Zusammenfassung

 

Unter den Patienten von Allgemeinkrankenhäusern wird ein Anteil von 30-60%  mit psychischer Störungssymptomatik während des stationären Aufenthaltes angenommen. Dabei dominieren depressive Syndrome, organisch begründbare psychische Störungen und Alkoholabhängigkeit (Arolt et al. 1997). Es werden jedoch nur 1-2% der Patienten allgemeiner Krankenhäuser dem psychiatrischen Konsiliardienst vorgestellt (Heigl-Evers et al. 1994), und bei älteren Patienten wird dieser seltener und erst zu einem späteren Zeitpunkt als bei jüngeren eingeschaltet (Popkin et al. 1984), obwohl psychiatrische Komorbidität gerade für ältere Patienten eine deutliche Verschlech-terung der Langzeitprognose bedeutet (Bickel et al. 1993). Psychiatrische Komorbidität bei somatisch Kranken kann die Dauer des Krankenhausaufenthaltes  verlängern (Fulop et al. 1987).

 

Benzodiazepine bieten sich aufgrund ihrer raschen Wirkung und hervorragenden Verträglichkeit in besonderem Maße zur kurzfristigen symptomatischen Behandlung von Angst und Schlaflosigkeit bei allgemeinmedizinischen Krankenhauspatienten an. Nichtpsychiatrische Patienten im Allgemein-krankenhaus bekommen Benzodiazepine ganz überwiegend als Schlafmittel verordnet (Noble et al. 1993). Frauen und ältere Menschen sind in der Gruppe der Benzodiazepinkonsumenten deutlich überrepräsentiert und bilden auch die Mehrheit der Langzeitkonsumenten (Laux 1995). Zu den inhaltlichen Verordnungsfehlern bei der Anwendung von Benzodiazepinen gehören: · die unkritische Übernahme und Fortführung einer bestehenden Benzodiazepinmedikation ohne Berücksichtigung von behandlungsbedürftiger Abhängigkeit oder psychischen Störungsbildern durch den langzeitigen Gebrauch und  ·  die Verordnung an  besonders abhängigkeitsgefährdete Patienten mit vorbestehender Suchterkrankung, mit chronischen körperlichen Erkrankungen oder chronischen Schmerzen, mit chronischen Schlafstörungen oder Persönlichkeitsstörungen.

 

Die vorliegende Untersuchung soll nach den in der jüngsten Vergangenheit stattgehabten kritischen Diskussionen zum Risikopotential der Benzodiazepine Aufschluß über die aktuelle Anwendungsweise dieser Substanzgruppe bei chirurgischen und internistischen Patienten eines Universitätskrankenhauses liefern. Über die reine Beschreibung der Applikationsverhältnisse hinaus sollen auch potentielle Abhängigkeiten der Verordnungsweise von Patientenfaktoren und Faktoren seitens des medizinischen Personals beurteilt werden.

 

Die Verordnungshäufigkeit von Benzodiazepinen während des Krankenhausaufenthaltes betrug für die erfaßte Gesamtstichprobe von 157 chirurgischen und 149 internistischen Patienten des Universitätskrankenhauses Eppendorf 33,3%, wobei die präanästhetischen Benzodiazepin-applikationen in der Chirurgie ausgeklammert sind. Bei den chirurgischen Patienten bekam mit 45,2% ein mehr als doppelt so großer Anteil wie im internistischen Patientenkollektiv mit 20,8% wenigstens ein Benzodiazepin verordnet. Die Frauen der Gesamtstichprobe unterlagen mit einer Verordnungsquote von 38,5% im Vergleich zu den Männern mit nur 28,5% einer signifikant stärkeren Benzodiazepinexposition. 9 von 10 verordneten Benzodiazepinen wurden als Hypnotikum gegeben. An zweiter Stelle folgt in weitem Abstand mit einer Häufigkeit von nur 3,7% aller Benzodiazepinverordnungen die anxiolytische Indikation. Benzodiazepine wurden überwiegend nur kurzzeitig und damit therapeutisch adäquat verordnet, in mehr als 1/3 aller Fälle nur für einen Tag, in knapp 2/3 aller Fälle nicht länger als 3 Tage.

 

Eine Problematik der stationären Benzodiazepinverordnungen zeichnet sich nicht in Hinsicht auf die mögliche Induktion einer Abhängigkeit, sondern vielmehr in der stillschweigenden Toleranz eines offensichtlich inadäquaten, vorbestehenden Gebrauches dieser Substanzen bei einer kleinen Gruppe von Patienten ab. 13 Patienten nahmen bereits vor der Krankenhausaufnahme  Benzodiazepine ein, 10 von ihnen erhielten die entsprechenden Präparate über den gesamten Krankenhausaufenthalt weiterverordnet. Das Durchschnittsalter dieser 13 potentiellen Langzeit-Benzodiazepinkonsumenten (10 Frauen, 3 Männer) liegt mit 66 Jahren um 10 Jahre höher als das der Gesamtstichprobe, bei 9 dieser Patienten sind psychische Störungen dokumentiert, die als Folge eines langzeitigen Benzodiazepingebrauches auftreten können. Trotz der Anzeichen für einen komplizierten Langzeitgebrauch wurde die Benzodiazepinmedikation bei 7 von diesen 9 Patienten stationär ununterbrochen fortgesetzt.

 

Unter den Determinanten eines Benzodiazepingebrauches sticht neben dem Geschlecht die analgetische Medikation hervor. Sowohl chirurgische als auch internistische Patienten mit Schmerzmedikation bekamen signifikant häufiger Benzodiazepine verordnet als die analgetikafreien. Frauen haben gegenüber den Männern sowohl in der chirurgischen als auch in der internistischen Teilstichprobe nicht nur eine höhere Verordnungshäufigkeit von Psychopharmaka, speziell Benzodiazepinen und Neuroleptika, sondern auch von Analgetika.

 

In der nach Bewertung des Diagnosenblocks abgegrenzten Gruppe chronisch körperlich kranker Patienten, die deutlich von internistischen Patienten und von Männern dominiert wird, zeigt sich eine signifikante Häufung dokumentierter psychischer Beschwerden, allerdings keine signifikant höhere Benzodiazepinexposition. Da Frauen zugleich die Majorität der Benzodiazepinkonsumenten wie auch der Patienten ohne chronische körperliche Erkrankungen stellen, wird der zu erwartende  Effekt chronischer körperlicher Krankheiten auf die Benzodiazepinexposition, im Sinne einer der nachgewiesenen Häufung psychischer Beeinträchtigungen entsprechenden häufigeren Verordnung dieser Substanzen, im vorliegenden Falle offensichtlich verdeckt.

 

Im Bereich der soziodemographischen Daten waren bis auf ein signifikantes Überwiegen der Hausfrauen unter den Benzodiazepinkonsumenten keine signifikanten Unterschiede zwischen diesen und den  psychopharmakafreien Patienten nachweisbar. Die Testergebnisse von POMS und FPI deuten im Extremgruppenvergleich eine Abhängigkeit der psychopharmakologischen Exposition in erster Linie von den mittels POMS erfaßten, aktuellen Stimmungsmerkmalen an. Patienten mit Psychopharmakaverordnungen dominieren signifikant die Kollektive mit höchstem Mißmut, höchster Niedergeschlagenheit und Müdigkeit und geringster Tatkraft. Beim Extremgruppenvergleich der FPI-Skalen zeigt sich nur in der Dimension Emotionalität ein signifikantes Überwiegen der Patienten mit Psychopharmakaverordnungen im obersten Quartil. Das Persönlichkeitsmerkmal einer ausgeprägten emotionalen Labilität könnte in dieser Sichtweise mittelbar über die Zwischenstufe einer häufiger schlechten aktuellen Stimmungslage Psychopharmakaverordnungen begünstigen.

 

Ein psychiatrisches Konsil als Alternative zur unmittelbaren psychopharmakologischen Intervention wurde bei den internistischen Patienten der Stichprobe deutlich häufiger veranlaßt als bei den chirurgischen. Eine Begründung hierfür findet sich in den deutlich unterschiedlichen Spektren dokumentierter psychischer Beschwerden in den beiden Fachbereichen. Substanzgebundene Störungen (Alkohol-/Medikamentenabusus und Gebrauch von illegalen Drogen) sind in der internistischen Patientengruppe mehr als doppelt so häufig beschrieben wie in der chirurgischen. Trotz der Spitzenstellung der Störungsgruppe Demenz/Verwirrtheit/ Desorientierung unter den dokumentierten psychischen Beschwerden wird in nur einem einzigen von insgesamt 14 angeforderten psychiatrischen Konsilen der Verdacht auf ein hirnorganisches Psychosyndrom formuliert. Der betreffende Patient war mit 75 Jahren der älteste von den 10 psychiatrisch mitbetreuten  internistischen Patienten, das Durchschnittsalter der übrigen 9 beträgt 43 Jahre. Ein analoges Bild zeigt sich bei den 4 chirurgischen Konsilpatienten, von denen einer 76 Jahre alt war, die übrigen drei 16, 31 und 40 Jahre.

 

Die Bedeutung der psychiatrischen Komorbidität für die Länge des Krankenhausaufenthaltes deutet sich in der Tatsache an, daß Patienten mit mehreren Psychopharmakaverordnungen mit einer durchschnittlichen stationären Aufenthaltsdauer von knapp 20 Tagen fast doppelt so lange stationär bleiben wie Patienten ohne jede psychopharmakologische Medikation (10 Tage) oder Patienten mit Einzelverordnung nur eines Psychopharmakons (12 Tage). Psychische Beschwerden sind bei ihnen etwa doppelt so häufig dokumentiert wie bei den psychopharmakafreien Patienten, und ihr Durchschnittsalter liegt um etwa 10 Jahre höher als das der psychopharmakafreien Gruppe. Die Eliminierung des Altersfaktors durch eine Altersstandardisierung zeigt, daß unabhängig vom Lebensalter die Patienten mit multipler psychopharmakologischer Medikation länger im Krankenhaus verbleiben als diejenigen ohne jede psychopharmakologische Medikation oder mit Einzelverordnung nur eines Psychopharmakons.

 

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