Ernst Ludwig Kirchner wurde am 06.05.1880 als ältester dreier Söhne[1] des in der Papierindustrie tätigen Chemieingenieurs Ernst Kirchner und seiner Ehefrau Marie Elise[2], einer Kaufmannstochter aus hugenottischer Abstammung, in Aschaffenburg geboren.
Die familiäre Atmosphäre[3] wird als preußisch-protestantisch streng beschrieben in der Tradition des Großvaters väterlicherseits, eines strenggläubigen evangelischen Pastors[4] aus Walchow bei Neuruppin, der sich neben seinem Beruf intensiv mit Forschungen zur Antike und zur Lokalgeschichte der Mark Brandenburg befaßt hatte[5].
Aus der frühren Kindheit wußte der Künstler selbst später noch zwei deutlich angstbesetzte Begebenheiten zu erinnern: „[Ich will] Erlebnisse meiner Jugend erzählen, die wie bei jedem Menschen einen großen Einfluß auf meine Art gehabt haben mögen. Eines Tages, ich war drei bis vier Jahre alt, führte mich unsere Amme vor das Tor unseres Hauses in Aschaffenburg, zeigte mir die Kugeleinschläge, die die Preußen 1866 und 1869 dort zurückgelassen hatten beim Gefecht. Sie erzählte wie tote und verwundete Soldaten im Hof gelegen hätten und die Bewohner des Hauses alle im Keller gesessen und geweint hätten.“[6] „...Ein paar Jahre später, als ich meinen Vater zur Faschingszeit von der Fabrik abholte, verfolgten mich ein paar Masken. Der Vater sah meine Erregung, er rief ein paar Masken herbei, nahm einer die Larve ab und zeigte mir darunter das Gesicht eines mir bekannten jungen Mannes...“[7]Allgemein führte er an: „...In der Jugend herrschte der Traum vor, als Knabe nachts oft Gesichte [zu sehen]. Ich schrie auf, mußte auf Stunden ans Licht gebracht werden. Die nächtlichen Träume setzten sich im Tagesleben fort, Angst vor manchen Menschen...“[8]
Früh begann er zu zeichnen[9], hierbei durch einen Zeichenlehrer elterlicherseits unterstützt[10]. 1886 zog die Familie nach Frankfurt/ Main, ein Jahr darauf nach Perlen bei Luzern und weitere drei Jahre später nach Chemnitz, wo der Vater eine Professur erhalten hatte[11].
Dort besuchte Ernst Ludwig Kirchner das Realgymnasium, lernte Englisch, Französisch und Latein, erhielt weiteren Zeichenunterricht durch einen Zeichenlehrer namens Fischer, wandte sich fünfzehnjährig ersten Druckversuchen zu, und es kam erstmals der Gedanke in ihm auf, vielleicht „Maler zu werden“[12].
Ein von ihm als einschneidend geschildertes Erlebnis ungewohnter Freiheit waren zwei Besuche bei Otto Lilienthal, einem Jugendfreund des Vaters. Er war damals achtzehn Jahre alt und gab diesen Zeitpunkt später als denjenigen seines unabänderlichen Beschlusses Künstler zu werden an[13]: „Er [Lilienthal] holte uns vom Bahnhof ab. ... Seine Frau , eine Bergmannstochter, einfach und freundlich empfing uns. Seine frei erzogenen Kinder schlossen Freundschaft mit mir. Es war wie ein Märchen. Welche Gegensätze zu unserem eigenen in A[schaffenburg]. Hier war Freiheit, Natürlichkeit und Freude. Ich lebte auf. ... Lilienthal schlug meinem Vater vor, ich solle bei ihm bleiben und die Fliegerei lernen, aber mein Vater wollte nicht. Ich war ja auch erst in Secunda und wollte auf alle Fälle Matura machen zuerst. Ich wäre gerne bei L[ilienthal] geblieben, trotzdem mich seine Begeisterung für das Fliegen nicht so anzog wie seine Art zu leben und seine Person. Mir sass der Traum der Malerei zu fest, aber Lilienthals Leben, sein freundlicher Verkehr, seine Freiheit wurden mir innerlich ein Vorbild und sind es noch heute.“[14]
Der Matura folgte 1901 auf Wunsch des Vaters, der selber einem „bürgerlichen“ Beruf zuliebe eigene künstlerische Ambitionen fallengelassen hatte[15], der Beginn des Architekturstudiums in Dresden[16].
Dort lernte er Fritz Bleyl kennen, mit dem ihn bald eine innige Freundschaft verband[17], die Jahre später genauso abrupt enden sollte, wie sie begonnen hatte, ein Phänomen, das sich im Leben Kirchners noch mehrfach wiederholen sollte[18].
Dem bestandenen Vordiplom schlossen sich 1903/ 04 zwei Gastsemester in München an der Zeichenschule Debschitz und Obrist mit Übungen in Kompositionslehre und Aktzeichnen an. Gleichzeitig stieß er hier in der Alten Pinakothek auf die zeitlebens von ihm verehrten Zeichnungen der alten Meister, insbesondere Dürers, Rembrandts und Cranachs.
Zurück in Dresden beendete er zügig sein Studium mit gutem Abschluß und hatte zu diesem Zeitpunkt schon mit den Freunden Bleyl, Heckel und Schmidt die Künstlergemeinschaft „Brücke“ gegründet, entsprechend seinem Entschluß umgesetzt, sein Leben ganz der Kunst zu widmen[19].
Mit dem Anspruch einer revolutionären Erneuerung der Kunst und einer Vereinigung von Kunst und Leben verband sich ein schier unermüdlicher Schaffensdrang der Brückemitglieder. Gemeinsame Übungen, so die berühmten Viertelstundenakte, gemeinsames Leben, antibürgerlich ausgestaltet mit nackten Aktstudien in der freien Natur[20] oder in der von Kunst durchdrungenen eigenen Welt der Ateliers mit ihrem exotischen Flair der „Naturvölker“[21] ließen die Gemeinschaft so eng zusammenwachsen, daß zeitweilig ihre Bilder stilistisch kaum noch Unterschiede aufwiesen.
Kontakte zu führenden Vertretern der neuen Kunstszene wurden geknüpft und über die rege Ausstellungstätigkeit auch Verbindungen zu Förderern und zum Kunsthandel.
Nach einer Liaison mit der Varietétänzerin Line[22] und mit Emmy Frisch, der späteren Frau Schmidt-Rottluffs, wird Doris Große, genannt Dodo, um 1908 Kirchners erste Freundin. Neben ihr standen auch die „beiden halbwüchsigen Mädchen einer Dresdner Artistenwitwe, Fränzi und Marcella,“[23] ebenso wie andere Bekanntschaften aus der Zirkus- und Varietewelt den Künstlern Modell.
1911 zog Kirchner wie vor ihm schon andere Brückemitglieder nach Berlin[24], um Anschluß an das dort pulsierende künstlerische Leben zu gewinnen.[25] Er trennte sich von Dodo, an die er viele Jahre später noch sehnsuchtsvoll zurückdenken sollte[26], und gründete gemeinsam mit Pechstein[27] das MUIM-Institut [Moderner Unterricht in Malerei], dem aber kein herausragender Erfolg beschieden war[28].
Im Kontrast zu der einerseits faszinierenden, andererseits aber auch menschenfeindlichen Atmosphäre der Großstadt in den Straßen- und Kokottenbildern stand die paradiesische Harmonie von Mensch und Natur in den während der Sommeraufenthalte auf Fehmarn geschaffenen Bildern, die die Hälfte der Werke der kommenden drei Jahre bilden, im Mittelpunkt von Kirchners Interesse[29].
Die Erfolge einzelner Brückemitglieder in Berlin führten immer wieder zu Differenzen bezüglich des Bedeutungsanspruchs der zunehmend alleine tätigen Künstler, bis die von Kirchner verfaßte „Chronik der Brücke“, in der er sich als künstlerischer Mittelpunkt der Gruppe darstellte, im Mai 1913 zur Auflösung der Gemeinschaft führte. Die Heftigkeit der Kränkung, die Kirchner durch die Nichtanerkennung seines Führungsanspruchs und wohl auch durch die zum Teil beachtlichen Erfolge seiner ehemaligen Mitstreiter erfuhr, läßt sich noch aus seinen viele Jahre später hierzu gemachten Äußerungen ablesen: „Ich hatte so schlechte menschliche Erfahrungen mit allen, mit Ausnahme von Nolde gemacht, dass es Selbsterhaltungstrieb und absolut nötig war die Brücke aufzulösen. Ich habe natürlich nicht verhindern können, dass die Herren auch weiterhin von meinen Arbeiten lernten. Ich erzähle ihnen das nicht um mich zu rühmen, sondern um Ihnen klar zu machen, dass ich ... es als Nichtachtung und Schädigung ansehen muss, wenn mein Name immer noch mit jener Jugendeselei verknüpft wird.“[30]
Vermutlich über die als Varietétänzerin auftretende Gerda[31] lernte er 1912 die aus einfachen Verhältnissen stammenden Schwestern Gerda und Erna Schilling kennen[32]. Mit Erna[33] verband ihn seitdem eine von heftigen Gefühlsschwankungen begleitete Beziehung[34] bis zu seinem Lebensende, ohne daß er aber ihrem wiederholten Wunsch nach einer offiziellen Eheschließung je nachgekommen wäre.
Trotz zunehmender künstlerischer Erfolge, zwar nicht in Berlin[35], aber beispielsweise in Hagen durch Osthaus oder in Jena durch Grisebach, und dem Einzug in ein neues größeres Atelier zusammen mit Erna litt Kirchner seit 1913/ 14[36] vermehrt an Unruhe, Rastlosigkeit und nervösen Angstzuständen, denen er anfangs durch gesteigerten Alkoholkonsum zu begegnen suchte[37].
Die durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges[38] drohende Einberufung zum Militärdienst führte schließlich zur Dekompensation seiner psychischen Labilität. Er fürchtete, nun möglicherweise für immer auf sein Kunstschaffen verzichten zu müssen, einerseits durch die unmittelbar drohende Lebensgefahr[39], andererseits durch die von ihm mit dem Militärdienst assoziierte Aufgabe seiner eigenen Individualität[40].
Nach einer kurzen Episode als „unfreiwillig Freiwilliger“[41] bei der Artillerie in Halle verschlechterte sich sein Gesundheitszustand so sehr[42], daß er den Rest des Krieges in verschiedenen Sanatorien verbrachte[43]. Auch dort schuf er rastlos Kunstwerke und reiste zwischenzeitlich immer wieder in Deutschland umher[44].
Neben Alkohol nahm er Veronal[45] und später auch Morphium ein und hielt seinen immer stärker zerrütteten Zustand in zahlreichen Selbstbildnissen fest, die in krassem Gegensatz zu den selbstbewußten Selbstdarstellungen der Jahre zuvor stehen.
Darüber hinaus begann er, zum Teil bewußt die Nahrungsaufnahme zu verweigern und magerte darunter zusehends ab: „...Mich ließ, solange der Krieg dauerte, die quälende Angst nicht los, noch einmal als Soldat eingezogen zu werden. Tag und Nacht hatte ich solche Angstvorstellungen. Ich hatte mich in der Ruhezeit soweit erholt, daß mir meine Diensttauglichkeit nicht als unmöglich erschien. Es mußte etwas geschehen. Ich aß, zusammen mit anderen Patienten, eine gute, reiche Kost. Da kam ich auf die Idee, mir einen Beutel zu konstruieren und ihn verborgen unter der Weste zu halten. Bald war das Stück genäht. Mehr als die Hälfte meiner Ration glitt unbemerkt in meinen Beutel und verschwand dann irgendwo im freien Felde. Zusehends schwand auch mein Gewicht, und ich magerte in nahezu erschreckender Weise ab. Spengler[46] wußte nichts mehr mit mir anzufangen, denn mein Betrug war der Denkweise dieses trefflichen Mannes völlig fremd. Ich aber war gesichert und erlöst, denn eines Tages sagte der Arzt zu mir: <<Sie müssen nie wieder Soldat werden, denn Sie tragen irgendwo ein verborgenes Leiden in sich, das Sie nie wieder diensttauglich werden läßt.>>...“[47]
Im weiteren Verlauf häuften sich die Nervenzusammenbrüche, Kirchner überkamen erstmals Suizidgedanken[48] und er landete schließlich „an Armen und Beinen gelähmt“[49] 1917 im Sanatorium Binswanger in Kreuzlingen[50].
Trotz allem war es ihm in diesen Jahren möglich gewesen, eine ungewöhnlich große Anzahl an Kunstwerken, so u.a. einen großen Freskenzyklus innerhalb weniger Wochen im Sanatorium Königstein, zu erschaffen[51], ebenso wie er einen festen Kreis von Förderern und Gönnern gewann. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der ihn geradezu väterlich umsorgende Botho Graef[52] in Jena, der 1917, kurz nachdem sein Lebensgefährte Hugo Biallowons im Krieg gefallen war, plötzlich verstarb, woraufhin Kirchner schrieb: „Ich möchte selbst tot sein. ... Mir ist, als wenn mein Vater tot wäre, mehr, viel mehr.“[53]
Henry van de Velde, der sich nach dem Tode Graefs ähnlich bemüht um Kirchner zeigte, vermittelte im Anschluß an den ersten Sommer in Davos[54] einen Aufenthalt im Sanatorium Kreuzlingen, wo er entgegegen den vorausgegangenen Sanatoriumsaufenthalten zehn Monate lang blieb[55]. Der Leiter des Sanatoriums, Otto Binswanger[56], war der Vertreter einer für seine Zeit ausgesprochen fortschrittlichen Psychiatrie. Beeinflußt durch die Forschungsergebnisse Freuds und Jungs, mit denen er in engem persönlichen Kontakt stand[57], arbeitete er auf psychoanalytischer Basis[58] und schuf als Therapierahmen eine enge familiäre Umgebung für seine Patienten.
In der behüteten und seine künstlerischen Ambitionen ausdrücklich unterstützenden Atmosphäre[59] stabilisierte Kirchner sich zusehends[60]. Als das Ende des Krieges absehbar wurde, kam er wieder soweit zu Kräften, daß er sich zur Fortsetzung seiner Morphiumentzugsbehandlung auf Vermittlung Grisebachs in die Obhut von dessen Schwager, Dr. Spengler, in Davos begab, das er bereits Anfang 1917 einmal besucht, aber aufgrund einer damaligen Kältewelle fluchtartig wieder verlassen hatte[61].
Er zog alleine in ein Berghaus auf der Stafelalp, anfangs noch von der Krankenschwester Hedwig versorgt, und empfing Besuche von Erna und verschiedenen Freunden, so beispielsweise Nele van de Velde, die sichtlich beeindruckt ihre erste Begegnung mit Kirchner schilderte: „Der erste Besuch war wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Ich trat in ein bescheidenes Zimmer. Wärme strahlte mir entgegen, die nicht nur von der Temperatur ausging, sondern auch von seiner Gestalt, den vielen Bildern an den Wänden, den Farbtöpfen, Holzplatten und Pinseln. Kirchner saß im Bett, angetan mit einem weinroten Pyjama und einem weißen seidenen Turban um den Kopf geschlungen, ein orientalisches Tuch über die Knie gebreitet. ... Von dieser Stunde an entstand eine tiefe Freundschaft, begleitet von Gesprächen über Kunst, Leben, Menschen und Tiere, die er so liebte. Und immer wieder, mitten in unserer Arbeit, hörte ich ihn aus seiner Ecke sagen: >>Nele, die Tiere sind menschlich und die Menschen so tierisch.<<[62]
Ab Dezember 1918 konnte er Briefe, die er zuvor hatte diktieren müssen, wieder selber schreiben und begann in seinem Haus erneut mit selbstgefertigten Möbeln, Bildern und aus Berlin von Erna gebrachten Gegenständen seine eigene Atelier-Kunst-Welt aufzubauen.
Anfangs von der Davoser Bergwelt[63] und dem Leben der ihn freundlich aufnehmenden Landbevölkerung in Bann gezogen, schuf er eine Reihe seiner bedeutendsten Kunstwerke, bevor er sich in der Einsamkeit der Bergwelt einer zusammenfassenden Betrachtung und Bewertung seines Gesamtwerkes zuwandte. Zuerst beschränkt auf sein Tagebuch[64], ließ er bald mit Hilfe des von ihm kreierten Pseudonyms Louis de Marsalle[65] selbst verfaßte Kunstkritiken publizieren, datierte systematisch seine Werke vor[66], die er teilweise auch neu übermalte, und erlaubte ausschließlich gemäß seinen Angaben autorisierte Werksverzeichnisse[67]. Geradezu ängstlich war er darauf bedacht, sich gegenüber den von ihm massiv entwerteten anderen Künstlern der Zeit[68], als der bedeutendste revolutionäre Neuerer darzustellen, dem lediglich die alten Meister, an denen zu messen er sich immer wieder als Maßstab setzte[69], Anregungen gegeben hätten.
Diese Motivation der Selbstdarstellung wurde in den folgenden Jahren der Ausgangspunkt seiner künstlerischen Arbeit. Anders als in der intuitiven Malweise der Berliner Zeit versuchte er zunehmend, über eine theoretische Fundierung seiner Kunst[70], die er für sein Frühwerk reziprok entwarf, zu neuen Bildergebnissen zu gelangen. Weiterhin verleugnete er vehement jeglichen Einfluß durch andere Künstler, selbst dort, wo er offenkundig ist, und pries darüber hinaus seine theoretischen Erkenntnisse als Neuerungen, die sie letztlich in keiner Weise waren[71].
1920 gelang es ihm mit Hilfe Helene Spenglers nach zum Teil heftigen Auseinandersetzungen[72] vom Morphium freizukommen, hierbei immer wieder an Entzugssymptomen wie Magen-Darm-Problemen und Rückenschmerzen leidend[73]. Auch nahm er erstmals wieder an Tanzfesten teil[74].
Nachdem Erna den umfangreichen Berliner Werksbestand inventarisiert und das dortige Atelier aufgelöst hatte, übersiedelte sie 1921 ebenfalls nach Davos. Im selben Jahr starb Kirchners Vater; Helene Spengler beschreibt seine Reaktion auf den Tod in einem Brief an Eberhard Grisebach: „Sein Vater ist gestorben, plötzlich, und die Art wie es ihn traf, lässt eine neue Seite an ihm sehen. Er, der sich weit entfernt dachte von konventioneller Sohnesliebe, bedurfte der gleichen Aufmunterung in seiner Aufregung, der gleichen Teilnahme wie jeder andere <<bürgerliche>> Sohn. Er trägt sogar zu meiner Überraschung einen Trauerflor über den Ärmel des Mantels, nur zusammengeschunzelt und unordentlich, statt glatt und staatsch wie die Bürgerlichen. Er ist voller Arbeitseifer und die Bilder sind von strahlender Farbigkeit...“[75]
Nach über fünf Jahren wandte sich Kirchner erstmals wieder der Aktmalerei zu, hierzu inspiriert durch die Tänzerin Nina Hard, die, keineswegs zur Begeisterung Ernas[76], über mehrere Monate bei den Kirchners zu Besuch war.
Sein Verhältnis zu Erna in jener Zeit spiegeln die Äußerungen über sie in seinem Tagebuch wider: „Manchmal doch wüste Sehnsucht nach einer feinen Frau. Erna trotz guten Charakters auf die Dauer nicht trätabel, sich selbst überlassen bricht das Ordinäre immer mehr durch.“[77] - „Mir fehlt eine gebildete Frau zur Aussprache doch sehr. Abende geschwiegen von nichts. Erna gut und zuverlässig, aber geistig zu schwach.“[78] - „Großer Kampf mit Erna am Abend um die alten immer gleichen Dinge. Ich bin zu müde dazu. Es wird nichts aus ihr. Nun, sie geht Montag. Ich hoffe dann wieder meinen Frieden zu haben.“[79] Kaum war sie fort: „Nun ist sie fort. Diesmal fällt mir der Abschied schwer. Es sind so viel zerstörte Hoffnungen, die ich damit zu Grabe trage. Der letzte Tag war gut, und trotzdem weiß ich, daß sie immer sich für ein paar Tage zusammennehmen kann, um dann umso mehr ins Gegenteil umzuschlagen ... Dabei ist sie innerlich gut. Es ist zu schade. Und doch muß ich dem Werke leben und alles ausschalten, was es hemmt. Ich habe ja nichts sonst.“[80] Später wurde er versöhnlicher: „Erna ist jetzt 2 Jahre sehr tüchtig und gut. Wir leben in Frieden und Ruhe beisammen und schaffen soviel es geht. Der Garten trägt dank ihrer Sorgfalt gute Früchte. Mancher Mensch kommt spät zu Verstand.“[81] In einem Brief an die verreiste Erna vom 9.Juni 1928: „Ich bin sehr einsam, man ist so aneinander gewöhnt, daß einem der andere doch sehr fehlt, wenn er nicht da ist. Wir leben ja auch selten gut miteinander und kennen diese perversen Abneigungsgefühle der staatlichen Ehen nicht.“[82]
Mehrere Ausstellungen in Deutschland und der Schweiz verschafften Kirchner in den kommenden Jahren Kontakte zu weiteren, zum Teil langjährigen, treuen Sammlern. Auch wandte er sich einem neuen Gebiet, der Teppichkunst, zu und gewann außerdem einen Kreis von Schülern, die zu ihm pilgerten und wochenlang intensiv bei ihm studierten. Erlebte er diese einerseits als Bestätigung seiner herausragenden Stellung als Künstler, war er andererseits auch auf das ängstlichste darauf bedacht, von diesen nicht übervorteilt zu werden[83]. Überhaupt fühlte er sich in diesen Jahren immer wieder plagiiert und ungerecht von der Kunstwelt behandelt, wovon zahlreiche seiner Stellungnahmen zeugen.
1923 kam es zum abrupten Bruch mit der Familie Spengler, da sich nach dem Tod des Arztes Kirchners Krankengeschichte nicht mehr auffinden ließ und er dahinter ein gezieltes Komplott vermutete[84]. Kurz darauf mußte er seinen Wohnsitz „In den Lärchen“ aufgeben; er war darüber deprimiert, fand jedoch im „Wildbodenhaus“ einen würdigen Ersatz und blieb dort bis zu seinem Tode wohnen.
1925 unternahm er erstmals seit seiner Übersiedelung in die Schweiz wieder eine Reise nach Deutschland, frischte dort alte Erinnerungen auf, sowohl privat, als auch künstlerisch - so entstand in der Folge wieder eine Reihe von Straßenbildern -, und er besuchte auch seine Mutter für einige Tage, vermerkte hierzu in seinem Tagebuch: „Es freut mich sehr, daß sie eine so gute Natur hat, denn dadurch habe auch ich Hoffnung, alt zu werden. ... Mutters Empfang sehr herzlich. ... Ich fühle mich ruhig und sicher bei ihr und bliebe am liebsten immer da.“[85]
Im Frühjahr 1926 kehrte Kirchner nach Davos zurück, und befaßte sich in den kommenden Jahren mit Ausstellungen seiner Werke in beiden Ländern, wobei sein Hauptinteresse ab 1927 den Entwürfen einer Freskenausmalung für das Folkwang-Museum in Essen galt. In langjährigen Verhandlungen mit Gosebusch versuchte er immer wieder die Realisierung dieses Projektes gegen alle Widerstände doch noch zu ermöglichen. Ganz entgegen seiner Natur war er zu außerordentlichen Konzessionen bereit, da er, in der seit der Renaissance vorherrschenden Kunstauffassung eines Primats der Wandmalerei verhaftet[86], die „Krone und Vollendung meiner Arbeit“[87] zu verwirklichen suchte. Dennoch kam das Werk nie zur Ausführung[88].
Immer wieder beanspruchte er in seinen Aufzeichnungen eine führende Künstlerrolle für sich[89] und vermutete Intrigen gegen sein Werk[90]. Zunehmend beklagte er seine Einsamkeit[91] und sah sich dem Schicksal der großen Meister ausgeliefert: „Nirgends sehe ich Hoffnung und mein Schicksal gleicht mehr und mehr den großen Meistern, die am Rande des Lebens nur die Not als treuen Begleiter behielten. Keine Freunde, kein Geld, keine Hoffnung, nur meine Kunst, die treu ist und mir immer größere Freude macht“[92].
Ende 1926, Anfang 1927 starben plötzlich das Ehepaar Müller und der Künstler Herrmann Scherer. Beide waren als maßgebliche Gründungsmitglieder der Gruppe „Rot-Blau“, die sich auf Kirchner als Vorbild berief[93], eng mit diesem befreundet gewesen, was, wie üblich bei Kirchner, auch wiederholte Spannungen miteinschloß[94]. In einem Brief an Georg Schmidt nach Scherers Beerdigung verlieh Kirchner seinem Schmerz über diesen doppelten Verlust Ausdruck: „Hoffentlich haben Sie es mir nicht übel genommen, dass ich nicht zur Beerdigung kam. Ich kann das nicht. Mir ist es so schrecklich, den leeren Leichnam eines Menschen zu sehen , der einem im Leben nahestand, als er noch warmes Blut in den Adern hatte. ... Alles, was ich in ihn gepflanzt hatte ist mit ihm gestorben und die Arbeit, die ich mit ihm zusammen leisten konnte, unmöglich geworden[95]. So sind nun beide fort, Müller und er, glauben Sie mir, das ist schwer für mich ... Ich kann mich nicht zeigen, wenn ich Schmerz habe, da fliehe ich die Menschen.“[96]
1929 brach er schließlich dann weitgehend die Verbindungen zu „Rot-Blau“ ab, da er sich von den verbliebenen Künstlern mißbraucht fühlte: „Die Basler Künstler-Gruppe <<Rot-Blau>> hatte sich neu formiert und sich auf Kirchner berufen, obwohl mehrere Mitglieder nie bei Kirchner gewesen waren. Das verärgert Kirchner und veranlasst ihn, im Heft 5 von <<Das Kunstblatt>> einen <<Offenen Brief an die Basler Vereinigung Rot-Blau>> zu publizieren, in dem er auf seine Isoliertheit hinweist und bittet, ihn nur als Kamerad zu sehen, nicht als Mäzen oder Kunstagent.“[97]
Mit dem Tod seiner Mutter am 23.12.1928 endet sein Tagebuch[98], das er ab 1919, anfangs täglich, dann in immer größeren Abständen geführt hatte[99]; an Hagemann schrieb er: „Es hat mich tief gepackt, trotzdem ich eigentlich keine geistige Verbindung mit ihr hatte. Aber zu fühlen, dass der Mensch, der mir selbst in seinem Leibe das Leben gegeben hat nun in kurzen Tagen ein kleines Häuflein Asche ist, ist ein so schlagender Beweis für die Vergänglichkeit, dass es einen aufs äusserste anfeuert, um das höchstmögliche an Leistung zu vollbringen. ... Nun sie tot ist, fiel die Türe des Elternhauses endgültig zu. Wenn es vielleicht auch nur in der Phantasie existierte, denn ich war ja das schwarze Schaf in der Familie, so ist dem Spiel der träumenden Möglichkeiten doch durch die Tatsache ein Ende gemacht worden. Gewiss hat sie mich nie verstanden, von jung auf nicht, aber sie hatte doch diese reine Liebe, die einzige vielleicht in dieser Welt, die wirklich rein ist, weil sie jenseits steht von Zweck und Moral. ... So war sie nur heiter und schlagfertig, denn sie hatte französisches Blut. Und das danke ich ihr, sonst hätte das dunkle Erbe des Fanatismus der märkischen Pastorengeneration meines Vaters mich längst der Selbstzerstörung anheimgegeben.“[100]
Erstmalig seit seinem psychischen Zusammenbruch während des Ersten Weltkrieges befaßte er sich nun auch wieder intensiv mit dem Gedanken an seinen eigenen Tod[101] und schrieb im Juni 1929 sein Testament neu, hierbei Erna als Verwalterin seines Erbes einsetzend[102].
Viel Zeit verbrachte er mit Lesen[103] und reflektierte in ausgedehnten Briefwechseln über das Verhältnis zu „seiner Frau“[104].
Bereits Ende der zwanziger Jahre ließ die Entwicklung in Deutschland böse Vorahnungen in ihm aufkommen: „... es kracht überall in Deutschland, es ist schrecklich, wirklich, aber die grossen Umwälzungen die im Anmarsch sind werfen halt ihre Schatten voraus. Furchtbar, wenn wir nochmals Aufruhr, Kampf und Blut erleben müssen, nachdem eben erst der Weltkrieg vorbei ist und doch scheint keine andere Lösung möglich. Und unser bisschen Kunst und Kultur, mühsam errungen und gehalten, wird wieder zerrinnen und geopfert werden, es sieht dunkel aus.“[105]
Verschiedene Besuche brachten in den kommenden Jahren Anregungen, so 1930 die Tänzerin Gret Palucca, die Anlaß war für ansonsten in dieser Zeit eher rare Bildschöpfungen.
1931 erfolgte die lange erwartete Aufnahme als Mitglied der Preußischen Akademie der Künste in Berlin, was ihn nur an Hagemann vermerken ließ: „Heute bekam ich die Satzungen der Akademie, nach deren Lektüre ich die größte Lust habe, die Ernennung doch abzulehnen. Ach in einen solchen Vereinstopf paßt man nicht hin(ein). Diese staatlich approbierte Kunst ist wirklich ein Witz.“[106].
Ende des Jahres mußte sich Erna in Berlin einer Uterusoperation unterziehen[107]. Auch litt sie schon seit längerer Zeit an Depressionen[108].
Bedingt durch die Weltwirtschaftskrise gelangen kaum noch Bildverkäufe, und Ausstellungen fanden nur vereinzelt statt.
Die mit der Machtergreifung Hitlers verbundenen angstvollen Vorahnungen Kirchners sollten sich alsbald bestätigen. Bereits im Mai 1933 legte man ihm nahe, auf die ja erst zwei Jahre zuvor erfolgte Berufung in die Preußische Akademie zu verzichten.[109] Kriegsangst kam in ihm auf. „Ich bin ein wenig müde und traurig über die Verhältnisse drüben. Es liegt Krieg in der Luft. In den Museen wird jetzt die mühsam errungene Kultur der letzten 20 Jahre vernichtet. Dabei hatte ich (sic!) seinerzeit doch die Brücke extra deshalb gegründet um deutsche echte Kunst, die in Deutschland gewachsen war, zu pflegen. Das soll jetzt undeutsch sein. Ach Gott. Mir geht das doch ein wenig ans Herz.“[110]
Schlemmer, der bereits vom Bauhaus entlassen worden war, kam zu Besuch, auch zu Klee nahm er Verbindung auf. In seiner Malerei wandte er sich Themen des Sports zu mit dem Ziel, gemäß seinen entwickelten theoretischen Vorgaben zu abstrakten Bildlösungen zu gelangen, bevor er ab 1935 wieder eine konkretere Bildgestaltung aufgriff, für sich einfordernd, ein „deutscher“ Künstler zu sein.
Die geplante Ausmalung der Frauenkirchner Kirche mit einer Apokalypse war nach der endgültigen Absage aus Essen ein weiterer Versuch, doch noch eine große Wandmalerei zu schaffen, wurde aber ebenfalls nicht realisiert[111].
Sein einziger „öffentlicher Auftrag“[112] blieb im Jahre 1936 eine Supraportenskulptur für das Schulgebäude von Frauenkirch.
Mit den Planungen zur Ausstellung „Entartete Kunst“ stellten sich bei Kirchner erneut gesundheitliche Beschwerden ein, wie Darmprobleme[113] und eine zunehmende Anmagerung, die er carcinophobisch verarbeitete und wieder zu Morphium griff[114].
Zwar gestalteten sich erste Kontaktversuche in die USA als erfolgreich[115], so eine Austellung in Detroit oder eine Anfrage des Museum of Modern Art in New York, doch kamen die Verbindungen nach Deutschland fast vollständig zum Erliegen[116]. Er wurde endgültig aus der Preußischen Akademie ausgeschlossen[117] und an führender Position mit 25 Exponaten in der Austellung „Entartete Kunst“ plaziert, nachdem zuvor im Rahmen der dieser vorausgehenden Kunstsäuberungen bereits 639 seiner Werke beschlagnahmt worden waren[118].
Mehr und mehr fühlte er sich isoliert, stürzte sich noch einmal in die Arbeit[119], wie immer wenn er sich alleingelassen oder unter Belastung stehend fühlte, und schuf eine Reihe von Bildern seiner unmittelbaren Umgebung.
Auch wenn eine Ausstellung in Basel nicht zum lange ersehnten künstlerischen Durchbruch in der Schweiz führte, bechloß er Schweizer Staatsbürger zu werden, wozu es aber nicht mehr kommen sollte.
Die sich schon lange hinziehende Darmkrankheit, Depressionen, Schlaflosigkeit und innere Unruhe[120], wiederholte Auseinandersetzungen mit Erna, Verzweiflung über die Lage in Deutschland und immer wieder Gedanken an den Tod[121] bestimmten den Winter 1937/ 38.
Nach dem Anschluß Österreichs am 13.03.38 war er von der Befürchtung besessen, daß deutsche Soldaten schon bald auch die Schweiz okkupieren würden, und zerstörte aus Angst davor die von ihm geschaffenen Skulpturen vor seinem Haus[122].
Zu seinem 58. Geburtstag erhielt er keine Gratulation[123]. Zusätzlich zeigte er sich resigniert über die Diffamierung seiner Kunst[124] und die Isolation, in die er inzwischen geraten war[125]. Resumierend verfaßte er eine Darstellung seines Lebens in Märchenform[126].
Er entschloß sich, Erna nun doch noch zu heiraten[127]. Bevor die Hochzeit aber vollzogen werden konnte, revidierte er diese Entscheidung wieder[128]. In der schlaflosen Nacht vom 14. auf den 15.06.38 versuchte er Erna zu einem Doppelselbstmord zu überreden. Diese suchte am kommenden Morgen den Arzt zu erreichen. Noch während sie telefonierte, erschoß er sich vor dem Haus[129].
[1]Zusätzlich hatte die Mutter Ernst Ludwig Kirchners nach ihm zwei Totgeburten. KOR1, S.11
[2]Eine kurze Charakterisierung seiner Mutter in Kirchners Tagebuch am 6.Okt.1925: „Mutter. Ach, sie tut mir ja so leid, aber sie hat etwas in sich, was sie zerstört, wenn sie es nicht als Ekelhaftigkeit gegen einen herausläßt.“ GR1, S.97
[3]Bei GAB2, S.35 „das einzige vollständige Familienbild ... Der zielstrebig-sachliche Ingenieur Walter, die energische Mutter, der professorale Vater und der noch unentschiedene Jüngste Ulrich, der später die Arbeit des Vaters fortsetzte. Am Ende sitzt das Sorgenkind der Familie.“ GAB2, S.34 {Abb.1}
[4]Hierin dürfte eine wesentliche Grundlage für Kirchners oftmals geäußerten missionarischen Eifer in bezug auf seine Kunst liegen. So schreibt er 1919 das „Glaubenbekenntnis eines Malers“ (vollständig wiedergegeben bei GRM, SS.79-80) oder er führt aus: „Ich glaube, daß man in der Kunst, ohne Priester nötig zu haben zu Gott kommt.“ Brief an Helene Spengler vom 22.Februar 1920, bei GRM, S.82
[5]Über ihn berichtete Fontane in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Insgesamt bestand seine Familie aus vierzehn Kindern, das zehnte Ernst, der Vater Ernst Ludwig Kirchners. s.GAB2, S.14
[6]GO, S.9
[7]Aus Kirchners „Lebensgeschichte“ von 1937; dieser Auszug bei GRM, S.46
[8]In einem Brief an Eberhard Grisebach aus Kreuzlingen, 28.Januar 1918; dieser Auszug bei: GRM, S.46 Es zeigt sich hier offenkundig Kirchners Auseinandersetzung mit der psychoanalytisch geprägten Behandlung durch Binswanger. s.hierzu auch SS.15-16
[9] „Als Junge saß ich immer am Fenster und zeichnete, was ich sah, Frauen mit Kinderwagen, Bäume, Eisenbahnzüge etc. etc. Später kamen wir nach Frankfurt, und der große, damals im Bau begriffene Bahnhof, Tiere und Menschen auf der Straße und im Zoo kamen hinzu. Dazu die ersten Kunsteindrücke im Frankfurter Museum, die Bilder der Schule Grünewalds. Alte Plastiken und fremde Völker im Zoo. Von Frankfurt ging es nach der Schweiz mit den großen Bergen und Kühen und Sennen und steinigen Wegen.“ Brief an Graef, 21.September 1916 (GRM, S.47) Später in „Anfänge und Ziel“ ergänzt er 1935: „...ich zeichnete ... alles was mir neu und rätselhaft war ... Mein Vater sammelte die Blätter, bezeichnete sie und datierte sie und alle meinten, ich müsse Maler werden...“ ebd.
[10] „Ich habe schon in früher Jugend regelrechten Zeichenunterricht bekommen, und mein Vater hat mir sogar eine zeitlang einen englischen Aquarellehrer gehalten trotz der Kosten.“ Brief an Grohmann, 8.Juli 1925, Auszug bei GRM, S.47
[11]Gabler berichtet über Ernst Kirchner. „Neben Alwin Rudel war Kirchner zweifellos der bedeutendste Schriftssteller des Papierfachs in seiner Zeit. Sein umfangreiches Hauptwerk „Das Papier“ ... faßt ... den gesamten Wissensstand seiner Zeit zusammen.“ GAB2, S.16
[12] „Die vom Vater unterstützten und von einfühlsamen Zeichenlehrern weitergebildeten ersten dilettantischen Versuche >künstlerischer Tätigkeit< lassen erstmals in ihm den Gedanken aufkommen, vielleicht einmal >>Maler zu werden<<.“ Brief an Graef, 21.September 1916, GRM, S.47
[13]s.GO, S.10 Gordon beruft sich auf einen Brief Kirchners an Graef von 1916: „...in den letzten Jahren vor dem Abitur, wo ich den Entschluß faßte, Maler zu werden.“ GO, S.458
[14]Kirchner: Lebensgeschichte, 1937, dieser Auszug in GRM, S.47
[15]So zumindest gemäß Kirchners eigener Darstellung in seinem Manuskript „Die Arbeit E.L. Kirchners“, das er 1925 oder 1926 verfaßt haben dürfte (KOR1,S. 331): „Mein Vater, der selbst früher Maler werden wollte, sammelte diese Kinderarbeiten mit grosser Liebe, als ich aber später als Primaner ernsthaft daran arbeitete, Künstler zu werden, wendete er sich davon ab. Er wollte um keinen Preis, dass ich Maler werden sollte und malte mir das Künstlerleben in den düstersten Farben.“ (KOR1,S.333) Oder 1935 in „Anfänge und Ziel“: „Mein Vater wollte selbst einmal ein Maler werden, hatte aber bei seinem Lehrer, der mit zwei Töchtern in Berlin verkam, die Gefahren dieses Berufes kennen gelernt...“ GRM, S.46
[16]Rückblickend beschrieb Kirchner 1923 in seinem Tagebuch seinen Studienbeginn so: „Ich kam 1900 [sic!] als Mulus nach Dresden in dem Entschlusse Maler zu werden. Um Geld zu bekommen, ließ ich mich als Architekturstudent einschreiben. Meinen Studentenwechsel verwendete ich für Malen und Mädchen, die ich auszog, um sie zu zeichnen.“ GR1, S.74 und GR3, S.9
[17]Bleyl beschrieb später seinen ersten Eindruck von Kirchner: „...Ernst Ludwig Kirchner aus Chemnitz, dessen Bekanntschaft ich alsbald suchte und fand, aus der sich nun rasch eine seltene Freundschaft entwickelte. Kirchner, der sich nicht mit seinem Vornamen, sondern aus irgendeiner Grille heraus damals >Gustav< rufen ließ, war in ähnlicher Weise zum Hochschulstudium der Architektur und des Hochbauwesens gekommen wie ich, nämlich durch familienbegründete Zwangsverhältnisse, anstelle eines Malerstudiums an der Akademie. Ich traf auf einen wohlgebauten, aufrechten Jüngling größten Selbstbewußtseins, stärkster Leidenschaftlichkeit, der ein herrlich unbekümmertes Wesen und ein mitreißendes freimütiges Lachen an sich hatte und geradezu von einer Wut, zu zeichnen, zu malen, sich mit künstlerischen Dingen und Gedanken zu beschäftigen und auseinanderzusetzen, besessen war. Seine >Bude< war die eines ausgesprochenen Bohemiens, voll von überall bunt herumliegenden Bildern, Zeichnungen, Büchern, Mal- und Zeichengerät, weit mehr eines Malers romantische Behausung als das Heim eines ordentlichen Architekturstudenten. Wir hatten uns geradezu finden müssen, hielten fortan während des Studiums zusammen wie die Kletten und ließen nicht sobald wieder voneinander. Wo der eine war, tauchte gewiß auch bald der andere auf. Sicher waren wir an der ganzen Hochschule als unzertrennliches Freundespaar, als zwei in die gleiche Kerbe hauende Kunstbeflissene bekannt. - Tag für Tag waren wir beisammen, trafen uns auf der Hochschule, gingen gemeinsam zu Tische und anschließend auf des einen oder anderen Bude [eine Abbildung einer Zeichnung von Kirchners „Studentenbude“ bei HENZ, S.42, Anm.d.Autors] oder suchten uns spätestens abends auf, betrachteten und bewerteten unsere neuesten Arbeiten, führten freundselige Gespräche bis tief in die Nacht hinein und freuten uns schon wieder auf neue Betätigung und Ernte.“ Fritz Bleyl: Erinnerungen, 1948, dieser Auszug bei GRM, S.48
Es sei an dieser Stelle auch noch angeführt, daß Kirchner zu dieser Zeit dafür bekannt war, daß er „gelegentlich während des Gesprächs mit den Freunden unerwartet in den Boden [schoß], um sie zu erschrecken.“ SPIE, S.131
Eine entsprechende Begebenheit von Bleyl geschildert, wiedergegeben bei HODU, S.186
[18]Hierauf verweist auch Reidemeister: „Fritz Bleyl ist der erste unter den vielen Menschen, die Kirchner freundschaftlich an sich gezogen hat, um sie später ebenso abrupt wieder zu verlassen. Bleyl, 1905 Mitbegründer der >Brücke<, wird in der von Kirchner verfaßten Chronik der >Brücke< von 1912 ebensowenig genannt, wie später je einer Erwähnung gewürdigt.“ (GRM, S.8) Als Beispiele seien seine Freundin Dodo angeführt, zu der er abrupt nach seinem Wegzug aus Dresden „in Berlin keinen Kontakt mehr hatte“(GRM, S.165) sowie Helene Spengler und Eberhard Grisebach. s.Anm.94
Anschaulich ist hierfür der anhand seiner Tagebuchaufzeichnungen nachvollziehbare Bruch mit Manfred Schames 1925: „22.Dez.25 ... Ich fordere von Schames nochmals das Geld meines Markkontos. Er sagt es zögernd zu, aber giebt es nicht heraus. Abends sage ich es ihm nochmals. Er blickt mich haßerfüllt an und giebt es nicht her, ich werde wohl bis Montag warten müssen. Diesen Blick voll Haß vergesse ich nicht, er enthüllt mir mit einem Schlage, daß Manfred Schames mein Feind ist, nicht mein Freund, wie ich es immer dachte. ... Oh, bin ich allein und ohne Freunde. ... Die Welt ist so liebeleer geworden, ich bin so allein und so einsam. ... Verlasse Dich nie auf einen Menschen, das ist der wahrste Satz, den es giebt ... 26.Dez.25 2 Blatt Schameskopf zerrissen.“ GR1, SS.108-109
[19]Trotz der damit anfangs verbundenen kargen Verhältnisse, wie er 1923 in seinem Tagebuch ausführte: „...da ich kein Geld mehr erhielt von meinen Eltern und furchtbaren Mangel leiden mußte, denn ich war ungeschickt in der Art, meine Dinge anzubringen, wie selten einer, und ich kannte keine Künstler als unsere Brückeleute und arme Menschen.“ GR1, S.75
„Er war der älteste von ihnen“, den Brücke-Mitgliedern. GRO, S.7
[20]Gordon beschreibt diese Zeit an Kirchners eigene Beschreibung anlehnend: „In den Ateliers in der Berliner Straße und während der Sommeraufenthalte an den Moritzburger Seen, von 1909 bis einschließlich 1911, lebten Künstler und Modelle, Männer und Frauen, zusammen und wurden zu Teilen von Bildern, in denen (wie Gauguin es vielleicht als erster geträumt hatte) ein einziges Mal Sexualität natürlich aufgefaßt wurde. Durch >>nahes Menschenverhältnis besonders zu Mädchen ... [entstanden] Bilder ... wo diese wunderbare Vereinigung von Mensch zu Mensch klar wurde>>.“ GO, S.19
[21]Die Ateliers waren größenteils ausgehängt mit auf Bettüchern gemalten Szenen nackter Liebespaare. Im einzelnen beschrieben bei GRM, S.55. Dort auch Bildbeispiele, z. B. Fotos auf den SS. 17 und 19 oder Zeichnungen auf S.149. Fotografien der Ateliers bei GAB2, SS.47,65,67. Auch auf das wohl einzige erhaltene Relief für einen geplanten Ofen mit erotischen Szenen sei hingewiesen. Abb. GRM, S.131
[22] „Kirchner findet in Dresden seine [wie er später schrieb] >>erste Frau, eine Varietetänzerin, Line. Wunderbares Zusammenleben und Schaffen<< mit ihr bis um die Jahreswende 1906/07, da sie mit der Polizei in Konflikt gerät.“ GRM, S.50
[23]GRM, S.56 Mit diesen ein freizügiger Umgang: „Marcella ist jetzt ganz heimisch geworden und entwickelt feine Züge. Wir sind ganz vertraut geworden, liegen auf dem Teppich und spielen. Es liegt ein großer Reiz in einem solchen reinen Weibe.“ Brief Kirchners an Heckel zwischen dem 30.03. und 02.04.1910. KET1, S.238
[24]Auch dort blieb die „Vorliebe für das Umgeben mit erotischen Szenen“ bestimmend für die Atelierausgestaltung. (GRM, S.18) Fotografie des Ateliers bei GAB2, S.139
[25]Als Begründung für den Umzug führte er in seinem Manuskript >Die Arbeit E.L.Kirchners< an, daß seine Kunst in Dresden „nicht genug [brachte] um leben zu können“ und er auch „nicht für die Dauer von der Kameradschaft meiner Frau und ihrer Schwester [?] leben konnte...“ GRM, S.60
[26]So gleich schon im ersten Eintrag seines Tagebuchs vom 5.Juli 1919: „...Du Dodo ... Still und fein und so weiß schön. Deine feine freie Liebeslust, mit Dir erlebte ich sie ganz, fast zur Gefahr meiner Bestimmung. ... Ich weiß, daß Du manchmal an mich denkst, Glück und Qual haben wir beide gehabt.“ (GR1, S.43) „Aus einer Bemerkung von Erich Heckel erfahren wir, daß es ein großes Unrecht von Kirchner gewesen sei, Dodo bei seiner Übersiedelung nach Berlin >>einfach sitzen zu lassen<<.“ KET2, Anm. zu Bild 24
[27]Pechsteins „Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen hat [seinen] ... Lebensweg ... auf weite Strecken hin geprägt.“ (SPIE, S.239) Er hatte an der Dresdner Kunst-Gewerbeschule studiert und war Meisterschüler Gußmanns gewesen, der ihm 1903 ein eigenes Atelier gab. Neben hierdurch bedingten Aufträgen erhielt er bald nach Studienende mehrere Aufträge für die 3.Deutsche Kunstgewerbeausstellung, wo er Heckel kennenlernte und durch diesen zur Brücke kam. Er war also insgesamt schon vor dem Eintritt in die Brücke recht erfolgreich. i.e.s.: SPIE, S.239
„Pechstein war [später] das Ziel seiner heftigsten Angriffe, nicht so sehr, weil Kirchner ihn für den schwächsten Maler der Gruppe hielt ..., sondern weil er als erster Erfolg hatte und häufig als größtes Talent der >Brücke< erwähnt wurde.“ (GRM, S.38) Als Beispiel sei ein Tagebucheintrag Kirchners vom 6.März 1923 angeführt: „Es ist klar, daß Maler, deren Geist an humanistischer Bildung geschult ist, recht viel voraus haben vor einem Arbeitersohn, der alle feineren Dinge erst in der Zeit seiner Akademiestudien in mehr oder weniger lückenhafter Form nachholen muß, es schwebte mehr als einmal über Brückeversammlungen diese geistige mit Scheu ja Haß erfüllte Luft, die ja leider so oft die Gebildeten von einfachen Menschen nicht verstanden werden läßt und so die Quelle all der Unerfreulichkeiten ist. ... So war es bei Pechstein.“ GR1, SS.76-77, s. auch GR3, SS.78-79
[28] „Hans Gewecke und Werner Gothein ... waren die einzigen Schüler gewesen, die dieses Institut je hatte.“ (SPIE, S.61) An Luise Schiefler schrieb Kirchner am 5.November 1911: „Der Existenzkampf ist sehr hart hier, aber die Möglichkeiten auch größer. Ich hoffe, daß wir eine gute Nachkommenschaft erzeugen und viele neue Freunde vom Wert unserer Sache überzeugen.“ SPIE, S. 60
[29]Er schrieb hierzu später in >>Die Arbeit E. L. Kirchners<<: „Hier lernte ich die letzte Einheit von Mensch und Natur gestalten und vollendete das, was ich in Moritzburg angefangen hatte.“ (GRM, S.185) Ganz im Gegensatz dazu stehen die Darstellungen sexueller Szenen aus Berlin, nicht nur in den bekannten Kokottenbildern, sondern mehr noch in einer „Lithographienserie mit Szenen ausgefallener Arten sexuellen und erotischen Genusses [als Beispiel dort auf S.67 „Der Urinfreier“ von 1915], die im Kontrast zu einem Zyklus mit >>gewöhnlicheren<< Stellungen von 1911 steht.“ RÖS, S.64 {Abb.2}
[30]Aus einem Brief an Max Sauerlandt von 1928 zu einer von diesem geplanten Publikation über Kirchner. (KOR1, SS.269-270) Ausführliche Reflexionen Kirchners über die Brücke in seinem Tagebuch 1923, s.GR1, SS.74-78
Die Brückechronik wurde „ohne Billigung der anderen Künstler von Kirchner doch in Umlauf gebracht.“ BUCH, S.81, s.auch Anm.161
Schon 1910 Hinweise auf Dissonanzen bspw. in einem Brief Kirchners an Heckel vom Ende Juni 1910: „Herr S-R ... Er hätte sich zuerst von Dir vor 2 Jahren zurückgezogen und so weiter, ein Hund sage ich Dir am liebsten hätte ich ihn rausgeworfen ... Er hat für den Sommer genug Anregung aufgeschnappt.“ KET1, S.257
[31]An sie auch in seinem Tagebuch erinnernd: 7.Juli ... Beim Besuch von Frau M ... Ob diese Alte noch trotz ihrer Jahre erotisch ist? Ihr Mund erinnert mich an Gerti [Gerda], das perverse kleine Ding, wo magst Du wohl heute sein?“ GR1, S.44
[32] „Über sie berichtete Lise Gujer aus der Erinnerung das Folgende: Ihr Vater, ein netter, stiller Mann, war Korrektor in einem Verlag. Von einer Stiefmutter, deren Beruf Weißnäherin war, wurden sie und ihre Schwester Gerda schlecht behandelt, gelegentlich sogar mit einem eisernen Schnürhaken geschlagen. Deshalb verließ Erna mit 18 Jahren das Elternhaus. Über die nun folgende Zeit bis zu ihrer Bekanntschaft mit Kirchner wurde nie gesprochen. Einmal äußerte Frau Kirchner, sie sei Laborantin gewesen. Sie konnte Päckchen machen, wie sie es als Verkäuferin, und tanzen, wie sie es auf der Bühne eines Tingeltangels hätte gelernt haben können.“ GR1, S.239
[33]Kirchner in seinem Manuskript >>Die Arbeit E. L. Kirchners<<: „...Die Gestaltung des Menschen wurde durch meine 3te Frau, eine Berlinerin, die von nun an mein Leben teilte, und deren Schwester stark beeinflußt. ... Ich bekam den ersehnten Kameraden auch geistig, den ich bei den sächsischen Frauen vergeblich gesucht hatte, die wohl ein raffiniertes Liebesleben aber keine ebenbürtige Kameradschaft geben konnten ... Das in Berlin so viel stärkere und mutigere Erleben, diese freie Kameradschaft mit der Frau, die sich selbst vollkommen gab innerlich und äusserlich...“ GRM, S.60
[34] „Tagebuch und Briefe geben viele Hinweise darauf, daß Kirchner unter dem Zwiespalt zwischen seiner Wunschvorstellung von einer ausgeglichenen Mann-Frau-Beziehung und den Realitäten seines Zusammenlebens mit Erna zeitweilig litt. In Zeiten, in denen Erna bei ihm war, äußerte er sich oft kritisch und abwertend enttäuscht über ihr Wesen und ihre Verhaltensweisen. In ihrer Abwesenheit dagegen fielen Worte der Sehnsucht und der Einsamkeit.“ (GRM, S.256) Dort auch ein Beispiel aus Kirchners Tagebuch vom 20. Oktober 1919: „Diesmal fällt mir der Abschied schwer. Es sind so viele zerstörte Hoffnungen, die ich damit zu Grabe trage. Der letzte Tag war gut, und trotzdem weiß ich, daß sie immer sich für ein paar Tage zusammennehmen kann, um dann umso mehr ins Gegenteil umzuschlagen, tut es mir doch so schrecklich weh, sie so gehen zu lassen.Ich habe sicher viel Schuld. Doch ich versuchte es doch oft, immer und immer wieder, mit ihr. ... Dabei ist sie innerlich gut. Es ist zu schade. Und doch muß ich dem Werke leben und alles ausschalten, was es hemmt. Ich habe ja nichts sonst.“ GR1, S.67
[35]Dies gab er später Nele van de Velde gegenüber zu, wenn er ihr schrieb: „Ich verstehe es ja so wenig die Berliner zu nehmen, daß ich bei meinem damaligen Dortsein stets in Grund und Boden kritisiert wurde.“ Brief an Nele vom 20.März 1924, bei KIR, S.56
[36] „Kirchner war, wie aus einem aufgefundenen Krankenblatt des Sanatoriums Binswanger hervorgeht, schon 1913 und 1914 krank, wobei im Vordergrund der Beschwerden die Angst, die Einengung, die Unzufriedenheit und die als Einsamkeit empfundene Kontaktschwäche stand.“ SCHRETZ, S.17; s.auch Anm.140
[37]Gleichzeitig geht aus verschiedenen Hinweisen hervor, daß Kirchners Libido weitgehend zum Erliegen kam, so in einem Brief an Graef vom 21.Sept.1916: „Je weniger ich selbst körperlich interessiert wurde, was schon früh einsetzte infolge meiner Gemütsverfassung, umso freier und besser konnte ich in die anderen eindringen und schildern.“ (GO, S.24) In seinem Tagebuch 1925 beschreibt er: „Aus dem rein erotischen Verhältnis der Frühzeit zum Weibe wurde das kameradschaftliche, das der Zweieinheit“ (GR1, S.86), woraus er 1927 ableitet: „Die einen [Künstler], bei denen der Trieb rein aus der Erotik kommt und bei denen er um das 40ste Jahr mit der körperlichen Erotik erlischt, und die anderen, wo er wohl auch aus der Erotik kommt, aber doch noch aus weiteren rein geistigen Trieben gespeist wird [wozu er sich zählt].“ GR1, S.154
In gleichem Sinne auch der Verweis in einem Brief an Nele vom 4.Juni 1920: „Ich lade sie als meinen lieben Gast jederzeit ein, aber ich glaube es hängt wieder mal an der schönen Einrichtung der konventionellen Tradition, der Papa hält mich bei aller seiner großen Freundschaft doch für einen gefährlichen Menschen und ich bin doch nur ein alter harmloser Mann.“ (KIR, S.28) Es sei daran erinnert, daß er zu diesem Zeitpunkt gerade erst 40 geworden war.
Ebenso in einem Tagebucheintrag vom 6.Juli 1919: „Muß das bissel Coitus wirklich sein“. GALL, S.40
Andererseits ist er im Sommer 1919 mit erotischen Gedanken befaßt. Tagebucheintrag vom 9.Juli 1919: „Müllers mit der Magd. Recht kokettes Mädchen, Reiz der Augen. Sie winkt mir zu. Ich wäre nicht abgeneigt, wenn mein Cerberus [Erna] klüger wäre:“ (GR1, S.45). Zuvor war es Röskes Ausarbeitungen zufolge in der Auseinandersetzung mit der homosexuellen Beziehung Graefs und Biallowons bei Kirchner zu einem „Verdrängen eigener homoerotischer Gefühlskomponenten [gekommen]. Kirchners Darstellungen von Hugo Biallowons verraten jedenfalls, daß die körperliche Erscheinung dieses Mannes ihn beeindruckt hat. Einen entspannten, selbstbewußten Männerakt, wie den des Försters auf der Radierung >>Zwei Männer im Bade<<, sucht man in des Künstlers Werken der vorangegangenen Jahre vergeblich.“ SEE, S.47 {Abb.3}
[38]Zu Kriegsbeginn befand er sich gerade mit Erna auf Fehmarn und war zur vorzeitigen Rückreise gezwungen. „Der Künstler selbst wurde auf seiner Rückreise nach Berlin irrtümlich >>zweimal als russischer Spion<< verhaftet.“ GO, S.104
[39]So war beispielsweise Macke direkt zu Kriegsbeginn gefallen. REI, S.23
[40]Er selbst beschrieb dieses Gefühl anhand der Geschichte „Peter Schlemihls wundersame Reise“, die er 1915 in einem Grafikzyklus illustrierte: „Schlemihl sitzt trauernd zwischen den Feldern, als plötzlich über das sonnenbeschienene Feld sein Schatten ankommt. Er bemüht sich mit seinen Füßen in die Fußstapfen des Schattens zu kommen, in dem Wahn, wieder er selbst zu werden. Analog dem Seelenvorgang des Militärentlassenen.“ (aus DU1, S.58) Er deutet den Inhalt dieses Zyklus in einem Brief an Schiefler vom 19.7.1919: „Die Geschichte des Schlemihl ist ... die Lebensgeschichte eines Verfolgungswahnsinnigen, das heißt des Menschen, der durch irgendein Ereignis mit einem Ruck sich seiner unendlichen Kleinheit bewußt wird...“ aus GRM, S.217 {Abb.4}
Im Zusammenhang mit Kirchners „Selbstbildnis als Soldat“ von 1915 (Gordon 435) verweist Schmidt auf diese Thematik: „Aufdringlich grell leuchten die roten Schulterstücke mit der goldgelben Regimentsnummer - der Mensch ist zur Nummer gemacht, er zählt nur noch als Kanonenfutter.“ SCHMIDT, S.34 {Abb.5}
Kirchner selbst schrieb am 28.3.1916 an Gustav Schiefler: „Schwerer als alles andere lastet der Druck des Krieges und die überhandnehmende Oberflächlichkeit. Ich habe immer den Eindruck eines blutigen Karnevals. Man fühlt, daß die Entscheidung in der Luft liegt, und alles geht drunter und drüber. Aufgedunsen schwankt man, um zu arbeiten, wo doch jede Arbeit vergeblich und der Ansturm des Mittelmäßigen alles umreißt. Wie die Kokotten, die ich malte, ist man jetzt selbst: Hingewischt, beim nächsten Male weg. Trotzdem versuche ich immer noch Ordnung in meine Gedanken zu bringen und aus dem Verworrenen ein Bild der Zeit zu schaffen, was ja meine Aufgabe ist.“ GO, S.25
[41]Wie Kirchner es selbst bezeichnete. (GRM, S.70) Er hatte sich wohl „im Zustand starker Trunkenheit“ gemeldet. RÖS, S.21
[42]Am 7.Dezember 1915 schreibt er an Osthaus: „Ich bin momentan vom Militär entlassen und will ein Sanatorium aufsuchen, um mich zu regenerieren. Ich fühle mich halbtot von geistigen und körperlichen Qualen. Dabei hat man die Aussicht, bald wieder eingezogen zu werden. Arbeiten kann ich jetzt nur nachts.“ HONS, S.26
[43]Erste Station war das Sanatorium Kohnstamm in Königstein. Kohnstamms Diagnose lautete: „Bei Herrn Kirchner handelt es sich abgesehen von einer allgemeinen Schwäche der Konstitution, um einen nervösen Erregungszustand, bei dem Schlaflosigkeit und Mißbrauch von Schlafmitteln im Vordergrund stehen. Seine Erregung wird ständig unterhalten durch die Erinnerung an die Militärzeit und das was damit zusammenhängt.“ Kohnstamm an Osthaus am 23.4.1916, bei HONS, SS.40-41
[44]Seine „Furcht vor einer zweiten Einberufung war berechtigt - und trug in der Tat stark zu seiner Verfolgungsvorstellung bei. Denn entweder Ende 1916 oder im Frühjahr 1917 erhielt er wirklich >>einen neuen Stellungsbefehl, dem er jedoch nicht Folge leistet<<, und wurde in einem Berliner Nachtlokal verhaftet, wo er sich >>widersetzt und gebärdet wie ein Tobsüchtiger<< (Leny Miller-Spengler: Erinnerungen)“ GO, S.462
[45]Dieses scheint ihm im Sanatorium Kohnstamm verordnet worden zu sein, denn Helene Spengler schreibt am 22.Januar 1917 an Eberhard Grisebach: „Mit Papa ist er vorläufig noch unzufrieden, da er ihm kein Veronal gibt, das sie ihm in einem Taunussanatorium unverantwortlicherweise angewöhnt haben.“ GR2, S.59
Nach einer Angabe Graefs hat Kohnstamm 1917 eine Wiederaufnahme Kirchners verweigert. „Wenn Kirchner unter Veronal steht, ist er von einem Irrsinnigen nicht zu unterscheiden. ...solange er heimlich Veronal nimmt, hilft ihm kein Arzt der Welt. Kohnstamm nimmt ihn nicht, weil er nicht pariert, nicht nur in puncto Veronal, auch in dem der Zigaretten und auch im Essen.“ Graef an Grisebach am 18.März 1917 bei SEE, S.32
[46]Dessen diagnostische Einschätzung im Sommer 1917 war folgendermaßen: „Kirchner ist hier - ein sonderbarer Mann. Schwer krank ist er nicht, aber er isst nicht.“ SCHOOP, S.13
[47]Diese Ausführung Kirchners, die er später Fehr gegenüber machte, muß sich auf seine Anfangszeit in Davos beziehen, als der Krieg noch andauerte, er aber schon von Spengler behandelt wurde. Dieser Auszug bei GRM, S.75
[48] „Am 1.November 1917 setzt Kirchner im Sanatorium ein Testament auf.“ Dies kann als Hinweis auf bestehende Suizidgedanken gelten. Explizit äußert er einen Todeswunsch schon zuvor nach dem Tode Graefs. s.Anm.63 und S.15
[49]Die Art dieser Lähmung 1980 beschrieben durch Wahl: „Er verlor den Halt unter den Füßen, war ataktisch und mit funktionellen Lähmungen behaftet.“ (MO, S.222 ) In gleicher Weise auch die Herleitung der Lähmungen als psychogener Natur in meiner Arbeit: „Berücksichtigt man die schleichende Entstehung dieser Lähmung aus einem relativ unbedeutenden Anlaß heraus, deren theatralischen, appellativen Charakter - Kirchner >>verlor den Halt unter den Füßen<< (ebd.) und war >>nur auf seine Begleitung gestützt zum Laufen fähig<< (GO, S.25), gleichzeitig aber dennoch in der Lage, künstlerisch weiter aktiv zu sein - und die Tatsache, daß mit dem Ende des Krieges sich die Symptome rasch besserten und er >>im Frühjahr 1920 ... seine Besucher [überraschte], indem er ihnen als ein rüstig ausschreitender normaler Mensch entgegentrat (GR1, S.19), so wird die Lähmung als Konversionsreaktion, d.h. Projektion einer psychischen Problematik auf Körpersymptome erkennbar, die typischerweise >>nicht die inneren Organe, sondern Willkürmuskulatur, Sensorik und Sensibilität<< (FM, S.172) befällt.“ (THO, S.90) In gleicher Weise spricht auch Ketterer von den „offensichtlich durch nervöse Störungen bedingten, unerträglichen Magen- und Darmkrämpfe[n]“. (KET2, S.9)
Eine entsprechende psychische Genese der Lähmungen erklärt auch, daß Kirchner ab Dezember 1918, dem Ende des Ersten Weltkrieges, wieder selbst schreiben kann, „anfangs in einer nicht leicht lesbaren, aber doch festen und markanten Handschrift.“ (KOR1, S.127) Bereits im April 1919 ist „aus dem Kranken ... [wieder] ein wohlaussehender Mann geworden.“ Helene Spengler an Eberhard Grisebach am 28.April 1919. GR2, S.106
[50]Interessanterweise schreibt er hierzu in seinem Lebensbericht 1925/26: „Ich kam nach Davos. Bekam aber hier bald die eigentliche Krankheit, eine schwere Nervenentzündung, die nicht als solche erkannt wurde. Nervenkrankheiten waren damals immer seelische Krankheiten. Man versuchte also die <<Seele>> zu behandeln anstatt den Körper und entliess mich schliesslich als ich durch Arbeit den Beweis erbracht hatte, nicht <<seelisch>> krank zu sein mit der Diagnose für eine schwere Rückenmarkskrankheit aus Kreuzlingen nach Davos zurück.“ Auszug des bei KOR1 vollständig wiedergegebenen Textes. KOR1, S.337
[51]Erhaltene Fotografien der von den Nazis zerstörten Fresken bei GAB2, SS.166-167, der hierzu schreibt: „Noch im Sanatorium Kohnstamm aber reifte und verwirklichte sich das Hauptwerk seiner Wandmalerei in unglaublich kurzer Zeit: Die Fresken im Brunnenhaus des Sanatoriums mit dem Thema vom glücklichen Leben auf Fehmarn. Auf 32 m2 Fläche schuf Kirchner ohne Helfer in 6 Wochen das Hauptwerk der deutschen Wandmalerei im 20.Jahrhundert.“ GAB2, S.162 {Abb.6}
[52]Bolliger und Reinhard sprechen von einer „sehr tiefen, >fast schwärmerischen Freundschaft<.“ (GRM, S.70) „Kirchner spricht auch in seinen Briefen nie von Homophilie oder Homosexualität, obgleich sicherlich noch weitere seiner Bekannten und Freunde homosexuell waren“ (RÖS, SS.107-108) und er in einigen seiner Bilder Graefs oder Biallowons dieses Thema ganz offen darstellte.
Dies mag beispielsweise auch zumindest latent auf Hagemann zutreffen, in dessen Nachruf Gosebusch 1948/49 ausführte: „...denjenigen sichtbar gemacht, der seinem Herzen am nächsten steht, Ernst Ludwig Kirchner, und mit ihm treten wir nun in ein Kapitel von Hagemanns Leben, das man das >>Romantische<< nennen möchte. Es mag zu seinem Charakterbild angedeutet werden, daß er, unerschütterlicher Hagestolz bis ans Ende, dem Zaubergarten des Eros in allen seinen Spielarten ferne geblieben ist...“ GALL, S.29
[53]In einem Brief an Grisebach vom 13.04.1917. (GR2, S.67) Am 26.12.1917 dann nochmals an Grisebach: „Doch mir waren im Leben nie Freunde beschert, außer dem einen, Graef, der Vater zugleich war.“ (GR2, S.95) Zuvor, am 10.Februar 1917, hatte er bereits gegenüber Graef Todesängste geäußert: „Es liegen unendliche Aufgaben vor uns, ich werde ja leider nicht mehr viel mitmachen, denn alles halte ich aus nur das systematische Totmachen nicht, das jetzt in Mode ist und dem ich wohl zum Opfer fallen werde ob ich will oder nicht. ... Meine Arbeit gebe ich, was davon ist, in Deine Hände und gehe dann wenigstens als anständiger Mensch.“ bei GO, S.25
[54]Er war auf der Stafelalp in Begleitung der „protestantisch preußischen“ (Kirchner an van de Velde KIR, S.82) Krankenschwester Hedwig gewesen, zu der er weiter an van de Velde am 14.Juli 1917 meinte: „Die gute Schwester sorgt wohl für den Leib, aber seelisch ist sie so ganz ganz anders und die Gefahr der Versimpelung liegt nahe.“ KIR, SS.69-70
[55]Van de Velde beschrieb später seine erste Begegnung mit Kirchner: „Im Gedenken an den Jenenser Kunsthistoriker Botho Graef suchte ich Ernst Ludwig Kirchner in Davos auf, ein wahres Opfer des Krieges; der höllische Wahn, in die Schlacht zurückgeschickt zu werden, hatte ihn verwirrt und hilflos auf das armselige Bett eines drittklassigen Hotels geworfen. ... In Davos fand ich einen abgemagerten Menschen mit stechendem, fiebrigem Blick, der den nahen Tod vor Augen sah. Er schien entsetzt, mich an seinem Bett zu sehen, seine Arme presste er konvulsiv an die Brust. Unter seinem Hemd verbarg er seinen Pass wie einen Talisman, der ihn mitsamt der schweizerischen Aufenthaltsbewilligung vor dem Griff imaginärer Feinde bewahren konnte, die ihn den deutschen Behörden ausliefern wollten. ... Im Laufe mehrerer Tage gewann ich langsam sein Vertrauen und fragte dann bei meinen Freunden Binswanger in Kreuzlingen an, ob sie bereit seien, Kirchner in ihr Sanatorium aufzunehmen“ van de Velde, Henry: Geschichte meines Lebens, München 1962
Dieser Auszug bei: SCHOOP, SS.14-15
Kirchner selbst „war tief beeindruckt, dass sich der berühmte und richtungsweisende Gestalter und Architekt persönlich um sein Schicksal kümmerte: er dankte schon tags darauf für den freundlichen Besuch überschwenglich und war entschlossen, auf die Alp zu fahren, bei Binswanger in Kur zu gehen, und nachher wollte er <<in der Welt und für die Menschen verbleiben. Die hohen Berge werden mir helfen, Sie (van de Velde) besser zu empfangen.>>“ SCHOOP, S.15
[56]Dessen erste Diagnose Kirchners, die sich später als falsch herausstellen sollte, war: „Syringomyelie, d. h. Lähmungserscheinungen, Mißempfindungen, konstante Gefühllosigkeit an Händen und Füssen vom Rückenmark ausgehend, aufgrund einer embryonal angelegten Fehlentwicklung des Rückenmarkes:“ KOR1, S.104
[57]Ludwig(II) Binswanger (1881-1966) absolvierte „sein medizinisches Grundstudium in Lausanne, Heidelberg und Zürich, wo er ein Fachstudium in Psychiatrie bei Eugen Bleuler und Carl Gustav Jung anfügte. Mit seinem Doktorvater Jung reiste er im Februar 1907 nach Wien zu Sigmund Freud, mit dem ihn später ein über Jahrzehnte dauerndes Verhältnis der kollegialen Zusammenarbeit und Freundschaft verband.“ SCHOOP, S.24
Freud besuchte das Sanatorium in Kreuzlingen sogar persönlich an Pfingsten 1912. SCHOOP, S.26
[58] „Seine Interessen lagen vorerst in der Anwendung der psychoanalytischen Behandlungsmethoden nach Freud, die er schon in Jena, intensiver in Kreuzlingen einzusetzen versuchte. Schon in den ersten Jahren als Chefarzt des <<Bellevue>> [also der Zeit von Kirchners dortigem stationärem Aufenthalt] reifte sein Entschluss, <<Sigmund Freuds Einfluss auf die klinische Psychiatrie>> darzustellen.“ (SCHOOP, S.27) Hieraus entwickelte er dann „eine neue Form der psychotherapeutischen Behandlung, die >>Daseinsanalyse<<, die ihm Weltruf brachte.“ GAB2, S.190
[59] „Der Arzt forderte ihn zur Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Schweizer Kunst auf, mit dem umstrittenen Hodler besonders, vermittelte ihm Kunstbücher und leitete die Gespräche immer wieder auf künftige Aufgaben des Künstlers.“ (SCHOOP, S.28) Schon nach einem Monat berichtete Kirchner, er habe „rasende Lust zum Arbeiten.“(SCHOOP, S.29) Erna, die ihn alsbald besuchte beschrieb seinen Zustand: „Er hat erstmals in den Ärzten des Hauses und auch in seiner persönlichen Pflege Menschen gefunden, die ihn in jeder Hinsicht fördern und seiner Eigenart entsprechend behandeln.“ (SCHOOP, SS.29-30) „Belebend wirkte auf ihn die Begegnung mit anderen Menschen im <<Bellevue>>, die ganze Familie Binswanger schien sich um ihn zu kümmern, <<zwei Malerinnen: eine sehr intelligente Elsässerin und eine Cousine von Dr. Mayer mit grossen künstlerischen Instinkten>> waren da...“(SCHOOP, S.30) „Stimulierend wirkten die Besuche, mit denen sich lebhafte Diskussionen führen liessen. Die Begegnungen spornten an, beglückten den Künstler, der sich gegen die Winterkälte schützte, indem er sich mit Kunstbüchern ins Bett legte. Seinen grossen Förderern Botho Graef und Henry van de Velde war Kirchner rührend anhänglich: Über seinem Bett im Parkhaus hingen ihre Portraits.“ SCHOOP, S.32
[60] „Frau Dr.Binswanger ... erlebte den stimmungsbedingten Wechsel mit, Hoch und Tief, gute Tage und Tage der Depressionen, in denen es auch mit der Arbeit nicht vorwärtsging. So ist in den einen Berichten von interessanten Gesprächen die Rede, in andern wird ein düsteres Bild der Stimmung des Malers gegeben, so etwa von Julius Schaxel, der schreibt, krankhaftes Misstrauen, Andeutungen von Wahnvorstellungen seien zu beobachten, aber daneben arbeite Kirchner mit Energie und zeigte sich zu überraschenden Leistungen fähig.“ SCHOOP, S.32
[61]Helene Spengler beschreibt diesen kurzen Aufenthalt an Eberhard Grisebach am 1.Februar 1917: „Kirchner reist zurück, er dachte sich, Davos liege im Süden unter Palmen! Wirklich, Er will gar nicht aufstehen, außer, wenn er zu mir ins Eßzimmer kommt. Er hat Verfolgungswahn und meint, in der Pension werde er bestohlen etc. etc. Er kam in eine seit 20 Jahren nicht erlebte Kälte und ist außer sich darüber, er könne schon den Berliner Winter nicht ertragen, er wolle zum Ofen in sein Atelier. ... [Kirchner] sagt, er selbst sei schon von Kind an krank gewesen und schwächlich. Er ist eine Jammergestalt, die man nur bedauern kann. Dazwischen redet er so interessant, daß es einem doppelt leid tut um ihn...“ GR2, S.61
[62]Beschreibung der ersten Begegnung Nele van de Veldes mit Kirchner im Februar 1918. KIR, SS.5-6
[63]So führt er in einem Brief an Helene Spengler vom 20.Januar 1919 aus: „...die Menschen sind halb verrückt dort [in Berlin]. Unter Maschinengewehrfeuer und Einbrüchen werden Feste gefeiert und getanzt. ... Wie unendlich froh bin ich doch, hier zu sein und nur die letzten Spritzer der Wogen des äusseren Lebens zu bekommen durch die Post.“ Auszug bei GO, S.121
[64]Dies begonnen am „5.Juli 1919“. KOR1, S.148; s. auch Anm.109
[65]Erstmals im zweiten Buch des Jahres 1920 des „GENIUS“ (KOR1, S.167). „Das Geheimnis seiner eigenen Autorschaft lüftete Kirchner Zeit seines Lebens nicht:“ (KOR1, S.168)
Wie es zu dieser Kreation kam, beschreibt Whitford so: „Jedem Kunstkritiker und Kunsthistoriker mißtrauisch gegenüber, wußte er [Kirchner] aber natürlich, daß man diese >Spezies< zum Aufbau des Rufes brauchte, schuf er sich einen eigenen Hauskritiker, einen gewissen Louis de Marsalle, der selbstverständlich Kirchners eigene Bewertung vollkommen vertrat. Es ist aufschlußreich, daß der Doppelgänger einen französischen Namen trägt: Kirchners Bedeutung wird von einem Bürger des Landes anerkannt, in dem die Moderne Kunst auf die Welt kam, des Landes, von dem gesagt wurde, es habe Kirchners Kunst so stark beeinflußt. ... Obwohl vielen völlig klar war, daß de Marsalle eine Erfindung war, hielt Kirchner stets daran fest, de Marsalle sei ein tatsächlich existierender Mensch. Auch Will Grohmann gegenüber versuchte er den Schein aufrechtzuerhalten, indem er erklärte, er könne den Kritiker nie erreichen, er lebe in Nordafrika, käme selten nach Deutschland und wechselte täglich seinen Wohnsitz.“ (in GRM, S.38) Buchheim hierzu : „Die seltsame Abartigkeit, die in solchen hinter einem Pseudonym versteckten Eigenanalysen liegt, kann nur mit der besonderen, ans Krankhafte grenzenden Psyche Kirchners erklärt werden. Bezeichnenderweise hat er, als er zur Berner Ausstellung seiner Werke vom März bis April 1933 das Vorwort schrieb und sich wieder hinter dem üblichen Pseudonym versteckte, hinter den Namen >>de Marsalle<< ein Kreuz setzen lassen. Danach erschienen keine mit >>de Marsalle<< gezeichneten Aufsätze mehr.“ BUCH, S.168
Geradezu grotesk auch, wenn er in seinem Tagebuch selbst über de Marsalle als eigenständige Person schreibt: „Die neue, meine Hieroglyphe z.B., die Liebermann so schon aus de Marsalles Aufsatz abschrieb.“ Tagebucheintrag des 1.September 1925. GR1, S.88
[66]Ziel der Vordatierungen war die Leugnung jeglichen Einflusses durch andere Künstler, so wohl beispielsweise auch bei einer „kauernden Frauenfigur, wohl um 1910-12 entstanden, von Kirchner auf dem Originalphoto aber handschriftlich auf 1900 vordatiert“(GRM,S.24), also vor seinem Zusammentreffen mit den Brückekünstlern und vor seiner Auseinanderstezung mit der Stammeskunst. Whitford hierzu: „Er [Kirchner] behauptete immer, seine Arbeiten seien nie von einem anderen Künstler beeinflußt worden, obwohl sein Werk eine Fülle von Gegenbeweisen bereit hält.“ GRM,S.38
Heckel berichtete später rückblickend: „Ich sehe einem Bild von Kirchner sofort an, wenn es vordatiert ist - drei oder zehn Jahre später gemalt. Weil er ja als der gelten wollte, der uns allen das Malen beigebracht hat. Aber ich kann das dann doch nicht sagen!“ (SPIE, S.77 ) Hierzu ist anzufügen, daß „Heckel ... unter den Künstlern der >Brücke< ohne Zweifel derjenige [war], der sich besonders um Objektivität des Urteils bemühte. Er versuchte von sich abzusehen, so vehement die Weltsicht des jungen Künstlers auch war.“ Soweit zumindest Spielmann in SPIE, S.161
Kirchner war mit seinem Urteil über Heckel zumindest in seinem Tagebuch weniger wohlwollend. So schrieb er am 12. Juli 1919: „Der beschissene Heckel wühlt wieder mal. Ich bin fern und muß lächeln. Dieser schwarze Mensch soll nicht mehr in meinen Gesichtskreis treten.“ GR1, S.46
Eine erste Vordatierung ist schon 1910 im Katalog der Galerie Arnold aufzufinden, wo es heißt:
„1903 [sic!] schloß sich >Brücke< zu einer Vereinigung zusammen.“ vollständig in GRM, SS.56-57
Interessant in diesem Zusammenhang auch Kirchners Reaktion auf die Versuche von Museen, die korrekten Datierungen anzuführen, beispielsweise in seinem Tagebuch am 3.März 1926: „Nein, es [hört] wirklich auf, die Leute stehlen wirklich gemein, und immer meine Jahreszahlen zu spät datiert, es ist unerhört. Was bezwecken die Leute damit? Mich kriegen sie mit diesem Beschiß doch nicht tot so ... Es ist wirklich eine Schweinerei, ich arbeite und erfinde Neues und verkaufe nichts, und die Nachtreter machen gutes Geschäft mit meinen Sachen, die sie stehlen.“ (GR1, S.139) Am 26.November des selben Jahres fordert er daraus die Konsequenz: „Auszumerzen sind auch vor allem die Abgucker und Copisten...“ GR1, S.132, s.auch Anm.40
[67]So verweigerte er die Reproduktion seiner Bilder in Carl Einsteins Band „Die Kunst des 20. Jahrhunderts“ der Propyläen Kunstgeschichte von 1922, da dieser nicht seine Zensurvorgaben akzeptierte, so daß Einstein in dem Band folgende Anmerkung einfügen ließ: „Die Wiedergabe von Werken Kirchners ist leider nicht möglich, da die Genehmigung des Künstlers nur unter der jedes freie Urteil unterbindenden Bedingung zu erlangen war, dass ihm der Text zur Zensur vorgelegt werde:“ (KOR1, S.192) Zur Entstehung von Grohmanns Buch „Zeichnungen von Ernst Ludwig Kirchner“ von 1924 berichtet Kornfeld: „Auch Grohmann wird die Zusammenarbeit nicht leicht gemacht. In Dutzenden von Briefen greift Kirchner immer wieder in die Geschehnisse ein und überwacht und beeinflußt das Entstehen des Buches bis in alle Einzelheiten.“ (KOR1, S.219)
Gleichzeitig fordert er in einem Brief vom 15.Februar 1924 an Grohmann dann: „Es ist selbstverständlich, daß es vollkommen unter uns bliebe, daß wir den Text des Arnold Buches zusammen arbeiteten, ich bin kein Schulmeister.“ GR1, S.213
Ein weiterer Weg, seine eigene Bedeutung zu mehren, bestand in einer anonymen Stiftung eigener Werke an Museen. Bsp bei GE, S.12
[68]So beispielsweise in seinem Tagebuch im Eintrag des 17.01.1923: „Klee umgeht die Schwierigkeiten, Marc ist überhaupt undiskutabel. Kitsch à la Kandinsky. Wie wenig müssen die Herren Kunsthistoriker sehen und fühlen, dass sie solches überhaupt ansehen können. Es ist trübselig, wenn man daran denkt. Klee geht auf die Form der Urmenschen zurück, Kandinsky macht Malerei im Sinne der absoluten Musik. Schön gewiss, aber sehr beschränkt, er vergisst das Volkslied, die Oper.“ KOR1, S.194
[69]So schrieb er über sich selbst in der dritten Person in sein Tagebuch: „Ihm verdanken wir es, daß Kirchner eine neue selbständige Form entwickeln konnte, die auch im Auslande als neu und originell anerkannt wird und zum ersten Male wieder einen deutschen Maler in die Reihe technischer Pioniere der Kunst stellt.“ (GRM, S.39) Oder an anderer Stelle: „Es giebt nur ganz wenige deutsche Künstler, die Pfadfinder in der Gestaltung gewesen sind, seit Dürer fast keiner.“ebd.
An Hagemann schreibt er 1937 über eines seiner Straßenbilder [Gordon 363]: „Gerade dies Bild wäre interessant einmal neben einem Dürerschen zu sehen. Ich glaube wohl, dass es sich hielte.“ (GRM, S.68) In gleichem Stil bescheinigt er als L. de Marsalle seinen Radierungen eine Qualität, „wie sie sonst nur den besten Graphiken Dürers und Rembrandts eigen ist.“ (vollständig bei GRM, S.81)
Zeitweilig geht er noch weiter, wenn er sich bescheinigt, daß sein „Stehender Akt mit Hut [Gordon 163] „das reinste Bild eines Weibes ist, gegen das die Cranachsche Venus eine alte Vose ist.“ Tagebucheintrag Kirchners, der bei Grisebach als „weiße Stelle“ gestrichen wurde. GALL, S.38; s.Anm.109
[70]Ziel dieser Theoretisierung war die Höherbewertung seiner Kunst im Rahmen eines Kunstverständnisses, „das man etwa so umschreiben könnte: ein Künstler, hinter dessen Kunst eine Theorie steht, nimmt einen höheren Rang ein als ein Künstler, der ohne Theorie schafft.“ GRM, S.34
Hierin bestand auch eine Kehrtwende gegenüber der theoriefreien Malerei der Brücke: „Die Maler der >>Brücke<< hielten nichts von Theorien. Vielleicht war es ihr Suchen nach neuen Wegen, das sie gegen Theorien skeptisch bleiben ließ.“ SPIE, S.10
[71]In diesem Sinne recht deutlich Grisebach: „Seine theoretischen Partien sind voller Enttäuschungen für den, der das historisch Bedeutsame sucht.“ GR1, S.10
[72]Beispielsweise schreibt Helene Spengler hierzu am 15. Mai 1919 an Lotte Grisebach von „heftigem Ampullenkrakehl.“ (KOR1, S.166) Auch durchzieht dieses Thema immer wieder den Briefwechsel Kirchners an Helene Spengler, s. bspw. GR2, SS. 94,99,112,119,125 und Aufstellung bei GR3, SS.154, 156
[73]Hinweise darauf wiederholt in den Briefen an Helene Spengler, so bei GR2, SS.107, 119
[74]Hinzu kamen Tanzabende bei ihm zu Hause, bei denen „Kirchners Grammophon eine Sensation war.“ GAB2, S.220
[75]Abgedruckt in (KOR1, S.178) Kirchner selbst schrieb an Grisebach am 24.Februar 1921: „Ich fühle den Verlust stark, trotzdem wir uns wenig kannten. Der Vater ist wohl der einzige Mensch, der es ganz selbstlos mit einem meint.“ GRM, S.83
Gabler dazu: „Die Entfremdung zwischen ihnen war so groß geworden, daß Kirchner nicht zur Beerdigung fuhr.“ (GAB2, S.16) Hierbei bleibt aber zu berücksichtigen, daß Kirchner Beerdigungen grundsätzlich ablehnend gegenüberstand. s.S.24
[76]So berichtet Helene Spengler Eberhard Grisebach am 14. Mai 1921: „Kirchner war 3 Tage in Zürich, er kam heute zurück, strahlend, weil er eine Tänzerin gefunden hat, die ihm tausend Ideen für Bilder gab. Frau Kirchner war gerade hier, als er kam und war minder begeistert über den Fund. ... Er hätte sie gerne als Gast, aber noch ist seine Suleika völlig abgeneigt.“ KOR1, S.181
[77]Tagebucheintrag vom 11.Juli 1919 aus: GR1, S.46
[78]Tagebucheintrag vom 18.Juli 1919 aus: GR1, S.50
[79]Tagebucheintrag vom 14.Oktober 1919 aus: GR1, S.66
[80]Tagebucheintrag vom 20.Oktober 1919 aus: GR1, S.61, s. auch Anm.44
[81]Tagebucheintrag vom 7.September 1925 aus: GR1, S.93
[82]Der gesamte Brief bei GR1, SS. 229-230
[83]s.bspw.Anm.104
[84] „Im Brief vom 26. April nach Jena schildert Helene Spengler die letzte Auseinandersetzung: ...Also mit Kirchner war der Schlussakt so. Er kam war ganz nett und freundlich, beim Aufstehen fragte er nach der Krankengeschichte, die ich seit drei Wochen ohne Erfolg suche. Ich sagte ihm dieses zu meinem Bedauern, da antwortet er, wir (Grisebach und ich) hätten in der Zeit sie unfindbar machen können, jetzt sei nichts mehr zu finden, natürlich, jetzt sei viel Zeit darüber hingegangen. Jetzt sei kein Arzt mehr im Hause, jetzt gehöre auch die Krankengeschichte nicht mehr hierher. Ich verlor vollkommen die Ruhe und sagte ihm glatt heraus, ich bedauerte, ihn je gesehen zu haben, ich bedauerte die 6 Jahre, da er mir jetzt nur Skandal wegen der lumpigen Abschrift der Binswangerschen Krankengeschichte eintrage. Das sei doch entsetzlich und Papa habe auf die falsche Diagnose nach seiner Gesundung wohl keinen Wert mehr gelegt und sie verlegt oder vernichtet. Diese Krankengeschichte sei als Nicht-Lungenfall nirgends eingetragen und daher auch nicht unter den 11000 Lungenfällen eingereiht. Kirchner antwortete, er mache mir keinen Skandal, ich kennte ihn überhaupt nicht, das hätten ihm die Briefe klar gezeigt. Damit ging er blass mit gekniffenen Lippen fort, wohl zum letzten Mal durch die Tür der Fontana, denn die gewechselten Worte können wir nicht mehr ungeschehen machen.“ (KOR1, SS. 197-198)
Kirchner seinerseits schreibt an Grisebach am 04. Mai: „Sie werden wohl gehört haben, daß meine Krankengeschichte aus der Fontana verschwunden ist. Ein Herr, mit dem ich darüber sprach, sprach die Vermutung aus, dass Sie sie vielleicht mitgenommen hätten, um sie zu Studien für ihr Buch zu verwenden. Ist dies der Fall, so bitte ich Sie, dieselbe sofort an mich zu senden. Das Arztgeheimnis hindert ja die Veröffentlichung solcher Papiere. Ausserdem wünsche ich nicht, dass diese an sich falschen Diagnosen bekannt werden. Als ich Frau Doktor in höflicher Weise um die Papiere bat, wurde sie so erregt und beleidigte mich so schwer, dass ich zu meinem Bedauern nicht mehr zu ihr gehen kann. Sie nannte mich unter anderem einen Kriecher, der nur wegen des Namens ihres Mannes in ihr Haus gekommen wäre. Obwohl mich ein solcher Vorwurf nicht trifft, müsste ich doch keine Ehre im Leibe haben, wenn ich noch weiter in einem Hause verkehren würde, wo man so über mich denkt. Da ich Ihnen nicht zumuten möchte, gewissermassen zwischen zwei Feuern zu stehen, so sehe ich natürlich ein, dass diese Sache natürlich auch das Ende unseres Verkehrs bedeutet. Es tut mir das gewiss sehr leid und bitte ich Sie, ohne Groll mir ein gutes Andenken zu bewahren. Ich wünsche Ihnen für Ihre Ziele und Ihr Leben alles Gute. Ich werde stets mit Anerkennung an die Zeit unserer Bekanntschaft zurückdenken.“ (KOR1, S.198)
In seinem Tagebuch vermerkt Kirchner am 20. April 1923: „Schon ist die Rache der Frau Spengler da. Die Krankengeschichte von Edel, Kohnstamm, Binswanger ist angeblich nicht zu finden. Vermutlich hat sie Grisebach gestohlen für sein Werk über mich. Es ist recht fatal. Was tun? Diese Geschichte in falschen Händen macht mich wehrlos. Die falschen Diagnosen darin können gegen mich ausgenutzt werden und zu meiner Entmündigung führen. Oh wie recht hatte ich in meinem Mißtrauen gegen diese Frau und Doktor Grisebach!“ GR1, SS.78-79
[85]Reisetagebucheintrag vom 30.Dezember 1925 aus GR1, SS.112-113; Kirchner ergänzt: „Mit Mutter geht es überraschend gut. Sie ist sehr nett und bemüht sich, keinen Streit aufkommen zu lassen.“ Anfang Januar 1926 aus GR1, S.114
[86]Hierzu Grisebach: “Kirchners begeisterte Reaktion auf diesen Auftrag zeigt, wie sehr er einer künstlerischen Wertordnung anhing, die letztlich aus der Kunsttheorie der Renaissace stammt und in der immer noch eine Hierarchie der künstlerischen Gattungen mit höheren und niederen Stufen galt. Die höchste Stufe in dieser Wertordnung hatte die monumentale Malerei, die Wandmalerei. Einer solchen Wertordnung entsprechend sah Kirchner in dem Essener Auftrag die Krönung seines Werkes.“ (GRM, S.35) Zu dieser Wertordnung „gehörte auch, daß er sich ausdrücklich als Figurenmaler verstand. Zwar malte er immer auch Landschaften und sogar Stilleben - die nach der traditionellen Wertordnung der Bildgattungen zu den minderwertigen Genres gehörten - aber das Figurenbild stand immer im Mittelpunkt seines Denkens. So wie für die Malerei seit der Renaissance das biblische oder mythologische Historienbild die höchste Gattung der Kunst darstellte - weil es das höchste Maß an Bildung und intellektueller Vorarbeit erforderte -.“ Grisebach in SPIE, S.63
[87]Kirchner am 31.7.1931 an Hagemann. FRO, S.85
[88]Hierauf bemerkte er am 24.6.1934 an Hagemann: „Es ist mir immer traurig, daß die Ungunst der Zeit meine eigentliche Begabung zur Wandmalerei ungenutzt liegen läßt. Ich sehe fast mit Neid, wie meine gleichaltrigen Kollegen hier Wände über Wände bekommen und ausführen, während ich immer nur große Tafelbilder als Ersatz malen kann.“ FRO, S.94
[89]s.Anm.79
[90]So am 17. April 1928 in seinem Tagebuch: „Heute freudiges Ereignis, das Brückeleutebild an die Nationalgalerie Berlin verkauft. Nicht gehandelt. Die erste anständige Tat Justis. A la bonheur. Oder steckt auch da was dahinter, vielleicht wollen sie das Bild zerstören...“ GR1, S.162
[91]Warum mir das alles von anderen angetan wird, warum so gehässig meine Kunst verfolgt wird und ich immer unten gehalten werde, warum meine Worte verdreht werden und meine Taten verleumdet, ich weiß es nicht. Warum habe ich es so schwer, mit den Menschen in Frieden zu leben, wo ich doch nur reine Ziele habe. Es muß doch an mir liegen, an meiner Art? Ich bin oft ganz hilflos vor den Intriguen, die ich oft nur ahne...“ Tagebucheintrag vom 29.November 1926, aus: GR1, S.135
[92]Tagebucheintrag vom 29.November 1926, aus: GR1, S.135
[93]Diese hatte sich in der Silvesternacht 1924/ 25 gegründet, „Scherer, Müller und Paul Camenisch sind die Initianten.“ KOR1, S.230
[94]So schrieb er über Scherer beispielsweise im März 1925 in sein Tagebuch: „Nun ist Scherer zum 4ten oder 5ten Male hier. Er fühlt sich jetzt recht sehr zu Hause. Zu sehr, und seine innere Leere kommt heraus. Er ist ein sklavischer Nachahmer meiner Arbeiten. ... Was mache ich nur? Solche Schüler will ich nicht. Ich will wohl gerne feine grosse Künstler anregen und stärken, nicht aber kleine lausige Banausen, die sich an meinem Tische vollfressen und geistig ergrapschen, was sie können, und nicht einen eigenen Gedanken haben. Nein, das ist ja Wahnsinn, so kann man keine Kunst erzeugen.“ (KOR1, S.232) Wenige Wochen später, am 15.April, in ähnlichem Ton in einem Brief an Müller, den er letztlich erfolgreich dazu drängte, Rot-Blau wieder zu verlassen (KOR1, S.235) : „Ich hätte nicht geglaubt, dass Scherer so brutal sich in den Vordergrund drängen würde und so rücksichtslos seine Freunde behandelte, trotzdem ich etwas dergleichen fürchtete ... Es scheint mir doch mehr und mehr so, als ob Scherer nach Pechstein´schem Muster Sie und Rot-Blau benutzte, um selbst bekannt zu werden.“ KOR1, S.234, s.auch Anm.311
[95]Im Nachruf auf Scherer geht er noch weiter: Durch Scherer „wäre vielleicht in deutschem Blute eine Rousseau ähnliche Künstlerpersönlichkeit entstanden; sauber und schlicht war sein Charakter und sein Verhältnis zur Kunst. ... Er war ein flammender Revolutionär, künstlerisch und menschlich mit Leidenschaft.“ vollständig in GRM, S.92
[96]Soweit seine Worte zum Tode Scherers, über den er sich zuvor noch so abweisend geäußert hatte (s.Anm.104). Zu Müllers Tod schrieb er an dessen Frau am 23.12.1926: „Ich fühle mich entsetzlich einsam und allein. Albert war der erste Mensch in meinem Leben, den ich wirklich Freund nannte und das Gefühl hatte, dass er es war ... Keiner war so nahe und treu wie er. Gerne wäre ich an seiner Stelle gegangen, denn ich wusste mein Werk bei ihm in guten Händen.“ (KOR1, SS.259-60) Wenige Monate später an Hagemann ist der Tonfall ein deutlich anderer: „Ich habe neulich bis Montag die Ausstellung Albert Müller gehängt. Ich habe dazu den ganzen Nachlass mit den Erben geordnet. Es war sehr interessant, aber auch etwas bedrückend, als ich sehen musste, dass der gute Müller doch sehr abhängig von meiner Malerei war. Es war offenbar sein Ideal, ein Werk wie das meine zu schaffen und so hat er fast von jedem meiner Arbeiten etwas in die seinen gebracht.“ (KOR1, S.266) Später schreibt er zu Müller: „Er nahm sich von meinen Formen und die Art zu arbeiten, war aber sonst eigener als Scherer. Jedenfalls sind beide ebenso wertvoll als die jetzt mit vielem Lärm angepriesenen Schüler von Picasso und Braque...“ GRM, SS.93-94
[97]KOR1, S.275
[98] „Am 23.Dez.28 starb meine liebe Mutter, nun ist das Elternhaus für immer fort und ich bald 50 Jahre alt. Wie lange noch dann gehe auch ich. Ob ich noch das große Werk machen kann? Die Ausmalung des Festsaales in Essen? Es wäre schön.“ GR1, S.178
[99]Zum Inhalt des Tagebuches faßt Grisebach einleitend zusammen: „...sichtbar wird ein Mensch in all seiner Trivialität. Kein alltäglicher Mensch, aber ein Mensch des Alltags. er ist intelligent und sensibel. Er weiß um die Geheimnisse der Kunst. Er ist der Maler Ernst Ludwig Kirchner. Aber sein Schreibstil ist kleinbürgerlich, seine Ausdrücke stammen von der Straße. Er verdächtigt Menschen, denen er eben noch wohlwollte, und er hat dabei mit Vorliebe ihre sexuellen Beziehungen im Auge. Er hat Vorurteile gegen die Juden und gegen die Sachsen. Er liebt überhaupt solche Verallgemeinerungen, die man als ein Zeichen von Halbbildung ansehen kann...“ GR1, S.20
Grisebach gibt hierzu die folgende Erklärung: „...Kirchner Kunst ist >groß<, weil Kirchner selbst an der Wirklichkeit des Alltags zerbrochen ist, weil seine Kunst nur diese und keine eingebildete und >höhere< Wirklichkeit zum Gegenstand hat. Das ist die erste Schlußfolgerung und die erste These zur Entschuldigung des befremdlichen Tagebuches. Die zweite wird sich auf die dunklen Flecken des Tagebuches beziehen müssen, von denen einige aus naheliegenden Gründen durch Streichung in weiße Flecken verwandelt werden mußten, wenn Kirchner in allzu entstellender und kränkender Weise über andere Menschen spricht.“ GR1, S.39
[100]In einem Brief an Hagemann am 23.Oktober 1929. KOR1, SS.274-275
[101]Henze zitiert aus einem Brief Kirchners an Hagemann von 1932, in dem Kirchner „zum erstenmal ratlose Angst vor den Jahren, die er auf sich zukommen sieht [habe]: >>Ich weiß nicht wohin, wenn wir hier wegziehen. Wohin? Unsereins sollte früh sterben, denn man gehört nirgends hin.“ HEKU, S.15
[102]Gesamter Text wiedergegeben bei KOR1, SS.276-277. Es sei noch erwähnt, daß er explizit forderte, „diejenigen Arbeiten, die Kirchner dafür bezeichnet hat, zu vernichten, ohne sie anderen gezeigt zu haben. [Zusatz:] Schon selbst getan, also erledigt.“ KOR1, S.277
[103]So berichtet er Hagemann am 14.Februar 1929, er habe gerade den Ulysses von Joyce gelesen und wenige Tage später schreibt er an Knoblauch über >Im Westen nichts Neues< von Remarque, in dem eine Kriegserfahrung aus dem Ersten Weltkrieg dargestellt wird und das er in zwei Tagen durchgelesen hat: „Am tiefsten treffend aber immer wieder dieser Schrei des innerlich zerstörten Menschen, der in der ersten Pubertät in diesen Wahnsinn geworfen wurde und auf der einen Seite über 10 Lebensalter hinaus entwickelt wurde, auf der anderen Seite ein Kind blieb ... Dieses Gefühl des absoluten Alleinstehens ist auch mein täglicher Begleiter. Und wenn die Menschen im allgemeinen auch heute freundlich zu mir sind, so ist doch eine Wand zwischen mir und ihnen, durchsichtig und doch fest, und wenn ich diese kleinliche Einstellung zum Leben merke, so lache ich wohl, aber innerlich habe ich doch einen Schreck und frage mich, wo ich denn stehe. ... Allerdings habe ich in den unteren sog. Kleinen mehr Menschtum und Liebe gefunden als bei den sog. Höheren und weniger Vorurteile und falsche Moral. In der größten Not haben mir Arbeiterinnen und Arbeiter geholfen. Ich habe unter den Bürgermädchen vergeblich nach dem Kameraden gesucht, der mein Leben mit mir teilte...“ GRM, S.96
[104]So wurde Erna trotz fehlender Heirat in der Regel bezeichnet. Über sie beispielsweise an Elfriede Knoblauch am 10. März 1929: „...Ich glaube wohl, dass sie zuerst auf die Menschen keinen besonderen Eindruck macht und dass viele sie überhaupt nicht mögen. Mir ist das gleich. Ich lebe nun schon 17 Jahre mit ihr und ich glaube, dass keine andere Frau bei mir in diesen Jahren ausgehalten hätte. Sie tat es selbstverständlich ohne Garantien oder Vorbehalte. Ich vergesse nie die rührende Hingebung, ... als ich das erste Mal ihren Körper sehen wollte, um zu zeichnen...“ (GRM, S.96) Am 27.März dann weiter: „...Wenn zwei Menschen für das Leben zusammen gehen, so schliessen sie eine Vereinigung zur Erreichung eines Zieles. Das Ziel bei uns ist und war, in der Malerei und Plastik die grösste und höchste Stelle zu erreichen...“(ebd.) Es dürfte ins Auge fallen, daß es offensichtlich sein Ziel ist, dem Erna sich unterordnet. Er fährt fort: „Es kommt nicht darauf an, wer von beiden den Pinsel führt, ebenso wenig, wer den äusseren Lebensgang mit Essen und Trinken regelt. Das tut der, der dazu am besten von beiden geeignet ist, denn alle Arbeiten, seien sie der Kalbsbraten zu Mittag oder die Wahl der Farbe eines Gegenstandes im Bilde, sind gleich wichtig und wertvoll und müssen daher alle mit derselben Liebe getan werden. Der Sinn der Vereinigung überhaupt ist doch der, dass wohl 2 Menschen ihre Kräfte geben, aber ein Wille da ist zur Erreichung eines Zieles. Wozu sonst sich vereinigen? Etwa um die Phase des Sexualrausches legitim zu durchlaufen oder legitime Kinder zu zeugen? Das sind heute keine genügenden Gründe mehr für die Vereinigung und auch bei uns waren sie nie ausschlaggebend ... [Erna] hat manchmal ein wenig die tragische Art, ich habe die andere ... Wer hat also die Bilder geschaffen, die heute in den Museen bewundert werden? Sie wohl ebensosehr als ich ... Die Menschen sagen dazu: welch schöne Aufgabe, glücklich die Frau, die dazu kommt. Aber es ist anders. Keiner ahnt, wie schwer das ist, es ist Entselbstung, Unterdrückung der eigentlichen weiblichen Eigenschaften, es ist Titanenarbeit für den Menschen, der die menschliche Natur kennt, der weiss, wie unsicher der Halt ist, der die Menschen bindet im allgemeinen ... [Sie] steht deshalb für mich an der Spitze aller Frauen, die ich im Leben achten gelernt habe...“ GRM, S.97
[105]Aus einem Brief Kirchners an Nolde vom 23,10.1929, dieser Auszug bei (KOR1, SS.279-280)
Gleichfalls äußert er bereits Vorahnungen in einem Brief an Erna vom 29.August 1930, die sich später ja weitgehend bestätigen sollten: „Hier merkt man deutlich die riesige Kapitalflucht aus Deutschland. Tausende reicher Leute kaufen sich hier ein. Man erwartet Zeiten wie im Kriege. In Deutschland soll Hitler Diktator werden. ... Es wird viel Blut fliessen in Deutschland, die Sozialdemokraten werden endgültig erledigt werden. Armes Deutschland, das Ende ist nahe, denn Hitler geht natürlich wieder gegen die Franzosen.“ bei KOR1, S.283
[106]Kirchner an Hagemann am 3.September 1931, dieser Auszug bei GAB2, S.312
[107] „In grosser Sorge schreibt Kirchner im Dezember nahezu täglich nach Berlin, aber als Erna ihm berichtet, die alten Freunde würden sich rührend um sie kümmern und sie hätte schon die Besuche von Asa Nolde und Emmy Schmidt-Rottluff gehabt, legt Kirchner sein Veto ein: <<Bitte tue mir den Gefallen, diese Brücke-Leute und die Frauen derselben abzuweisen. Durch Annahme dieser Besuche schädigst du mich und meinen Namen.“ KOR1, S.286
[108]Wiederholt liegen hierzu Angaben vor. So schrieb Kirchner am 3.April 1928 an Hagemann: „Meiner Frau vollends tut das Leben hier nicht gut. Wir haben eben eine schwere Krise nervöser Art überstanden und sie soll jetzt mal fort.“ (KOR1, S.271) Gleichermaßen am 24.September 1932 ebenfalls an Hagemann: „Wenn ich wüsste, dass Erna wirklich durch das Leben in Deutschland wieder auf die Beine käme, würde ich ihr in Berlin ein Zimmer mieten und sie dort leben lassen. Schliesslich hat sie es sich durch diese 20 Jahre verdient, mit etwas Freude am Leben den Rest des ihren zu verbringen und nicht jeden Morgen mit dem Wunsch aufzustehen zu sterben. Es ist sehr traurig jetzt auf dem Wildboden, denn an mir zehrt dieser Zustand ja auch, sie ist ein guter Mensch und sollte nicht immer nur leiden müssen...“ (GRM, S.100) Aus dem Jahre 1930 berichtet Kornfeld: „Erna, die immer wieder kränkelt, wobei auch die Psyche eine grosse Rolle spielt (bei ihrem letzten Besuch in Berlin dachte sie an eine Analyse, was aber von Kirchner vehement abgelehnt wurde), entschied sich für eine längere Kur.“ Phasenweise akzeptierte Kirchner in den Briefen an Erna - wenn diese abwesend war, stellte sich „beim Strohwitwer [dann bald] ... die Sehnsucht ein“ (so bspw. KOR1, S.271; s. auch Text S.21) - einen eigenen Anteil an ihrem Befinden: „Meine Herumrennerei in der Nacht, überhaupt mein unruhiges Wesen können einen Menschen schon anstrengen, das glaube ich wohl gern. Und eben diese plötzlichen Kollereien, die ja auch kommen, wenn Du da bist, und die Dir, wenn sie persönlich werden, so weh tun, die schaffen schon Müdigkeit. Wir wollen sehen, wie wir dagegen angehen können. Sie kommen aus dem nervösen Temperament meiner Mutter und sitzen deshalb tief drin, sie sind ja nicht bös gemeint, aber sie tragen bei anderen Menschen sicher zu dieser Stellung bei, die ich unter den Leuten habe.“ So in einem Brief an Erna vom 05.Juli 1930, Auszug bei KOR1, SS. 282-283
Obwohl er selbst 1917/18 im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen ganz offensichtlich von Binswangers psychoanalytisch geprägtem Psychiatrieansatz (s.Anm.68) profitiert hatte, setzt er alles daran Erna von einem solchen Schritt abzuhalten.So schreibt er an sie aus Davos nach Berlin am 12.März 1929: „...Auf alle Fälle mußt Du, wenn Du zu ihm gehst darauf bestehen, daß die Sache rein körperlich behandelt wird und Dich nicht ins Analytische ablenken lassen ... Was wir von Berlin brauchen, das weißt Du. Die Sicherheit, daß Dir körperlich nichts fehlt. Hast Du sie erhalten, so mußt Du sie ganz fest als Waffe gegen die Hypochondrie stellen, denn es ist nur Hypochondrie, die Dich qüält. ... Gegen die Analyse aber mache Dich zu, Du stehst heute so hoch geistig über dem Üblichen, daß da keiner so leicht herankann und Du weißt ja aus anderer Erfahrung, wie leicht die Leute das, was weiter ist als sie für abnormal halten. Wenn Du verreist bist, steht unser Leben oft klar vor mir und dann sehe ich wohl ein, daß Du bisweilen wohl recht hast, wenn Du Wärme bei mir vermißt. Es fehlt mir das sicher und das ist es, was Dir das Leben oft schwer macht. Ich kann nichts dafür, daß sie in die Bilder fließt und sich umformt so. Was ich daran besitze, das gehört Dir, die Du das Leben mit mir teilst und mehr getan hast, indem Du Dich selbst gabst, als irgendein Mann oder Weib wohl jemals für einen anderen tun kann. Du bist für mich der einzige Mensch, der mich mit dem Leben verbindet, daran denke. Wir sind uns gleich, keiner hat vor dem anderen etwas voraus, und wenn ich an unser Leben denke, bin ich stolz auf uns und doch geht es noch weiter bergauf und Du mußt stark und gesund sein für den weiteren Weg. Kein anderer wäre soweit mitgegangen und ich weiß, daß mein Fehler, meine Art, alles bestimmen zu wollen, es Dir besonderes schwer macht.“ GR1, S.237
[109]Schreiben der Preußischen Akademie am 16.Mai 1933 (KOR1, S.292). Er antwortete „schon am Tage darauf etwas ausweichend: <<Ich hatte mich nicht darum beworben , in die Akademie zu kommen, habe aber die unerwartete Berufung vor Jahren als eine Ehrung meiner Arbeit aufgefasst, die ich nicht ablehnen konnte, ohne die hochgeachtete Akademie zu beleidigen. Jetzt nach so langer Zeit zurückzutreten, erschiene mir doch etwas komisch. ... Ich bin deshalb dafür, ruhig abzuwarten, was die neue Regierung in der Frage der Akademie tun wird und lege auch diese Frage meiner Mitgliedschaft vertrauensvoll in Ihre Hände.“ ebd.
[110]Aus einem Brief an Hagemann vom 12.Mai 1933; in Auszügen bei KOR1, S.292, s. auch Anm.127
[111]Dies, obwohl er sich sogar anerboten hatte, „die Arbeit umsonst [zu] machen.“ KOR1, S.301
Zu seinem Entwurf hierzu schrieb er am 26.März 1936 in einem Brief an Hagemann: „Ich wählte Szenen aus der Apokalypse, das passt gut in unsere Zeit. Die Engel, die die Schalen mit den Plagen ausschütten, sind sie nicht die Flugzeuge mit den Gasbomben? Alle Menschen sind heute nervös und fürchten den neuen Krieg. Nie war er näher als jetzt. Schrecklich, Europa würde zu Grunde gehen daran. Ich wünsche mir, ihn nicht mehr zu erleben.“ GRM, S.103
[112]Am 27.August 1936 schrieb er an Hagemann: „So brachte der Abend des Lebens, was der Mittag nicht hielt, einen öffentlichen Auftrag.“ GAB2, S.332
[113]Diese waren zumindest seit 1929/ 30 immer wieder aufgetreten, s. diverse Briefe an Hagemann bei GRM, S.98
[114]Kornfeld schreibt über das Jahr 1936: „Der Gesundheitszustand Kirchners ist schon seit Monaten schlecht. Er klagt in verschiedenen Briefen immer wieder über Darmprobleme und die <<konstante Abmagerung>> und schreibt am 30.Oktober an Hagemann: <<... nehme ich auf Geheiss des Arztes nun Ovomaltine, die ja gut ist, aber diese schweren Schläge des Schicksals jetzt sind die Ursachen und diese können sie nicht wegbringen und das zehrt an mir.>> - Wahrscheinlich schon seit mehreren Jahren, bestimmt in den Jahren von 1935 bis 1938, nimmt Kirchner in regelmässigen Abständen <<Eudokal>>, ein Morphin-Derivat, das laut Auskunft der Fabrikationsfirma <<Merck>> in Darmstadt erstmals 1918 in den Handel geracht wurde. Bei den leeren Ampullen, die sich in recht grosser Anzahl im Keller des Kirchner-Hauses und im Sand vor dem Haus vergraben fanden, handelt es sich um die 0,02-Ampulle, die nur gegen Rezept abgegeben wurde, die aber sicherlich durch Dr.Bauer bezogen werden konnte.“ (KOR1, S. 309) In diesem Zusammenhang muß sicher auch in Betracht gezogen werden, daß die Darmbeschwerden Kirchners durch den Morphinmißbrauch hervorgerufen gewesen sein können. Die häufig geäußerte Ansicht, Kirchner habe an Darmkrebs gelitten, erscheint mir unwahrscheinlich, da diese Beschwerden schon während der ersten suizidalen Krise auftraten (s.Anm.59) und dann wieder sistierten. Ein solcher Krankheitsverlauf spricht gegen Krebs ebenso wie die Schmerzhaftigkeit. Somit hier eher die Einschätzung sekundär carcinophobischer Verarbeitung der möglicherweise morphinbedingten Darmschmerzen.
Auch in den Jahren zuvor hat er zumindest zeitweilig Beruhigungsmittel eingenommen, so 1926: „Im Herbst befallen ihn wieder größere Depressionen und Schwächezustände, wogegen er sich durch Carl Hagemann Beruhigungsmittel aus Deutschland kommen läßt.“ GRM, S.92
[115]Gordon hierzu: „Außer den anderen Ursachen seines Leidens in den letzten drei Jahren gewann für den Künstler in seiner Sorge um Bildverkäufe in einer Zeit wirtschaftlicher Depression die letzte Ausstellung seines Lebens - die erste in New York - übertriebene Bedeutung. Amerika wurde seine letzte Hoffnung...[so in] einem Brief an Hagemann vom 28.August 1937: >>Im Oktober wird nun die Ausstellung in Amerika entscheiden, ob einem das Leben weiter erlaubt ist oder man gehen muß.<< GO, S.477
[116]Kornfeld beschreibt diese Situation anschaulich: „Die Verbindungen mit Deutschland waren mehr und mehr belastet, Devisenbeschränkungen und die sich immer klarer manifestierende Ablehnung der modernen Kunst durch das Naziregime brachten die alten Verbindungen weitgehend zum Erliegen. Deutsche Museumsleute, Kirchners Kunst wohlgesinnt, waren meist schon abgelöst worden oder leisteten bestenfalls noch Rückzugsgefechte. Die starke deutsche Kolonie in Davos, unter Führung des in Davos wohnenden <<Gauleiters>> für die Schweiz, Wilhelm Gustloff, machte sich mehr und mehr recht ungeniert bemerkbar und terrorisierte die Deutschen in der Schweiz, die sich nicht mit dem neuen System identifizierten, was in einem Teil der einheimischen Bevölkerung herbe Reaktionen auslöste. Kirchner konnte sich der deutschen Kolonie weitgehend entziehen, man vermisst in diesen Jahren aber auch eine sich klar manifestierende Distanzierung vom Nazitum, was ihm bei den Einheimischen nur Sympathie eingetragen hätte. Die Davoser Obrigkeit lavierte zwischen Vertretung von Interessen der Fremdenindustrie, von der Davos stark abhängig war und hier wieder besonders von Deutschland, und Festigkeit gegen die Dreistigkeit des Gauleiters und seiner Organe. - Kein fruchtbarer Boden für den immer von Verfolgungswahn, Argwohn und Krankheiten geplagten Kirchner, dem mit seiner häufig zu Unruhe und Klagen neigenden Erna auch im Hause kein ruhender Pol beschieden war.“ (KOR1, SS.299-300)
[117]In seinem Antwortschreiben hierauf gibt er die folgende Stellungnahme: „Ich lebe seit 20 Jahren im Ausland und infolge von Krankheit in sehr grosser Einsamkeit. Ich bin nicht orientiert über die künstlerischen Vorgänge in Berlin. Ich will gewiss niemand im Wege sein oder Aufsehen erregen. Wenn mein Name in der Akademie lästig ist, so streichen Sie ihn. Ich würde mir arrogant und albern vorkommen, wollte ich von mir aus austreten aus dieser ehrenwerten, grossen Institution, der schon mein Grossvater angehörte. Als gesunder Mensch würde ich so gerne mithelfen am Aufbau einer neuen deutschen Kunst. Ich habe ja mein ganzes Leben hindurch daran gearbeitet und bin oft genug gerade dafür angefeindet worden. Meine Arbeit ist und war immer nur von dem reinen Willen getrieben, etwas Wirkliches in der Kunst zu leisten, auf unseren alten Meistern aufbauend. Ich habe nie einer politischen Partei angehört. Meine Arbeit kommt aus dem menschlichen Empfinden. Manchen jungen interessiert sie und ich gedachte sie bei meinem Tode meiner Heimat zu schenken, um so unserem Volk zu dienen. Mit deutschem Gruss Ihr ergebener E.L.Kirchner“ KOR1, S.314
[118]Damit nahm er der Anzahl der Bilder nach nach Nolde und Heckel den dritten Rang ein. s.KOR1, S.313
In diesem Zusammenhang „berichtete Lise Gujer, Kirchner habe Erna zu überreden versucht, mit ihm von der Brücke bei Wiesen in den Tod zu springen, nachdem 1937 die Ausstellung >>Entartete Kunst<< für ihn die Vernichtung seines Lebenswerks bedeutete.“ GAB2, S.338
[119] „Im Sommer stürzt sich Kirchner in die Arbeit und vollendet eine ganze Reihe schönster Berg- und Hirtenbilder.“ KOR1, S.315
[120] „Er beginnt noch einige Bilder, aber zunehmend wird er von Depressionen, schlaflosen Nächten, innerer Unruhe und einer sich immer stärker manifestierenden Darmerkrankung geplagt.“ KOR1,S.321
[121]An Hagemann am 25.5.1937: „Habe viel vor im Sommer, vielleicht ist es mein letzter? ... solange ich noch lebe ... Es muss ja mal sein und bis dahin wollen wir noch viel tun und froh sein.“ GRM, SS.103-104
[122] „Als am 13.März die Nachricht vom Anschluss Österreichs die Welt erschüttert, kommt mehr und mehr die Wahnvorstellung, dass eines Tages deutsche Soldaten auch vor seinem Haus auf dem Wildboden stehen könnten. Die das Äussere des Hauses schmückenden Skulpturen werden entfernt und zerstört.“ ebd.
[123] „Zu Kirchners 58. Geburtstag trifft nicht eine einzige Gratulation von Freunden ein, nur Erna hilft ihm über diese Enttäuschung hinweg. Das mag mit ein Beweggrund gewesen sein, Erna nun doch die Ehe zuzugestehen.“ KOR1, S.322
[124]Er schrieb im Januar 1938: „Es ist tatsächlich so wie jene Frau sagte, dass man die diffamierten Künstler rechtlos in die Welt hinausgejagt hat. Entweder er bespeit sein eigenes Land und wird damit zu einem verächtlichen Subjekt, oder er unterzieht sich dem allgemeinen Geschmack und gibt damit sein Werk, seine Lebensarbeit preis. Ein Tod so wie auch andere, ehrlos auf jeden Fall. Das ist das Resultat. Was kann ich dagegen tun? Vorläufig ruhig bleiben. Ganz ruhig und überlegen...“ KOR1, S.319
[125]Er beklagt sich im Januar 1938 bitter über ausbleibende Unterstützung: „Ich habe es nun versucht, ob man mich stützen würde. Resultat: ganz negativ. Weder die hiesigen noch meine sonstigen Freunde haben auch nur die geringsten Anstrengungen gemacht etwas zu kaufen ausser dem Doktor.“ ebd.
[126]Da es sich um eine sehr private Sichtweise seines Lebens handelt, der außerdem einen guten Vergleich zu den in diesem Kapitel zusammengefaßten Biographie ermöglicht, sei der Text hier vollständig wiedergegeben:
„In einer grossen Stadt des östlichen Reiches lebte einst ein kleiner Maler hoch oben im Dach eines grossen Hauses. Er hatte sich vorgenommen eine neue Kunstauffassung zu finden und experimentierte viel mit den Formen auf seinen Bildern. Er verdiente wenig und die Leute, die ihn kannten, lachten ein wenig über ihn und meinten, er täte wohl besser, sich aufs Geld verdienen zu verlegen, anstatt so wenig verständliche Bilder zu malen, die kein Mensch kaufte. Aber da er ein stiller Maler war, so taten sie ihm nichts und er lebte und arbeitete ruhig daheim. Nur eine Sehnsucht hatte dieser Künstler, er hätte gerne einen Lebenskameraden gehabt, der sein Leben teilte und mit ihm schaffte. Da lernte er in einer Gesellschaft ein junges Mädchen kennen, ein stilles Mädel mit geistigen Zügen trotz ihres einfachen Herkommens, und er verliebte sich in sie und sie sich in ihn. Es war eine Liebe auf den ersten Blick. Bald fanden sie sich und des Malers Atelier hatte zwei glückliche Bewohner. Sie machte Stickereien, er half ihr dabei, und da sein Name schon bekannter war, nahm sie ihn als Künstlernamen an und verkaufte ihre Arbeiten darunter. Des Malers Arbeit setzte sich langsam durch, er musste oft reisen. So empfing sie die Besucher und führte die Geschäfte und alles ging zufriedenstellend. Da brach der grosse Krieg aus. Der Maler wurde Soldat, die Frau als Soldatenfrau verwaltete das Atelier weiter. Der Maler wurde im nie geübten Militärdienst krank. Er kam in ein anderes Land zur Heilung und blieb dort, da er Land und Leute lieb gewonnen hatte und aus ihnen schaffen konnte. Bei Kriegsende kam die Frau nach. Eine grosse Dame, die den Maler unterstützte und schätzte, führte sie in das Dorf wo sie lebte, stellte sie auch Leuten vor. Nun waren sie wieder zusammen und arbeiteten zusammen und die Bilder gefielen in anderen Ländern und wurden gekauft, so dass beide friedlich unter den Bauern leben konnten und schaffen. Sie schlossen Freundschaft mit ihnen und es ging ihnen wohl. Das Leben floss hin, man half sich gegenseitig. Die jungen Leute lernten von den Malersleuten, sonntags waren oft viele da zum Tanz, zum Zeichnen, es war Leben, bescheidenes und glückliches Leben. Auch schlechte Zeiten kamen, Krankheiten wurden überwunden. Der Maler wurde bekannt geschätzt. Doch er wollte nicht fort aus diesem Leben und blieb im kleinen Häuschen und malte und die Frau half ihm getreulich. - Da kam in dem Reich, aus dem sie vor so vielen Jahren gekommen waren, ein neuer Herrscher auf, der reformierte das ganze Reich, machte es fest und stark. Er griff auch in die Kunst ein und erklärte die bisherige moderne Kunst seines Landes für schlecht und krank u.s.w. Damit traf er auch die Arbeit des Malers und beide sahen die bis anhin hohe Wertung ihrer Arbeit mit einem Federzug zerstört. Ausserdem wurden die menschlichen Qualitäten der betroffenen Künstler in gröbster Weise herabgesetzt. Beide Leutchen wussten erst gar nicht, wie ihnen geschah. Als sie es begriffen, wurden sie sehr traurig. Die Leute des Dorfes schauten auf und schüttelten die Köpfe, die wohlwollenden machten ein wenig sorgenvolle Gesichter. Es liefen allerhand Gerüchte um, aber man kannte die beiden ja seit 20 Jahren, sie hatten das Zutrauen der Leute erworben, hatten sich nichts zuschulden kommen lassen, bezahlt, ... und einen grossen Nutzen hatten sie auch gebracht, das Dorf wurde viel mehr von Cur- und Sportgästen aufgesucht, seit die beiden da waren. Man verdiente daran. Es wurde alles wieder ruhig. Die beiden lebten weiter in ihrem Häuschen, sehr arm zwar, aber ruhig. Eine Zeit lang lag der Maler krank, dann ging er wieder an seine Bilder, er malte schöner und kräftiger als zuvor. Nur war der Absatz schwierig und allmählig wurden die beiden verhärmt und dünner, die Anzüge älter und geflickter. Es ging auf den Winter zu. Das Dorf...“ „Der Text endet brüsk.“ KOR1,SS.320-321
[127] „Um den 10.Mai herum begeben sich die Kirchners zum Zivilstandesbeamten Paul Wild ins Rathaus von Davos und erklären sich bereit, die Ehe einzugehen. Kirchner legt ein Papier vor mit dem Titel <<Hergang meiner Verbindung von 1912 an>>, beschreibt, aus welchen Gründen bis anhin die Eheschließung unterblieben sei, und schliesst: <<Infolge dauernder Krankheit und Schwäche und um kein Aufsehen zu erregen, unterblieb die offic. Eheschließung bis jetzt, soll aber sobald möglich nachgeholt werden. Sie [Erna] gilt sowohl bei meinen Verwandten wie Freunden und Bekannten als meine Frau und ist meine treue Pflegerin und Mitarbeiterin seit 20 Jahren.>>“ KOR1, SS.322-323
[128] „In 3 Briefen, datiert vom 12. und 13.Juni, verlangt Kirchner plötzlich die Einstellung der Bemühungen: <<...aber es erscheint mir doch unmöglich, diese Eheschliessung auszuführen. Es tut mir unendlich leid, dass ich einen lieben guten Menschen zu etwas veranlasst habe, was bei unseren Verhältnissen undurchführbar ist. Ich bitte deshalb, die ganze Sache zu annullieren.>>“ (KOR1, S.324) Bereits 1919 hatte er sich, diesbezüglich von Helene Spengler aufgefordert, wohl um Erna die immensen Schwierigkeiten bei der Einreise in die Schweiz zu erleichtern, ablehnend geäußert: „Ich habe das Gefühl unendlichen Dankes gegenüber dieser Frau, die Pflicht, ihr nach allen meinen Kräften zu vergelten, was sie selbstlos und treu an mir tut, aber Liebe, dieses rest- und kritiklose Gefühl zweier Menschen gegeneinander, das habe ich nicht, das kann ich nicht haben. Dieses Gefühl ist in meiner Tätigkeit aufgegangen. Ich bin oft sehr unglücklich darüber, denn das Fehlen dieser seelischen Regung macht wirklich einsam. Es ist schwer, sich klar über diesen Punkt auszudrücken...“ Brief an Helene Spengler vom 16.Februar 1919 bei GRM, S.79
Ähnlich 1925 in seinem Tagebuch: „Ich schwanke oft, ob ich ihr nicht die innere Sicherheit der bürgerlichen Ehe geben soll. Aber es kann natürlich auch übel ausgehen, und die freie Bindung ist doch viel höher und schöner als die legale.“ GR1, S.95
[129]Kornfeld beschreibt den Ablauf: „Kirchner will nach einer schlaflosen Nacht seine Frau zu einem Doppelselbstmord überreden, aber Erna versucht ihm über die schwere Depression hinwegzuhelfen und möglichst schnell einen Arzt zu erreichen. Sie eilt über den Wildboden ins Bauernhaus der Rueschs, wo das nächste Telefon erreichbar ist, und ruft Dr. Bauer an, der im Sanatorium gesucht werden muss. Kirchner ist Erna gefolgt, trifft sie am Telefon während der Wartezeit, spricht in bewegten Worten auf sie ein und tritt zurück vor das Haus. Dann fallen die beiden Schüsse. Kirchner hat sich ins Herz getroffen. Erna, die Tochter Ruesch und der eben eintreffende Briefträger bemühen sich um Kirchner, aber jede Hilfe kommt zu spät.“ KOR1, S.324
„Ein unveröffentlichter Augenzeugenbericht von Kirchners Tod, den Frau B. Augustin-Rüesch am 23.April 1965 an den Verfasser [Gordon] schrieb, lautet: >>Als sechzehnjähriges Mädchen war ich allein zu Hause als Frau Kirchner ganz aufgeregt anklopfte, ob sie telephonieren konnte. Während sie noch am Telephon war, kam Herr Kirchner und sagte, sie brauche nicht mehr zu telephonieren, es sei schon zu spät, ging wieder, und kurz darauf hörten wir einen Knall. Als wir vors Haus gingen, sahen wir ihn im Hofe liegend. Ich mußte dann der Polizei anläuten, und alles nahm dann den amtlichen Verlauf.“ bei GO, S.463
Im letzten Brief an Hagemann am 30. April 1938 hatte Kirchner geschrieben: „...Wir haben in dieser Zeit erfahren, wie einsam und isoliert wir stehen und das ist gerade nicht sehr ermutigend für die Zukunft. ... Ich bin seit Wochen nicht draußen gewesen, ich weiss nicht, was das ist. ... Ich habe wohl einiges neue angefangen, kleine Bilder, ein paar Holzschnitte. Viel ist es nicht...“ bei GRM, S.104
„Vor seinem Tod zerstört er Zeichnungen, verbrennt er seine Holzstöcke [und zwar alle, wie Erna später Hagemann mitteilt, GRM, S.105], eine Reihe von Holzplastiken etc.“ GRM, S.104
Schon zuvor hatte er damit begonnen, Bilder zu übermalen, um sie vor den Nazis zu schützen.
s.HA, S.54
An verschiedene Freunde schreibt Erna später und beschreibt die letzten Wochen, so:
An Helene Spengler: „Hier hat sich seit Monaten eine Tragödie im Stillen abgespielt. Als ich damals bei Ihnen anrief, mit Kirchners Einverständnis, hoffte ich, Sie könnten mir helfen. Die Diffamierung hat ihn zerbrochen, er hat sich in den letzten Wochen grauenhaft gequält, so daß man ihm die Ruhe gönnen kann. ... Dann die Vorwürfe, die ich mir mache, seinen letzten Weg nicht mit ihm gegangen zu sein, wie er es wollte.“ KOR1, S.326
An Hagemann: „Hier hat sich in aller Stille seit Monaten eine Tragödie vollzogen. Die Diffamierung in Deutschland mit der erfolglosen November-Ausstellung in Basel ... hat ihn am 15.Juni an einem strahlend schönen Morgen dazu gebracht, seinem Leben selbst ein Ziel zu setzen. Erlassen Sie mir Einzelheiten. Er hat grausam gelitten, bis er sich zu diesem Entschluss durchgerungen hat.“ ebd.
An die Hentzens: „Ich stehe immer noch unter dem Druck des Furchtbaren, das sich hier seit vielen Monaten abspielte. Dank Kirchners Leiden waren wir in den letzten Jahren in eine so grosse Isolation geraten, dazu kam die Diffamierung, die Kirchner einfach das Leben nicht mehr ertragen liess.“ ebd.
Der mit Kirchner in den letzten Jahren befreundete englische Dichter Llewelyn Powys hat ebenfalls eine Beschreibung der Entwicklung zum Suizid hin überliefert: „...für Kirchners Freunde war es seit langem offensichtlich, daß sein Mißtrauen und sein Eigensinn, sein Stolz und seine Verzweiflung einen gefährlichen Zustand der Spannung schufen zwischen den banalen Anforderungen seines alltäglichen Lebens und den extravagenten Ansprüchen seiner menschlichen und unerbittlichen Illusionen. Als der Frühling in den Sommer überging, wurde sein Zustand gefährlicher und überspannter. Er war jetzt über alle Vernunft hinaus besessen von der Angst vor dem Wahnsinn. Nacht um Nacht lag er ohne Schlaf auf dem Feldbett in seinem kleinen Dachzimmer, das, kahl wie eine Eremitenzelle, so lange als Atelier und Schlafzimmer gedient hatte. Er begann wertvolle Zeichnungen, Holzstöcke und Papiere zu verbrennen. Nichts war vor ihm sicher, wenn er durch das Haus streifte. Als er einmal um Mitternacht in dem kleinen Wohnraum stand und seine Bücher betrachtete, hörte man ihn murmeln: >Und meine Bücher muß ich verlassen<. Jeden Tag wurde die Lage schlimmer. Er hatte immer schon Schußwaffen besessen, jetzt begann er in den Stunden der Dämmerung, sich damit zu üben, wobei er einige seiner besten Bilder als Zielscheiben benutzte. Und dann ging er eines Morgens im Juni hinaus in die Wiesen, und dort am Hang zwischen den üppigen Alpenblumen, die in seinen Bildern oft das Aussehen von Paradiesblumen erhalten hatten, schoß er sich tot. Ein Bauer hörte den Schuß und sah ihn rückwärts umfallen. Dreimal hörte er ihn aufschreien. Es war der Name seiner immer gedudigen und treuen Frau, der in diesem letzten verzweifelten Augenblick auf seinen Lippen lag. ...“ (bei GR1, SS.41-42) Es sei noch erwähnt, daß die Tatsache, „dass Kirchner auf einzelne seiner Bilder geschossen habe, ... heute von manchen Kirchner-Kennern bezweifelt wird. Unbestritten ist hingegen die Tatsache, dass Kirchner seine sämtlichen Holzstöcke und vor allem auch seinen grossen Adam und Eva-Stuhl zerschlagen und verbrannt hat. Was an Zeichnungen und persönlichen Dokumenten in dieser Zeit verloren ging, kann wohl nie mehr geklärt werden.“ KOR1, S.322