3.3.1.2. Die Psychodynamik der Suizidalität Ernst Ludwig Kirchners

Bereits Ringel postuliert mit seiner „Neurose zum Selbstmord hin“[1] eine der Suizidalität zugrunde liegende Charakterstruktur, die weiter als bei ihm in den beiden die Forschung dominierenden „psychoanalytisch fundierten Erklärungsansätze[n]“[2], der „Freud-Abraham´sche[n] vorwiegend triebdynamisch orientierten Aggressionstheorie der Suizidalität im Rahmen des Depressionsmodells (Freud 1916, Abraham 1912)“[3] und dem auf der Narzißmustheorie[4] basierenden Ansatz Henselers herauszuarbeiten versucht wurde. Die in dieser Arbeit gestellte Diagnose einer Narzißtischen Persönlichkeitsstörung Kirchners legt nahe, den Schwerpunkt in dessen suizidaler Psychodynamik auf der Basis des zweiten Ansatzes zu suchen; dennoch läßt sich auch mit dem ersten Modell plausibel die Psychodynamik der Suizidalität des Künstlers verstehen.



[1] RIN, SS.151-184; In Kürze zusammengefaßt legt er dieser „neurotische[n] Entwicklung“ (RIN, S.151) eine „familiäre Situation“ (ebd.) zugrunde, deren „Typisches ... in der Intensität der Traumatisierung und in ihrer lange anhaltenden Einwirkung“ (ebd.) zu sehen sei. Resultat sei eine „Ichunsicherheit [die] immer mit verstärkter Egozentrizität gekoppelt“ (RIN, S.154) sei, wodurch „jede zwischenmenschliche Beziehung ihrer Natürlichkeit beraubt“ (ebd.) sei, woraus die „Isolierung“ (ebd.) dieser Menschen resultiere. „An Stelle der klassischen [psychodynamisch entlastend wirkenden] (hier fehlenden) neurotischen Symptome dominiert in all diesen Fällen eine ausgesprochen neurotische Lebensgestaltung“. (RIN, S.155) Eine Kombination von „einer grundsätzlich entmutigten neurotischen Lebenseinstellung ... immer wieder zur Anwendung gebrachten Verhaltensmustern ... [und] neurotischen Gefühlsübertragungen“ führe zu „den massivsten Sekundärkonflikten ... Auf der einen Seite fehlen hier die Abwehrmechanismen bis auf den einen der Aggressionsumkehr..., auf der anderen  Seite tritt als Folge von Entmutigung und immer wieder angewendeten gleichbleibenden Verhaltensmustern eine ständige Verschlechterung der Lebenssituation ein“ (ebd.), woraus eine „neurotische Depression (jede Depression bedeutet gehemmte und gegen das eigene Ich gerichtete Aggression)“ (ebd.) und schließlich über eine „Einengung des Lebensraumes ... [eine] Fixierung an starre, gleichbleibende Verhaltensmuster“ (RIN, S.156) und einen regressiven Rückzug der Übergang zum präsuizidalen Syndrom und dann zum Selbstmord erfolge.

[2] GÖT, S.165

[3] GÖT, S.170

[4] „Die heutige Narzißmustheorie ... ist im wesentlichen mit den Namen Kohut (1971) und Kernberg (1975) verbunden.“ GÖT, S.172