1.1
Einflußfaktoren
einer Medikamentenverordnung
Unter allen ärztlichen
Behandlungsmaßnahmen ist, neben dem ärztlichen Gespräch, derzeit sicherlich die
Verabreichung eines Medikamentes die am häufigsten ergriffene. Der überragenden
Bedeutung von Medikamenten im Handlungssystem der Ärzte trägt die 1976 von
Schicke begründete soziale Lehre vom Arzneimittel, die Sozialpharmakologie,
Rechnung. Sie beschäftigt sich ganz allgemein mit allen Beziehungen zwischen
Individuum, Medikament und Gesellschaft. Ein spezieller und zentraler
Gegenstand der Sozialpharmakologie sind das Verordnungsverhalten des Arztes
sowie die diesbezüglichen Einflußfaktoren: Welcher Arzt verschreibt in welchem
sozialen Kontext auf welchem Informationshintergrund welchem Patienten aus
welchem Anlaß wie korrekt und wie adäquat welches Medikament? Neben der
beschreibenden Sozialpharmakologie, die sich mit den Determinanten des
Verordnungsverhaltens von Ärzten beschäftigt, existiert auch ein bewertender
Zweig, die kritische Sozialpharmakologie, die sich unter anderem mit den
inhaltlichen (pharmakologisch oder sozial relevanten) Verordnungsfehlern von
Ärzten beschäftigt. Als inhaltliche Verordnungsfehler sind zu benennen:
§
mangelnde
Berücksichtigung von Kontraindikationen,
§
falsche
Indikationsstellung,
§
Kombination
von miteinander unverträglichen Pharmaka,
§
mangelnde
Reflexion bzw. unkritische Einstellung gegenüber der stets zu
berücksichtigenden Kosten-Nutzen-Relation jeder medikamentösen Therapie
(historische Beispiele: die Contergan-Katastrophe oder die
Phenacetin-Nephropathie).
Verschreibungsgewohnheiten
und eventuelle inhaltliche Verordnungsfehler des Arztes bergen nicht nur
unmittelbare Risiken für die Gesundheit des Patienten, sondern beeinflussen
darüber hinaus gesundheitsrelevante Einstellungen und Verhaltensweisen des
Patienten. Substanzgebundene Problemlösungen werden durch unkritisches
Verordnungsverhalten von Ärzten zunehmend „gesellschaftsfähig“, körperliche und
psychische Probleme werden nicht mehr kausal angegangen, sondern schneller,
direkter und bequemer nur noch symptomatisch kupiert.
Die Vorstellung einer nach
streng rationalen Kriterien erfolgenden Anwendung von Medikamenten entspricht nicht
der Wirklichkeit. Es existiert eine Fülle von nichtmedizinischen
Einflußfaktoren, gewissermaßen Störfaktoren, die den Verschreibungsprozeß
mitbestimmen und irrational verzerren können.
Seitens des Patienten sind neben der Art und Schwere der Erkrankung als
gesicherte Einflußgrößen sein Alter, Geschlecht, sozialer Status und
Verschreibungswünsche zu benennen. Für die Häufigkeit der Verordnung von
Psychopharmaka kann folgende Faustregel formuliert werden: Ältere Patienten,
Frauen und Angehörige der unteren Sozialschichten erhalten vergleichsweise eher
Psychopharmaka als jüngere Patienten, Männer und Angehörige höherer sozialer
Schichten. Frauen in der Altersgruppe zwischen 25 und 44 Jahren, die unter
psychosozial bedingten Störungen leiden, erhalten signifikant mehr Tranquilizer
verordnet als nach Lebensalter und Erkrankung vergleichbare Männer (Anderson
1981, Pflanz et al. 1977). In der Studie von Edwards et al. (1991) zur
Verordnung von Hypnotika und Anxiolytika im Allgemeinkrankenhaus bestand ein Psychopharmakagebrauch
sowohl innerhalb als auch außerhalb des Krankenhauses vorwiegend bei Frauen und
älteren Personen. Gene-Badia et al. (1988) fanden in ihrer Untersuchung zu den
Risikofaktoren des langzeitigen Benzodiazepin-Gebrauches ebenfalls überwiegend
Frauen und ältere Menschen unter den Benzodiazepin-Konsumenten. Die
Abhängigkeit einer psychopharmakologischen Therapie vom Sozialstatus des
Patienten ist auf das schichttypische Symptomangebot zurückgeführt worden. In
den unteren Sozialschichten finden sich eine stärkere Somatisierungstendenz,
Betonung des konkreten Denkens, ein somatisch dominiertes Krankheitsmodell und
eine Bevorzugung handlungsorientierter Problemlösungen (Shader et al. 1968).
Die Einflußfaktoren seitens
des Arztes lassen sich in individualspezifische / persönlichkeits-abhängige und
berufsbezogene Merkmale differenzieren. Ein augenfälliger Aspekt in diesem
Zusammenhang ist die starke Betonung des naturwissenschaftlichen
Anforderungsprofils der Medizin bei der Auswahl von Studienbewerbern.
Berücksichtigt werden hierbei in erster Linie die Abiturnote sowie sprachliche
und rechnerische Intelligenzleistungen, während soziale Fertigkeiten und
Einstellungen oder Persönlichkeitsmerkmale des Bewerbers nur nachgeordneten
Rang haben (Rothmeier et al. 1983). Im Verlauf des Medizinstudiums verlieren
Psychiatrie und Allgemeinmedizin als potentielle spätere Tätigkeitsfelder
signifikant an Attraktivität, während die Neigung zur Inneren Medizin zunimmt
(Rezler 1985). Unabhängig vom Ausbildungsstand zeigt sich bei den Studenten der
Medizin eine deutlich positivere Einstellung gegenüber körperlich Kranken, akut
Kranken und jungen Kranken als gegenüber psychisch Kranken, chronisch Kranken
und alten Kranken (Flaherty 1985).
Offensichtlich fördern die
beschriebenen Verhältnisse in der derzeitigen medizinischen Ausbildung die
Entwicklung des Studierenden zum vorwiegend somatisch orientierten Mediziner,
der seine Spezialistenaufgabe vornehmlich darin sieht, den ihm anvertrauten
Patienten - oder besser noch: dessen Krankheit - zu behandeln. Aufgrund seiner
primär naturwissenschaftlich-somatischen Ausbildung und Einstellung ist er nur
eingeschränkt für die adäquate Behandlung psychisch Kranker oder auch nur die
Einschätzung psychischer und sozialer Krankheits- oder Störungsanteile
qualifiziert. Andererseits wird vom Arzt als Helfer und Heiler in jeder
Situation gezieltes und aktives Handeln erwartet, er muß, getreu dem
klassischen „heroischen“ Modell der Medizin (Kearney 1997), etwas bewegen.
Diese Konstellation läßt die Anwendung von Psychopharmaka als besonders
attraktive Problemlösung erscheinen, zumal auch die Pharmaindustrie ihren Teil
dazu beiträgt, indem sie psychische Beschwerden aller Art in einem
ätiopathogenetisch bezuglosen Rahmen als Leitsymptome einer differenzierten
Psychopharmakotherapie präsentiert.
Es hat sich gezeigt, daß
Ärzte, die Psychopharmaka positiv bewerten und sie als taugliche Mittel zur
Bewältigung sozialer Probleme und psychischer Alltagsbeschwerden ansehen, auch
definitiv mehr davon verschreiben (Hemminki 1974). Weiterhin wird das
Verordnungsverhalten von Ärzten um so unkritischer, je mehr sie unter Zeitdruck
und Abgespanntheit leiden und je weniger sie sich in ihren ärztlichen
Bemühungen als erfolgreich erleben (Grol et al. 1985).
1.2 Pharmakoepidemiologie der Benzodiazepine
Benzodiazepine sind seit
1960 auf dem Arzneimittelmarkt verfügbar. In diesem Jahr wurde das
Chlordiazepoxid unter dem Namen Libriumâ („This drug restores the
patient’s mental equiLIBRIUM“) eingeführt, drei Jahre später folgte das noch
potentere Diazepam unter dem Firmennamen Valiumâ. In der Folgezeit wurden
bis Mitte der siebziger Jahre weltweit schätzungsweise mehr als 20.000
Benzodiazepinderivate untersucht (Schütz 1982), wovon allerdings nur eine
zweistellige Zahl in den Handel gelangte. Aufgrund ihrer großen therapeutischen
Breite, der sehr geringen Toxizität und hervorragenden Verträglichkeit bei
rascher und sicherer anxiolytischer und hypnotischer Wirkung wurden die
Benzodiazepine initial äußerst optimistisch bewertet und praktisch bedenkenlos
als eine Art Allheilmittel bei jeder Form emotional gestörter Befindlichkeit
verordnet. Präparatenamen wie Balance, Besser, Nectarine, Eden-psych, Liberty
für das Chlordiazepoxid oder Apollonset, Condition, Erozepam, Euphorin-A,
Freudal, Klarium, Psychopax für das Diazepam spiegeln diese Einstellung wieder.
Der Verschreibungsboom der
Benzodiazepine erreichte Mitte der siebziger Jahre seinen Höhepunkt. 1975 war
Valiumâ mit einem Jahresumsatz von
mehr als 500 Millionen Dollar weltweit
der absolute Bestseller unter den Arzneimitteln. 15% der US-Amerikaner
nahmen zu diesem Zeitpunkt Benzodiazepine ein, etwa 1,5 Millionen von ihnen
wurden als abhängig eingeschätzt (Snyder 1989). Obwohl bereits 1961 von
Hollister et al. ein Entzugssyndrom im Gefolge des Benzodiazepingebrauches
beschrieben und damit auf das Suchtpotential dieser Substanzgruppe hingewiesen
wurde, setzte erst Ende der siebziger Jahre ein allmählicher Wandel in der
Risikoeinschätzung der Benzodiazepine ein. 1979 fand vor dem amerikanischen
Kongreß ein Valiumâ-Hearing statt, das der
Bewertung der beschriebenen pandemischen Ausbreitung dieses Medikamentes
diente. Infolge dieser Entwicklung sank die Anzahl der in den USA auf Valiumâ ausgestellten Rezepte im
Jahr 1980 auf die Hälfte der im
Rekordjahr 1975 stattgehabten ca. 100 Millionen Verordnungen (Snyder 1989).
Die achtziger Jahre sind das Jahrzehnt intensiver Beschäftigung mit der Abhängigkeitsproblematik der Benzodiazepine, die zu einer Differenzierung verschiedener Formen der Benzodiazepinabhängigkeit führte und mit einer restriktiveren Anwendung dieser Substanzen einherging. Im US-Staat New York wurde am 1. Januar 1989 für die Verschreibung von Benzodiazepinen ein spezielles dreiteiliges Formular eingeführt, analog dem Betäubungsmittelrezept, das den Ärzten auf Anforderung zugesandt wurde. Eine Kopie der Benzodiazepinverschreibung mußte von diesem Zeitpunkt an vom verschreibenden Arzt für mindestens fünf Jahre aufbewahrt werden, eine Kopie wurde vom Apotheker an das New York State Department of Health geschickt, wo der Name des verschreibenden Arztes, Name, Alter und Adresse des Patienten, das verordnete Benzodiazepin und die verordnete Menge sowie Name und Adresse des einsendenden Apothekers in einer entsprechenden Datenbank gespeichert wurden. Das Ziel einer deutlichen Senkung der Benzodiazepinverordnungszahlen (zwischen 30% und 60% gegenüber dem Vorjahr) wurde mit dieser Maßnahme zwar erreicht, die vorgesehene Disziplinierung von Ärzten, Patienten und Apothekern aber verfehlt, da sich parallel zum Rückgang der Benzodiazepinverordnungen als Ausweichbewegung ein besorgniserregender Zuwachs der Verschreibungen älterer und heute weitgehend obsoleter Sedativa/Hypnotika (z.B. Meprobamat, Barbiturate, Methyprylon, Chloralhydrat etc.) einstellte. In Deutschland war von Mitte der achtziger bis Mitte der neunziger Jahre nahezu eine Halbierung der Anzahl der Verordnungen von Benzodiazepin-Tranquilizern zu registrieren. Bei der Zahl der Verordnungen von Benzodiazepin-Hypnotika zeigte sich dagegen im selben Zeitraum ein Zuwachs. Parallel zu dieser Entwicklung zeichnete sich eine vermehrte Verordnung von Neuroleptika und Antidepressiva sowie Phytopharmaka (z.B. Baldrian, Kavain, Johanniskraut) und Analgetika (diese z.B. bei somatopsychischen/somatoformen Störungen) ab, die als medikamentöse Behandlungsalternativen zwar kein Abhängigkeitsrisiko beinhalten, dafür aber mit Ausnahme der Phytopharmaka mit einer erheblich höheren Toxizität und Nebenwirkungsrate belastet sind (Enkelmann 1986; Laux 1995; Sieb und Laux 1995). Trotz der Verfügbarkeit effektiver, vor allem verhaltenstherapeutischer Psychotherapieverfahren z.B. bei Angst- und Schlafstörungen, wurden solche nichtmedikamentösen Maßnahmen offenbar nicht vermehrt eingesetzt (Linden und Gothe 1993).
Bei einer 1971
durchgeführten Repräsentativbefragung in acht europäischen Ländern fand sich in
der Bundesrepublik Deutschland ein Anteil von 14,2% der Bevölkerung mit
gelegentlicher Einnahme und von 6% mit fortgesetzter Einnahme von Benzodiazepinen
bei vergleichbaren Werten im europäischen Durchschnitt (Balter et al.
1974). Deutlich höhere
Einnahmeprävalenzen ergab eine in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre
durchgeführte Befragung von 1251 fünfzigjährigen Einwohnern der Stadt Hannover:
Hier nahmen 14,7% der Männer und 27,1% der Frauen zum Zeitpunkt der Befragung
regelmäßig Tranquilizer ein, wobei in der Mittel- und Oberschicht die Einnahme
von Tranquilizern weiter verbreitet war als in der Unterschicht (Pflanz et al.
1977).
In einer 1990
veröffentlichten Studie wird die Einnahmeprävalenz der Benzodiazepine innerhalb
eines Zeitraumes von acht Tagen in der deutschen Erwachsenenbevölkerung mit
8,1% angegeben (Kremser et al. 1990). In Österreich und Süddeutschland wurden
bei repräsentativen Umfragen Anteile von 3,5 bis 6,6% der Bevölkerung mit einer
aktuellen Benzodiazepinmedikation gefunden (Rittmannsberger 1993). Die jüngsten
Angaben zum Benzodiazepingebrauch in der Allgemeinbevölkerung beschreiben in
den deutschsprachigen europäischen Ländern einen Anteil von 4 - 7% , der im
Verlaufe eines Jahres zumindest einmal ein Benzodiazepin einnimmt, und 1-2% mit
einer täglichen Benzodiazepineinnahme über ein Jahr oder länger (Laux 1995).
Neben den Prävalenzdaten der
Allgemeinbevölkerung finden sich auch Angaben zum Benzodiazepingebrauch in
besonderen Kollektiven, die in besonderem Maße das Problem der
Langzeitverordnung dieser Substanzen beleuchten. Bei einer Erhebung in 24
Altenheimen in Nordbayern ergab sich eine Dauereinnahme von Tranquilizern bei
14% der männlichen und 21% der weiblichen Bewohner (Luderer und Rechlin 1993).
Kremser et al. (1990) fanden unter den Aufnahmen einer psychiatrischen
Universitätsklinik bei fast der Hälfte einen Hinweis auf den Gebrauch von
Benzodiazepinen, bei 16% über mehr als drei Monate und bei 8% über mehr als ein
Jahr. Geiselmann und Linden (1989) ermittelten unter den Patienten einer
Nervenarztpraxis ebenfalls einen Anteil von 52% mit Benzodiazepinmedikation,
davon 70% mit einer Einnahmedauer von wenigstens drei Monaten. Dieselben
Autoren stellen in einer Untersuchung von 1991 bei einem Patientenkollektiv,
das in allgemeinärztlichen oder internistischen Praxen unter einer
Benzodiazepinmedikation stand, in 2/3 der Fälle einen mindestens fünf Jahre
zurückliegenden Beginn der Verordnungen fest.
Anxiolytische und
sedativ-hypnotische Wirkung der Benzodiazepine entsprechen existentiellen
Grundbedürfnissen des Menschen. Angst, Streß und Schlafstörungen sind
ubiquitäre Begleiter psychischer und somatischer Erkrankungen. So werden
Benzodiazepine ganz überwiegend von Nicht-Psychiatern verordnet (Sieb/Laux
1995).
Frauen und ältere Menschen
sind in der Gruppe der Benzodiazepinkonsumenten deutlich überrepräsentiert und
bilden auch die Mehrheit der Langzeitkonsumenten (Laux 1995). Der
Benzodiazepingebrauch steigt jenseits des 40. Lebensjahres stark an, Menschen
im Alter über 65 Jahren konsumieren diese Substanzen in einem zehnmal so großen
Umfang wie die unter 40 Jahre alten, und über die Hälfte des Gesamtverbrauches
dieser Stoffgruppe geht zu Lasten der über 60jährigen. Dabei zeichnet sich im
höheren Lebensalter vorrangig der Wunsch nach Schlafverbesserung als Grund für
die Einnahme ab, während junge Konsumenten ganz überwiegend Angst und Unruhe
beseitigen wollen (Hansen et al. 1990).
2. Klinische
und pharmakologische Aspekte der Benzodiazepinverordnung
Allen Benzodiazepinen sind
vier therapeutisch relevante Wirkungsqualitäten gemeinsam:
§
anxiolytische
Wirkung,
§
sedativ-hypnotische
Wirkung,
§
myotonolytische
/ zentral muskelrelaxierende Wirkung und
§
antikonvulsive
Wirkung.
Als weiterer gemeinsamer
Effekt der Benzodiazepine wird ihre amnesiogene Wirkung, d.h. die
Beeinträchtigung der Gedächtnisspeicherung, in der Anästhesiologie genutzt: Der
Patient soll sich nicht an einen schmerzhaften oder unangenehmen Eingriff
erinnern können (Ataranalgesie). Darüber hinaus werden einigen Substanzen
spezifische therapeutische Wirkungen zugeschrieben, beispielsweise die Lösung
von Stupor oder Mutismus durch Lorazepam oder die antidepressive Wirkung von
Alprazolam. In der Onkologie werden u.a. Lorazepam und Dikaliumchlorazepat zur
Prophylaxe und Behandlung des Chemotherapie-induzierten ANE-Syndroms (Anorexie,
Nausea, Emesis) eingesetzt (Heidemann 1997). Obwohl eine direkte, von den
vorgenannten psychotropen Wirkungen unabhängige, primär analgetische Wirkung
von Benzodiazepinen bisher nicht nachgewiesen ist, ergeben sich aufgrund
klinischer Erfahrungen auch spezifische Indikationen für ihren Einsatz als
Coanalgetika, so z.B. bei neuropathischen Schmerzen (Clonazepam oder Alprazolam
als Mittel der Wahl)(Reddy und Patt 1994).
Am häufigsten ist die
unspezifische Anwendung der Benzodiazepine in den Indikationsbereichen
Anxiolyse und Sedation. Die rein symptomatische Behandlung von Angst,
Unruhezuständen und Schlafstörungen mit Tranquillantien und Hypnotika ergibt
nur als kurzfristige Krisenintervention einen Sinn, so beispielsweise zur
Streßabschirmung beim akuten Herzinfarkt oder vor belastenden Eingriffen, bei
Panikattacken oder akuter Suizidalität. Das gemeinsame Moment solcher
krisenhafter Belastungen ist ihr „unproduktiver“ Charakter, sie lähmen den
Patienten lediglich und gewinnen dadurch eigenen Krankheitswert. Bei allen
anhaltenden Angstzuständen und Schlafstörungen dagegen verweist die Symptomatik
auf eine mögliche körperliche
Grunderkrankung oder eine zu bewältigende psychische Entwicklungsaufgabe, hier
gilt das Primat der kausalen Therapie.
Die allgemeinen Richtlinien
zur therapeutischen Anwendung der Benzodiazepine lauten:
§
klare
Indikationsstellung,
§
niedrigstmögliche
Dosierung,
§
kürzestmögliche
Applikationsdauer,
§
Anwendung
nicht länger als vier Wochen
(Fisch 1991).
Als weitere bedeutsame
Faktoren in der Nutzen-Risiko-Beurteilung einer potentiellen Anwendung von
Benzodiazepinen sind vor allem zu berücksichtigen:
§
das
besonders hohe Risiko der Entstehung einer sekundären Abhängigkeit bei
Verordnung an Patienten mit positiver Suchtanamnese (Diesbezüglich wird der
sorgfältige Ausschluß einer gegenwärtigen oder vergangenen Abhängigkeit von
Alkohol, Medikamenten oder illegalen Drogen als Voraussetzung einer
verantwortlichen Benzodiazepinanwendung gefordert (Sieb und Laux 1995;
Rittmannsberger 1993)) und
§
das
besonders hohe Risiko unerwünschter Benzodiazepinwirkungen bei alten Menschen
(Laux 1995).
Die Gruppe der
Benzodiazepine besitzt ein einheitliches pharmakodynamisches Wirkungsspektrum,
mit jeder Substanz dieser Gruppe kann grundsätzlich jede der beschriebenen
Wirkungsqualitäten erreicht werden. Deutliche Unterschiede hingegen bestehen
hinsichtlich pharmakokinetischer Eigenschaften wie Resorption, Verteilung /
zentralnervöse Anflutung / Rückverteilung, Metabolisierung und Elimination.
Diese pharmakokinetischen Eigenschaften bestimmen Latenz und Dauer der Wirkung
sowie das Profil hinsichtlich erwünschter und unerwünschter Wirkungen und
begründen die in der Praxis üblichen Unterschiede in der schwerpunktmäßigen
Indikation der einzelnen Substanzen als Tranquilizer, Hypnotikum,
Antikonvulsivum oder Muskelrelaxans. Rasche Anflutung und schneller
Wirkungseintritt sind erwünscht bei hypnotischer Indikation, in der
Prämedikation, zur Kupierung von Panikattacken und Erregungszuständen und zur
Unterbrechung zerebraler Krampfanfälle. Je rascher die Anflutung, um so stärker
ist auch die sedative Wirkkomponente. Die langsame Anflutung sogenannter
Tagestranquilizer mit nur geringer sedativer Wirkung ist prinzipiell
wünschenswert bei chronischer Angst und psychosomatischen Störungen, bei denen
eine längerfristige Anwendung von Benzodiazepinen aber kontraindiziert ist.
Die Benzodiazepine werden
nach ihrer Eliminationshalbwertszeit differenziert in kurz wirksame (HWZ <
5h), mittellang wirksame (HWZ 5-24h) und lang wirksame (HWZ > 24h) (Laux
1995). Neben der Halbwertszeit der Primärsubstanz spielen die Bildung aktiver
Metabolite und deren Eliminationsgeschwindigkeit für Wirkungsdauer und
Kumulationsgefahr eine wichtige Rolle. Hypnotika sollen keine zu lange
Wirkungsdauer besitzen, da die sedativ-hypnotische Wirkung sonst am Tage
unerwünschterweise als „hang over“ anhält, andererseits darf ihre Wirkungsdauer
auch nicht zu kurz sein, damit sich nicht noch im Verlaufe der Nacht ein
Reboundeffekt mit Insomnie einstellt.
Elimination der
Benzodiazepine und bei den Prodrug-Vertretern auch die Aktivierung zur
eigentlichen Wirksubstanz erfolgen in der Leber, die Nierenfunktion ist für die
Kinetik dieser Substanzgruppe kaum von Bedeutung (Rittmannsberger 1993). Der
hepatische Metabolismus der Benzodiazepine läßt sich in eine oxidative Phase I
- Reaktion (Demethylierung, Desalkylierung, Hydroxylierung) und eine
nichtoxidative Phase II - Reaktion (Reduktion oder Konjugation, z.B.
Glukuronidierung) differenzieren. Nicht alle Vertreter unterliegen einer Phase
I - Transformation. Dieser Sachverhalt ist von Bedeutung bei Veränderungen der
Stoffwechselleistung der Leber: Lebererkrankungen mit konsekutiver Insuffizienz
und der Verlust an Stoffwechselkapazität im Alter wie andererseits auch eine
hepatische Enzyminduktion oder metabolische Konkurrenz durch andere Pharmaka
beeinflußen vorwiegend den oxidativen Metabolismus der Leber. Benzodiazepine,
die direkt nichtoxidativ eliminiert werden (z.B. Lorazepam, Lormetazepam,
Oxazepam und Temazepam), besitzen aus diesem Grunde bei längerfristiger
Applikation ein geringeres Kumulationsrisiko und sind deutlich weniger
interaktionsanfällig (Stevens und Gaertner 1995), sie empfehlen sich dadurch
als Mittel der Wahl bei Leberkranken, alten Menschen und polyvalenter
Medikation.
Die Verträglichkeit der
Benzodiazepine ist in aller Regel hervorragend, im Gegensatz zu den meisten
anderen Psychopharmaka wird die Wirkung der Benzodiazepine von den Patienten
zumeist als angenehm empfunden, schwerwiegende Nebenwirkungen sind selten.
Insbesondere beinhalten isolierte Intoxikationen mit diesen Medikamenten auch
bei extrem hoher Dosierung in der Regel keine vitale Gefährdung. Dagegen erhöht
jede Kombination mit anderen sedierenden Substanzen, z.B. mit Alkohol, das
Risiko bedeutend.
In besonderem Maße durch
unerwünschte Wirkungen und Risiken belastet ist die Anwendung der
Benzodiazepine bei alten Menschen, die zugleich das Hauptkontingent der
Konsumenten stellen. So liegt der Häufigkeitsgipfel psychiatrischer
unerwünschter Wirkungen (paradoxe Erregung, Delir, depressive/dysphorische
Verstimmung, mnestische Störungen) zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr
(Müller-Oerlinghausen 1994). Auch Koordinationsstörungen (Schwindel, Ataxie)
treten vor allem bei älteren Menschen in Erscheinung und begründen hier in
Verbindung mit der muskelrelaxierenden und sedierenden Wirkung in besonderem
Maße die Gefahr von Stürzen und Frakturen (Laux 1995; Hopf 1999)
Die pharmakokinetischen
Besonderheiten des hohen Lebensalters mit vermindertem Verteilungsvolumen und
verlangsamter Elimination und die pharmakodynamische Sensibilitätssteigerung
bei alten Menschen begründen ganz allgemein die Erfordernis einer
Dosisreduktion bei dieser Patientengruppe (Platt und Habermann 1992). Darüber
hinaus erhöhen anderweitige körperliche Erkrankungen, die mit zunehmendem
Lebensalter häufiger werden, die Komplikationsrate einer Benzodiazepintherapie,
z.B. obstruktive Atemwegserkrankungen (atemdepressive und muskelrelaxierende
Benzodiazepinwirkung), Lebererkrankungen (Kumulationsgefahr), zerebrovaskuläre
Insuffizienz (deliriogene und depressogene Wirkung von Benzodiazepinen,
paradoxe Reaktionen) (Stevens und Gaertner 1995).
Bei langzeitiger Einnahme
von Benzodiazepinen besteht die Gefahr der Entwicklung eines chronischen
organischen Psychosyndroms mit Störungen von Konzentration, Merkfähigkeit,
Gedächtnis und Abstraktionsvermögen sowie Affektarmut oder Affektlabilität bei
flach-euphorischer oder stumpf-depressiver Stimmungslage (Bergman et al. 1980;
Hendler et al. 1980; Radmayr 1982). Golombok et al. (1988) wiesen bei
Langzeitgebrauchern von Benzodiazepinen deutliche kognitive Defizite in den
Bereichen Aufmerksamkeit/Konzentration und räumliches Vorstellungsvermögen
nach. Luderer et al. (1995) fanden unter 194 Patienten einer Psychiatrischen Universitätsklinik,
die wegen langzeitigen Benzodiazepinkonsums behandelt wurden, einen Anteil von
30% mit kognitiven oder affektiven Symptomen einer organischen psychischen
Störung. Sie stellten auch fest, daß die der Erstverschreibung
zugrundeliegenden Beschwerden wie Angst, Schlafstörungen, Depressivität und
Störungen der körperlichen Befindlichkeit sich im Verlauf des
Langzeitgebrauches der Benzodiazepine nicht etwa besserten, sondern zunehmend
verschlimmerten. Nach dem körperlichen Entzug ging es 80% der Patienten besser
als unter der Medikation. Auf die akute Beeinträchtigung kognitiver Funktionen
durch Benzodiazepine wurde schon im Zusammenhang mit der amnesiogenen
Wirkkomponente hingewiesen. Die Störung
der Neuspeicherung von Informationen ins Gedächtnis ist dabei ein spezifischer
Effekt dieser Wirkstoffgruppe, der von der sedierenden Wirkung unabhängig und
bei anderen sedierenden Substanzen wie Neuroleptika oder Barbituraten nicht
nachweisbar ist (Rittmannsberger 1993).
3. Abusus und Abhängigkeit von Benzodiazepinen
Schon im ersten Jahr nach
der Einführung der Benzodiazepine wurde von Hollister et al. (1961) ein
barbituratähnliches Entzugssyndrom nach abrupter Beendigung einer monatelangen
hochdosierten Einnahme von Chlordiazepoxid beschrieben. Zwei Jahre nach
Einführung des Diazepams wurde über den ersten Fall eines Entzugsdelirs nach
Beendigung einer hochdosierten Diazepam-Medikation berichtet
(Czerwenka-Wenkstetten 1965).
Da man sich in der
Beurteilung des Abhängigkeitspotentials der Benzodiazepine zunächst auf
Konsumformen mit Toleranzentwicklung und exzessiv hoher Dosierung bezog, wurde
die Suchtgefährdung in diesem Sinne als sehr gering eingeschätzt: Die
Hochdosisabhängigkeit von Benzodiazepinen ist in der Allgemeinbevölkerung ein
seltenes Phänomen. Ladewig (1983) stellt in seiner Studie zum
Benzodiazepinmißbrauch in der westeuropäischen Gesellschaft fest, daß der
isolierte Benzodiazepinmißbrauch mit einer jährlichen Inzidenz von 0,6/100.000
weder für die öffentliche Gesundheit noch für die Gesellschaft eine Bedrohung
darstelle und in der Größenordnung mit dem Brustkrebsrisiko beim Mann
vergleichbar sei. Seine Mißbrauchsdefinition bezieht sich dabei auf einen
Substanzgebrauch ohne medizinische Indikation oder in überhöhter Dosierung.
Erst später wurde erkannt,
daß das eigentliche Risikopotential der Benzodiazepine in der Entwicklung einer
körperlichen Abhängigkeit ohne Toleranzentwicklung bei langzeitigem Gebrauch in
therapeutischer Dosierung liegt. Adaptive Veränderungen unter längerfristiger Behandlung
mit konsekutiven Absetzerscheinungen sind bei Medikamenten eher die Regel als
die Ausnahme. So führen auch nicht-psychotrope Substanzen wie Laxanzien oder
schleimhautabschwellende Mittel (Nasentropfen) zu einer deutlichen körperlichen
Abhängigkeit. Unter den psychotropen Substanzen bietet die Anwendung der Opiate
in der Schmerztherapie ein Beispiel dafür, daß eine körperliche Abhängigkeit
nicht zwangsläufig mit Toleranzentwicklung oder psychischer Abhängigkeit
einhergehen muß. Die Besonderheiten der rein körperlichen
Niedrigdosisabhängigkeit von Benzodiazepinen liegen in der Schwere der
Entzugserscheinungen bis hin zu akut lebensbedrohlichen Zuständen (Poser und
Poser 1996a), dem ausgesprochen protrahierten Verlauf des Entzugssyndromes
(Schöpf 1981; Schöpf 1985; Higgitt et al. 1990) und der hohen Prävalenz und
Inzidenz in der Allgemeinbevölkerung, insbesondere unter alten Menschen.
Nach Rittmannsberger (1993)
lassen sich folgende Formen der Benzodiazepinabhängigkeit differenzieren:
A)
Die
isolierte Hochdosisabhängigkeit als primäre Benzodiazepinabhängigkeit mit
Toleranz- und Dosissteigerung bei Personen ohne anderweitige vorbestehende
Substanzabhängigkeit ist ein sehr seltenes Phänomen.
B)
Die
sekundäre Hochdosisabhängigkeit bei Personen, die primär eine andere
psychotrope Substanz mißbrauchen oder von ihr abhängig sind (Polytoxikomanie).
Ein solcher Beikonsum von Benzodiazepinen durch primär anderweitig Suchtkranke
ist ein häufiges Phänomen: Er ist bei Opiatabhängigen in bis zu 80% (Sieb und
Laux 1995; Poser und Poser 1996b) und bei Alkoholikern in bis zu 35%
(Rittmannsberger 1993; Bührs 1994) der Fälle zu beobachten. Gerade Alkoholiker
sind in besonderem Maße gefährdet, von den wirkungsverwandten und
kreuztoleranten Benzodiazepinen abhängig zu werden (Huber 1994 b; Ross 1993).
C)
Die
Niedrigdosisabhängigkeit als primäre, rein körperliche Abhängigkeit bei
therapeutischer Dosierung ohne oder mit nur minimaler Dosissteigerung /
Toleranzentwicklung ist der häufigste Typ der Benzodiazepinabhängigkeit. Ihre Prävalenz
läßt sich aus der Häufigkeit des Langzeitgebrauches von Benzodiazepinen in
einer Bevölkerung erschließen. In Deutschland findet sich bei 1-2% der
Bevölkerung ein Langzeitgebrauch im Sinne einer täglichen Einnahme über ein
Jahr oder länger (Laux 1995). Die kritische Anwendungsdauer von Benzodiazepinen
in therapeutischer Dosierung, nach der mit einer körperlichen Abhängigkeit
gerechnet werden muß, wird im allgemeinen mit vier Monaten angegeben (Fisch
1991). Nach vier Monaten kontinuierlicher Benzodiazepintherapie traten bei 25%
der Patienten Entzugssymptome beim Absetzen auf (Tyrer 1980), nach einem Jahr
Medikationsdauer bei 80% der Patienten (Petursson und Lader 1981). Letztlich
sind konkrete Zahlen zur Häufigkeit der Niedrigdosisabhängigkeit in hohem Maße
abhängig von Art und Schwere der zugrundegelegten Entzugserscheinungen. Als
Entzugssymptome werden dabei in Abgrenzung von der wiederauftretenden
Ursprungssymptomatik einer die Medikation begründenden Störung nur qualitativ
neuartige, vor dem Benzodiazepingebrauch noch nicht vorhandene Symptome im
Gefolge der Abstinenz gewertet (z.B. Wahrnehmungsstörungen, Tremor, Übelkeit,
Erbrechen, Dysphorie, Krampfanfälle). Entsprechend der hohen
Benzodiazepinexposition findet sich die Niedrigdosisabhängigkeit vor allem bei
alten Menschen und bei Frauen.
Die Niedrigdosisabhängigkeit von Benzodiazepinen ist kein Abhängigkeitssyndrom im Sinne der in den modernen Diagnosesystemen wie ICD 10 oder DSM III-R formulierten Definitionen: Sie beinhaltet keinen übermäßigen Wunsch nach Substanzkonsum, keinen Lustgewinn, keine Einengung auf Beschaffung und Konsum der Substanz, keine Beeinträchtigung der normalen sozialen und beruflichen Leistungen, keinen Kontrollverlust, keine Toleranzentwicklung. Dieser sehr blande Charakter der Niedrigdosisabhängigkeit hat sogar zu dem Vorschlag geführt, Benzodiazepine als risikoärmere Alternative zum Alkohol freizugeben und dafür letzteren der Rezeptpflicht zu unterstellen (Kanowski 1986; Giesing 1984).
Risikofaktoren für die
Entwicklung einer Benzodiazepinabhängigkeit auf Seiten des Medikamentes sind:
§
hohe
Dosierung,
§
kontinuierliche
langzeitige Einnahme,
§
hohe
Potenz und kurze Halbwertszeit (wie z.B. bei Alprazolam, Lorazepam, Triazolam)
(Martinez-Cano et al. 1996; Fisch 1991),
§
rasche
zentralnervöse Anflutung mit der Folge eines „Rush“- oder „Kick“-Effektes (z.B.
bei Flunitrazepam, Diazepam, Lorazepam) (Poser und Poser 1996c; Sieb und Laux
1995). Ein besonders geringes Mißbrauchsrisiko wird dem Oxazepam aufgrund
seiner sehr langsamen Anflutung zugeschrieben, es wird deshalb als Mittel der
Wahl bei suchtkranken Patienten empfohlen (Rittmannsberger 1993).
Als besonders
abhängigkeitsgefährdet gelten vier Patientengruppen (Task Force on
Benzodiazepine Dependency 1990):
§
Patienten
mit vorbestehender Suchterkrankung,
§
Patienten
mit chronischen körperlichen Erkrankungen oder chronischen Schmerzen,
§
Patienten
mit Persönlichkeitsstörungen (vor allem Borderlinestörung und abhängige
Persönlichkeit) oder Dysthymia (früher: depressive Persönlichkeit),
§
Patienten
mit chronischen Schlafstörungen.
Luderer et al. (1995)
beschreiben unter 194 Benzodiazepin-abhängigen Patienten einer psychiatrischen
Universitätsklinik einen Anteil von 70% mit zusätzlichem Alkoholabusus oder
Gebrauch anderer psychotroper Substanzen. Außerdem nahmen 27% nichtopioide und
17% opioide Analgetika ein.
Wendland und Lucius (1989)
fanden bei ihren Untersuchungen zum Problem der langfristigen
Benzodiazepinmedikation in einem Kollektiv von 80 Benzodiazepinabhängigen mit
einem Durchschnittsalter von 42 Jahren häufig gestörte Partnerbeziehungen, 45%
dieser Patienten waren ledig, geschieden oder verwitwet. Bei den männlichen
Abhängigen bestanden häufig berufliche Schwierigkeiten als Begründung für den
Benzodiazepingebrauch. Es bestanden keine Anzeichen von Verwahrlosung, sozialer
Entwurzelung oder Beschaffungskriminalität, die Benzodiazepinabhängigen waren
sozial gut angepaßt und unauffällig, 75% von ihnen hatten eine abgeschlossene
Berufsausbildung, 25% sogar eine höhere Qualifikation. Unter den Gründen für
die Benzodiazepineinnahme wurden neben Angst, Schlaflosigkeit, vegetativen
Störungen und innerer Unruhe in der Hälfte aller Fälle auch Depressionen und
von über 90% ein Verlust an Lebensqualität auf privatem oder beruflichem Gebiet
genannt.
Auch Ladewig (1983) stellte
bei einer Gruppe von 180 Patienten mit ausschließlichem Benzodiazepinmißbrauch
das Fehlen offensichtlicher negativer Konsequenzen fest. Im Gegensatz zu den
Konsumenten illegaler Drogen fanden sich bei ihnen weder soziale noch körperliche
Komplikationen, keine den Substanzgebrauch begleitende Kriminalität und keine
substanzbedingten Todesfälle. Der Autor zieht den Schluß, daß nicht die Folgen,
sondern die Ursachen des Benzodiazepingebrauches, d.h. ein massiver Bedarf an
therapeutischer Hilfeleistung bei psychischen Störungen einerseits,
andererseits ein Mangel an Wissen über den therapeutisch adäquaten,
sachgerechten Einsatz von Benzodiazepinen sowohl auf ärztlicher Seite wie auch
auf Seiten des Patienten, Anlaß zur Besorgnis geben. Der isolierte
Benzodiazepinmißbrauch bei den genannten 180 Patienten war mit 47,2% vorrangig
durch Ängste begründet, gefolgt von Schlafstörungen mit 28,9%.
Neben den bereits
angeführten Risikofaktoren der Abhängigkeitsentwicklung, die dem Medikament oder
dem betroffenen Patienten zuzuordnen sind, ist als weitere Determinante der
verschreibende Arzt zu berücksichtigen. So fand Ladewig (1983) in der
angesprochenen Studie, daß 2/3 der Ärzte trotz der klaren Erkenntnis, daß bei
einem Patienten ein Benzodiazepinmißbrauch besteht, die Verschreibung
fortsetzten. Holm (1990) untersuchte den Verlauf der Benzodiazepinverschreibung
bei Patienten mit erstmaligem Gebrauch und Patienten mit vorbestehendem
langzeitigen Gebrauch von Benzodiazepinen im Rahmen einer einjährigen Follow-up
- Studie bei praktischen Ärzten. Von den Erstgebrauchern, die zuvor weder
Benzodiazepine noch andere Psychopharmaka verschrieben bekamen, setzten 45% den
begonnen Benzodiazepinkonsum über mindestens ein Jahr lang fort. Dabei zeigte
sich eine deutliche Altersabhängigkeit des Verlaufes des
Benzodiazepingebrauches: Ältere Patienten mit Erstverschreibung setzten den
einmal begonnenen Gebrauch signifikant häufiger über den Zeitraum des
Untersuchungsjahres fort als jüngere. Von den Patienten mit vorbestehendem
Langzeitgebrauch von Benzodiazepinen beendeten nur 12% den Gebrauch, ohne auf
andere Psychopharmaka umzusteigen. Durchweg zeigte sich bei Erst- wie
Langzeitgebrauchern, daß der Konsum von Benzodiazepinhypnotika signifikant
häufiger langzeitig aufrecht erhalten wurde als der von
Benzodiazepintranquilizern, und daß der fortgesetzte Langzeitgebrauch von
Benzodiazepinen signifikant häufiger unter Frauen und Alleinstehenden auftritt.
Luderer et al. (1995) fanden bei einer Gruppe von 194 Benzodiazepin-Langzeitkonsumenten,
daß bei 80% die Dauereinnahme unmittelbar nach der ersten Verschreibung begann.
Gene-Badia et al. (1988)
verglichen in einer Fall-Kontroll-Studie 107 ambulante
Benzodiazepinpatienten und 214 Kontrollpatienten ohne anxiolytisch-hypnotische
Medikation, wobei jedem Patienten der ersten Gruppe zwei nach Alter, Geschlecht
und betreuendem Hausarzt entsprechende Kontrollpatienten zugeordnet wurden. Die
durchschnittliche Einnahmedauer der Benzodiazepine betrug 50 Monate mit einer
Spannweite von 2 bis 240 Monaten. Frauen und ältere Menschen dominierten das
Benzodiazepin-Kollektiv (Durchschnittsalter 60 Jahre, mehr als doppelt so viel
Frauen wie Männer). Während im Bereich der soziodemographischen Eigenschaften
(Familienstand, Beruf, Sozialschicht) keine signifikanten Unterschiede zwischen
den Gruppen bestanden, zeigten sich bei den Benzodiazepinpatienten als
signifikante Charakteristika das häufigere Vorkommen chronischer Erkrankungen,
eine umfangreichere tägliche Gesamtmedikation und höhere Werte für depressive
Verstimmung und persönliche Verletzlichkeit im Vergleich mit den
Kontrollpatienten. Die Autoren stellen als Risikofaktoren für die Entwicklung
eines langzeitigen Benzodiazepingebrauches zum einen die Diagnose einer
psychischen Störung in der Vorgeschichte des Patienten, zum anderen den Umfang
der täglichen Medikation ohne Benzodiazepine in den Vordergrund und führen
andere Einflußfaktoren auf diese beiden zurück. So erhöhen chronische
Erkrankungen in dieser Sichtweise die Prädisposition zum Benzodiazepingebrauch
nur über die Zwischenstufe sich möglicherweise aus ihnen ergebender psychischer
Störungen wie Angst, Depressionen oder Schlaflosigkeit. Die Beobachtung, daß
mit wachsendem Umfang der täglichen Gesamtmedikation die Wahrscheinlichkeit
anwächst, daß der Patient zusätzlich noch ein Benzodiazepin verordnet bekommt,
selbst dann, wenn keine psychiatrische Störung erkennbar ist, kann als Ausdruck
dessen verstanden werden, was an anderer Stelle (Poser/Poser 1996d) als
„Chemophilie“ oder „pharmakologischer Optimismus“ bezeichnet wird: Personen,
die Gesundheitsprobleme mit Medikamenten zu lösen gewohnt sind, versuchen auch
Lebenskrisen mit Medikamenten zu lösen. Die höheren Werte depressiver
Verstimmung und persönlicher Verletzlichkeit der Benzodiazepinpatienten im
Vergleich mit den Kontrollpatienten werten die Autoren als mögliches Indiz für
Probleme der behandelnden Hausärzte, die Diagnose einer depressiven Störung bei
ihren Patienten zu stellen bzw. die eher fachspezifischen Antidepressiva einzusetzen,
weil sie deren Risikopotential nicht richtig einschätzen können.
Im Bereich zwischen Arzt und
Patient angesiedelte Risikofaktoren für eine Abhängigkeitsentwicklung sind eine
mangelhafte Aufklärung des Patienten über das Abhängigkeitsrisiko und ein
liberaler oder permissiver Verordnungsstil des Arztes ohne klar umrissene
Vorgaben für die Anwendung des Benzodiazepins, also Einnahme nach Bedarf
(Hansen et al. 1990). Fleischhacker et al. (1989) fanden in ihrer Untersuchung
zum Benzodiazepingebrauch an der Universitätsklinik Innsbruck bei einer hohen
Punktprävalenz an Benzodiazepinverordnungen von 22% einen Anteil von 20% der
Benzodiazepinpatienten, die von dieser Medikation nichts wußten. Über die
Hälfte der Benzodiazepinpatienten war nicht über das Abhängigkeitsrisiko
informiert, und von den Informierten hatte nur jeder Fünfte diese Information
vom Arzt erhalten.
4. Psychische Belastungen des stationären Patienten
Die stationäre Behandlung
ist für den kranken Menschen mit einer Fülle von Belastungen und
Unannehmlichkeiten verbunden. Nicht nur die Erkrankung selbst bedeutet eine
Bedrohung oder gar einen Verlust gewohnter Lebensvollzüge oder zukünftiger
Möglichkeiten, auch die plötzliche Veränderung der räumlichen und sozialen
Umgebung, die damit einhergehende relative Vereinsamung wie auch der Mangel an
Privatsphäre, die ausgeprägte Abhängigkeit von Pflegepersonal und Ärzten, die
eigene Machtlosigkeit und der Mangel an medizinischen Kenntnissen und
Informationen mit der daraus resultierenden Unsicherheit und
Orientierungslosigkeit in der Beurteilung der eigenen Situation bedeuten
zusätzlichen Streß.
Untersuchungen zur
Angstreaktion auf die Hospitalisation sprechen eine klare Sprache: In einer
Befragung des Demoskopischen Instituts Allensbach von 1985 unter dem Leitthema:
„Was macht unsere Krankenhäuser unmenschlich?“ assoziierten 64% ehemaliger
stationärer Patienten einen Krankenhausaufenthalt mit Angst, in der
Allgemeinbevölkerung waren es 56%. In einer Studie von Engelhardt et al. aus
dem Jahr 1973 reagierten von 60 männlichen und 60 weiblichen Klinikpatienten
42% mit Angst auf die Klinikaufnahme, 30% zeigten keine Angstreaktionen und 22%
beschrieben ein Gefühl von Geborgenheit. Einen interessanten Aspekt bildet
hierbei die deutliche Geschlechtsabhängigkeit der Reaktionsweise: Während 55%
der Frauen mit Angst reagierten, fand sich diese bei nur 28% der Männer in der
Stichprobe. Entsprechend fanden sich komplementäre Verhältnisse beim Gefühl der
Geborgenheit (17% der Frauen, 29% der Männer). In der Studie von Lucente und
Fleck (1972) zur Hospitalisationsangst bei 408 chirurgischen und
internistischen Krankenhauspatienten reagierten die Frauen deutlich ängstlicher
auf die Krankenhausaufnahme als die Männer, die Hospitalisationsangst nahm
außerdem mit zunehmendem Alter ab, während soziodemographische Faktoren wie
Familienstand, Bildung, Beruf und soziale Schicht praktisch keinen Einfluß
hatten. Auch eine Infas-Umfrage aus dem Jahre 1980 zeigt analoge
Geschlechtsunterschiede: Hier gaben 16% der Männer und 26% der Frauen, die
bereits einmal im Krankenhaus gelegen hatten, große Angst bei der Aufnahme ins
Krankenhaus an. Getreu dem altbekannten Satz, daß ein Patient, der nach seiner
Diagnose fragt, in Wirklichkeit etwas über seine Prognose erfahren möchte (Wimmer 1986), beziehen sich die größten
Ängste der stationären Patienten auf den Verlust ihrer Leistungsfähigkeit, ihre
berufliche Zukunft und ihre Lebensziele. Stocksmeier und Raith (1982) thematisieren
die subjektiv erlebten Bedingungen und Belastungen von Krankenhauspatienten:
41% der von ihnen befragten 198 Patienten aus 73 Kliniken in den Großräumen
München und Mainz empfanden die Krankenhausatmosphäre, insbesondere unter dem
Aspekt des veränderten Tagesrhythmus‘ und der ungewohnten Umgebung, als
belastend. Das Durchschnittsalter aller befragten Patienten betrug 47 Jahre.
Bei Patienten mit belastenden Eindrücken bestand signifikant häufiger auch das
Gefühl, sich während des Krankenhausaufenthaltes nicht richtig erholen zu
können. Etwa jeder fünfte Patient ihrer Stichprobe war während seiner
stationären Zeit mit familiären oder beruflichen Problemen konfrontiert, die
bei etwa jedem siebten durch die Einweisung bedingt waren. Eine Geschlechtsabhängigkeit
belastender Eindrücke war in dieser Studie nicht nachweisbar.
Das Angstniveau stationärer
Patienten ist auch abhängig von der Art des Krankenhauses, in dem sie
untergebracht sind. In der Studie von Lucente und Fleck (1972) zur
Hospitalisationsangst fand sich unter den chirurgischen und internistischen
Patienten einer Universitätsklinik mit 38% ein signifikant höherer Anteil mit
starker Angst als in zwei kleinen Gemeindehospitälern mit 4% bzw. 7%.
Außer dem Bedürfnis nach
Sicherheit, dessen mangelnde Befriedigung beim stationären Patienten sich in
Form von Angst äußert, sind Ruhe und Schlaf körperliche Grundbedürfnisse, die
das Wohlbefinden des Patienten und den Verlauf seiner Krankheit grundlegend
mitbestimmen. In den oben angesprochenen Erhebungen von Infas (1980) und des
Demoskopischen Instituts Allensbach (1985) klagte etwa die Hälfte ehemaliger
Krankenhauspatienten über Schlafstörungen während des stationären Aufenthaltes.
Nach Cramer und Holler (1983) sind neben der Grunderkrankung und Ängsten auch
organisatorische Mängel wie zu kurze Ruhezeiten und zu frühe Weckzeiten als
Ursachen zu benennen. Der Nachtschlaf von Krankenhauspatienten, seine
mannigfaltigen Störungen und die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen von
Patienten und medizinischem Personal sind Gegenstand einer Untersuchung von
Southwell und Wistow aus dem Jahr 1995: Die Hälfte der von ihnen befragten
Krankenhauspatienten beklagte Schlafstörungen während der Nacht und das Gefühl,
insgesamt während des Krankenhausaufenthaltes nicht ausreichend Schlaf zu
bekommen. Das Pflegepersonal, das ebenfalls zu Schlafstörungen der Patienten
befragt wurde, stimmte mit diesem Urteil überein. Das Spektrum schlafstörender
Einflüße wurde aber von beiden Gruppen unterschiedlich gesehen. Die Autoren empfehlen
dem Krankenhauspersonal, das lange bekannte Problem aus der
Patientenperspektive heraus zu lösen. Bezeichnenderweise erhielten 24% der
Patienten in dieser Studie regelmäßig und weitere 13% gelegentlich
Schlaftabletten.
5. Komorbidität - psychische Störungen bei somatisch Kranken
Die Punktprävalenz
(7-Tages-Prävalenz) psychogener Störungen in der 25-45jährigen Bevölkerung
Mitteleuropas liegt nach einer Feldstudie von 1986 bei 50%. Dabei fanden sich
5,7% Persönlichkeitsstörungen, 7,8% organbezogene psychosomatische Syndrome wie
Herz-Kreislauf- oder Magen-Darm-Störungen und 3,8% psychosomatische Störungen
wie Schlafstörungen, Kopf-schmerzen oder Eßstörungen. Die Lebenszeitprävalenz
solcher Störungen wird auf bis zu 95% geschätzt. Zwischen 15 und 30% der
mitteleuropäischen Erwachsenen im mittleren Lebensalter sind im Rahmen der
genannten Feldstudie als so schwer durch psychogene Störungen beeinträchtigt
eingeschätzt worden, daß sie einer Therapie bedürfen, wobei für die Hälfte
dieser Fälle eine ambulante, für ca. 1/6 eine stationäre Psychotherapie und für
das verbleibende Drittel eine medikamentöse Therapie als adäquate Maßnahme
angesehen wird (Heigl-Evers et al. 1994).
Unter den Patienten von
Allgemeinkrankenhäusern wird ein Anteil von 30-60% angenommen, bei dem während
des stationären Aufenthaltes eine psychische Störungssymptomatik vorliegt.
Dabei dominieren depressive Syndrome, organisch begründbare psychische
Störungen und Alkoholabhängigkeit, die unter Allgemeinkrankenhaus-Patienten im
Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung überrepräsentiert sind (Arolt et al.
1997). Ein entscheidender Einflußfaktor für den Anteil von Patienten mit einem
organischen Psychosyndrom ist die Altersstruktur der Klientel der jeweiligen
Abteilungen, da die Häufigkeit dementieller und deliranter Syndrome im hohen
Lebensalter deutlich zunimmt. Nach Knights und Folstein (1977) sind körperlich
begründbare psychische Störungen bei Patienten internistischer Abteilungen im
aktuellen zeitlichen Querschnitt mit einer Häufigkeit zwischen 9% und 33% zu
erwarten. Arolt et al. (1997) fanden in ihrer Studie bei insgesamt 400
Lübecker Krankenhauspatienten, davon je 200 aus zwei internistischen und zwei
chirurgischen Abteilungen, ein aktuelles Aufkommen organischer Psychosyndrome
von 16,5%, davon 11% Demenzen, des weiteren 15,4% depressive Syndrome und 6,3%
alkoholbezogene Störungen. Insgesamt wurden bei 186 dieser 400 Patienten,
entsprechend einem Anteil von 46,5%, aktuell vorliegende psychische Störungen
diagnostiziert. In dieser Studie wurde
die psychiatrische Untersuchung von sechs Fachärzten für Psychiatrie mittels
des standardisierten Interviews CIDI (composite international diagnostic
interview), ergänzt durch ein klinisches Interview, vorgenommen. Das Alter der
Patienten lag zwischen 18 und 97 Jahren mit einem Median von 66 Jahren, die
Geschlechterrelation war bei einem Frauenanteil von 48,3% nahezu ausgeglichen.
Eine alkoholbezogene Störung
ist bei 10-20% der Patienten in internistischen und chirurgischen Abteilungen
anzunehmen (Feldman et al. 1987; McIntosh 1982; Moore et al. 1989). In der
Allgemeinbevölkerung ist ein Anteil von 2-3% Alkoholabhängiger anzunehmen, 4-7%
trinken regelmäßig Alkohol in einer gesundheitsschädigenden Menge (Feuerlein
1979; Huber 1994 a). Die Häufung alkoholabhängiger Patienten im
Allgemeinkrankenhaus ist eine Folge der zahlreichen körperlichen und
psychischen Komplikationen des chronischen Alkoholismus, die Morbidität der
Alkoholiker liegt gegenüber der Normalbevölkerung um das 4- bis 5fache höher.
Interessanterweise wird die Diagnose „Alkoholismus“ im Allgemeinkrankenhaus
dagegen selten gestellt. Die Prozentzahl der in internistischen und
chirurgischen Abteilungen als Alkoholiker diagnostizierten Patienten liegt im
einstelligen Bereich und zum Teil sogar noch unter der oben angeführten
Hintergrundprävalenz der Gesamtbevölkerung von 2-3% (Möller et al. 1987).
Depressionen bei somatisch
Kranken können grundsätzlich differenziert werden in:
§
primäre
depressive Störungen, bei denen die somatische Erkrankung höchstens als
Manifestationsfaktor, nicht aber als Ursache eine Rolle spielt. Dieser Gruppe
können auch reaktive Depressionen infolge anderweitiger, von der körperlichen
Erkrankung verschiedener psychischer oder sozialer Belastungen zugeordnet
werden. Kennzeichnend für diese erste Gruppe ist, daß der Patient auch ohne
seine körperliche Erkrankung depressive Symptome entwickeln würde oder bereits
vor der körperlichen Erkrankung unter Depressionen litt, die körperliche
Krankheit somit höchstens als Kofaktor in der Entstehung der depressiven
Symptomatik angesehen werden kann;
§
depressive
Krankheitsverarbeitung im Sinne einer Belastungsreaktion oder Anpassungsstörung
mit der psychischen Belastung durch das körperliche Kranksein als ursächlichem
Faktor und organisch begründbare depressive Störungen als unmittelbare
Krankheitsfolge bzw. -komponente, z.B. bei Patienten mit schweren
Infektionserkrankungen, bei Tumorpatienten mit Hirnmetastasen oder fakultativ
bei fast allen Endokrinopathien als sog. „endokrines Psychosyndrom“. In diesen
Fällen ist die körperliche Krankheit unmittelbare oder mittelbare Ursache der
depressiven Symptomatik;
§
pharmakogene
depressive Symptome, z.B. bei Patienten mit langzeitigem Benzodiazepin-Gebrauch
oder Patientinnen unter hormoneller Kontrazeption.
Diese detaillierte
Auflistung ätiopathogenetisch differenter Gruppen soll die Komplexität der
Differentialdiagnose und -therapie depressiver Syndrome bei somatisch kranken
Patienten aufzeigen. Arolt et al. (1997) verweisen in ihrer Studie zum Aufkommen
psychischer Störungen unter Allgemeinkrankenhaus-Patienten ausdrücklich darauf,
daß depressive Störungen nicht etwa als vermeintlich normale Begleitreaktionen
(etwa im Sinne einer vorübergehenden Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit)
mißverstanden werden dürfen, sondern nach klaren operationalen Kriterien
eindeutig diagnostizierbar und auch eindeutig behandlungsbedürftig sind. Sie
räumen ein, daß Depressionen bei somatisch Kranken im allgemeinen einen
geringeren Schweregrad haben als bei psychiatrischen Patienten und somit auch
leichter zu verkennen sind. Die von ihnen in der Lübecker
Allgemeinkrankenhausstudie gefundene Prävalenz depressiver Störungen von 15,4%
findet sich vergleichbar in den Studien von Feldman et. al (1987), Lykouras et
al. (1989) und Silverstone (1996) bestätigt.
Neben den quantitativ
dominierenden Gruppen depressiver, organisch begründbarer und alkoholabhängiger
Störungen gibt es eine Restkategorie anderer als der vorgenannten
Störungsbilder, z.B. Angststörungen, somatoforme Störungen, Schizophrenien und
Persönlichkeitsstörungen, die bei etwa 10% der Patienten in
Allgemeinkrankenhäusern in Erscheinung treten und die hier vergleichbar häufig
wie in der Allgemeinbevölkerung vorkommen, also keine Akkumulation unter
stationären somatisch Kranken zeigen.
Die hohe Prävalenzrate
psychischer Störungen im Allgemeinkrankenhaus wirft die Fragen nach einer
adäquaten Diagnostik und Therapie sowie nach der Bedeutung
somatisch-psychiatrischer Komorbidität für den Krankheitsverlauf und die
Prognose des Patienten auf. Der Anteil psychischer Störungen, der von
nichtpsychiatrischen Klinikärzten erkannt wird, wird im allgemeinen auf weniger
als die Hälfte geschätzt (Bickel et al. 1993). In der oben angesprochenen Lübecker
Allgemeinkrankenhausstudie von Arolt et al. (1997) geben die Untersucher über
die Diagnostik psychischer Störungen hinaus auch eine Einschätzung des
entsprechenden Behandlungsbedarfes der Patienten ab. Sie halten bei über 80%
der Patienten mit psychischen Störungen zumindest einen Konsiliarbesuch aus
diagnostischen oder therapeutischen Gründen und bei mehr als der Hälfte von
ihnen eine Psychopharmakotherapie für sinnvoll. Bei der in dieser Studie
vorgefundenen Prävalenz psychischer Störungen von 46,5% wäre bei 37% der
Patienten eine psychiatrisch-konsiliarische Mitbetreuung anzuraten. Nach
Heigl-Evers et al. (1994) wäre bei mindestens 20–30% der Patienten
nicht-psychosomatischer Fachabteilungen quer durch die Medizin eine vertiefende
psychologisch-medizinische Diagnostik wie auch eine entsprechend fundierte
spezifische Therapie erforderlich, tatsächlich jedoch würden dem
psychiatrischen Konsiliardienst nur 1-2% der Patienten allgemeiner
Krankenhäuser vorgestellt. Ein besonderer Aspekt der konsiliarischen Schwelle
liegt in ihrer Altersabhängigkeit: Anscheinend wird der psychiatrische
Konsiliardienst bei älteren Patienten erst zu einem späteren Zeitpunkt und auch
seltener als bei jüngeren eingeschaltet (Popkin et al. 1984). Möglicherweise
werden psychische Störungen im Alter als statistisch normal wahrgenommen, auch
gilt es nicht mehr, alte Patienten wieder in den Erwerbsprozeß zurückzuführen.
Man kann sich hier offensichtlich mehr Zeit lassen, die Entwicklung der
psychischen Beschwerden abwarten und eventuell symptomatisch unspezifisch mit
Psychopharmaka intervenieren.
Psychiatrische Komorbidität
bei somatisch Kranken kann die Dauer des Krankenhausaufenthaltes verlängern (Fulop et al. 1987). Signifikant
längere Aufenthaltsdauern im Vergleich zu psychisch Gesunden sind für
Allgemeinkrankenhauspatienten mit Demenzerkrankungen oder
Abhängigkeitserkrankungen beschrieben (Wancata et al. 1999). Darüber hinaus
bedeutet psychiatrische Komorbidität für ältere Patienten eine deutliche
Verschlechterung der Langzeitprognose: Bei ihnen chronifizieren psychische
Erkrankungen in der Mehrzahl der Fälle, und ältere Patienten mit
somatisch-psychiatrischer Komorbidität haben eine signifikant höhere
Pflegebedürftigkeits- und Mortalitätsrate als ihre psychisch unbeeinträchtigten
Altersgenossen mit vergleichbaren körperlichen Erkrankungen (Bickel et al.
1993).
6. Benzodiazepinverordnung im
Krankenhaus
Ganz abgesehen von den
spezifischen Indikationen der Benzodiazepine im psychiatrischen und
neurologischen Bereich (z.B. Panikattacken, akute Suizidalität, Status
epilepticus, spastischer Muskelhypertonus) stellen sie unstrittig wertvolle
Medikamente zur raschen und sicheren Streß-entlastung von Patienten im Sinne
einer akuten und punktuellen Krisenintervention dar, so z.B. beim akuten
Herzinfarkt oder in der präoperativen Situation.
Andererseits ist die
unspezifische Anwendung der Benzodiazepine als Schlafmittel oder Tranquilizer
bei stationären Patienten unter vielfältigen Gesichtspunkten problematisch. Die
besondere Belastungssituation eines
Krankenhausaufenthaltes kann für den Patienten Anlaß für den erstmaligen
Gebrauch von Beruhigungs- oder Schlafmitteln sein. Besondere Prädispositionen
zur Fortsetzung eines einmal begonnenen Benzodiazepingebrauches sind unter
anderem chronische körperliche Erkrankungen, chronische Schmerzzustände,
chronische Schlaflosigkeit und hohes Lebensalter, die bei den in aller Regel
schwerer erkrankten stationären Patienten sicherlich häufiger anzutreffen sind
als bei Kranken, die noch ambulant behandelbar sind. Auch Suchtkranke,
insbesondere Alkoholiker, und Depressive sind unter einer
Benzodiazepinmedikation in besonderem Maße abhängigkeitsgefährdet und zugleich
unter den Patienten von Allgemeinkrankenhäusern gegenüber der
Durchschnittsbevölkerung deutlich überrepräsentiert.
Neben dem durch das
Ursachenspektrum eines Krankenhausaufenthaltes und die ihn häufig begleitenden
psychischen Störungen bedingten Risiko für die Einleitung eines fortgesetzten
Benzo-diazepingebrauches spielt für die diesbezügliche Exposition der Patienten
auch die Arbeitssituation des medizinischen Personals im Krankenhaus eine
gewichtige Rolle. Eine hohe Arbeitsbelastung im Stationsalltag impliziert eine
hohe Bereitschaft von Ärzten und Pflegepersonal zur Anwendung von Psychopharmaka bei den psychisch
auffälligen Problemfällen unter ihren Patienten (Hemminki 1974).
Die Studien zum Thema des
Benzodiazepingebrauches im Krankenhaus zeichnen in der Frage der möglichen
Bahnung einer Abhängigkeitsentwicklung bei stationären Patienten kein
einheitliches Bild. So fanden Surendrakumar et al. (1992) bei der Hälfte von 58
Patienten mit einem Benzodiazepin in der Entlassungsmedikation einen Beginn des
Benzodiazepingebrauches im Krankenhaus, bei 29% während des aktuellen
stationären Aufenthaltes (diese hatten also zuvor noch keine Benzodiazepine
erhalten) und bei 21% während eines vorhergehenden Krankenhausaufenthaltes. Sie
folgern daraus, daß die Anwendung dieser Medikamente im stationären Rahmen eine
erhebliche Rolle als einleitendes Moment für den poststationären Gebrauch und
die Gebrauchshäufigkeit in der Allgemeinbevölkerung spielt, und fordern
verbindliche restriktive Verschreibungsregeln und eine strengere Kontrolle des
Verschreibungsverhaltens im Krankenhaus. Problematische Aspekte dieser Studie
sind die atypische Geschlechterrelation (60% Männer, 40% Frauen) und das
ungewöhnliche hohe Durchschnittsalter von 74 Jahren im untersuchten
Patientenkollektiv. Demgegenüber liefert die Studie von Edwards et al. (1991)
zur Beziehung zwischen prästationärem, stationärem und poststationärem Gebrauch
von Hypnotika und Anxiolytika bei Patienten im Allgemeinkrankenhaus keinen
Anhalt für die Hypothese, daß die stationäre Verschreibung von Benzodiazepinen
einen häufigeren poststationären Gebrauch nach sich zieht. Sie fanden unter
1277 chirurgischen, internistischen und gynäkologischen Patienten eines
englischen Lehrkrankenhauses einen nur sehr geringen Anteil von 1,6% von
Patienten mit einem Benzodiazepin in der Entlassungsmedikation, die Prävalenz
des Benzodiazepin-Gebrauches zum Aufnahmezeitpunkt betrug 5,7%, die stationäre
Verordnungsquote 12,6%, Benzodiazepine in der Prämedikation wurden dabei
ausgeklammert. Die Autoren ziehen daraus den Schluß, daß die verantwortlichen
Ärzte um die Problematik der langzeitigen Applikation dieser Substanzen wissen.
Der Anteil der Patienten, der 4-8 Wochen nach der Entlassung immer noch ein
Hypnotikum benutzte, war nicht höher als der Anteil mit prästationärem
Hypnotikagebrauch (Anxiolytika traten in dieser Studie nur im Promillebereich
in Erscheinung und wurden daher nicht weiter berücksichtigt). In beiden
vorgenannten Studien wurde übereinstimmend ein deutliches Überwiegen der
hypnotischen gegenüber der anxiolytischen Indikation bei den stationären
Verordnungen festgestellt. Auch die Studien von Fleischhacker et al. (1989) und
Summers et al. (1990) zur Benzodiazepinanwendung im Krankenhaus zeigen ein
deutliches Überwiegen der Hypnotika gegenüber den Tagestranquilizern.
Noble
et al. (1993)
fanden bei ihrer Untersuchung des Benzodiazepingebrauches der Patienten von
sechs internistischen und chirurgischen Stationen als entscheidende
Determinante das Schlafmuster der Patienten. Diejenigen, die ein Benzodiazepin
einnahmen oder zumindest bedarfsmäßig verschrieben bekamen, litten signifikant
häufiger unter Schlafstörungen, wobei die Verschreibung eines Hypnotikums
offenbar von der Schlafanamnese des Patienten, die tatsächliche Einnahme von
aktuellen Schlafproblemen im Krankenhaus abhängig war. 77% der Patienten
erhielten ein Benzodiazepin verschrieben, 52% nahmen es auch ein. Von den
Patienten mit einer Verschreibung hatten 51% in den vorausgegangenen drei
Monaten kein Hypnotikum eingenommen. Alter, Geschlecht, Beruf und Familienstand
sowie das Angstniveau vor und während des stationären Aufenthaltes erwiesen
sich als ohne Einfluß auf Verschreibung und Einnahme von Benzodiazepinen.
Fleischhacker et al. (1989)
fanden bei der Befragung einer Zufallsstichprobe von 264 Patienten aus den fünf
größten Abteilungen der Universitätsklinik Innsbruck (Chirurgie, Innere
Medizin, Neurologie, Dermatologie und Gynäkologie) eine Punktprävalenz der
Benzodiazepineinnahme am Stichtag der Befragung von 24,1% bei den Männern und
20,5% bei den Frauen. 34,5% dieser Benzodiazepinkonsumenten hatten diese Substanzen
schon prästationär im Gebrauch, 20,7% länger als drei Monate, davon waren zwei
Drittel Frauen. 80% der Benzodiazepinpatienten waren in der Lage, das Präparat
oder dessen Indikation zu benennen, 20% dagegen wußten nichts von dieser
Medikation.
Summers
et al. (1990)
beleuchten mit ihrer Studie inadäquate Anwendungsverhältnisse von
Benzodiazepinen in einem kleinen Allgemeinkrankenhaus mit 72 Betten. Hier
bekamen von insgesamt 800 erfaßten Patienten 183 wenigstens ein Benzodiazepin
verordnet, wobei die Prämedikation vor operativen Eingriffen mit berücksichtigt
wurde. Das Durchschnittsalter der Benzodiazepin-Patienten von 38 Jahren und
deren durchschnittliche stationäre Aufenthaltsdauer von 3,6 Tagen liegen
relativ niedrig, der Frauenanteil ist mit 67,8% etwas höher als in der
Gesamtstichprobe mit 61,2%. Das Spektrum der Benzodiazepinverordnungen umfaßt
einen Anteil von 65,7% mit hypnotischer, von 28,4% mit anxiolytischer und von
5,9% mit präanästhetischer Indikation. Die Anwendung von mehr als einem Viertel
der verordneten Benzodiazepine zur Behandlung von Angstzuständen steht im
Kontrast zur nur kurzen durchschnittlichen Zeit des Krankenhausaufenthaltes.
71,4% der Benzodiazepinverordnungen an weibliche Patienten erfolgten in
anxiolytischer Indikation. 75,7% der
applizierten Benzodiazepine gehörten zur Gruppe mit langer oder mittlerer
Halbwertszeit, während für die dominierende hypnotische Indikation kurzwirksame
Substanzen angemessen gewesen wären. Die Autoren formulieren vor dem
Hintergrund dieser Ergebnisse die Frage, ob die Patienten dieses Krankenhauses
auch am Tage ruhig gestellt werden sollten, um dem Personal die Arbeit zu
erleichtern. Weiterhin stellte sich bei dieser Studie heraus, daß bei den
Frauen im Unterschied zu den Männern Mehrfachverordnungen verschiedener
Benzodiazepinpräparate häufig waren: Die durchschnittliche Verordnungsrate lag
bei 1,22 Präparaten pro Patient, bei den Frauen 1,31, bei den Männern 1,02. Die
höchste Mehrfachverordnungsquote fand sich in der Gruppe der Frauen im Alter
von 21-40 Jahren.