1.0 Einleitung

Ernst Ludwig Kirchner, einer der führenden Vertreter des deutschen Expressionismus, auch wenn er für sich selbst später diese Zuordnung kategorisch ablehnte[1], nahm sich am 15.06.1938 durch einen Pistolenschuß ins Herz das Leben[2].

In der folgenden Arbeit wird einerseits versucht, einen Erklärungsansatz der suizidalen Psychodynamik Kirchners zu erstellen und andererseits zu analysieren, inwieweit sich diese Psychodynamik in seinem Werk, dem immerhin nach Picasso umfangreichsten eines Künstlers des 20. Jahrhunderts, widerspiegelt.

Ein bisher von medizinischer Seite unternommener Ansatz in dieser Richtung[3] scheiterte an einer nur oberflächlichen Einbeziehung der inzwischen außerordentlich umfangreichen kunsthistorisch gewonnenen Kenntnisse zu Leben und Werk Kirchners[4], wobei auffällt, daß die Bewertung seines Werks in der Forschung gespalten ist. Entweder findet sich nahezu uneingeschränkte Bewunderung[5] oder aber eine insbesondere dem Spätwerk gegenüber ausgesprochen kritisch eingestellte Haltung[6], was in gleicher Weise auch schon für die Rezeption zu seinen Lebzeiten galt[7].

Innerhalb der kunsthistorischen Forschung, die sich mit dem Aspekt eines Einflusses der psychischen Verfassung eines Künstlers auf sein Kunstschaffen immer noch recht schwer tut, liegen ebenfalls verschiedene, zumeist in Kirchners Verhalten begründete Vermutungen zu einem Zusammenhang zwischen seiner psychischen Konstitution und seiner Kunst vor[8]. In einem ausgesprochen interessanten Ansatz wurde inzwischen versucht, aus der jeweiligen Bildstruktur direkte Rückschlüsse auf die psychische Verfassung des Künstlers zum Zeitpunkt der Bildgestaltung zu ziehen[9].

Eine Zusammenfassung der biographisch-kunsthistorischen Forschungsergebnisse unter  einer psychodynamischen Perspektive bildet mit dem Ziel, eine deskriptiv begründete These zur Psychodynamik Kirchners zu erstellen, den ersten Abschnitt dieser Arbeit.

Ausgehend von diesem Überblick wird dann im zweiten Abschnitt der Versuch unternommen, aus dieser These einen strukturellen und genetischen Verstehenszugang zu Kirchners Psychodynamik zu entwickeln, woraus nachfolgend ein Erklärungsansatz zur suizidalen Psychodynamik entwickelt wird.

Im vierten Abschnitt wird schließlich untersucht, inwieweit ein plausibler Zusammenhang zwischen den Ergebnissen der psychodynamischen Analyse und dem Werk Kirchners gefunden werden kann und ob sich hieraus möglicherweise weiterführende Verstehensansätze zu offenen Fragen des kunsthistorischen Verständnisses herausbilden lassen, ebenso wird die psychodynamische Bedeutung der Kunst im Leben Kirchners herausgearbeitet, der zumindest partiell ein exemplarischer Charakter zur Stellung von Kunst in der Psychodynamik künstlerisch tätiger Menschen zukommen dürfte.



[1]So beispielsweise explizit in einem Schreiben an Georg Schmidt vom 26.August 1924: „Nun die Fabrikmarke meiner Kunst ist E.L.Kirchner und nichts weiter. Jeder wahrhafte Freund meiner Arbeit kennt sie unter dieser Bezeichnung und es ist bis heute noch keinem eingefallen, mich Expressionist zu nennen.“ KOR1, S.223

Dies ist unkorrekt, da er beispielsweise an der Sonderbundausstellung 1912 unter dieser Einordnung teilgenommen hatte, die „einen Überblick über jene Bewegung, die man als >Expressionismus< bezeichnet hat“ (GRM, S.62) gab. Auch von Graef akzeptierte er 1914, daß dieser „die Bilder Kirchners ...[in die] große Bewegung ... die man im allgemeinen mit dem Ausdruck Expressionismus bezeichnen mag“ (GRM, S.69) zuordnete.

Schließlich hatte er 1912/13 auf die Rückseite einer Fotografie der Teilnehmer einer Ausstellung eigenhändig geschrieben: „E.L.Kirchner/ Expressionist/ Führer der neuesten Richtung“ GO, S.21

[2]KOR1, S.324; in einigen Überlieferungen ist von zwei Schüssen die Rede, s.Anm.139

[3]Der Internist und Psychiater Schretzenmayr stellte 1983 bei Kirchner die Diagnose: „manisch depressives Syndrom“, ergänzt durch den Hinweis: „Alles spricht für die endogene Form der Depression und gegen eine sogenannte psychogene Form.“ SCHRETZ, SS.17-20;

s.hierzu Anm.336 und 562

[4]Hieraus resultierte eine recht harsche Ablehnung dieses Versuchs, so z.B. durch Grisebach: „Ein in Kunstgeschichte dilettierender Mediziner hatte 1983 eine psychologisierende Interpretation ... publiziert. ... Kornfeld ... konnte inzwischen nachweisen, daß diese Interpretation aus falschem Ansatz heraus völlig in die Irre ging.“ SEE, S.18

[5]So insbesondere Gordon, der befand: „So wurde er [Kirchner] in Deutschland lange Zeit unterbewertet, anderswo (als Deutscher) fast unbeachtet gelassen ... Bei keinem anderen modernen Künstler vergleichbarer Bedeutung verzögerte sich eine kritische Untersuchung so lange.“ GO, S.7

In dieser Position deutlich kritisiert beispielsweise von Wentzel: „ELK ... selbst schuf den >Mythos Kirchner< ... Mythos und Apotheose sind geblieben, auch in Gordons Buch. Vielleicht ist das nicht verwunderlich bei einem jungen Autor (der Jahre seines Lebens nur über diesen einen Maler gearbeitet hat), daß sein >Held< nur helle, aber keine Schattenseiten hat und haben darf.“ WEN, SS.39-40

Es sei noch angefügt, daß Gordon beispielsweise die Vordatierungen Kirchners entschuldigt: „War nun diese Vordatierung von Dresdner Arbeiten in dem >>Katalog<< vom Oktober 1917 von Kirchners Seite her beabsichtigt? Im wörtlichen Sinne wohl nicht. Diese falsche Datierung war nur eines von verschiedenen Anzeichen einer seit längerem anhaltenden gestörten geistigen Verfassung.“(GO, S.26) Er schließt in der nachweislich falschen Behauptung - man denke nur an seine rückblickenden Stellungnahmen zur Brückezeit - : „...steht jedenfalls eines zugunsten Kirchners fest: er hat nie versucht, seinen eigenen Ruf in der Öffentlichkeit auf Kosten anderer zu heben.“ ebd.

[6]So etwa Grisebach: „Kirchner und seine Kunst sind historisch unergiebig: seine Kunst ist nicht so neu und epochemachend, wie er selbst zu beweisen trachtete, seine Lehre wirkt geradezu konventionell, seine Gefolgschaft scheiterte an einem Irrtum.“ (GRM, S.44) Auch einen Erklärungsversuch hierzu bietet er an: „Kirchner bediente sich dieser bildnerischen Elemente, nachdem sie sich bei anderen Künstlern entwickelt hatten, ohne daß seine eigene Kunst einen vergleichbaren Prozeß durchgemacht hätte.“ GRM, S.32

[7]Ein diesbezüglicher Überblick durch Whitford in GRM, S.40-41

[8]So meint Honisch: „Probleme sind nicht abzutrennen von ihren Verursachern, Bilder nicht von ihren Produzenten. Insofern wäre es zunächst nötig, den Menschen Kirchner in die Untersuchung seiner Bilder einzuprojizieren.“ (GRM, S.26)

Wentzel fordert als Ergänzung zu der Arbeit Gordons: „Statt dessen müßte man etwas von seiner geradezu pathologischen Eigenliebe und krankhaften Eifersucht hören, von Egoismus, Egozentrik und Irritierbarkeit, seiner Sucht nach Bestätigung, dem hektischen Getriebensein beim Arbeiten, seiner Hass-Liebe zu Munch - alles das ist für Thema und Gestaltung und Entwicklung wichtig. Man muß zwar nicht ELKs Intimsphäre erforschen (obgleich das zumindest bei ihm, und nicht nur für die Ikonographie seiner Kunst wichtig sein könnte), aber seine Ärzte haben - allerdings nur in mündlichen Äusserungen - von einem (im medizinischen Sinne) Hysteriker und Psychopathen gesprochen.“ WEN, SS. 45-46

In ähnlicher Weise Ketterer: „Bezüglich der >>Krankheit<< überlagern sich viele Faktoren und widersprechen sich die Informationen derartig, daß diese Frage durchaus offen erneut zur Diskussion zu stellen ist.“ KET2, SS.9-10

Im Gegensatz zu diesen Stellungnahmen verweigern andere Kunsthistoriker die Einbeziehung der Psyche in die Betrachtung von Kunst, da dies mit Kunstgeschichte nichts zu tun habe, wie ich mich aus Seminaren im Studium oder auch aus meiner Disputation zur kunsthistorischen Dissertation erinnern kann.

[9]Wypich in seiner Dissertation, s.WYP

Kirchner selbst verwies wiederholt indirekt auf den Zusammenhang zwischen psychischer Verfassung und seiner Arbeit, so zum Beispiel 1919: „Meine Arbeit kommt aus der Sehnsucht der Einsamkeit. Ich war immer allein, je mehr ich unter Menschen kam, fühlte ich meine Einsamkeit, ausgestoßen, trotzdem mich niemand ausstieß. Das macht tiefe Traurigkeit und diese wich durch die Arbeit und das Wollen zu verschwinden.“ Im Katalog zur Ausstellung bei Schames 1919, Auszug bei GRM, S.79