Ernst Ludwig Kirchner, einer der führenden Vertreter des deutschen Expressionismus suizidierte sich 1938. In seiner Biographie finden sich Anhaltspunkte dafür, daß seiner suizidalen Entwicklung eine Narzißtische Persönlichkeitsstörung zugrundeliegt, deren Nachweis hier anhand der diagnostischen Kriterien des DSM III R erfolgt. Mit Hilfe von Kernbergs Ausarbeitung zur Narzißtischen Persönlichkeitsstörung wird anschließend auf deskriptiver Ebene die Symptomatik von Kirchners Psychopathologie, insbesondere seiner Art de Beziehungsgestaltung, beschrieben und daraus deren Struktur, Psychodynamik und mögliche Genese entwickelt. Auf der Grundlage des so gewonnenen psychodynamischen Verständnisses schließt sich eine Analyse von Kirchners Suizidalität an, symptomatisch nach Pöldinger, bzw. Götze, und Ringel, psychoanalytisch fundiert anhand der Aggressionstheorie (Freud, Abraham) und der Narzißmustheorie (Henseler). Es folgt eine Herausarbeitung des Stellenwerts der Kunst in Kirchners Psychodynamik und damit in seiner Suizidalität.
Begründet in dem Erleben einer versagenden Mutter zieht sich Kirchner schon als Kind vor der bedrohlichen Umwelt in seine eigene Welt des Zeichnens zurück, hierbei unterstützt durch den Vater. Die Kunst wird narzißtisches Objekt des guten väterlichen Introjekts, dem gespalten der strenge, autoritäre Vater gegenübersteht. Wird anfangs in der Kunst der Triumph über diesen ausgelebt und hierdurch auch, ergänzt durch umfangreiche narzißtische Unterstützung, die erste suizidale Krise überwunden, ist seine Arbeit später nur noch Instrument zur Einforderung narzißtischer Bestätigung und verliert so ihren psychisch protektiven Charakter. Die zweite Krise endet im Suizid.
Der Niederschlag dieser Psychodynamik in Kirchners Kunstwerken läßt sich sowohl allgemein, als auch an Einzelbeispielen nachvollziehen. Nicht nur ergeben sich hieraus umfangreiche weiterführende Interpretationsansätze zu Kirchners Oeuvre. Auch zum psychoanalytischen Verständnis künstlerischer Arbeit überhaupt ermöglicht Kirchner einen wahrscheinlich exemplarischen Zugang.