3.3.1.2.1. Aggressionstheorie

Im Rahmen des Depressionsmodells wird der Suizid als „letzte Konsequenz depressiven Reagierens“[1] angesehen. Den Ausgangspunkt für die Depression bildet „stets der Verlust eines realen oder phantasierten emotional als unverzichtbar erlebten Objektes ... [dessen] Wahl ... auf frühkindlicher Ebene in der symbiotischen Phase immer narzißtisch“[2] erfolgte, weswegen man von einem narzißtischen Objekt sprechen könnte, wobei es sich „meist [um] die psychische Vorstellung von einer nahestehenden Person (sog. Objektrepräsentanz)“[3] handele. Der erlebte Verlust des Objektes bedingt ein „intensives Haßgefühl ... Intensive Schuldgefühle erlauben es jedoch nicht, die aggressiven Impulse nach außen auf das Objekt zu richten ... es erfolgt durch Regression eine Rückkehr der libidinösen Objektbesetzung ins Ich durch eine primär narzißtische Identifizierung des Ich´s mit dem verlorenen Objekt i.S. der Introjektion.“[4] Durch diese Internalisierung wendet sich der Haß gegenüber dem verlassenden Objekt nun „gefahrlos, d.h. unter Vermeidung eines Konfliktes mit dem Über-Ich“[5] gegen dieses, „was von außen als Wendung der Aggression gegen die eigene Person erscheint“[6]. Die depressive Symptomatik gipfelt im Suizid als „psychische[m] Mord einer Objektrepräsentanz im Subjekt durch Selbsttötung.“[7]

Götze ergänzt hierzu, daß aus der Ambivalenz - Haß / Liebe - gegenüber dem Objekt alternativ auch eine „Bewahrung der Liebe zum Objekt ... im Sinne einer weitgehenden Verschmelzung von Selbst und Objekt ... [mit] einer intrapsychisch erlebten Rettung der Objektbeziehung in Analogie zur tagtraum-ähnlichen Wunscherfüllung in der Phantasie“[8] resultieren könne, was die nicht selten „ausgesprochen schwach ausgeprägte depressive Symptomatik“[9] suizidaler Patienten erkläre.

Die Suizidalität Ernst Ludwig Kirchners läßt sich im Rahmen dieses Modells aus der internalisierten Vaterbeziehung heraus verstehen, zu der er selbst schon 1929 bekannte, daß „das dunkle Erbe des Fanatismus der märkischen Pastorengeneration meines Vaters mich längst der Selbstzerstörung anheimgegeben“[10] hätte, wäre er diesem alleine ausgeliefert gewesen.

Der Vater hatte seinen ältesten Sohn anfangs intensiv gefördert und durch ihn unbewußt auch seine eigene unterdrückte künstlerische Begabung zur Entfaltung zu bringen getrachet[11], wodurch die Kunst zum existentiellen Bestandteil im Selbstwerterleben des jungen Kirchner integriert wurde[12]. Aber es war die andere, strenge Seite desselben Vaters, die ihn verstieß, gerade weil er sein Leben diesem internalisierten Wert unterordnete. Der Wut und der Auflehnung gegen diese verstoßende, unterdrückende Vaterimago stand die als gutes väterliches Objekt introjizierte - und damit als narzißtisches Objekt im Selbst integrierte - Liebe zum Kunstschaffen gegenüber. Dieser Kunst widmete er sein gesamtes Leben in der phantasierten Wunscherfüllung mit seiner „Arbeit ... an allererster Stelle“[13] zu stehen, d.h. mit diesem guten väterlichen, omnipotenten Anteil verschmolzen zu sein, und damit dessen bedrohliche Anteile zu beschwichtigen. Der Haß diesen gegenüber erklärt Kirchners Neigung zu Depressionen[14], denen er mit Arbeit[15], d.h. Stärkung der Kunst als Repräsentanz der positiven internalisierten Anteile begegnete, und zu seinem selbstaussondernden Rückzug vor anderen Menschen[16].

Als der Verlust dieses geliebten Anteils aus dem Ambivalenzkonflikt mit dem narzißtischen Objekt drohte, erstmals durch den bevorstehenden Militärdienst, wobei das Militär hier als Verkörperung der bedrohlichen väterlichen Autorität verstanden werden kann[17], später dann in gleicher Weise durch die Machtübernahme Hitlers, wird das Haßgefühl gegen die internalisierte Vaterimago frei. Gelingt es ihm in der ersten suizidalen Krise durch regressiven Rückzug und durch enorme Steigerung der Kunstproduktion die guten Anteile des internalisierten Objektes erneut zu stärken und dadurch sich selbst zu retten, hierbei unterstützt durch das reale Vorhandensein behütend fürsorglicher Vaterfiguren[18], unterliegt er in der zweiten Krise dem Haß gegen das väterliche Introjekt, was auch daran deutlich wird, daß sich dieser Haß zuletzt gegen seine Kunst[19] und damit gegen die Repräsentanz des guten internalisierten Anteils richtet, anstatt wie zuvor über deren Stärkung eine Bewahrung des narzißtischen Objektes und damit auch seiner selbst zu erreichen.



[1] GÖT, S.170

[2] ebd. Hier wird schon der auch im Rahmen dieses Modells vorhandene Bezug zur Narzißmustheorie deutlich, was durch spätere Modifizierungen dieses Modells, die der suizidalen Persönlichkeit eine „sog. Ich-Schwäche“ (GÖT, S.172) zugrundelegen, die „durch mangelhafte Fähigkeit zur Triebkontrolle eine Triebregression“ (ebd.) erleichtere. „Dies um so mehr, als auch bei einer bestehenden sog. Ich-Schwäche kompensatorisch infantil überhöhte Ich-Ideale wie auch ein strenges infantiles Über-Ich i.S.der Fixierung anzunehmen sind.“ ebd.

[3] ebd.

[4] ebd. Also im Sinne einer „Triebregression auf orale Erlebnisweisen“. GÖT, S.172

[5] GÖT, S.171

[6] ebd.

[7] ebd.

[8] ebd.

[9] ebd.

[10] Brief an Hagemann am 23.Oktober 1929. KOR1, S.275; s.SS.25 und 86-89

[11] s.S.87

[12] s.S.79; zur weiteren Herausarbeitung der psychodynamischen Bedeutung der Kunst in Kirchners Leben s. das Kapitel 3.4.

[13] Tagebucheintrag vom September 1926. (GR1, S.101), s.Anm.190; der Bezug zu den Größenphantasien Kirchners liegt hier nahe, s. dazu SS.73-74

[14] s.S.58 und Anm.562

[15] „Meine Arbeit kommt aus der Sehnsucht der Einsamkeit. Ich war immer allein, je mehr ich unter Menschen kam, fühlte ich meine Einsamkeit, ausgestoßen, trotzdem mich niemand ausstieß. Das macht tiefe Traurigkeit und diese wich durch die Arbeit und das Wollen zu verschwinden.“ Kirchner in einem Beitrag über seine Kunst. Dieser Auszug bei GRM, S.79. (s.S.58) Gleichzeitig weist Kirchner hier nicht nur wie an diversen anderen Stellen auf die enge Verknüpfung seiner Arbeit und seiner Depression hin, sondern außerdem noch auf deren Verbindung zum „Wollen zu verschwinden“ (s.zuvor), d.h. zur Suizidalität.

[16] s. vorhergehende Anm. und S.82

[17] s.Anm.473

[18] s.SS.70-71

[19] s.SS.47 und 92