3.3.1.1. Symptomatische Hinweise auf Suizidalität bei Ernst Ludwig Kirchner

Die „suizidalen Entwicklungsstadien“ Pöldingers, erweitert durch Götze, stellen einen deskriptiven Überblick über die zeitliche Abfolge der präsuizidalen Entwicklung bis zum Suizid dar. Der gedanklichen Auseinandersetzung mit dem Suizid als Mittel zur Krisenbewältigung folgt eine „Ambivalenz zwischen lebenserhaltenden und lebensvernichtenden Kräften“[1], woran sich der „Entschluß zum Suizid“[2] und nach einer „präsuizidale[n] Pause“[3] dessen Durchführung anschließen.

Unter einem deskriptiven Gesichtspunkt entsteht Kirchners erste suizidale Krise aus dem erhöhten Erfolgsdruck, dem er in Berlin ausgesetzt ist, um in seiner künstlerischen Arbeit Anschluß an die zunehmende Berühmtheit der anderen Brücke-Mitglieder zu halten[4]. Gleichzeitig droht die Einberufung zum Militär ihm die Möglichkeit seine Arbeit fortzusetzen zu nehmen.[5]

Erste Hinweise auf Gedanken an den eigenen Tod finden sich Anfang 1917[6], wobei sich hier Todesangst mit Todessehnsucht mischt[7], was entsprechend der als 2. Stadium von Pöldinger beschriebenen Ambivalenz in der Regel einhergeht mit ersten „Suizidsignalen“[8] an die Außenwelt, wie sie in Kirchners Äußerungen vorliegen.

Der Rückzug in die Sanatorien, die sowohl die unmittelbare Bedrohung vor einer Einberufung nehmen als auch einen geschützten Raum zur Fortsetzung seiner Arbeit bieten - man denke nur an die in kürzester Zeit entstandenen Fresken in Königstein, einem „Hauptwerk der deutschen Wandmalerei im 20. Jahrhundert“[9] - verhindert auf symptomatischer Ebene ein Fortschreiten der Suizidalität zu diesem Zeitpunkt. Mit dem Umzug nach Davos entfällt die Belastung durch den unmittelbaren Konkurrenzdruck in Berlin[10], und mit dem Ende der Bedrohung durch den Krieg legt sich die Suizidalität.

Anders verläuft die zweite suizidale Krise in Davos, an deren Ende er sich 1938 suizidiert:

Bereits ab 1929 finden sich immer wieder Hinweise darauf, daß Kirchner sich in Gedanken mit seinem Tod beschäftigt[11], explizit als Todeswunsch erstmalig 1932[12]. Mit der Machtergreifung Hitlers und der daraus resultierenden zunehmenden Isolation und künstlerischen Nichtakzeptanz[13] häufen sich entsprechende Äußerungen[14]. Ihrem Höhepunkt strebt die Entwicklung mit den Vorbereitungen für die Ausstellung „Entartete Kunst“[15] zu, so daß er im Winter 1937/38 „zunehmend ... von Depressionen, schlaflosen Nächten, innerer Unruhe und einer sich immer stärker manifestierenden Darmerkrankung[16] geplagt“[17] wird und bereits einmal den Entschluß zum Suizid faßt, wohl aber durch die Weigerung Ernas sich gemeinsam mit ihm das Leben zu nehmen noch davon abgehalten werden kann[18].

Als mit dem Anschluß Österreichs am 13.03.1938 die Deutschen nur etwa zwanzig Kilometer von Davos entfernt stehen, beginnt er mit der systematischen Zerstörung eigener Kunstwerke, wie der Skulpturen vor seinem Haus[19], aller seiner zahlreichen Holzstöcke, seines Adam und Eva-Stuhles[20]. Möglicherweise benutzt er auch seine Bilder zum Zielschießen[21]. Alles dies weist auf den reifenden Entschluß zum Suizid hin, wobei immer noch Schwankungen zwischen diesem 3. Stadium nach Pöldinger und der Ambivalenz des zweiten Stadiums bestanden haben müssen, wenn Erna später davon berichtet, daß er „grausam gelitten hat, bis er sich zu dem Entschluss durchgerungen hat“[22]. Er habe sich „in den letzten Wochen grauenhaft gequält“[23]. Auch setzt er fast bis zuletzt die Versuche fort, als Künstler in den USA Anerkennung zu erlangen.[24]

Der Übergang von dem endgültig gefällten Entschluß zu der eigentlichen Suizidhandlung muß am frühen Morgen des 15.06.38 sehr schnell erfolgt sein, so daß eine eigentliche „präsuizidale Pause“[25] nicht beschreibbar ist: „Kirchner will nach einer schlaflosen Nacht seine Frau [erneut[26]] zu einem Doppelselbstmord überreden, aber Erna versucht ... schnell einen Arzt zu erreichen. Sie eilt über den Wildboden ins Bauernhaus der Rueschs ... und ruft Dr. Bauer an...“[27]. Weiter in den Worten einer Augenzeugin: „Während sie noch am Telephon war, kam Herr Kirchner und sagte, sie brauche nicht mehr zu telephonieren, es sei schon zu spät, ging wieder, und kurz darauf hörten wir einen Knall. Als wir vors Haus gingen, sahen wir ihn im Hofe liegend.“[28]

Anders als der lediglich die chronologische präsuizidale Symptomatik wiedergebende Ansatz Pöldingers liefert Ringel mit dem „Präsuizidalen Syndrom“[29] einen Verstehensansatz für die unmittelbar dem Suizid vorausgehende aus der Symptomatik abzuleitende Psychodynamik[30].

„Das Syndrom besteht aus:

 1. Einengung

 2. gehemmter und gegen die eigene Person gerichteter Aggression und

 3. Selbstmordphantasien.“[31]

Die Einengung bezieht sich hierbei auf das situative Umfeld[32], aus dem heraus eine Einengung der „Dynamik der Persönlichkeit“[33] resultiert, d.h. das Spektrum an Verhaltensalternativen, affektiven Mustern und Abwehrmechanismen - charakteristischerweise „Vermeidung und Regression“[34] - grenzt sich zunehmend ein, womit sowohl in der Wertewelt[35] als auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen[36] ein Rückzug einhergeht. Als Resultat dieser Einengung kann eine Abfuhr sich aufstauender Aggressionen nicht mehr nach außen hin erfolgen und diese wenden sich gegen die eigene Person[37], anfangs in Form sich primär aufdrängender Suizidphantasien[38], schließlich in der ausgeführten Suizidhandlung.

In Kirchners erster suizidalen Krise beginnt eine zunehmende Einengung zu dem Zeitpunkt, als der mit dem Umzug nach Berlin erwünschte Anschluß an den Erfolg der schon zuvor übersiedelten Brückekollegen ausbleibt. Insbesondere Pechstein, mit dem zusammen er das MUIM-Institut gegründet hatte[39], wurde dort als „Führer der Brücke“[40] gefeiert. Anders als zuvor in Dresden fehlt die künstlerische Anerkennung[41], er gerät zunehmend in Auseinandersetzungen mit seinen künstlerischen Mitstreitern und trennt sich schließlich von diesen[42]. Bis an den Rand der körperlichen Erschöpfung und unter dem Einsatz von Drogen wendet er sich ausschließlich seinem Kunstschaffen zu[43]. In seiner Wertewelt zählt einzig der Kampf um den künstlerischen Erfolg, was deren Einengung verdeutlicht.

Als die Einberufung zum Militär die künstlerische Arbeit und damit ein Leben gemäß dieser Wertewelt unmöglich zu machen droht, ergreift Kirchner die Flucht. Seine wesentlichen Abwehrformen werden Vermeidung und Regression[44]. Er traut sich kaum noch auf die Straße, arbeitet nur noch nachts[45], reist rastlos im Land umher[46], kommt bei Freunden unter[47] und landet schließlich in der behütenden, regressiven Umwelt der Sanatorien. Dort regrediert er mitbedingt durch seinen Drogenabusus phasenweise in seinem paranoiden Erleben bis auf ein psychotisches Niveau[48]. Gleichzeitig unterstützt auch die sich einstellende körperliche Symptomatik der als Konversionsreaktion verstehbaren Lähmungen[49] die Regression.

Parallel finden sich neben fremdaggressiven, wenn er sich einer Verhaftung „widersetzt und gebärdet wie ein Tobsüchtiger“[50], auch autoaggressive Tendenzen in seinem exzessiven Drogenkonsum[51] und in der beschriebenen massiven Nahrungsverweigerung[52], die im weiteren Verlauf von offen geäußerten Suizidgedanken begleitet werden[53].

Eine Realisierung dieser Suizidgedanken wird jedoch verhindert, im Verständnis von Ringel durch die Vermeidung einer vollständigen zwischenmenschlichen Isolation. Im Gegenteil nehmen immer mehr Freunde seine Hilfsappelle wahr und kümmern sich intensiv um ihn[54]. In der behüteten Atmosphäre des Sanatoriums Binswanger[55] empfängt er nicht nur zahlreiche Besuche[56], sondern findet auch unter den Mitbewohnern Ansprechpartner[57]. Außerdem wird sein Kunstschaffen gefördert[58], was ähnlich wie zuvor schon im Sanatorium Königstein[59], die Bedrohung seiner Wertewelt nicht mehr akut sein läßt.

Einen anderen Verlauf nimmt die zweite suizidale Krise, deren Entwicklung ebenfalls Ringel folgend verstanden werden kann:

Weiterhin in seiner Wertewelt darin befangen, zum größten deutschen Künstler seit Dürer, wenn nicht gar überhaupt zu avancieren[60], bleibt Kirchner auch nach dem Ende des Krieges in dem im Vergleich zu Berlin abgeschiedenen Davos und arbeitet nicht nur künstlerisch, sondern auch in Publikationen und theoretischen Schriften am Aufbau des von ihm angestrebten Rufes[61]. Allerdings findet er immer nur wenige[62], die ihn in dieser Selbsteinschätzung, der er sich in der Abgeschiedenheit hingeben kann[63], bestätigen. Als seine Kunst schließlich mitbedingt durch den politischen Umschwung in Deutschland kaum noch Anerkennung findet[64], hat er sich, wie auch mit anderen entfernten Freunden, mit den wenigen in Davos bestehenden Kontakten zerstritten[65], und ihm bleibt zuletzt nur noch Erna. Sie wird wirklich der „einzige Mensch, der mich mit dem Leben verbindet“[66], ganz wie Ringel beschreibt, daß „man sich schließlich an eine Person anklammert, von der man völlig abhängig ist“[67]. Der Gipfel ist 1938 erreicht, als zu seinem 58. Geburtstag „nicht eine einzige Gratulation von Freunden“[68] eintrifft. Immer wieder beklagt er schon in den Jahren zuvor seine bis zu einem gewissen Grade ja selbstgewählte Einsamkeit[69]. Unter der durch die politischen Entwicklungen bestärkten Angst manifestieren sich wieder erste autoaggressive Verhaltensweisen, anfangs in Form erneuten Morphinmißbrauchs[70], im weiteren Verlauf dann in der zunehmenden Zerstörung der eigenen Kunstwerke[71]. Die Suizidgedanken werden drängender, erstmalig auch akut[72], und zuletzt reicht die Aggressionsabfuhr an den eigenen Kunstwerken nicht mehr aus, um die Spannung abzubauen, und er begeht Selbstmord[73].



[1] GÖT, S.190, hieraus der Überblick in diesem Satz entnommen. Von Pöldinger selbst eine Zusammenfassung in PÖL, SS.13-14. Dort auf S.13 auch eine erläuternde Skizze.

[2] ebd.

[3] ebd.

[4] Dieser Zusammenhang ergibt sich aus der den Unterlagen Binswangers zu entnehmenden Zeitangabe Ernas, die den Beginn der Krise auf 1913 datierte. (s.Anm.140) Zu den Beweggründen des Umzugs nach Berlin s.SS.37 und 49-50; zur zugrundeliegenden Psychodynamik s.SS.82 und 88

[5] s.S.38

[6] Als erster expliziter belegbarer Hinweis hierauf ein Brief an Grisebach vom 13.04.1917 zum Tode Graefs: „Ich möcht selbst tot sein“ (GR2, S.67; s.Anm.63) sowie kurz darauf in Form seines Testaments vom 1.November 1917. s.Anm.58

[7] Schon vor dem in der Voranmerkung zitierten Todeswunsch spricht Kirchner von Todesangst im Brief an Grisebach vom 10.Februar 1917: „...ich werde ja leider nicht mehr viel mitmachen, denn alles halte ich aus nur das systematische Totmachen nicht, das jetzt in Mode ist und dem ich wohl zum Opfer fallen werde ob ich will oder nicht...“ GO, S.25; s.Anm.63

[8] GÖT, S.167; s.Anm.619

[9] GAB2, S.162; s.Anm.61

[10] s.S.40

[11] So faßt er in diesem Jahr sein Testament neu. s.Anm.112

[12] „...Unsereins sollte früh sterben...“ Brief Kirchners an Hagemann 1932, wiedergegeben von Henze bei HEKU, S.15; s.Anm.111

[13] s.SS.29-30, 46

[14] s.Anm.121, 124 und 125

[15] s.S.30

[16] Zu dem naheliegenden Zusammenhang dieser Darmbeschwerden mit dem seit zumindest 1935 wieder begonnenen Morphinmißbrauch s.Anm.124

[17] KOR1, S.321; s.Anm.130

[18] s.Anm.128

[19] s.Anm.132

[20] s.Anm.139

[21] ebd.

[22] Im Schreiben an Hagemann nach Kirchners Tod. KOR1, S.326, s.Anm.139

[23] Im Schreiben an Helene Spengler nach Kirchners Tod. ebd.

[24] s.Anm.125

[25] Nach Götze (GÖT, S.190), wobei dies nicht ungewöhnlich ist, da er ausführt: „Nicht nur, daß die Stadien zueinander eine individuell ganz unterschiedliche Dauer haben, ja manchmal geradezu auch übersprungen werden können...“ GÖT, S.168

[26] s.Anm.128

[27] So Kornfelds Beschreibung. KOR1, S.324; s.Anm.139

[28] Bericht der damals 16-jährigen Tochter des Bauern Ruesch, Frau B. Augustin-Ruesch. GO, S.463; s.Anm.139

[29] s.RIN, SS.151-184.

Erstmals beschrieben von Ringel 1949 als „praesuicidales Syndrom“. RIN, SS.158-159

[30] Götze hierzu: „Das präsuizidale Syndrom gibt auf psychopathologischer Ebene phänomenologisch deskriptiv psychodynamisch erklärbare intrapsychische Abläufe wieder.“ GÖT, S.169

[31] RIN, S.159; s. auch GÖT, S.191

[32] Die Ursache hierfür kann durch Fremdeinwirkung entstanden sein oder sich aus eigenen Verhaltensweisen heraus entwickeln, bzw. auch nur eingebildet sein. RIN, S.159

[33] RIN, S.160

[34] GÖT, S.169 „Es besteht also die Flucht in einengende, regressive, d.h. frühkindliche Erlebens- und Verhaltensweisen.“ ebd.

[35] Dies bezieht sich insbesondere auf eine „Entwertung vieler Lebensgebiete ... subjektive, mit der Allgemeinmeinung nicht in Übereinstimmung stehende Werturteile (dadurch Gefühl der Isolierung) ... Mangelhaft praktische Wertverwirklichung.“ RIN, S.160

[36] Neben einer „Entwertung vorhandener Beziehungen [deren] ... zahlenmäßige Reduktion ... bis man sich schließlich an eine Person anklammert, von der man völlig abhängig ist.“ ebd.

[37] Ein zusätzlicher Faktor der Hemmung einer Aggressionsabfuhr nach außen stellt nach Ringel eine „spezifische psychische Persönlichkeitsstruktur, gekennzeichnet durch ein besonders strenges und starres Über-Ich“ (RIN, S.164) dar, „welches Schuldgefühle weckt und zur unbewußten Aggressionsumkehr führt.“ GÖT, S.169

[38] „Unter (3) Suizidphantasien versteht Ringel die unerträgliche Spannung, die immer häufiger passiv sich aufdrängende Suizidphantasien i.S. einer Entlastung vom intrapsychischen Druck aufkommen läßt.“ ebd.

[39] s.SS.49-50

[40] Überliefert von P.F.Schmidt. GO, S.462

[41] s.S.37 und Anm.45

[42] s.SS.10 und 37

[43] s.Anm.140 und 163

[44] s.S.93 und Anm.652

[45] s.Anm.52

[46] s.S.13

[47] So beispielsweise bei Graef in Jena; s. im einzelnen SEE, SS.21-36

[48] s.Anm.54, 65 und 71

[49] s.Anm.59

[50] Überliefert von Lenny Miller-Spengler. GO, S.462; s.Anm.54

[51] s.S.38

[52] s.SS.13-14 und Anm.55 und 56

[53] s.S.91

[54] Intensive Kontakte bestehen beispielsweise zu Grisebach, Graef, Spenglers, Osthaus, van de Velde. s.SS.15-17

[55] s.Anm.67-70

[56] s.Anm.65 und 69

[57] s.Anm.69 und 70

[58] Durch Binswanger, s.Anm.69

[59] s.Anm.61

[60] s.S.40

[61] s.SS.40-42

[62] s.S.35

[63] s.SS.40 und 50-51

[64] s.Anm.126 und S.46

[65] Prägnantestes Beispiel die Freundschaft mit Helene Spengler. s.Anm.94; s.auch S.82

[66] Kirchner schon im Brief an Erna vom 12.März 1929. GR1, S.237; s.Anm.118

[67] RIN, S.162; inwieweit in diesem Zusammenhang von wirklicher Abhängigkeit überhaupt die Rede sein kann, dazu s. SS.60-63

[68] KOR1, S.322; s.Anm.133

[69] s.SS.45 und 82; Dies selbst erkennend, s.Anm.232

[70] s.Anm.124

[71] s.S.47 und Anm.139

[72] s.Anm.128; auch geht er nicht mehr aus dem Haus, s.S.47

[73] s.S.94 und Anm.139