Bei der Herausarbeitung der Narzißtischen Persönlichkeitsstörung Ernst Ludwig Kirchners konnte gezeigt werden, daß das Kunstschaffen ihm bereits als Kind eine Rückzugsmöglichkeit vor einer als bedrohlich erlebten mitmenschlichen Umwelt[1] bot. Ab dem dritten Lebensjahr[2], dem Alter, dem er rückblckend die als zentrales Lebensgefühl persistierenden frühen kindlichen Angsterlebnisse zuordnen sollte[3], „saß ich am Fenster und zeichnete, was ich sah.“[4] Die Bedrohlichkeit der Umwelt konstituierte sich aus dem Erleben der Mutter, von der er sich nie verstanden fühlte„von jung auf nicht“[5], und „die etwas in sich hat, das sie zerstört, wenn sie es nicht als Ekelhaftigkeit gegen einen herausläßt“[6], dem in seiner Strenge „das dunkle Erbe des Fanatismus der märkischen Pastorengeneration“[7] repräsentierenden Vater und dem in den mehrfachen Umzügen bedingten Fehlen von Kontakten zu Gleichaltrigen.[8] Die Basis dafür, anderen zu mißtrauen und jede „echte Abhängigkeit“[9] zu vermeiden, war gelegt.
Gleichzeitig blieb die Sehnsucht nach einer Erfüllung der frustrierten, ursprünglich kindlichen Zuwendungswünsche. Zeitlebens suchte er nach Wärme, indem er sich immer wieder mit Teppichen umgibt, sich in sie hineinlegt, damit sie ihn „schön wärmen“[10]. Er flüchtete vor der Kälte, die bei seinem Erstbesuch in Davos herrschte „zum Ofen in sein Atelier“[11].
Letztlich wünscht das ewige Zusammensein mit der Mutter, er bliebe „am liebsten immer da“[12]. „Die seelische Repräsentanz der mater aeterna“[13], als die sich diese Sehnsucht auch beschreiben läßt, stellt nach Niederland eine der wesentlichen „Bedingungen künstlerischer Produktion“[14] dar.
Das Zeichnen als Möglichkeit, trotz der Angst vor den Menschen, aus sicherer Distanz an ihrem Leben teilzunehmen und mit ihnen zu kommunizieren, wird sein Weg, die „Liebe zu den Menschen zu bezeugen, ohne sie zu incommodieren“[15], oder wie er an anderer Stelle bemerkt: „Diese Welt [des Künstlers] ist eigentlich nur ein Verständigungsmittel, um mit den anderen Menschen ... in Beziehung zu treten.“[16] Die Kunst als seine Art der Kommunikation erklärt, warum „im Mittelpunkt seiner Arbeit ... immer der Mensch“[17] steht. Seine Kunst ist „umweltbezogen“[18], stellt den Alltag dar[19], stammt „aus dem persönlich erlebten Leben des Künstlers“[20], oft nimmt er selbst an dem Geschehen im Bild teil[21], hat dort den direkten Kontakt zu seiner Umgebung, lebt seine eigene Emotionalität im Bild aus.[22]
Im realen Leben hingegen bleibt er auf Distanz, entweicht in seine als sicher erlebte „Kunst“-Welt, sobald emotionale Nähe vor allem zu einer Frau droht: „Oft stand ich mitten im Coitus auf, um eine Bewegung, einen Ausdruck zu notieren.“[23] Und er bekennt: „Liebe, dieses rest- und kritiklose Gefühl zweier Menschen gegeneinander, das habe ich nicht, das kann ich nicht haben. Dieses Gefühl ist in meiner Tätigkeit aufgegangen.“[24]
Umgekehrt wird hierdurch das eigene Schaffen zur einzigen Form dessen, was er an Liebe, bei ihm damit stellvertretend für Selbstanerkennung, zuläßt: „...die Liebe ... die aus der Tätigkeit kommend sich selbst immer wieder erneut und uns das Leben zur Freude macht. Oh, wenn ich die nicht hätte, ich hätte bei meinem Leiden schon längst das Leben von mir geworfen.“[25] Die Kunst erhält als einzige Form der Selbstwertbestätigung eine existentielle narzißtische Bedeutung: „Ohne die Arbeit ist mein Leben recht öde, da ich sonst keinerlei Neigungen habe!“[26] Schon in früher Kindheit ist das Zeichnen, die Kunst, der Weg zur Anerkennung[27], die das kleine Kind nachts schreiend einfordert[28], und zwar der Anerkennung von allen[29], besonders aber vom Vater, dessen ursprünglicher Lebenstraum Künstler zu werden internalisiert und stellvertretend gelebt wird[30].
Diese positiv besetzte internalisierte Vaterimago, gebündelt im Kunstschaffen als narzißtischem Objekt[31], erlaubt die als Folge von „schwerwiegenden Kränkungen des kindlichen Narzißmus ... [entstandene] unvollständige oder unzusammenhängende Selbstrepräsentanz [, die] ... nach innerpsychischer Vervollständigung“[32] verlangt, zu ergänzen, und sie erlaubt auch eine Abwehr gegen die sich insbesondere aus dem Bild der vernachlässigenden Mutter heraus manifestierende orale Wut[33] im Sinne einer Pseudosublimierung[34], die aber keine dauerhafte Befriedigung bietet.
Die Kunst vermag eine Welt des sicheren Rückzugs vor der bedrohlich erlebten mitmenschlichen Umwelt zu bieten - Niederland spricht davon, „daß der Künstler mindestens zeitweise in einem hortus conclusus, einem abgeschlossenen Garten lebt, der ihn nicht nur vor der Verwirrung und Unruhe der Außenwelt schützt, sondern auch vor ermüdenden Problemen der Gefühlswelt und der Beziehungen zu anderen Menschen“[35] -, jedoch ist dieser Hort labil, wie Kirchner in seiner ersten suizidalen Krise erfahren sollte, und eine echte Befriedigung bleibt aus.
Daß diese „Kunst“-Welt frei und damit auch ganz im Sinne der frühen Allmachts- und Größenphantasien[36] ausgestaltet werden kann - Kirchner weist selbst darauf hin im „Satz Lionardos: >Der Maler ist Herr und König über alles Seiende. Ihm gehören Länder und Meere, Menschen und Tiere, er kann alles haben, indem er es zeichnet<“[37] -, erklärt die ausgeprägte Subjektivität und Selbstbezogenheit seiner Kunst[38]. Dies äußert sich nicht nur in der großen Anzahl von Selbstbildnissen in seinem Werk[39], sondern auch darin, daß „dem Maler des öfteren die eigenen Gesichtszüge in diejenigen von darzustellenden Physiognomien“[40] einfließen und dies nicht nur in den nach literarischen Vorgaben autobiographisch umgestalteten Holzschnittzyklen[41]. Der von ihm später vielfach geäußerte Anspruch, in seinen Werken nicht das Subjekive, sondern das Allgemeingültige zum Ausdruck zu bringen[42], kann vor diesem Hintergrund als reziprok konstruiert angesehen werden, als eine jener vielgestaltigen Maßnahmen, mit denen er gemäß seinen Wertmaßstäben die Bedeutung seiner Kunst zu steigern suchte[43].
Der Preis des Rückzugs ist die immer wieder von ihm beklagte tiefe Einsamkeit[44].
Daß die Kunst Kirchners psychodynamisch gesehen nur als Pseudosublimierung fungiert[45], erklärt seine „ungeheure Arbeitsleistung“[46], mit der er gegen das Fehlen einer echten Befriedigung anarbeiten muß, ebenso wie seine Suche nach einer narzißtischen Befriedigung durch Anerkennung seines den eigenen Größenphantasien entspringenden Anspruchs, einer der größten Künstler aller Zeiten zu sein[47], wozu ihm quasi jedes Mittel recht ist[48]. Allerdings benötigt er hierfür die Bestätigung seiner Umwelt, kann aber gerade eine Abhängigkeit von wem auch immer aus seinem tiefen Mißtrauen heraus nicht zulassen[49].
Vor diesem allgemeinen Hintergrund ist die Stellung der Kunst in Kirchners Leben jedoch Wandlungen unterworfen:
Schon in der Kindheit dient ihm das Zeichnen nicht nur als Rückzugswelt vor den Bedrohungen der erlebten Realität und als Möglichkeit, auf subjektiv sichere Weise mit dieser zu kommunizieren. Es ist auch Quelle der Anerkennung insbesondere durch den ansonsten strengen Vater. Durch diese frühe Bestätigung innerpsychisch legitimiert[50], wird sie in der Jugend zum Ausdruck der Auflehnung gegen diesen, indem der Sohn den unterdrückten Lebenstraum des Vaters in seiner eigenen Lebensführung real werden läßt[51]. Die in den eigenen Größenphantasien kreierte paradiesische „Kunst“-Welt schier grenzenloser Freiheit wird gestaltet und gelebt, beides untrennbar miteinander verbunden in den Ateliers und in „den arkadischen Seen und Wäldern seiner nackten Menschen“[52], wobei sich Kirchner der Bedeutung dieser Welt als Auflehnung gegen den Vater sehr wohl bewußt war, wie aus seiner autobiographisch angelegten Schilderung der Absalom-Geschichte hervorgeht[53].
Durch das Ausbleiben der väterlichen Anerkennung bedarft Kirchner nun der narzißtischen Zufuhr durch seine künstlerischen Mitstreiter, von denen er schließlich als Führer anerkannt zu werden einfordert, nachdem deren größerer Erfolg seinen Neid hervorrufen mußte[54]. Diese verweigern ihm jedoch die Verehrung, es kommt zum Bruch, und er beginnt auf dem Weg einer massiven Steigerung seiner künstlerischen Anstrengungen die (narzißtische) Bestätigung durch die Kunst doch noch zu erlangen. Aber genau dieser Kampf um einen Ersatz für die väterliche narzißtische Anerkennung droht durch das Militär, als einer genau dem internalisierten strengen väterlichen Objekt vergleichbaren Autorität, zerschlagen zu werden[55]. Die narzißtisch gestörte Selbstrepräsentanz Kirchners[56] dekompensiert, es kommt zur ersten suizidalen Krise[57].
Weiter forciert er sein Kunstschaffen[58], das seit Beginn der Krise einer Spaltung unterliegt. Hatten zuvor Kunstwelt und Leben in paradiesischer Übereinstimmung gestanden, wird nun das existentiell bedrohlich gewordene reale Leben zum Thema seiner Kunst - am eindrücklichsten in den existentialistischen Selbstbildnissen dieser Zeit[59] -, dem entgegengesetzt Erinnerung und Sehnsucht an das verlorengegangene Arkadien beispielsweise in den Kohnstamm-Fresken präsent bleiben[60].
An den Rand psychotischer Dekompensation regredierend[61], scheint der selbstreflektierende, die erlebte Bedrohung im wahrsten Sinne des Wortes ausdrückende Teil seiner Kunst entscheidenden Anteil daran gehabt zu haben, daß Kirchner „sich gegen ein Überflutet-Werden durch chaotische Denkweisen und gegen weitere Regression zu wehren vermochte“[62]. In Verbindung mit dem ihm zur Verfügung gestellten regressiven Umfeld und der weitreichenden narzißtischen Bestätigung[63] übersteht er die Krise. Es erscheint somit durchaus plausibel, Niederland darin zu folgen, daß er eine „reparative Funktion der ästhetischen Produktion“[64] konstatiert in Form eines in der Kunst kathartisch die innere Spannung abbauenden Prozesses.
Ein möglicher Erklärungsansatz hierfür könnte sich daraus ableiten lassen, daß Kunstschaffen aus „einem teilweisen Verschwimmen oder Verwischen der Ich-Grenzen“[65] entspringt, und damit als Abwehrfunktion angesehen werden kann, die Auflösungszustände des Ich, wie sie in Folge einer psychischen Krise auftreten können, überwindet.
„Seine Kunst wächst, je mehr sein Körper versagt“[66], und Kirchner selbst bestätigt in seinen theoretischen Überlegungen eine entsprechende Bedeutung der Kunst: „Es wäre das Ideal, wenn man durch künstlerische Dinge seelische Tiefstände aufheben könnte, das ist ja der wahre Beruf der Kunst überhaupt.“[67]
Unter dieser Prämisse beginnt der Künstler an seinem Rückzugsort Davos[68] sich erneut eine wenn auch eher bescheidene Paradieswelt zu erschaffen[69], deren potentielle Gefährdung ihm aber nach der traumatischen ersten Krise immer latent präsent bleiben soll. Seine Kunst spiegelt anfangs die Schönheit der ihn neu umgebenden Natur, begleitet von Bildern zum Thema seiner eigenen Gesundung[70]. Die Arbeit gibt ihm „die Ruhe“[71] in seiner neuen narzißtischen Oase.
Als Pseudosublimierung kann ihm die Arbeit aber nicht die dazu noch zunehmend an den hohen Maßstäben der eigenen Größenphantasien gemessene, erstrebte Befriedigung geben[72], die erneut auf anderen Wegen von der Umwelt eingefordert werden muß[73]. Die Kunst entwickelt sich hierbei zum Medium dieser Forderungen, indem ihr einerseits „nachträglich“[74] ein theoretischer Unterbau geschaffen wird, und er zum anderen versucht, den Stil seiner Kunst dem anzupassen, was gemäß der internationalen Kunstentwicklung, über die er sich bestens informiert hält, als erfolgreich anerkannt zu werden verspricht.[75]
Indem er aber seine Kunst zum Medium der Legitimation seiner narzißtischen Bedürfnisse degradiert, verliert diese ihr psychodynamisch reparatives Potential als emotionale Katharsis[76], so daß ihr keine protektive Funktion mehr zukommt, als Kirchner sich durch die Nationalsozialisten neuerlichen narzißtischen Angriffen ausgesetzt sieht. Zwar nimmt er in den späten Bildern von diesem Stil-Wollen wieder Abstand[77], aber es gelingt ihm nicht mehr, die eigenen Emotionen in ihnen zu bannen. Emotional „teilnahmslos“[78] schildern sie eine statische Ruhe der ihn umgebenden Natur, seines ersehnten Arkadiens, dessen Frieden zu finden er selbst nicht mehr in der Lage ist. Die sich aufstauenden aggressiven Spannungen werden nicht mehr in, sondern an seinen Kunstwerken ausgelebt[79], bevor er selbst sein Leben beendet.
[1] s.SS.101-102; Anders als die Gesellschaft der Mitmenschen wurden ja die Natur und auch die Tiere nicht als bedrohlich erlebt, wodurch die Naturumgebung später immer wieder zur Welt des Rückzugs wurde.
[2] s.Anm.593
[3] s.S.5
[4] Brief an Graef vom 21.September 1916. GRM, S.47, s.Anm.19
[5] Tagebucheintrag vom 23.12.1928. KOR1, S.275, s.SS. 77 und 84
[6] Tagebucheintrag vom 06.10.1925. GR1, S.97, s.SS.77 und 84
[7] Tagebucheintrag vom 23.12.1928. KOR1, S.275, s.SS.78 und 87
[8] s.S.85
[9] KER, S.262, s.S.60
[10] Brief an Helene Spengler vom 19.01.1919: „Die Teppiche werden schön wärmen.“ (GRM, S.78) In gleichem Sinne ein Tagebucheintrag vom 05.Juli 1919: „Heute war die Sehnsucht nach dem Teppich so gross, dass Erna ihn mir holte, nun liege ich darin...“ (KOR1, S.25) Ebenso Billeter zu Kirchner: „Die Wärme eines Teppichs muß ihm wichtig gewesen sein.“ (GRM, S.21) Hierin mag auch ein Zusammenhang mit seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Teppichkunst in der späteren Zusammenarbeit mit Lise Gujer bestehen, die als der sog. „Teppichstil“ in seine Malerei Eingang findet. s.bspw. GR3, S.180
[11] Brief Helene Spenglers an Eberhard Grisebach am 01.Februar 1917. GRM, S.74; s.Anm.71
[12] Tagebucheintrag vom 30.Dezember 1925. GR1, S.113; s.SS.77 und 84
[13] NIED, S.347
[14] ebd.
[15] Brief an Gustav Schiefler vom 30.03.1923. (DU1, S.13) Manteuffel äußert eine ähnliche Einschätzung: „Er [Kirchner] war fremd und suchte die Verbindung. Er suchte immer die Verbindung, das war der Inhalt seiner Kunst.“ KET2, ad 72
[16] Brief an Grisebach vom 01.Dezember 1917. (GR2, S.76) Entsprechend folgert Manteuffel: „Sein Leben und seine Kunst waren ein Versuch, die Trennung zwischen dem Individuum, dem Ich und der Welt, dem anderen Ich, zu überwinden.“ KET2, S.19
[17] „Kirchners Kunst ist - selbst wenn er Landschaften oder Stilleben malte - auf den Menschen gerichtet. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht immer der Mensch, und diese Aussage bezieht sich sowohl auf die Themen wie auf die Bildformen seiner Malerei.“ GR3, S.34
[18] Billeter in GRM, S.19
[19] s.Anm.109; hieraus erklärt sich die in Kirchners Bildern immer wieder zu beobachtende Korrektheit und Exaktheit in der Wiedergabe der dargestellten Details. s.bspw.GR3, S.118
[20] „Alle Themen der Kirchnerschen Kunst ... stammen aus dem persönlich erlebten Leben des Künstlers.“ Grisebach in SEE, S.17, in gleicher Weise auch in GR3, S.168
[21] Als Beispiel sei hier auf sein Bild „Alpsonntag“ (Gordon 734) verwiesen: „Rechts in der Darstellung hat sich Kirchner, eindeutig physiognomisch und durch die Kleidung gekennzeichnet, selbst dargestellt.“ KET2, ad 78
[22] Ein Beispiel bei Röske: „...daß er sein eigenes Körperempfinden auf die Gestalten projizierte.“ RÖS, S.58
[23] Kirchners „Erinnerungen“ in seinem Tagebuch 1923. (GR3, S.9; s.Anm.581) In diesem Sinne auch eine Bilddeutung durch Grisebach. (GR3, S.61) In gleicher Weise fällt auch auf, daß Kirchner sich beim Tode der Mutter, durch den die Sehnsucht nach einem „Elternhaus für immer fort“ ist (Kirchners letzter Tagebucheintrag, GR1, S.178) in seinen Gedanken umgehend der Kunst zuwendet: „Ob ich das große Werk noch machen kann?“ ebd. s.SS.64-65
[24] Brief an Helene Spengler vom 16.Februar 1919. GR2, S.102; s.Anm.138 und 370
[25] Brief an Helene Spengler vom 25.Juli 1919. GR1, S.182
[26] Brief an Nele vom 22.Dezember 1922. (KIR, S.47) Hierzu auch ein Ansatz von Reiter zur Kunst Kirchners, der deren psychologische Bedeutung als narzißtische Wertregulation herausstellt, indem der künstlerische Akt einen „Ideal-Ersatz-Partner“ darstellt, mit dem der Künstler symbiotisch verscmelzen konnte. (Reiter, Alfons, in KRA, SS.294-305) Die in der vorliegenden Arbeit erstellte Psychodynamik sieht die Kunst hingegen nicht als Partner, sondern, wie geschildert, als essentiellen Bestandteil des narzißtischen Selbstwerterlebens an, ebenso wie hier auch die mögliche Genese dieser Dynamik und ein Zusammenhang zur psychischen Gesamtstruktur Kirchners aufgebaut wird.
[27] s.SS.86-87
[28] s.Anm.576
[29] s.Anm.19
[30] s.SS.86-87
[31] s.S.99
[32] Diese Ursache von Niederland als wesentliche Bedingung künstlerischer Produktion angeführt. NIED, S.339
[33] s.S.84
[34] KER, S.296 Dies ebenfalls auch Niederland bestätigend: „Da dieser Vorgang [der schöpferischen Arbeit] weder die narzißtischen Wünsche noch die Allmachtsphantasien erfüllen kann, muß die lange, mühselige Arbeit immer wieder von neuem begonnen werden.“ NIED, S.352
[35] NIED, S.338
[36] Zu deren Genese bei Kirchner s.SS.45 und 86-87. In gleicher Weise auch hier Niederland: „...durch immerwährende Kreativität kann ein Gefühl der Überlegenheit, ja vielleicht sogar der Unsterblichkeit erworben werden.“ (NIED, S.353) Kirchner steht mit diesem Phänomen keinesfalls als Künstler allein, sondern kann vielmehr exemplarisch dafür genannt werden, daß, wie von kunsthistorischer Seite beispielsweise durch Osterwald ausgeführt wird, „...die Kunst einen egozentrischen Weg gegangen [ist]. In den Selbstbildnissen gipfelt das egozentrische Weltbild der Kunst und die subjektivistische Selbsteinschätzung der Künstler.“ (BI, S.28) Er kommt letztlich zu dem Schluß: „Das Zeitalter der Selbstdiagnose (= die letzten 150 Jahre) löst ein Zeitalter der Selbstsicherheit ab.“ ebd.
[37] Brief an Nele vom 9.Dezember 1920. KIR, S.34; s.S.74
[38] In diesem Sinne beispielsweise Spielmann: „Kirchner, der das Prinzip >>Die Welt bin ich<< am augenfälligsten vertrat...“. SPIE, S.11
[39] So hat er von „allen Brücke-Künstlern ... am häufigsten Selbstbildnisse gestaltet.“ KET2, ad 70; s. hierzu auch Anm.869
[40] HENZKET, ad 30
[41] So beispielsweise im Schlemihl-Zyklus {Abb.4}(s.Anm.50, 398) und im Absalom-Zyklus {Abb.9}, s.SS.88-89.
[42] „Ich habe nie mein eigenes Erleben für so wichtig gehalten, daß ich es als solches der Darstellung für Wert hielt, sondern ich sah in ihm menschliches Geschehen, das jedem passiert und deshalb allgemein Gültigkeit hat.“ Brief an Schiefler vom 20.Oktober 1927. RÖS, S.31
[43] So nutzte er dies Argument, um seine Kunst von derjenigen Munchs als völlig verschieden abzugrenzen und damit auch einen Einfluß durch diesen zu leugnen: „Munchs Bilder schildern Seelenzustände, während meine menschliche Grundwahrheiten geben.“ (DU1, S.26; s.auch Anm.196) In gleicher Absicht arbeitete er ja ebenso reziprok einen Unterschied zwischen dem deutschen Maler, der das >>Was<< male, und dem französischen Maler, der das >>Wie<< male, heraus, um Einflüsse seitens der Franzosen auf seine Kunst zu kaschieren. (s. Kirchners Tagebuch unter dem Eintrag „Das Werk“ von 1925. GR1, S.83) Ganz besonders galt dies für Matisse, den er ganz entgegen dieser Darstellung ja 1909 noch als Mitglied für die Brücke hatte gewinnen wollen. s.Anm.199
[44] s.SS.45, 58, 82
[45] s.S.115
[46] „Das Werk umfaßt 1045 Bilder und 120 „...>>Rückseitenbildnisse<< ... 971Holzschnitte, 665 Radierungen und 458 Lithographien. Zu diesem erstaunlichen Werk müssen Tausende von ... Zeichnungen als Einzelblätter und ca. 15000 Zeichnungen in den Skizzenbüchern des Künstlers gezählt werden sowie das ... plastische Werk, um sich eine Vorstellung von der ungeheuren Arbeitsleistung Kirchners bilden zu können.“ KET2, S.233; s. auch S.35
[47] s.SS.73-74 und 85-86
[48] s.SS.41-43 und 64
[49] s.S.81
[50] s.S.88
[51] s.SS.86-87
[52] Dies Kirchners eigene Worte in seiner Ausarbeitung „Das Werk“ von 1925 in seinem Tagebuch. GR1, S.85; s.Anm.30 und S.37
[53] s.SS.88-89; zu erkennen an den Schuldgefühlen Kirchners, ausgedrückt in dem Satz: „...Liebschaften ... Absalom beschmutzt dadurch das Haus seines Vaters.“ Kirchner in einem Brief an Schiefler vom 25.November 1919. GR3, S.154
[54] s.SS.37-38 und 55
[55] s.Anm.473 und SS.104-105
[56] s.S.114
[57] s.SS.103-105
[58] s.Anm.163 und SS.38, 106, 117
[59] s. hierzu REI, SS.27-30
[60] s.Anm.61 und S.106
[61] s.Anm.65, 70, 71 und SS.56, 105. Dort Schilderung zumindest manifest paranoider Symptomatik.
[62] Hierin Niederland, sich auf Eissler berufend, die Schutzfunktion des kreativen Prozesses gegen eine weitere Regression beschreibend. NIED, S.352
[63] s.SS.106-107
[64] NIED, S.331; in vergleichbarer Weise berichtet Müller-Thalheim zu Kubin, daß dieser sich durch seine Autobiographie „innerseelischer, pathologischer Spannungen wenn nicht zu entledigen, so sie doch mit Erfolg zu mildern“ vermochte. NV2, S.59
[65] Nach Niederland hat die Kreativität „mit einem teilweisen Verschwimmen oder Verwischen der Ich-Grenzen zu tun.“ (NIED, S.335) In gleicher Weise sehen schon „Ehrenzweig (1969) und Müller-Braunschweig (1974) den Moment der Kreativität als eine vorübergehende Entdifferenzierung des Ich.“ BS, S.71
[66] Grisebach an Helene Spengler am 25.November 1916. (GR3, S.145) Auch „Grohmann überliefert eine Aussage Kirchners, wonach er sich damals sogar allein durch sein Arbeiten am Leben gehalten habe.“ RÖS, SS.21-24
[67] Brief an das Ehepaar Spengler vom 28.November 1918. GR2, S.91
[68] s. dazu SS.107-108
[69] s.S.17
[70] Hierin die seit Beginn der Krise bestehende Spaltung (s.S.118) noch fortsetzend.
[71] „Es ist die ewige Wahrheit, daß Arbeit dem Menschen allein die Ruhe gibt, intensive Arbeit. Dies Evangelium sollte in diese gestörte Welt posaunt werden.“ Kirchner an Grisebach am 01.01.1919. GR2, S.95
[72] Hieraus mag sich von einer weiteren Perspektive (s.S.114) aus der Umstand erklären, warum seine Kunst immer den Alltag zum Inhalt hat, über das Reale hinausgehende Phantasien - Niederland berichtet, daß „Kafka schrieb, ... daß die ganze Welt in seinem Kopfe sei“ (NIED, S.338), auch denke man beispielsweise an Dalì - aber in ihr fehlen.
[73] s.SS.40-43, 54, 109
[74] „Das kunsthistorische Denken und Urteilen setzte bei ihm [Kirchner] erst nachträglich ein.“ Grisebach in SEE, S.17; s. auch S.116
[75] „Es ist eine ausgedachte und ausgerechnete Malerei ... aus theoretischem und allgemeinem Nachdenken über Kunst und ihre der Zeit und den historischen Ansprüchen des Künstlers gemäße Form.“ (Grisebach in GRM, S.36) Im weitern Verlauf zitiert er „aus Kirchners eigener Einleitung zum Berner Ausstellungskatalog von 1933: >>So bringt Kirchner heute ... den Anschluß der heutigen deutschen Kunst an das internationale moderne Stilempfinden zustande.<<“ ebd.
[76] s.S.119
[77] s.Anm.1067
[78] KET2, ad 100; s.S.136
[79] s.S.47 und Anm.139