gäbe es aber tatsächlich, und dieser Zustand sei wiederum "Ausgangspunkt für die Durchsetzung neuer Kombinationen". Erst der Nachweis der "Notwendigkeit eines solchen periodischen Gleichgewichtszustandes" schließe den Kreis des Gedankenganges: "Denn wir sind ausgegangen von einem solchen Zustand, aus dem sich die kapitalistische Entwicklungswelle erstmalig – gleichgiltig wann das historisch der Fall war – erhebt" (Schumpeter 1952, 357f.; meine Hervorhebung). Entscheidend ist hier allerdings, daß sich über den analytischen Status des Kreislaufs kein begründeter Zweifel ergibt.
Der stationäre Zustand entspricht bei Schumpeter dem "normalen Kreislauf einer Volkswirtschaft, in der der Produktionsprozeß jahraus jahrein denselben Weg zurücklegt und alle Daten jahraus jahrein dieselben bleiben" (Schumpeter 1952, 44). Im Kreislauf klafft "keine Lücke zwischen Aufwendung und Bedürfnisbefriedigung" (Schumpeter 1952, 49). Eine wichtige Eigenschaft dieses Kreislaufs ist, daß stets dieselben Güter mit denselben Produktionsmitteln hergestellt werden und daß in einer Periode verbrauchte Produkte in der vorhergehenden produziert wurden und die produzierten Produkte erst in der nächsten verbraucht werden – das "'Ineinanderschachteln' der Wirtschaftsperioden" (Schumpeter 1952, 54). Im Kreislauf existieren nur konstante und sich in der gleichen Weise erneuernde Gütermengen (Schumpeter 1952, 77). Hieraus resultiert auch, daß im Kreislauf im Prinzip kein Unterschied zwischen Gegenwart und Zukunft besteht, da sich ja die Wirtschaftsperioden lediglich wiederholen. Eine Zeitpräferenz existiert nicht. "Ein psychisches Geringersehen künftiger Bedürfnisse müßte sich für jedes Wirtschaftssubjekt rächen. Es kommt aber noch hinzu, daß normalerweise zu einem Vergleiche gegenwärtiger und zukünftiger Werte kein Anlaß vorhanden ist. Denn die Wirtschaft geht ihren bestimmten Weg. Sie ist auf gewisse Produktionen einmal eingerichtet. Der laufende Produktionsprozeß muß jedenfalls zu Ende geführt werden. Da hilft kein Überschätzen gegenwärtiger Bedürfnisse. Und wenn das geschehen ist, dann sind die künftigen Bedürfnisse zu gegenwärtigen geworden. Eine Wahl zwischen Gegenwart und Zukunft haben die Wirtschaftssubjekte gar nicht" (Schumpeter 1952, 46; meine Hervorhebungen). Der Kreislauf ist nicht nur durch ein ökonomisches Gleichgewicht, sondern auch durch ein soziales gekennzeichnet: "Dieses soziale Gleichgewicht ist der ideale Zustand, in dem die wesentlichen Tendenzen der Volkswirtschaft soweit zum reinsten, vollkommensten Ausdruck kommen. Bedürfnisse in Beziehung gesetzt zu einer bestimmten physischen und sozialen Umwelt halten sich in ihm die Wage und an ihm und seinen Veränderungen erkennt man am klarsten, daß sie das Alpha und Omega des soweit geschilderten Kreislaufs sind" (Schumpeter 1952, 73).
Der Kreislauf ist ein sich ständig erneuernder Güterstrom. "Vorräte" (abgesehen von denen bei Produktion und Tausch immer notwendigen Vorräten) existieren nicht. "Die Vorräte in diesem Sinne gleichen dem Bette eines Flusses mehr als dem Wasser, das hindurchfließt. Dieser Strom wird aus den stetig fließenden Quellen der Arbeitskraft und des Bodens gespeist und fließt in jeder Wirtschaftsperiode in jene Reservoirs, die wir Einkommen nennen, um sich dort in Bedürfnisbefriedigungen umzusetzen" (Schumpeter 1952, 59f.). Sparen spielt in einer solchen Wirtschaft keine große Rolle, Kreditgeschäfte sind in ihr nicht notwendig, und es existieren weder Zinsen noch Kapital noch Gewinn. Der Gewinn ist die Differenz zwischen Kosten und Erlösen. "Und diese Differenz ist im Gleichgewichtszustande der Volkswirtschaft gleich Null" (Schumpeter 1952, 38). Nach Schumpeter kann es im "Kreislauf" also keine Gewinne geben: "Vielmehr werden in jeder Wirtschaftsperiode alle vorhandenen, also die in unserem Sinn in der vorhergehenden produzierten, Genußgüter den in dieser Periode zur Verwendung kommenden Arbeits- und Bodenleistungen zufallen, mithin alle Einkommen unter dem Titel von Lohn oder Grundrente verzehrt werden. (...) Der ganze Produktionsertrag fällt denen zu, die Arbeits- oder Naturleistungen beizusteuern haben." (Schumpeter 1952, 57f.; meine Hervorhebung; s. auch 78). Im Kreislauf existiert folglich auch kein Kapital (hier selbstverständlich verstanden als Kaufkraft): "In einer entwicklungslosen Volkswirtschaft gibt es (...) kein 'Kapital' oder, anders gesagt, das Kapital erfüllt seine charakteristische Funktion nicht, ist kein selbständiges Agens, sondern verhält sich neutral. (...) Nach unsrer Auffassung ist also das Kapital ein Begriff der Entwicklung, dem nichts im Kreislauf entspricht. Dieser Begriff verkörpert einen Aspekt der wirtschaftlichen Vorgänge, den uns eben nur die Entwicklung suggeriert" (Schumpeter 1952, 172f.; seine Hervorhebung).
Schumpeter (1952, 93) vergleicht den Kreislauf mit dem Blutkreislauf des tierischen Organismus – wenn aber der wirtschaftliche Kreislauf sich und seine Bahn verändert, "verläßt uns die Analogie mit dem Blutkreislauf." Der von Schumpeter geschilderte Kreislauf enthält nichts, "was auf die Möglichkeit einer Entwicklung aus sich selbst heraus hindeuten würde" (Schumpeter 1952, 75; meine Hervorhebung). Und hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen Stationarität und wirtschaftlicher Entwicklung, unter der Schumpeter (1952, 95) "nur solche Veränderungen des Kreislauf des Wirtschaftslebens" versteht, "die die Wirtschaft aus sich selbst heraus zeugt, nur eventuelle Veränderungen der 'sich selbst überlassenen', nicht von äußerem Anstoße getriebenen Volkswirtschaft" (meine Hervorhebung). Der Anspruch, der Wirtschaft endogene Veränderungen zu erklären, hat Schumpeter zum geistigen Übervater der evolutorischen Ökonomik werden lassen. Bis zum Aufkommen dieser Richtung war er in der Tat der einzige bedeutende Ökonom, der sich diesem Problem erfolgreich zuwandte – mit der großen Ausnahme von Marx, deren Lehre Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung nach eigener Auffassung (Schumpeter 1952, XXIII) sehr nahe steht und dem Schumpeter nicht nur in dieser Hinsicht an vielen Stellen seines Werkes Tribut zollt (s. z.B. Schumpeter 1952, 84) und die Auffassung, Marxens Theorie sei "evolutionär wie keine andere ökonomische Theorie" [Schumpeter 1965, 489]). Marxens "Vision der ökonomischen Evolution als eines besonderen durch das ökonomische System selbst erzeugten Prozesses" war für Schumpeter (1952, XXIII) zweifellos eine wichtige Inspiration.
Es kommt Schumpeter auf qualitative Veränderungen an, nicht auf bloßes Wachstum. Das "bloße Wachstum der Wirtschaft, wie es sich in Bevölkerungs- und Reichtumszunahme darbietet", ist nicht Entwicklung, "(d)enn es ruft keine qualitativ neuen Erscheinungen hervor, sondern nur Anpassungsvorgänge derselben Art wie etwa die Änderungen der natürlichen Daten" (Schumpeter 1952, 96). Entwicklung definiert Schumpeter (1952, 100) als "Durchsetzung neuer Kombinationen" (s. auch Kapitel 4). Dabei können fünf Fälle unterschieden werden: Herstellung neuartiger Produkte, Einführung von neuen Produktionsmethoden, Erschließung neuer Absatzmärkte, Eroberung neuer Rohstoffquellen sowie die Veränderung von Marktstrukturen ("Durchführung einer Neuorganisation") (Schumpeter 1952, 100f.). Nur bei Vorliegen einer dieser Fälle der Durchsetzung von neuen Kombinationen kann nach Schumpeter von Entwicklung gesprochen werden.
Was aber sind die Voraussetzungen für wirtschaftliche Entwicklung? "Um überhaupt produzieren, seine neuen Kombinationen durchführen zu können, braucht der Unternehmer Kaufkraft. Und diese Kaufkraft wird ihm nicht, wie dem Produzenten im Kreislauf, automatisch im Erlös der Produkte aus der vorhergegangenen Wirtschaftsperiode dargeboten" (Schumpeter 1952, 148). Diese "Verbindung zwischen Kredit und Durchsetzung des Neuen" (Schumpeter 1952, 105) steht im Zentrum der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Schon in Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie hat Schumpeter (1970, 619) betont, daß die Bedeutung des Kreditphänomens "in der Dynamik, in der Bewegung, der Entwicklung [liegt]. Nur hier läßt sich sein Wirken beobachten, sein Wesen verstehen." Während Kredit im Kreislauf nicht existiert bzw. zumindest nicht existieren muß, ist Kreditvergabe für die Durchsetzung neuer Kombinationen grundsätzlich erforderlich (Schumpeter 1952, 105) – Entwicklung kann es nicht ohne Kreditvergabe geben. "Diesen Kredit bereitzustellen ist offenbar die Funktion jener Kategorie von Wirtschaftssubjekten, die man 'Kapitalisten' nennt. Ebenso offenbar ist das die der 'kapitalistischen' Wirtschaftsform eigene Methode – und wichtig genug, um als ihre differentia specifica zu dienen – die Volkswirtschaft in neue Bahnen zu zwingen, ihre Mittel neuen Zielen dienstbar zu machen, im Gegensatz zur Methode der geschlossenen oder Planwirtschaft jeder Art, die einfach in der Ausübung der Befehlsgewalt des leitenden Organs besteht" (Schumpeter 1952, 104f., s. auch 165). Der Kredit ist "die Quelle, aus der die Durchsetzung neuer Kombinationen typisch finanziert wird" (Schumpeter 1952, 109). "Jene Wirtschaftsform, in der die für neue Produktionen nötigen Güter ihren Bestimmungen im Kreislauf durch die Intervention der Kaufkraft entzogen werden, d.h. durch Kauf auf dem Markte, ist die kapitalistische Wirtschaft" (Schumpeter 1952, 165; seine Hervorhebung). Durchsetzung neuer Kombinationen mit Hilfe von Krediten ist für Schumpeter also das Kennzeichen des Kapitalismus. Kapitalisten stellen hier aber lediglich die Mittel für die Entwicklung zu Verfügung – die Entwicklung selbst wird durch den Unternehmer angestoßen.
Unternehmer sind, so Schumpeter (1952, 111), "die Wirtschaftssubjekte, deren Funktion die Durchsetzung neuer Kombinationen ist und die dabei das aktive Element sind." Der Begriff des Unternehmers bezieht sich mithin auf seine Funktion und nicht auf seinen Status z.B. als Fabrikherr oder Industrieller (Schumpeter 1952, 112). Unternehmer ist folglich auch eine Position, die gleichsam "verloren" gehen kann, nämlich dann, wenn das betreffende Subjekt aufhört, neue Kombinationen durchzusetzen. Wer eine Unternehmung nach Durchsetzung einer neuen Kombination "kreislaufmäßig weiterbetreibt" (Schumpeter 1952, 116), ist also kein Unternehmer. Deshalb bleibt auch nur selten jemand "durch die Jahrzehnte seiner Kraft immer Unternehmer" (Schumpeter 1952, 116). Unternehmersein ist weder Beruf noch Dauerzustand, noch gibt es im üblichen Sinne eine "Klasse" von Unternehmern: "Die Erfüllung der Unternehmerfunktion schafft klassenmäßige Positionen für den erfolgreichen Unternehmer und die Seinen, sie kann auch einer Zeit ihren Stempel aufdrücken, Lebensstil, moralisches und ästhetisches Wertsystem formen, aber sie bedeutet an sich ebensowenig eine Klassenposition, als sie eine voraussetzt" (Schumpeter 1952, 116; seine Hervorhebung). Auf Schumpeters Ausführungen über den Unternehmer (und dessen "Führerqualitäten" sowie die Unterscheidung zwischen Unternehmer und "Wirt"), die schließlich zum Begriff des "Schumpeterschen Unternehmers" geführt haben, will ich hier nicht eingehen. (79) Es ist hinreichend, festzuhalten: Sobald und solange innoviert wird, kann es einen stationären Zustand im Sinne von Schumpeters Kreislauf nicht geben. Der Unternehmer in Schumpeters Theorie "vitalizes the circular flow" (Heilbroner 1988, 170) und fungiert als "Auslöser von Entwicklungsschüben " (Wienert 1990, 367), der dem stationären Kreislauf ein Ende bereitet: "Ohne Entwicklung kein Unternehmergewinn, ohne Unternehmergewinn keine Entwicklung" (Schumpeter 1952, 236). Auch in seinem letzten Werk bezeichnet Schumpeter (1965, 679) den Unternehmer als "Angelpunkt", um den sich im Kapitalismus alles drehe.
Von Interesse ist aber die Rolle, die das Kapital in der wirtschaftlichen Entwicklung à la Schumpeter spielt – und die es im stationären Zutand à la Schumpeter folglich nicht spielt. Der Unternehmer braucht, wie gezeigt, Kredit, um die Durchsetzung neuer Kombinationen zu finanzieren. Dieser Kredit versorgt den Unternehmer mit Kaufkraft bzw. mit – was für Schumpeter dasselbe ist – Kapital. Kapital, so Schumpeter (1952, 165), "ist nichts andres als der Hebel, der den Unternehmer in den Stand setzen soll, die konkreten Güter, die er braucht, seiner Herrschaft zu unterwerfen, nichts andres als ein Mittel, über Güter zu neuen Zwecken zu verfügen oder als ein Mittel, der Produktion ihre neue Richtung zu diktieren" (seine Hervorhebung). Hierin und nur hierin besteht die Funktion des Kapitals (Schumpeter 1952, 171). Kapital ist also "das Mittel der Güterbeschaffung" (Schumpeter 1952, 167). Güter selbst, Produktionsmittel wie Rohstoffe oder Maschinen, sind für Schumpeter kein Kapital. Kapital ist hier nur eines, und zwar "ein Fonds von Kaufkraft" (Schumpeter 1952, 170). Wirtschaftliche Entwicklung – Durchsetzung neuer Kombinationen – ist ohne Kapital nicht möglich.
Im "Kreislauf" hat Kapital demnach keinerlei Funktion. In einer entwicklungslosen Volkswirtschaft würde es folglich auch keinen Geldmarkt geben (Schumpeter 1952, 202). Und: Im stationären Kreislauf existiert kein Produktivzins, denn dieser hat seine Quelle im Unternehmergewinn, den es im Kreislauf nicht gibt (Schumpeter 1952, 241). Im Kreislauf existieren außer Lohn, Grundrente und Monopolgewinn keine Reinerträge (Schumpeter 1952, 263). "Der Zins ist ein Preiselement der Kaufkraft als Herrschaftsmittel über Produktionsgüter" (Schumpeter 1952, 273; seine Hervorhebung), und dieses existiert nur in einer sich entwickelnden Wirtschaft. Zinsen existieren nur dort, wo Wirtschaftssubjekte mit Hilfe eines Darlehens einen höheren Betrag erzielen können, als zurückzuzahlen ist, und diese Situation gibt es im Kreislauf nicht. "Nun ist es innerhalb eines im Gleichgewichte befindlichen Markts unmöglich, daß man mit einer bestimmten Geldsumme sich eine größre Geldsumme verschaffen könnte. (...) Denn das ist eben das Charakteristikon des Gleichgewichtszustandes, daß er die – unter den gegebenen Verhältnissen im weitesten Sinne – beste Kombination der produktiven Kräfte darstellt" (Schumpeter 1952, 287). In der Entwicklung ist das anders: "Nur da kann ich einen höhern Erlös für mein Produkt erzielen. Wenn ich nämlich eine neue Kombination der Produktivkräfte, die ich um hundert Geldeinheiten gekauft habe, durchsetze und ein neues höherwertiges Produkt auf den Markt bringe, so kann ich tatsächlich mehr lösen. Denn die Preise der Produktivmittel wurden ja nicht mit Hinblick auf diese Verwendung festgesetzt, sondern nur mit Hinblick auf die bisherigen Verwendungen. Hier also ist der Besitz einer Geldsumme das Mittel, sich eine größre Geldsumme zu verschaffen. Deshalb und insofern wird man im Geschäftsleben eine gegenwärtige Summe regelmäßig und systematisch höher schätzen als eine künftige. Deshalb werden daher gegenwärtige Geldsummen – gleichsam als potentielle größere Geldsummen – ein Wertagio und damit auch ein Preisagio haben. Und darin liegt die Erklärung des Zinses." (Schumpeter 1952, 287f.; seine Hervorhebungen). Nur wirtschaftliche Entwicklung in Schumpeters Sinne führt in seinem Modell zur Existenz von Zinsen, die es im Kreislauf, also im stationären Zustand, nicht geben kann.
7.5.3. Wie "ökologisch" ist der Schumpetersche Kreislauf?
Schumpeters Kreislauf ist ein analytischer Steady-State. In dieser Konstruktion spielen nur die Faktoren Arbeit und Boden eine Rolle – der Kreislauf läuft also allein aufgrund ursprünglicher Produktionsfaktoren, Kapital in Schumpeters Sinn ist hier nicht erforderlich, es hätte keine ökonomische Funktion. Auch technischer Fortschritt spielt keine Rolle, dieser tritt erst in einer sich entwickelnden Wirtschaft in Erscheinung. Schumpeters dezidierte Abgrenzung von Stationarität und Entwicklung macht überdeutlich, daß der Steady-State hier als entwicklungsloser Zustand begriffen wird – in der Verdeutlichung von Entwicklungslosigkeit liegt seine Funktion. Daß die Differenz von Steady-State und Entwicklung so deutlich herausgearbeitet wird, macht die Relevanz des Schumpeterschen Kreislaufs für die aktuelle Debatte über Sustainable Development und Steady-State aus. Nicht ohne Grund wird im Kontext der Diskussion über nachhaltige Entwicklung immer wieder auf Schumpeters Theorie rekurriert. Über diese Rezeption ist aber hinauszugehen, wenn die Theorie zum Verständnis der aktuellen Probleme beitragen soll. Dazu gehört auch die Nicht-Identität von Wachstum und Entwicklung im Schumpeterschen Schema sowie die Differenzierung zwischen Stationarität, Wachstum und Evolution.
Auf den ersten Blick gibt der – analytische – Steady-State aus Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung für die Betrachtung ökologischer Stationarität wenig her. Schumpeter sagt dort etwas zum analytischen Konstrukt des Kreislaufs, im Gegensatz zu den Klassikern aber nichts zu einem stationären Zustand als Eigenschaft einer tatsächlichen Wirtschaft. Gleichwohl sind einige seiner auf den Kreislauf bezogenen Äußerungen auch für die Eigenschaften des ökologischen Steady-State von Interesse. Schumpeter zeigt sehr deutlich, wie sich eine stationäre Wirtschaft von einer nichtstationären unterscheidet. Der stationäre Zustand ist in seinem Schema der Inbegriff einer entwicklungslosen Volkswirtschaft. Wirtschaftliche Entwicklung ist für Schumpeter explizit "un-stationär". Für ihn (wie für Marx) ist der kapitalistische Entwicklungsprozeß durch permanente Veränderungen gekennzeichnet, die einen stationären Zustand verunmöglichen. Stationärer Zustand (der Kreislauf) und wirtschaftliche Entwicklung sind in Schumpeters Augen also diametral.
7.6. Zwischen Schumpeters Entwicklung und neoklassischem Wachstum: Stationarität als Zukunftsvision
7.6.1. Keynes, säkulare Stagnation und die wirtschaftlichen Möglichkeiten nachkommender Generationen
"I feel sure that the demand for capital is strictly limited in the sense that
it would not be difficult to increase the stock of capital up to a point
where its marginal efficiency had fallen to a very low figure."
(Keynes 1973, 375)
Keynes (1972d, xviii), so macht er im Vorwort zu den Essays in Persuasion (in dem die meisten der hier zitierten Keynes-Texte erschienen sind) deutlich, "hopes and believes that the day is not far off when the economic problem will take the back seat where it belongs, and that the arena of the heart and head will be occupied, or reoccupied, by our real problems – the problems of life and of human relations, of creation and behaviour and religion." Als "central thesis throughout" seiner Essays in Persuasion nennt Keynes (1972d, xviii) "the profound conviction that the economic problem, as one may call it for short, the problem of want and poverty and the economic struggle between classes and nations, is nothing but a frightful muddle, a transitory and an unnecessary muddle" (seine Hervorhebung).
Keynesianische Politik war bekanntlich "designed for a stagnant economy with unused capacity, not a steady state economy as defined by Daly" (Gowdy 1991, 83) – und doch weisen gerade Keynes' Langfristbetrachtungen in Richtung einer stationären Wirtschaft. Keynes war also entgegen einer weit verbreiteten Auffassung "kein Wachstumsfetischist, sondern hatte, basierend auf seiner Idealvorstellung einer sozial und wirtschaftlich gerechten und die Freiheit des einzelnen garantierenden Gesellschaft, relativ konkrete Vorstellungen von einer lebenswerten Zukunft mit einer stationären Wirtschaft" (Nolte/Schaaff 1994, 307f.). Dies gilt besonders für Economic Possibilites for Our Grandchildren (Keynes 1972c). Bemerkenswert an diesem Text ist zunächst – vielleicht neben der Tatsache, daß Keynes keine Enkel hatte – das Datum der Erstveröffentlichung: 1928 als Vortrag gehalten und 1930 umgearbeitet, erscheint der Text 1930 – mitten in der Weltwirtschaftskrise. Keynes setzt sich in diesem Text nicht nur mit den ökonomischen Möglichkeiten zukünftiger Generationen auseinander, sondern auch mit den Problemen, die sich aus dem Übergang zum von ihm prognostizierten neuen ökonomischen Zeitalter ergeben.
Dieser Übergang liegt darin, daß nach einer langen Phase quasi-stationären Wirtschaftens und einer Periode heftiger Veränderungen seit dem 19. Jahrhundert aufgrund von Kapitalakkumulation und technischer Innovationen, "mankind is solving its economic problem. I would predict that the standard of life in progressive countries one hundred years hence will be between four and eight times as high as it is today. There would be nothing surprising in this even in the light of our present knowledge. It would not be foolish to contemplate the possibility of a far greater progress still (Keynes 1972c, 325f.; seine Hervorhebung). Keynes unterscheidet hier zwischen relativen und absoluten Bedürfnissen (s. auch Abschnitt 5.3.2.3.): Absolute Bedürfnisse seien definitiv nicht unbegrenzt. Ohne größere Kriege und ohne größeres Bevölkerungswachstum, so Keynes (1972c, 326), "the economic problem may be solved, or be at least within sight of solution, within a hundred years. This means that the economic problem is not – if we look into the future – the permanent problem of the human race" (seine Hervorhebung). Und dies sei ein erschreckend, weil das ökonomische Problem – "the struggle for subsistence" (Keynes 1972c, 326) – bis jetzt das wichtigste und drängendste Problem der Menschheit (und anderer Lebewesen) gewesen sei, und dies nicht ohne Folgen: "Thus we have been expressly evolved by nature – with all our impulses and deepest instincts – for the purpose of solving the economic problem. If the economic problem is solved, mankind will be deprived of its traditional purpose" (Keynes 1972c, 327; meine Hervorhebung).
Ist die Lösung des ökonomischen Problems zu begrüßen oder muß ein kollektiver Nervenzusammenbruch ("general 'nervous breakdown'"; Keynes 1972c, 327) erwartet werden? Die unter solchen Bedingungen zur Verfügung stehende Freiheit könnte zum Problem werden, denn: "To those who sweat for their daily bread leisure is a longed-for sweet – until they get it" (Keynes 1972c, 327). Das Ende der Knappheit führt also zu einem neuen, einem dauerhaften Problem: "(F)or the first time since his creation man will be faced with his real, his permanent problem – how to use his freedom from pressing economic cares, how to occupy the leisure, which science and compound interest will have won for him, to live wisely and agreeably and well." Keynes kontempliert also einen stationären Zustand. Dieser stationäre Zustand im Überfluß, wie man Keynes Szenario wohl charakterisieren kann, wird tiefgreifende Auswirkungen auf das Funktionieren der Gesellschaft haben: "When the accumulation of wealth is no longer of high social importance, there will be great changes in the code of morals. We shall be able to rid ourselves of many of the pseudo-moral principles which have hag-ridden us for two hundert years (...). We shall be able to afford to dare to assess the money-motive at its true value. The love of money as a possession – as distinguished from the love of money as a means to the enjoyments and realities of life – will be recognized for what it is, a somewhat disgusting morbidity, one of those semi-criminal, semi-pathological propensities which one hands over with a shudder to the specialists in mental desease " (Keynes 1972c, 329; meine Hervorhebung).
Keynes "Kulturkritik" erinnert stark an Dalys Auslassungen über sozioethische Wachstumsgrenzen. Schon Jahre vor den Economic Possibilites hatte sich Keynes kritisch über die "Liebe zum Geld" als dominantes Handlungsmotiv geäußert (in A Short View of Russia; Original 1925; Keynes 1972a, 268f.): "(T)o me it seems clearer every day that the moral problem of our age is concerned with the love of money, with the habitual appeal to the money motive in nine-tenth of the activities of life, with the universal striving after individual economic security as the prime object of endeavour, with the social approbation of money as the measure of constructive success, and with the social appeal to the hoarding instinct as the foundation of the necessary provision for the family and for the future" (meine Hervorhebung). Die Abhängigkeit von einem "intense appeal to the money-making and money-loving instincts of individuals as the main motive force of the economic machine", so Keynes (1972e, 293) in The End of Laissez-Faire, gilt ihm als "the essential characteristic of capitalism". Funktional sieht Keynes zur Liebe zum Geld also scheinbar keine Alternative, wenn sie ihn in ethischer Hinsicht auch sichtlich abstößt – für Keynes (1972e, 294) ist der Kapitalismus bei aller Effizienz "in itself (...) in many ways extremely objectionable." Auch in National Self-Sufficiency kritisiert Keynes (1982, 242) in einer an Mill gemahnenden Weise nur an ökonomischen Werten ausgerichtetes Denken: "We have to remain poor because it does not 'pay' to be rich. We have to live in hovels, not because we cannot build palaces, but because we cannot 'afford' them. The same rule of self-destructive financial calculation governs every walk of life. We destroy the beauty of the countryside because the unappropriated splendours of nature have no economic value" (meine Hervorhebung).
Der keynessche Steady-State ähnelt auch in seiner Orientierung an moralisch-spirituellen statt an materiellen Werten an Dalys ökologischen Steady-State: "I see us free", so Keynes (1972c, 330f.), "to return to some of the most sure and certain principles of religion and traditional virtue – that avarice is a vice, that the exaction of usury is a misdemeanour, and the love of money is detestable, that those walk most truly in the paths of virtue and sane wisdom who take least thought for the morrow. We shall once more value ends above means and prefer the good to the useful" (meine Hervorhebung). Keynes betont aber, daß die Zeit für diese Entwicklung noch nicht reif sei und daß die von ihm kritisierten Werte bis dahin durchaus eine wichtige Funktion zu erfüllen haben: "For at least another hundred years we must pretend to ourselves and to everyone that fair is foul and foul is fair; for foul is useful and fair is not. Avarice and usury and precaution must be our gods for a little longer still. For only they can lead us out of the tunnel of economic necessity into daylight" (Keynes 1972c, 331; meine Hervorhebung). Wovon aber hängt es ab, wann dieses Licht sichtbar wird? Keynes (1972c, 331) nennt vier Faktoren, nämlich "our power to control population, our determination to avoid wars and civil dissensions, our willingness to entrust to science the direction of those matters which are properly the concern of science, and the rate of accumulation as fixed by the margin between our production and our consumption; of which the last will easily look after itself, given the first three." Das "Tempo der Annäherung an das ökonomische Glück" (Scherf 1986, 112) hängt von diesen Bedingungen ab, von denen eine ganz gewiß nicht eingetreten ist, nämlich Bevölkerungsstabilisierung (s. auch Heijman 1991, 170; Scherf 1986, 114).
Keynes sieht einen stationären Zustand, auch wenn er diesen Begriff nicht verwendet, als realistische Zukunftsprognose. Keynes' ontologischer Steady-State zeichnet sich dadurch aus, daß das ökonomische Problem – Knappheit – gelöst ist. Technischer Fortschritt ist eine entscheidende Variable, wie auch eine quasi-stationäre Bevölkerung Grundlage von Keynes' Prognosen ist. Er sieht den stationären Zustand gewiß als anstrebenswerte Vision. Er problematisiert jedoch, ob die historisch einmaligen Bedingungen einer Stationarität ohne Knappheit mit biologischen, psychologischen und sozialen Gegebenheiten kompatibel sind. Und genau hier liegt die Relevanz Keynes' für die Debatte über Sustainable Development und Steady-State. Mehr als andere sieht er, daß eine Lösung ökonomischer Probleme – ja das Ende des ökonomischen Problems – zu erheblichen Veränderungen und also zur Notwendigkeit erheblicher Anpassungsleistungen führt. Keynes erwartete ein Ende des "ökonomischen Problems" und damit einen stationären Zustand. Wenige Jahre nach Keynes' Aufsatz erschien ein Buch, das diesen Zustand als politische Forderung formulierte: Sombarts Deutscher Sozialismus.
7.6.2. Der Sonderfall Sombart
Sombart ist deshalb ein "Sonderfall", weil er sich in einer Weise über den stationären Zustand äußert, wie es außerhalb des ökologischen Diskurses niemand vor und nach ihm getan hat. Sombart tut dies nicht vor dem Hintergrund ökologischer Erwägungen, und dennoch weisen seine Äußerungen einige Parallelen zu Dalys Konzept auf. Eine ausführliche Bewertung Sombarts hätte m.E. gerade aufgrund seines Kontextes auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit Sombart (und also der einschlägigen Sekundärliteratur) erfordert, und dies vermag ich im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Gleichzeitig halte ich es für notwendig, einen Hinweis aufzunehmen und nicht über Sombarts Äußerungen zur stationären Wirtschaft hinwegzusehen.
Gleich zu Beginn des Deutschen Sozialismus kritisiert Sombart (1934, 1) das "ökonomische Zeitalter". Das "Wesen" dieses Zeitalters liege darin, "daß in ihm die Wirtschaft, die wirtschaftlichen und damit im Zusammenhange die sogenannten 'materiellen' Belange eine Vorherrschaft vor allen übrigen Werten beansprucht und erobert haben, und daß damit die Eigenart der Wirtschaft allen übrigen Bereichen der Gesellschaft und der Kultur ihr Gepräge aufgedrückt hat." Anschließend werden empirische Zahlen über die Bevölkerungszunahme sowie über das Wachstum von Vermögen, Transportleistungen und die "vielen, vielen Waren" präsentiert (Sombart 1934, 2 - 7). Die Rhetorik dieses Kapitels, das bezeichnenderweise mit Der Turmbau zu Babel überschrieben ist (und in dem sich Sombart u.a. auf Ruskin bezieht), ist eine wachstumskritische: Die Implikationen von Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum werden negativ bewertet.
Im Kapitel über die Wirtschaft des Deutschen Sozialismus wird denn auch klar geäußert, daß es "die richtige Einstellung [zum Güterverzehr] zu gewinnen" gelte (Sombart 1934, 267; seine Hervorhebung). "Wir sind 'zu reich'", und zwar in quantitativer und qualitativer Hinsicht (Sombart 1934, 271). Viele Güter, so Sombart (1934, 272), seien ökonomisch, "hygienisch-ästhetisch" und ethisch "zu beanstanden", zu kompliziert, zu teuer ("weil sie unter unnatürlichen Bedingungen erzeugt werden; Blumen im Winter! Gänse im Frühling! Kirschen im Mai!") und "ausländischen Ursprungs". Aus dieser Einschätzung ergibt sich eine Position, die schon bei oberflächlicher Kenntnis der "Suffizienz-Debatte" an eben diese erinnert: "Daß unser Verzehr nach Menge und Art eine gründliche Umgestaltung erfahren, daß vor allem viel Zivilisationsschutt weggeräumt werden muß, steht für uns außer Zweifel" (Sombart 1934, 274; seine Hervorhebung). Diese Umgestaltung sei letztlich nur durch staatlichen Zwang zu erreichen, denn "Beispiel und Beratung werden wohl niemals genügen, um die niederen Instinkte der Masse zu bändigen: diese wird letzten Endes doch zum Guten gezwungen werden müssen" (Sombart 1934, 275; seine Hervorhebung).
Ziel dieses Zwanges ist eine stationäre Wirtschaft, ein Steady-State. Die Erreichung von Stationarität ist erstes Ziel der von Sombart entworfenen Wirtschaftspolitik. Bis in die Begriffe hinein ähnelt die folgende Kernaussage Äußerungen im Kontext des Sustainability-Diskurses: "Das unmittelbare Ziel jeder vernünftigen Wirtschaftspolitik muß sein: der Produktion Nachhaltigkeit und Stetigkeit zu verleihen. Auf 'Fortschritte', wie sie das ökonomische Zeitalter kennzeichnen und dem Wesen des Kapitalismus entsprechen, der von einer ständigen Revolutionierung des Produktions- und Absatzprozesses sein Dasein fristet, verzichten wir" (Sombart 1934, 318; seine Hervorhebung). Deutschland sei "in die Reihe der stationären Völker eingetreten". "Alles in allem: wir sind nun auch reif für eine stationäre Wirtschaft und schicken die 'dynamische' Wirtschaft des Kapitalismus dahin, woher sie gekommen ist: zum Teufel" (Sombart 1934, 319; meine Hervorhebung). Daraus folgt, daß eine "Konstanz des Investitionsvolumens" (Sombart 1934, 319; seine Hervorhebung) anzustreben sei: "Gelingt es, das Investitionsvolumen in eine stetige Linie zu zwingen, so kann sich auch der volkswirtschaftliche Kreislauf ungestört vollziehen" (Sombart 1934, 320).
Zwar hat sich Sombart mit den Folgen des Abbaus abiotischer Rohstoffe für konjunkturelle Zyklen befaßt (Appel 1992, 208), die Zielsetzung des Deutschen Sozialismus erscheint von derartigen Erwägungen aber nicht beeinflußt. Freilich hatte Sombarts Auffassung von der Urproduktion, wie Appel (1992, 213) bemerkt, "zivilisationskritische Konnotationen. Der für den Kapitalismus so typische, geradezu ungehinderte Ausdehnungsdrang hätte zwar die Welt verändert. Diese Ausdehnung sei aber im Bereich der Rohstoffgewinnung letztlich nur eine 'Zerstörung des natürlichen Lebens' gewesen, weil die im Bereich der organischen Natur geltenden Regeln von Anbau und Wachstum in den Hintergrund gedrängt worden seien und so nicht mehr die Züge der Gesellschaft prägen würden. Das 'Übersteigen der Schranken der lebendigen Natur' hätte den weltweiten kapitalistischen Zerstörungsprozeß möglich gemacht" (Appel zitiert Sombart). Im Hinblick auf die hier implizierte Zivilisationskritik bestehen also Gemeinsamkeiten zu Sombarts Äußerungen im Deutschen Sozialismus.
Welche Rolle spielt aber der Kontext, in dem dieses Buch erschien, das frühe nationalsozialistische Deutschland? Die nationalistische und autarkieorientierte Rhetorik des Buches läßt es naheliegend erscheinen, daß hier ein enger Zusammenhang besteht. Appel (1992, 243) meint allerdings, daß trotz Sombarts Zusammenfassung seiner nationalen und antiliberalen Ideen im Deutschen Sozialismus dieses Buch Eigenheiten hatte, "die mit der nationalsozialistischen Ideologie durchaus nicht in Einklang zu bringen waren." "Sombarts wirtschaftspolitische Ideen", so Appel (1992, 246), "standen in direktem Gegensatz zu der Industriepolitik der Nationalsozialisten". Allerdings macht Sombart (1934, XVI) deutlich, daß die Aufgabe seines Buches darin liege, "die offenbar starken Kräfte, die einer Vollendung der nationalsozialistischen Idee nach ihrer sozialistischen Seite hin zustreben, in Bahnen zu lenken, in denen sie nicht verheerend, sondern befruchtend sich auswirken können", und daß der Geist, aus dem heraus es geschrieben sei, "in dem Worte seinen Ausdruck findet: 'Alles für Deutschland!'" Schefold (1994, 93) sieht im Deutschen Sozialismus Sombarts "einen höchst unglücklichen Versuch (...), aus dem selbstgezimmerten Gefängnis der verstehenden Nationalökonomie mit einer programmatischen Schrift auszubrechen, in welcher der nationalen Bewegung der Weg gewiesen werden sollte, ein ihr gemäßes Wirtschaftssystem zu schaffen. Sombart griff dazu auf alte Vorstellungen eines national geprägten Sozialismus zurück, die im geänderten politischen Rahmen einen fatalen neuen Sinn erhielten."
Einige Parallelen zwischen Sombarts Deutschem Sozialismus und dem ökologischen Steady-State-Paradigma sind unübersehbar: Beklagen des Werteverfalls und die Kritik des "ökonomischen Imperialismus", negative Bewertung von Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum, Kritik von internationalen Handelsbeziehungen, Forderung nach einer "richtigen Einstellung" zum Konsum und nach einer grundsätzlichen Veränderung von Qualität und Quantität des Konsums, die Forderung nach Nachhaltigkeit des Wirtschaftens, das Postulat der "Reife" von Volkswirtschaften für den stationären Zustand. Daß die dynamische Wirtschaft nach Auffassung Sombarts "des Teufels" ist, erinnert an die religiösen Bezüge des wichtigsten Steady-State-Proponenten. Dies alles heißt nicht, daß zwischen Sombarts und dem ökologischen Steady-State ein notwendiger Zusammenhang besteht, und es heißt gewiß auch nicht, daß sich die zugrundeliegenden Motivationen auch nur ähneln müssen. Es gilt aber, zumindest zur Kenntnis zu nehmen, daß zwischen Sombarts Vorstellungen und dem meistdiskutierten ökologischen Steady-State-Ansatz konzeptionelle Ähnlichkeiten bestehen.
7.7. Neoklassische Wachstumstheorie: Vom analytischen zum ontologischen Steady-State?
7.7.1. Der Steady-State als Schlüsselbegriff der Wachstumstheorie
Die im 20. Jahrhundert entwickelte neoklassische Wachstumstheorie "almost entirely rejected the classical hypothesis of a long-run tendency towards a stationary state" (Perman et al. 1996, 52). Der Boden als Produktionsfaktor spielt in dieser Theorie kaum noch eine Rolle, was Perman et al. (1996, 52) auf die zunehmende Bedeutung des Industriesektors zurückführen. Etwa hundert Jahre nach Smith schienen Wachstums- und Entwicklungsfragen an Dringlichkeit eingebüßt zu haben. Wachstum war nicht – wie bei der Klassik – ein zentrales Thema, und folglich auch nicht der Steady-State. Von Mill bis nach dem Zweiten Weltkrieg waren wenige Ökonomen an wirtschaftlicher Entwicklung interessiert (Dorfman 1991, 584). Auch Stiglitz/Uzawa (1969, 3) betonen den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Wirtschaft und der Entwicklung der Wachstumstheorie. Im Jahrhundert nach Malthus und Ricardo seien ihre Vorhersagen hinsichtlich des Bevölkerungswachstums und der Situation der Landbesitzer nicht bestätigt worden. Und: "In the intervening century (...) the importance of agriculture relative to manufacturing declined markedly. Thus, the empirical facts that the modern theory of growth attempts to explain are quite different from those which the classical theory confronted" (Stiglitz/Uzawa 1969, 3; meine Hervorhebung). Mit der gegenüber dem 18. und 19. Jahrhundert veränderten wirtschaftlichen Situation wird auch die unterschiedliche Berücksichtigung der Produktionsfaktoren begründet: "The economies which the modern theory of economic growth attempts to describe are essentially advanced, industrialized economies. Hence, capital and labor are the two inputs upon which attention is focused. Land, with few exceptions, is ignored, but technical progress is crucial. The analysis is conducted on a highly aggregative level" (Stiglitz/Uzawa 1969, 4; meine Hervorhebung). Moderne Wachstumstheorie verhält sich in zwei entscheidenden Punkten diametral zur Klassik: Wo die Klassik den Boden für den über langfristige Wachstumsperspektiven entscheidenden Faktor hält, und zwar Arbeitsteilung, nicht aber wissenschaftlich-technischen Fortschritt berücksichtigt, wird der Boden von der Neoklassik ignoriert und der technische Fortschritt zum entscheidenden Faktor für zukünftiges Wachstum. Die Inkorporation von Land (und Wissen) in den Produktionsfaktor Kapital ist heute nicht unüblich. Bei Solow (1957, 314) schließt Kapital auch Land, mineralische Vorräte usw. ein (s. z.B. Rostow 1990, 5).
In der neoklassischen Wachstumstheorie steht "Steady-State" nicht für eine Prognose über den Verlauf wirtschaftlicher Entwicklung, sondern für die Konstanz bestimmter Variablen im Wachstumsprozeß, der Begriff steht hier also nicht für ein Ende des Wachstumsprozesses. Das Konzept des Steady-State ist zentraler Bestandteil der Wachstumstheorie: "Steady states are to growth theory what perfect competition and monopoly are to the theory of the firm" (Stiglitz/Uzawa 1969, 7) – Steady-States seien "admittedly special cases", durch deren Studium jedoch viel über Wachstumsprozesse gelernt werden könne. Es handelt sich hier also zunächst einmal um einen analytischen Steady-State.
Der Wachstumstheorie geht es weniger um die Ursache des Wachstums – also z.B. den Beitrag der einzelnen Produktionsfaktoren –, sondern vor allem um die Bedingungen gleichgewichtigen Wachstums. Hierbei ist der Steady-State ein Schlüsselbegriff (auch in diesem Kontext wird er bisweilen mit dem Stationary State gleichgesetzt, Felderer [1988, 417] z.B. spricht vom "Steady State or Stationary State"). Dieser neoklassische Steady-State, um den es in diesem Abschnitt geht, ist gleichsam "der Steady-State". Wenn Ökonomen den Begriff hören, denken sie normalerweise an denjenigen der neoklassischen Wachstumstheorie (diese Beobachtung gilt auch für ökologisch "aufgeklärte" Ökonomen). Der Steady-State der Wachstumstheorie ist der normale, der übliche, der vorherrschende Steady-State-Begriff. Gleich zu Beginn ihres berühmten Überblicks über die Wachstumstheorie betonen Hahn/Matthews (1964, 781) die Bedeutung, die der Steady-State für diese Theorie hat: "The concept in growth theory that is the counterpart of long-period equilibrium in static theory is steady-state growth. In steady-state growth (steady-state for short) the rate of growth of all the relevant variables remains constant over time (here and generally, unless otherwise stated, the rate of growth should be taken to mean the proportional rate of growth). A good deal of the work on which we report is concerned with characterising an economy in steady-state growth and with analysing its properties" (kursiv von ihnen, fett von mir).
Der Steady-State ist also ein Kernbegriff der Wachstumstheorie, und dieser Begriff schließt Wachstum in keiner Weise aus. "The easiest kind of sequence of equilibria to analyze are those for which the equilibrium each period is essentially identical to that of the previous period except in scale. We call such a path, along which certain of the variables are constant and others are growing at an exponential rate, a steady state path" (Stiglitz/Uzawa 1969, 6; meine Hervorhebungen). Mit Scale ist hier selbstverständlich nicht der Material- und Energiedurchsatz gemeint, sondern ökonomische Variablen, die freilich sämtlich eine stofflich-energetische Dimension haben: "In a steady state, output, population, capital stock, consumption, and investment are all growing exponentially, while the capital-output ratio, interest rate, and consumption-investment ratio are constant" (Stiglitz/Uzawa 1969, 6; meine Hervorhebung). Die (auch) physischen Größen weisen also stetiges Wachstum auf, die nicht-physischen Größen (Zinssatz und Relationen) sind stationär. Folglich werden Steady-States oft als gleichgewichtige Wachstumspfade bezeichnet ("balanced growth paths", Stiglitz/Uzawa 1969, 6; s. auch Stiglitz 1974a, 125). Im Gleichgewicht befindet sich die Wirtschaft dann, wenn alle Inputs und Outputs mit derselben Rate wachsen. Der Steady-State ist also durch eine stetige Wachstumsrate gekennzeichnet und kann in diesem Fall als stetiger Zustand angesehen werden. In ihrem vielzitierten Survey über Wachstumstheorie weisen Hahn/Matthews (1964, 781) darauf hin, daß der Steady-State in dieser Theorie die Entsprechung des Gleichgewichtskonzepts in der statischen Theorie ist. In der Wachstumstheorie werden die Begriffe Steady-State und Gleichgewicht synonym verwendet (s. z.B. Dornbusch/Fischer 1989, 651; Gabisch 1992, 360).
Im Zentrum von Harrods (1939) Aufsatz – der wohl als der Beginn moderner Wachstumstheorie gelten kann (s. auch die Bemerkungen von Hahn/Matthews [1964, 779]) – stehen die Differenzen zwischen tatsächlicher, gleichgewichtiger und natürlicher Wachstumsrate. Diese führen zu dem, was als "knife's edge growth" bekannt wurde, also Wachstum auf des Messers Schneide – diese Metapher soll die Instabilität des Modells verdeutlichen. Liegt die tatsächliche über der gleichgewichtigen Wachstumsrate, führt dies in Harrods Modell zu einer weiteren Entfernung vom Gleichgewicht, dasselbe gilt in umgekehrter Richtung. Folglich, "in the dynamic field we have a condition opposite to that which holds in the static field. A departure from equilibrium, instead of being self-righting, will be self-aggravating" (Harrod 1939, 22; meine Hervorhebung). Die gleichgewichtige Wachstumsrate repräsentiert mithin ein instabiles Gleichgewicht (und ist übrigens nur unter bestimmten Bedingungen gleich Null. Gemeinsam mit Domars (1946) Aufsatz ist Harrods Beitrag die Grundlage der postkeynesianischen Wachstumstheorie ("Harrod-Domar-Modell").
Die neoklassische Wachstumstheorie entsteht Mitte der 1950er Jahre. Dieser Ansatz gibt die limitationale Produktionsfunktion der Postkeynesianer auf, womit das Wachstum auf des Messers Schneide abgelöst wird durch ein Modell, das zum Gleichgewicht tendiert. Als "Geburtsurkunden" dieser Theorie gelten die Aufsätze von Solow (1956; 1957) und Swan (1956), der explizit einen "unklassischen" und "klassischen" Fall unterscheidet. Der unklassische Fall ("unclassical case")(Swan 1956, 334ff.) ist dadurch gekennzeichnet, daß er nur zwei Produktionsfaktoren kennt: Kapital und Arbeit. Swans Modell hat im Gegensatz zum Harrod-Domar-Modell die Eigenschaft, zum Gleichgewicht zu tendieren. Wenn sie exogen gegeben sind, bestimmen technischer Fortschritt und das Wachstum des Arbeitsvolumens die gleichgewichtige Wachstumsrate von Output und Kapital (Swan 1956, 338). Der klassische Fall ist dadurch gekennzeichnet, daß ein "fixed factor of production, which may be called land" (Swan 1956, 340) eingeführt wird. In diesem Fall muß Kapital stets schneller wachsen als das Arbeitsvolumen, um angesichts der sinkenden Bodenerträge den Pro-Kopf-Output zu erhalten. Da aber das Kapital schneller wächst als der Output, sinkt die Profitrate kontinuierlich. Folglich strebt die Wirtschaft einem – klassischen – stationären Zustand zu (Swan 1956, 340). Wenn aber angenommen wird, daß "technical progress is exactly balanced against diminishing returns" (Swan 1956, 341), tendiert die Wirtschaft nicht zu einem stationären Zustand, sondern zu einem stabilen Wachstumsgleichgewicht. Mit der ursprünglichen klassischen Analyse ist dies kaum kompatibel, denn, wie Swan (1956, 341) bemerkt, "Ricardo would no doubt object that if population is supposed to grow for ever at 2½ per cent, it is very likely that at some point diminishing returns will set in with a violence not allowed for in our production function." Der von den Klassikern so dramatisch unterschätzte technische Fortschritte wird hier vorausgesetzt, und zwar in einer Weise, die die von den Klassikern nach allgemeiner Auffassung überschätzten sinkenden Erträge ausgleicht. Diese Annahme ermöglicht im Verein mit der Annahme der gegenseitigen Substituierbarkeit der Produktionsfaktoren unendliches Wachstum – zumindest im Modell.
Solow (1956, 65) macht auf den Zusammenhang zwischen limitationaler Produktionsfunktion und Instabilität im Harrod-Domar-Modell aufmerksam: "There is no possibility of substituting labor for capital in production. If this assumption is abandoned, the knife-edge notion of unstable balance seems to go with it." Diese Instabilität ist im Solow-Modell nicht mehr gegeben: "The basic conclusion of this analysis is that, when production takes place under the usual neoclassical conditions of variable proportions and constant returns to scale, no simple opposition between natural and warranted rates of growth is possible. (...) The system can adjust to any given rate of growth of the labor force, and eventually approach a state of steady proportional expansion" (Solow 1956, 73; meine Hervorhebungen). Die Annahme einer substitutionalen Produktionsfunktion sichert also die Stabilität des Modells, Rostow (1990, 335) spricht von "Stability via Factor Substitution" (kursiv von ihm).
Die exogene Zunahme des Faktors Arbeit und die konstante Sparrate führen dazu, daß bei positiven Realeinkommen Nettoinvestitionen und also ein Wachstum des Kapitalstocks eintreten. "This rules out the possibility of a Ricardo-Mill stationary state, and suggests the experiment of letting the rate of saving depend on the yield of capital. If savings can fall to zero when income is positive, it becomes possible for net investment to cease and for the capital stock, at least, to become stationary. There will still be growth of the labor force, however; it would take us too far afield to go wholly classical with a theory of population growth and a fixed supply of land" (Solow 1956, 87f.; meine Hervorhebung). Bevölkerung als endogene Variable einzubeziehen, wäre "klassischer" (Solow 1956, 90). Solows Produktionsfunktion berücksichtigt nur Kapital und Arbeit, womit gleich zu Beginn des Artikels die klassische Komponente "Boden" verabschiedet wird: Es werden konstante Skalenerträge angenommen, und dies "amounts to assuming that there is no scarce nonaugmentable resource like land. Constant returns to scale seems the natural assumption to make in a theory of growth. The scarce-land case would lead to decreasing returns to scale in capital and labor and the model would become more Ricardian" (Solow 1956, 67).
Durch die "Überwindung" der limitationalen Produktionsfunktion wurde eine Vielzahl von Steady-States möglich, denn durch einen "reasonable degree of technological flexibility (...) the mere existence of a feasible path of steady growth turned out not be a singular event" (Solow 1988b, 308). Außerdem wird die gleichgewichtige Wachstumsrate unabhängig von Spar- und Investitionsrate und "depends entirely on the rate of technological progress in the broadest sense" (Solow 1988b, 309). Interessanterweise wird die Einführung neutralen technischen Fortschritts von Solow mit einer größeren Realitätsnähe begründet – ein Indiz dafür, daß der neoklassische Steady-State eben nicht nur analytisch, sondern durchaus ontologisch "gemeint" ist. "It was a necessary addition because otherwise the only steady states of the model would have constant income per person and that could hardly be a valid picture of industrial capitalism. Technological progress, very broadly defined to include improvements in the human factor, was necessary to allow for long-run growth in real wages and the standard of living" (Solow 1988b, 313; meine Hervorhebungen). Technischer Fortschritt wurde also deshalb eingeführt, um Wachstum überhaupt in das Modell einbauen zu können. Wie gesagt, wird technischer Fortschritt sehr weit ausgelegt. Im Aufsatz über Technical Change and the Aggregate Production Function benutzt Solow (1957, 312) "the phrase 'technical change' as a shorthand expression for any kind of shift in the production function" (seine Hervorhebung).
Nach einer Phase intensiven Theorie-Wachstums ging das Interesse an Wachstumstheorie zurück: "Work on economic growth stopped in the 1960s because economists had nothing new to say" (Barro/Sala-i-Martin 1995, xv). Erst Mitte der 1980er Jahre werden wachstumstheoretische Fragen wieder zunehmend bearbeitet, und zwar im Rahmen der "neuen" Wachstumstheorie. Die Mainstream-Wachstumsmodelle, so Rostow (1990, 336), "used a variety of devices to cope with the role of invention, innovation, and technology. All were designed to evade Schumpeter's central insight", nämlich den endogenen und diskontinuierlichen Charakter von Innovationen und deren Auswirkungen nicht nur auf die Wirtschaftsstruktur, sondern auf alle wichtigen Parameter wie Preisniveau und Lohnhöhe. In der ("alten") neoklassischen Wachstumstheorie taucht technischer Fortschritt nur als exogene, zeitabhängige Variable auf.
Die neue oder "endogene" Wachstumstheorie beschäftigt sich mit Problemen, die in der "alten" Wachstumstheorie kaum eine Rolle gespielt haben: steigende Erträge, die Bedeutung von Humankapital sowie Forschung und Entwicklung für den Wachstumsprozeß, learning-by-doing, und (positive) Externalitäten (Barro/Sala-i-Martin 1995, xv; Seiter 1995). Diese "neue" Theorie versucht gewissermaßen, Ergebnisse zu gewinnen, die weniger von exogen gegebenen Faktoren abhängig sind – technischer Fortschritt beispielsweise soll "endogenisiert" werden. Außerdem geht es darum, besser als mit der alten Wachstumstheorie die Nicht-Konvergenz unterschiedlicher Volkswirtschaften erklären zu können (Seiter 1995, 125). "In these models, growth may go on indefinitely because the returns to investment in a broad class of capital goods – which includes human capital – do not necessarily diminish as economies develop" (Barro/Sala-i-Martin 1995, 12; meine Hervorhebung). Daß hier eine im Vergleich zur "alten" Wachstumstheorie noch größere Distanzierung zur Klassik erfolgt, ist evident.
7.7.2. Neoklassische Modellannahmen: Wie "realistisch" ist der Steady-State der Wachstumstheorie?
Joan Robinson bezeichnet die Bedingungen des Steady-State-Wachstums als "Goldenes Zeitalter" (s. auch Hahn/Matthews 1964, 781, Fn. 1). Robinson (1972, 97) macht damit auf den hohen Abstraktionsgrad des Steady-State aufmerksam: "Die jährliche Gesamtproduktion und der (...) Kapitalstock wachsen (...) gemeinsam, wobei die Zuwachsrate gleich ist der Summe aus der Zuwachsrate des Arbeitskräftepotentials und der Zuwachsrate der Produktivität pro Beschäftigten. Wir können diesen Zustand 'Das Goldene Zeitalter' nennen (um damit anzudeuten, daß es sich um einen sagenhaften Zustand handelt, den wir in der Wirklichkeit kaum vorfinden dürften)" (meine Hervorhebung). Kann diese Theorie dann überhaupt etwas zum Thema "Nicht-Wachstum" beitragen? Für Halevi et al. (1992a, 4), die den neoklassischen Steady-State als "ontologisch" bezeichnen, kann die neoklassische Wachstumstheorie praktisch gar nichts zum Verständnis ökonomischer Realitäten beitragen: "The methodological steady state is a springboard, a launching pad, into the many dimensions of transformational growth. By contrast, the ontological steady state is a prison, a sink which swallows up the products of imagination and conforms them to the timeless abstraction of a one-good, putty world" (kursiv von ihnen, fett von mir). Halevi et al. kritisieren die Unfähigkeit der neoklassischen Wachstumstheorie, Evolution, Transformation und Strukturveränderungen zu erklären und meinen, sie insistiere "on the steady state as the ontological, if long-run, reality" (Halevi et al. 1992a, 4). Folglich meinen Halevi et al. (1992a, 1), daß "(n)eo-Classical growth theory is dead" und daß es notwendig sei "to avoid the trap of the steady state" (Halevi et al. 1992b, vii). Die Annahme gleichgewichtigen Wachstums führt, so Walsh (1992, 37), zu einem "trivializing straightjacket".
Meine Begrifflichkeit lehnt sich an Halevi et al. an (s. 5.1.), meine Zuordnung allerdings nicht. Halevi et al. sehen bei den Klassikern Verwendungen des von ihnen so bezeichneten methodologischen Steady-State und bezeichnen den Steady-State der neoklassischen Wachstumstheorie als ontologisch. Meine Zuordnung ist eine andere, denn auch wenn die Klassiker den Steady-State als Analyseinstrument einsetzen, dominiert bei ihnen der ontologische Steady-State in Form der Prognose über den Verlauf wirtschaftlicher Entwicklung. Und im Falle der neoklassischen Wachstumstheorie ist evident, daß der Steady-State hier als Analyseinstrument eingesetzt wird. Selbst wenn man der Neoklassik unterstellt, mit dem Steady-State eine empirisch relevante Aussage über die Realität treffen zu wollen: Daß der Steady-State in den meisten Fällen als Annahme der Analyse verwendet wird, ist offensichtlich.
Da es hier um die Relevanz für den ökologischen Steady-State geht, sind zwei Dinge hervorzuheben. Erstens spielen die für die neoklassische Theorie so wichtigen Faktoren Kapital, technischer Fortschritt und Bevölkerung auch in Dalys Konzeption eine Schlüsselrolle. Zweitens geht es in der neoklassischen Wachstumstheorie wie bei Daly um langfristige Prozesse. Rötheli (1993, 9) kommentiert die zeitliche Dimension der neoklassischen Modelle wie folgt: "Wenn das neoklassische Modell als Abbild der Realität akzeptiert wird, dann muß aus den Schätzungen auch akzeptiert werden, daß die Annäherung des Wachstums an sein 'steady state'-Gleichgewicht sehr lange braucht. Halbwertszeiten sind in Jahrzehnten und nicht in Wochen oder Monaten zu messen". Wenn die zeitliche Dimension so "ernst genommen wird", spricht dies dafür, daß der Steady-State in der Tat auch als spekulative Prognose gemeint ist: "The stability of the steady-state solution means that the system will in the long run tend to approach the steady-state path and to revert to it after any disturbance" (Hahn/Matthews 1964, 810) - Hahn/Matthews weisen darauf hin, daß nach der Studie eines gewissen Sato davon auszugehen ist, daß der Zeitraum bis zur Rückkehr zum Steady-State in der Tat sehr lang sein kann, nämlich z.B. 100 (sic) Jahre. All dies verweist auf den Realitätsanspruch neoklassischer Wachstumsmodelle. Die Frage nach dem Verhältnis von analytischem und ontologischem Steady-State ist in der Tat auch eine nach dem Realismus der Modellannahmen. Albert (1967b, 349ff.; s. auch 1967e) wendet seinen Vorwurf des "Modell-Platonismus" nicht zuletzt gegen die neoklassische Wachstumstheorie. Die Struktur dieser Modelle mache es unmöglich, sie an Hand von Tatsachen zu überprüfen. Überhaupt wird regelmäßig beklagt, daß moderne Wachstumstheorie kaum Kontakt mit praktisch-politischen Problemen habe und letztlich eine esoterische Veranstaltung sei (Rostow 1990, 350f.). Hahn/Matthews (1964, 888f.) sprechen vom "rather extreme level of abstraction employed and the very artificial nature of the problems considered. It is not easy to bring facts to bear on 'steady states' and 'equilibrium dynamics'. (...) The historical patterns of economic growth (...) are too complex to be describable in terms of steady growth."
Daß der neoklassische Steady-State historische Wachstumsprozesse nicht zu erklären vermag, ist hier weniger wichtig als der Umstand, daß dieser Steady-State als theoretische Konstruktion einen Wachstumsprozeß einschließen kann. Der Steady State ist ein langfristiges Gleichgewicht, in dem sich die Volkswirtschaft auf eine feste Kapitalintensität festlegt (Dornbusch/Fischer 1989, 651; Gabisch 1992, 360). Auch diese Definition impliziert keine wachstumslose Wirtschaft. Bei Barro bedeutet der Steady State – unter Ausschluß von Bevölkerungswachstum und technischem Fortschritt – eine Wachstumsrate von Null und einen langfristig konstanten Kapitalbestand. Die Abschreibungen entsprechen in dieser Situation den Bruttoinvestitionen, d.h. in diesem Steady-State finden keine Nettoinvestitionen statt. Barro (1987, 285) weist darauf hin, daß dabei "people are happy with a constant level of consumption (and work)." Wird die Annahme konstanter Bevölkerung aufgehoben, tritt wieder gesamtwirtschaftliches Wachstum auf. Kapital, Produktion, Konsum und Arbeitsleistung wachsen mit derselben Rate wie die Bevölkerung. Diese Situation wird als Steady State growth bezeichnet (Barro 1987, 289). Das Sozialprodukt wächst, das Pro-Kopf-Produkt bleibt jedoch konstant. Dies ändert sich, wenn technischer Fortschritt in die Analyse mit einbezogen wird. "Continuing technological improvements lead to persistant increases in the per capita quanities of capital, output, and consumption. In some cases, the economy approaches a position of steady-state per capita growth, where the amounts per person of capital, output and consumption all grow at a constant rate. (...) Unlike our previous cases, there is now long-run growth in consumption per person" (Barro 1987, 290f.; seine Hervorhebung). Ohne technischen Fortschritt ist ein konstanter Pro-Kopf-Konsum allerdings unvermeidbar. Barro (1987, 291) weist selbst darauf hin, daß Technik nicht ewig verbessert werden kann: "We should (...) consider the eventual limitations on new ideas – that is, the likelihood that technology cannot advance forever."
Kapitalakkumulation allein kann dauerhaftes Wirtschaftswachstum nicht erklären, ohne Bevölkerungswachstum und technischen Fortschritt erreicht eine Wirtschaft unweigerlich einen Steady State (Mankiw 1993, 128). Bevölkerungswachstum führt dabei zu einem proportionalen Wachstum der Gesamtproduktion und damit des Sozialprodukts (Mankiw 1993, 131). Mit der Einführung des technischen Fortschritts steigt auch die Pro-Kopf-Produktion. Das Solow-Modell zeigt also, "daß technologischer Fortschritt zu dauerhaftem Wachstum der Pro-Kopf-Produktion führen kann. (...) Befindet sich die Wirtschaft im stationären Zustand, dann hängt die Pro-Kopf-Wachstumsrate nur noch von der Rate des technologischen Fortschritts ab. Das Solow-Modell zeigt, daß nur der technologische Fortschritt die anhaltende Zunahme des Lebensstandards erklären kann" (Mankiw 1993, 136; seine Hervorhebung). Im Hinblick auf den Steady-State bietet auch die neue Wachstumstheorie wenig Neues, denn das Steady-State-Konzept wird nicht verändert, geschweige denn aufgegeben: "Die Annahme des gleichgewichtigen Wachstums wird einfach als Bedingung angenommen und mögliche Anpassungsprozesse werden kaum bzw. nicht erklärt. (...) Die Formulierung der Referenzgröße steady-state scheint als Orientierungspunkt sinnvoll, die Behauptung aber, daß dieser Pfad erreicht wird, bleibt nutzlos, solange nicht klar wird, wie dies geschieht bzw. wie die Konvergenz zum Gleichgewicht beeinflußt werden kann" (Seiter 1995, 128f.; meine Hervorhebung; ähnlich Amendola et al. 1993, 65).
Zwischen Wachstumstheorie und der neoklassischen Analyse von Ressourcenproblemen besteht eine enge Verwandtschaft, da sich beide mit Nutzung knapper Ressourcen im Zeitablauf beschäftigen. Intergenerative Problemstellungen spielen im Diskurs über Sustainable Development eine zentrale Rolle, und auch die Wachstumstheorie beschäftigt sich mit derartigen Fragen, insbesondere bei der Formulierung der "goldenen Regeln der Kapitalakkumulation". Bei der "goldenen Regel" oder der "Theorie des goldenen Wachstums" geht es darum, den wünschenswertesten Wachstumspfad zu bestimmen, konkreter: den Steady-State-Pfad mit maximalem Pro-Kopf-Konsum (Falkinger 1986, 105). Ein solches Wachstum liegt dann vor, wenn maximales Anfangsniveau des Pfades und maximales Wachstum des Pro-Kopf-Konsums erreicht werden (zur goldenen Regel der Kapitalakkumulation s. auch Baumol 1970, 398ff.; Gabisch 1992, 363ff.; Mankiw 1993, 120ff.). Diese neoklassische "goldene Regel" der Kapitalakkumulation kann auf verschiedene Weise definiert werden: Unabhängig von der praktischen Relevanz dieser Regeln und der mit ihrer Umsetzung verbundenen Steuerungsprobleme: Entscheidend für das "richtige" Verhältnis von Konsum und Investition ist die Frage, wie die Gesellschaft Gegenwart und Zukunft bewertet. "Die optimale Wachstumsrate des Konsums pro Kopf zu einem beliebigen Zeitpunkt ergibt sich aus dem jeweiligen Stand des technischen Wissens und aus Überlegungen über die gerechte Behandlung der aufeinanderfolgenden Generationen" (Solow 1971, 97; meine Hervorhebungen). Ähnlich Mankiw (1993, 128): "Die Frage der optimalen Kapitalakkumulation hängt (...) ganz zentral davon ab, wie die Interessen der gegenwärtigen Generationen im Vergleich zu denen der künftigen gewichtet werden." Hier liegt eine offensichtliche Verbindungslinie von der Wachstumstheorie zum Diskurs über Sustainable Development.
Wie die Wachstumstheorie verwenden auch ressourcenökonomische Modelle den Steady-State: entweder als Annahme wie z.B. die einer konstanten Bevölkerung (Dasgupta/Heal 1974, 5; Solow 1974a, 31ff.) oder einer konstanten Technik (Solow 1974b, 36ff.), oder als Zielsetzung (Steady-State-Pfad bei knappen Ressourcen; Beckmann 1975; Stiglitz 1974a). Die Existenz nichterneuerbarer Ressourcen – und deren Berücksichtigung – unterscheidet ressourcenökonomische Analysen freilich von solchen, die "nur" an der Untersuchung gleichgewichtiger Wachstumspfade orientiert sind. Folglich, "(o)ne of the interesting problems posed by the presence of exhaustible natural resources is that some of the basic concepts of growth theory, such as 'steady state' and 'natural rate of growth', need to be re-examined" (Stiglitz 1974a, 123). Dennoch ändert sich in der Ressourcenökonomik gegenüber der Wachstumstheorie nur wenig: Vor allem die in ökologischer Hinsicht relevante Dominanz weitgehender Substitutionsannahmen wird nicht aufgegeben. So gehen z.B. sämtliche Beiträge der vielzitierten 1974er Symposium-Ausgabe der Review of Economic Studies über die Ökonomik nichterneuerbarer Ressourcen von weitgehenden Substitutionsmöglichkeiten aus (s. z.B. Dasgupta/Heal 1974; Solow 1974a; Stiglitz 1974a; 1974b). Diese "optimistischen" Annahmen der neoklassischen Theorie führen zurück zur aktuellen Ökologiedebatte (s. auch Abschnitt 4.1.). Die Substitutionsannahmen der neoklassischen Wachstumstheorie und der Ressourcenökonomik gleicher Provenienz (die Cabeza Gutés [1996, 148] "growth theory with exhaustible resources" nennt) begrenzen jedoch die Anwendbarkeit der Neoklassik auf Fragen, die mit dem "ökologischen" Steady-State zusammenhängen. Menschengemachtes und Naturkapital verhalten sich, wie ausführlich gezeigt wurde (s. Abschnitt 4.3.), komplementär und nicht substitutional zueinander. Die im Sinne des Wortes unrealistischen Annahmen der Neoklassik begrenzen mithin ihre Aussagekraft – im Hinblick auf die Umwelt im allgemeinen und hinsichtlich des Steady-State-Problems im besonderen.
7.7.3. Wie "ökologisch" ist der neoklassische Steady-State?
Die mangelnde Berücksichtigung des technischen Fortschritts macht die Klassik für die Untersuchung moderner Wachstumsprozesse ungeeignet. Ob freilich eine Theorie, die "natürliche" Produktionsfaktoren – für die der Boden die klassische Metapher ist – ignoriert, für eine realistische Bewertung aktueller Entwicklungen geeignet ist, muß bezweifelt werden. Implizit wird von der modernen Wachstumstheorie eine Substituierbarkeit von Boden durch Kapital angenommen. Ist schon die neoklassische Substitutionsannahme im Hinblick auf Arbeit und Kapital problematisch – weniger Arbeit kann stets durch mehr Kapital ausgeglichen werden und umgekehrt –, ist die "Auflösung" der "ökologischen Produktionsfaktoren" im Kapital überaus fragwürdig. Implizit wird Substituierbarkeit auch für diese Faktoren angenommen, explizit taucht dieser Faktor überhaupt nicht auf (s. auch Abschnitt 4.1.).
Im Gegensatz zum klassischen stationären Zustand ist der neoklassische Steady-State mit Wachstum vereinbar, dieser Zustand kann deshalb auch als stetig charakterisiert werden. Spielten im klassischen Modell Bevölkerung und sinkende Erträge die entscheidende Rolle für die Wachstumsaussichten einer Wirtschaft, sind die wichtigsten Determinanten im neoklassischen Modell Bevölkerung und technischer Fortschritt. Im klassischen Modell sind Bevölkerungsentwicklung und sinkende Erträge – im Verein mit "konstanter Technologie" – für die Tendenz zum stationären Zustand verantwortlich, im neoklassischen Modell sind es Bevölkerungswachstum und technischer Fortschritt, die zu einem "unendlich wachsenden" Steady-State führen können. In der Rolle des technischen Fortschritts liegt eine zentrale Differenz zu Schumpeter, für den die Erklärung von Innovation als der Wirtschaft endogener Prozeß das zentrale Erkenntnisinteresse darstellt. Demgegenüber fällt im Standardmodell der "alten" neoklassischen Wachstumstheorie der technische Fortschritt "vom Himmel". Die neue oder endogene Wachstumstheorie bemüht sich hier um fundiertere Erklärungsansätze, verläßt aber nicht die Annahme des Steady-State-Wachstums.
Selbst wenn man davon ausgeht, daß "(b)y insisting on the steady state as the ontological, if long-run, reality, neo-Classical growth theorists have made their theory into a black hole, swallowing the real processes of growth and transformation" (Halevi et al. 1992a, 4), erscheint aber eine Parallele zwischen neoklassischem und "ökologischem" Steady-State interessant, und zwar im Hinblick auf den "vernünftigen technologischen Skeptizismus" der Ecological Economics, der Grundlage des Dalyschen Steady-State ist. Denn wenn die Forderungen dieses Skeptizismus als Annahmen in das neoklassische Modell eingebaut würden, ergibt sich ein Steady-State, der kein Wachstum aufweist, da nur Bevölkerungswachstum und technischer Fortschritt im neoklassischen Modell dafür sorgen, daß es Wachstum gibt. Nur die Annahme unbegrenzter Faktorsubstitution und unbegrenzten technischen Fortschritts führt letztlich dazu, daß aus Sicht der neoklassischen Wachstumstheorie unendliches Wachstum möglich erscheint (Perman et al. 1996, 52).
Auch der neoklassische Steady-State impliziert die Konstanz des Sozialprodukts, wenn die Bevölkerung nicht wächst und es keinen technischen Fortschritt gibt. Das Sozialprodukt wächst in dieser Situation nicht mit einer konstanten Rate, sondern überhaupt nicht mehr. Ohne Bevölkerungswachstum und technischen Fortschritt endet die wirtschaftliche Entwicklung auch im neoklassischen Modell in einem stationären Zustand. Beide Annahmen – konstante Bevölkerung und die Abwesenheit technischen Fortschritts – charakterisieren allerdings eine "rather specific situation" (Heijman 1991, 173). Die heutige wirtschaftliche Situation ist durch erhebliche Bevölkerungszunahme und zahlreiche technische Innovationen geprägt. Insofern sind diese Annahmen als empirische Beschreibung zunächst einmal "unrealistisch". Wenn aber eine stabile Bevölkerung als Desiderat angesehen wird und technischer Fortschritt im Sinne eines "prudent skepticism" als begrenzt interpretiert wird, gelangt man auch im neoklassischen Wachstumsmodell zu dem Ergebnis, daß ein stationärer Zustand unausweichlich ist.
7.8. Zwischenbetrachtung III
Die folgende Übersicht verdeutlicht die einzelnen "Stationaritäten" der unterschiedlichen Autoren (80):
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Analytisch |
Ontologisch |
Positiv |
Normativ |
"positiv" |
"negativ" |
Smith |
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Malthus |
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Ricardo |
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Mill |
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Marx I |
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Marx II |
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Jevons |
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Marshall |
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Schumpeter I |
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Schumpeter II |
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? |
Keynes |
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? |
? |
? |
? |
Sombart |
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* |
? |
* |
* |
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Solow et al. |
* |
? |
? |
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? |
Daly |
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* |
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* |
* |
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* = trifft zu / ? = ist offen
Die Auseinandersetzung mit dem Stationaritätsgedanken der klassischen politischen Ökonomie verdeutlicht die Relevanz der Klassik – namentlich Ricardo, Malthus und Mill – für den ökologischen Steady-State. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die Ähnlichkeiten von organischer Wirtschaft – als Hintergrund der klassischen Analyse – und nachhaltiger Wirtschaft. Dies impliziert freilich nicht die Vorstellung, daß diese Autoren die ökologischen Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung vorhergesehen haben. Das hieße, den historischen Kontext der Klassik völlig außer acht zu lassen. Erst die wissenschaftlich-technisch-industrielle Revolution machte (scheinbar) grenzenloses Wachstum überhaupt denkbar. Schon Marx, der die industrielle Revolution direkt vor Augen hatte, verwendete "einfache Reproduktion" nur noch als analytisches Instrument, um damit die Dynamik kapitalistischer Akkumulation so deutlich herauszuarbeiten. Allerdings gibt es auch bei Marx einen ontologischen Steady-State, und zwar im "Reich der Freiheit", das freilich nur jenseits einer kapitalistischen Wirtschaft erreichbar ist. Jevons' Coal Question ist für sehr lange Zeit die letzte Arbeit, in der der ontologische Steady-State als Folge von Ressourcenknappheit eine Rolle spielt. Jevons selbst trägt zur Verabschiedung dieser Perspektive bei. Die marginalistische Revolution führt dazu, daß der stationäre Zustand als Zukunftsmöglichkeit völlig aus dem Blickfeld geriet: Der Steady-State wurde zum reinen Analyseinstrument, wie z.B. bei Marshall sehr deutlich wird.
Auch Schumpeter verwendet den stationären Zustand als analytisches Instrument, und zwar – ähnlich wie Marx mit seiner einfachen Reproduktion – zur Verdeutlichung dessen, was ökonomische Entwicklung ausmacht. Stationarität und Entwicklung schließen sich für Schumpeter aus, wie auch in Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie deutlich wird, wo sich Schumpeter mit den Perspektiven des real existierenden Kapitalismus beschäftigt. Um diese Perspektiven geht es auch in diversen Schriften von Keynes, und dort – namentlich in den Economic Possibilities for Our Grandchildren – erscheint der Steady-State als Situation, in der Knappheit keine Rolle mehr spielt: das ökonomische Problem ist gelöst. Sowohl bei Schumpeter als auch bei Keynes bleibt letztlich offen, wie der stationäre Zustand bewertet wird. Anders bei Sombart: Er sieht den stationären Zustand als Bedingung für die Verwirklichung dessen, was er "deutschen Sozialismus" nennt – eine Konzeption, die Parallelen zum ökologischen Steady-State aufweisen, die angesichts des Kontextes zumindest irritieren müssen. In der Neoklassik fungiert der Steady-State als analytische Annahme, er repräsentiert allerdings auch das potentielle tatsächliche Ergebnis des Wirtschaftsprozesses aus neoklassischer Sicht – dieser Steady-State ist allerdings auch mit Wachstum vereinbar. Die Unterschiede der Neoklassik zur Klassik werden von neoklassischen Autoren selbst auf die veränderte sozioökonomische Umwelt zurückgeführt.
Trotz Marshalls (1961n, 523) Warnung, daß "(t)he hypothesis of a stationary state is useful to illustrate many points in economics; but it is the nature of such hypotheses to be treacherous guides if pursued far away from their starting point" (meine Hervorhebung), hat sich am Kreislauf aus Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung gezeigt, daß sich auch aus dem analytischen Steady-State Lehren für den ökologischen Steady-State ziehen lassen, vor allem im Hinblick auf die Abgrenzung von Entwicklung und Stationarität. Auch der "analytisch-ontologische" Steady-State der neoklassischen Wachstumstheorie enthält aufgrund der Parallelen zum "prudent technological skepticism" der Ecological Economics Lehren für den ökologischen Steady-State. Von Interesse ist, daß der Steady-State in der analytischen Verwendung meist entweder als entwicklungsloser Zustand oder als ausdrücklich unrealistische Annahme erscheint. Demgegenüber sehen Mill, Keynes und letztlich auch Marx "goldene Zeitalter", in denen das Knappheitsproblem überwunden ist und die wirtschaftliche Entwicklung in einen stationären Zustand einmündet. Das Ende der Knappheit ermöglicht einen stationären Zustand. Bei Daly ist es umgekehrt: Der Beginn einer neuen Ära der Knappheit, in der natürliche Ressourcen knapp sind, erfordert einen stationären Zustand. Klar ist, daß von den in diesem Kapitel erörterten Autoren keiner einen stationären Zustand im Sinne eines stabilisierten Material- und Energiedurchsatzes meint. Selbst wenn die Stationarität von Kapital und Bevölkerung ceteris paribus früher oder später eine solche Stabilität impliziert: Kein Autor vor Boulding legte eine durchsatzorientierte Perspektive zugrunde.