Zweites Kapitel:

Mahnung

A. Funktion der Mahnung

 

I. Einführung

Die Darstellung des Schuldnerverzuges soll damit beginnen, die Funktion der Mahnung deutlich zu machen. Die Mahnung nimmt einen entscheidenden Stellenwert im System des Schuldnerverzuges ein.[40] Der Inhalt der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Verzuges kann nämlich ohne die Interpretation der Mahnung nicht geklärt werden. Beispielsweise könnte die Fälligkeit dahin auszulegen sein, daß der Schuldner bei einer fälligen Leistung i. S. d. § 284 I BGB noch gar nicht zur Leistung verpflichtet ist, da er nach dem Gesetzeswortlaut erst nach Aufforderung des Gläubigers zu leisten hat, so daß vor dieser Aufforderung nur eine bloße Berechtigung zur Leistung bestehen könnte. Es hängt daher von der Deutung und Funktion der Mahnung ab, in welcher Weise das Kriterium der Fälligkeit zu verstehen ist. Des weiteren kommt der Mahnung eine wesentliche Bedeutung bei der Abgrenzung des Verzuges von den weiteren im Bürgerlichen Gesetzbuch kodifizierten und in der Rechtsprechung entwickelten Leistungsstörungsinstituten zu. Außerdem können die Fälle der „Entbehrlichkeit der Mahnung“ nur anhand der Mahnungsfunktion gelöst werden, da die Mahnung nur dann überflüssig ist, wenn ihre Aufgaben erfüllt sind.

 

II. Kritische Betrachtung der Aufgaben der Mahnung

 

1. Funktion der Mahnung in der heutigen Lehre

 

a) Standpunkt der Literatur und Rechtsprechung
 

In Aufsätzen und Kommentaren der neueren Zeit findet keine ausführliche Auseinandersetzung mit der Mahnungsfunktion statt.[41] Es wird als selbstverständlich angesehen, daß die Mahnung einen Schutz für den Schuldner darstelle. Die Mahnung solle dem Schuldner eine Warnung zukommen lassen, so daß dem Schuldner noch einmal eine letzte Gelegenheit zur Leistung gegeben werde.[42] Emmerich führt aus, daß durch die „Zwischenschaltung“ der Mahnung das Gesetz den Schuldner schützen wolle.[43] Durch die Mahnung solle ihm noch einmal eindringlich vor Augen geführt werden, daß er jetzt endlich leisten müsse, wenn er nicht Gefahr laufen wolle, in Verzug zu geraten und dadurch seine Position zu verschlechtern, indem er den Verzugsfolgen ausgesetzt werde.

 

Die Schuldrechtskommission will ebenfalls an dem Schutzzweck der Mahnung festhalten. In dem Abschlußbericht der Schuldrechtskommission heißt es, daß eine bloße Verzögerung der Leistung über die Fälligkeit hinaus für den Schuldner noch keine wesentlichen Rechtsnachteile erzeugen solle. Vielmehr wolle man an die Rechtstradition anknüpfen, daß solche Nachteile erst im Schuldnerverzug einträten.[44] In seinem Modellvorschlag hat Huber die Mahnung nur deswegen für erforderlich gehalten, da eine kalendermäßig nicht fixierte Fälligkeit zu bösen Überraschungen und unbilligen Härten für den Schuldner führen könnte.[45] Die Kommission übernahm zwar nicht den Modellvorschlag von Huber, hinsichtlich der Auslegung der Verzugsvoraussetzungen stimmten sie aber in der Sache überein.[46]

 

Auch in der Rechtsprechung fehlt eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Zweck der Mahnung. In den neueren Entscheidungen, die sich allerdings sämtlich auf Unterhaltsleistungen beziehen[47], wird nur ausdrücklich die Warnfunktion der Mahnung hervorgehoben.[48] 

 
b) Stellungnahme

 

Es ist verwunderlich, daß im neueren Schrifttum und auch in der Rechtsprechung eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Zweck der Mahnung nicht erfolgt, sondern nur erwähnt wird, daß die Mahnung eine Warnung darstelle, da gerade, wie eben schon angedeutet, der Funktion der Mahnung für die Fälle der „Entbehrlichkeit der Mahnung“ eine entscheidende Bedeutung zukommt.

 

Betrachtet man allerdings die gesetzliche Systematik und die Entscheidungen der Rechtsprechung zu den Anforderungen einer Mahnung, so entstehen erhebliche Zweifel, ob die Mahnung tatsächlich als Warnung interpretiert werden kann.

 

aa) gesetzliche Systematik

 

Der Schuldnerverzug gehört zu den gesetzlich geregelten Leistungsstörungen. Im allgemeinen Schuldrecht ist neben dem Schuldnerverzug noch die Unmöglichkeit als Leistungsstörungsinstitut kodifiziert. Vergleicht man die beiden Tatbestände miteinander, so ergibt sich folgende Widersprüchlichkeit:

 

Nach den Vorschriften der §§ 275 ff. BGB ist der Schuldner einem Ersatzanspruch schon ausgesetzt, wenn der Eintritt der Unmöglichkeit als objektive Pflichtverletzung dem Schuldner zuzurechnen ist. Folgt man der Auffassung der Literatur und Rechtsprechung bzgl. der Deutung der Mahnung, so wird dem Schuldner bei dem Leistungsstörungsinstitut des Schuldnerverzuges noch ein zusätzlicher Schutz durch die Tatbestandsvoraussetzung der Mahnung gewährt. Sieht man die Leistungsverzögerung bei einer fälligen Leistung –wie die Unmöglichkeit- ebenfalls als objektive Pflichtverletzung an,[49] so stellt sich die Frage, warum der Schuldner auf sein objektiv pflichtwidriges Verhalten noch besonders hingewiesen werden muß und nicht ebenfalls das Tatbestandsmerkmal des Vertretenmüssens die Interessen des Schuldners hinreichend wahrt.

 

Grundsätzlich ist für das Auslösen eines Schadensersatzanspruchs im Bürgerlichen Recht nur eine objektive Pflichtverletzung erforderlich und diese muß dem Schuldner zuzurechnen sein.[50] Zwar erwähnt die Vorschrift des § 254 II S. 1 BGB das Erfordernis einer Warnung. Hieraus kann allerdings eine allgemeine Regel nicht abgeleitet werden, da gem. § 254 II S. 1 BGB der Beschädigte den Schädiger nicht grundsätzlich warnen muß, sondern nur, wenn ein außergewöhnlich hoher Schaden zu erwarten ist.

 

Warum beim Schuldnerverzug ein anderer Maßstab zur Anwendung kommt und dem Schuldner noch eine Schonfrist zugebilligt wird, indem noch eine Warnung erforderlich sein soll, ist daher nicht ohne weiteres erklärlich. Das Argument, daß der Schuldner bei einer kalendermäßig nicht fixierten Leistung vor einem überraschenden und deswegen unbilligen Leistungsverlangen zu schützen sei,[51] ist nicht nachvollziehbar. Nach 271 I BGB hat der Schuldner die Leistung nämlich sofort zu erbringen, so daß Unsicherheiten hinsichtlich des Leistungszeitpunktes nicht entstehen können. Der Einwand, daß der Schuldner keine Kenntnis von der Verbindlichkeit oder der Leistungszeit habe, wird bei dem Kriterium des Vertretenmüssens berücksichtigt.

 

Auf den ersten Blick ist die Interpretation der Mahnung als Warnung mit der gesetzlichen Systematik im Schuldrecht nicht in Einklang zu bringen. Es drängt sich vielmehr die Tatsache  auf, daß die Mahnung doch nicht die Funktion hat, den Schuldner vor dem Eintritt der nachteiligen Folgen zu warnen.

 

bb) Weitere Widersprüche bei der Warnfunktion

 

Die weiteren Widersprüche, die sich durch die Deutung der Mahnung als Warnung ergeben, zeigen sich vor allem in der Rechtsanwendung. In der Rechtsprechung und Literatur wird einhellig die Auffassung vertreten, daß für die Mahnung eine eindeutige und bestimmte Leistungsaufforderung ausreiche, mit der der Gläubiger unzweideutig zum Ausdruck bringe, daß er die geschuldete Leistung verlange. Ein ausdrücklicher Hinweis auf die Rechtfolgen sei nicht erforderlich.[52] Sollte die Mahnung –wie in der Rechtswissenschaft vertreten wird-  tatsächlich eine Warnung darstellen, so müßte doch konsequenterweise gerade die Androhung der negativen Folgen in der Mahnung erforderlich sein, da nur dadurch der Schuldner gewarnt wird.[53]

 

Weiteren Urteile lassen Zweifel aufkommen, ob die Gerichte tatsächlich von einer Warnfunktion ausgehen. Beispielsweise wird eine Mahnung in Versen und auf einer Scherzpostkarte für zulässig gehalten.[54] Ferner wird der Abruf einer Leistung bei einem Kauf auf Abruf als Mahnung eingestuft.[55] Inwiefern diese Mahnungen eine ausdrückliche Warnung enthalten und dem Schuldner noch einmal eindringlich vor Augen führen, daß er jetzt endlich leisten müsse, bleibt zweifelhaft.

 

cc) Schlußfolgerung

 

Gegen die in der Rechtslehre unstrittig vorgenommene Deklarierung der Mahnung als Warnung lassen sich Bedenken anführen. Die Warnfunktion widerspricht der gesetzlichen Systematik. Des weiteren treten Widersprüche bei der Rechtsanwendung auf.[56] Die Gerichtsentscheidungen lassen sich mit dieser Mahnungsfunktion nicht erklären. Es sind daher ernste Zweifel vorhanden, ob die Mahnung tatsächlich als Warnung angesehen werden kann.

 

Im Gegensatz zur heutigen Rechtswissenschaft setzte man sich im gemeinen Recht und in der Rechtswissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Aufgaben der Mahnung ausführlich auseinander. Die Mahnung wurde allerdings nirgends als Warnung eingeordnet. Aus diesem Grunde ist es erstaunlich, daß die heutige Rechtswissenschaft und Rechtsprechung sich mit der historischen Interpretation der Mahnung nicht beschäftigen. Wie die Darstellung zur Historie des Schuldnerverzuges verdeutlicht, lassen sich die Verzugsvoraussetzungen aus dem römischen und gemeinen Recht ableiten. Eine Auseinandersetzung mit der damaligen Deutung der Mahnung ist daher auch für die heutige Auslegung relevant. 

 

2. Funktion der Mahnung im römischen und gemeinen Recht

 

Es werden im älteren Schrifttum unterschiedliche Meinungen hinsichtlich der Aufgaben der Mahnung deutlich.  Es bestand hinsichtlich der Frage, welchen Sinn und Zweck die Mahnung hat, keine Einigkeit. 

 

a) Ansicht von Mommsen

 

Mommsen geht davon aus, daß die interpellatio (Mahnung) eine objektive und subjektive Beziehung zur mora (Verzug) habe.[57] Er hält die interpellatio einmal für die objektive Rechtsverletzung für erforderlich. Kennzeichend für die in der mora enthaltene Rechtsverletzung sei die Nichterfüllung der Obligation in Beziehung auf die Erfüllungszeit.[58] Nach seiner Auffassung ist der Schuldner, wenn keine bestimmte Leistungszeit verabredet wurde, nicht zur sofortigen Leistung verpflichtet, da er nicht annehmen könne, daß der Gläubiger mit der augenblicklichen Erfüllung rechne. Der Gläubiger ist vielmehr nur berechtigt, die Leistung sofort zu verlangen. Die Leistungsverzögerung stelle aus diesem Grunde noch keine Rechtsverletzung dar. Die Leistungspflicht trete erst ein, wenn der Gläubiger den Schuldner zur Leistung aufgefordert habe. Die interpellatio diene daher dazu, die Leistungszeit zu bestimmen, wodurch der Schuldner außer Zweifel gesetzt werde, daß der Gläubiger nunmehr die Erfüllung erwarte.[59] Aus diesem Grunde sei es auch erforderlich, die mora als selbständiges Institut neben der culpa im römischen Recht auszugestalten. Ohne die interpellatio liege bei der Leistungsverzögerung noch keine Rechtsverletzung vor, so daß die Nichterfüllung bis dahin noch nicht objektiv rechtswidrig sei.[60]

 

Auf der anderen Seite beeinflußt die interpellatio den subjektiven Tatbestand der mora. Die interpellatio solle den Schuldner zur Erfüllung veranlassen und ihm den Einwand nehmen, daß er geglaubt habe, der Gläubiger habe mit der Erfüllung noch nicht gerechnet. Durch die interpellatio solle dem Schuldner jeder Grund für die Annahme entzogen werden, daß der Gläubiger die Erfüllung noch nicht erwartet habe.[61]

 

Mommsen hält daher die interpellatio einmal für die objektive Rechtsverletzung für erforderlich, da ohne interpellatio die Leistungsverzögerung nie den Charakter einer Rechtsverletzung einnehmen könne. Der bloße Eintritt der Fälligkeit bewirkt nach seiner Auffassung keine Leistungspflicht, so daß danach die Nichtleistung nach Fälligkeit nicht objektiv rechtswidrig sein könne. Auf der anderen Seite stelle die interpellatio ein Kriterium des Verschuldens dar, da sie dem Schuldner einen Exkulpationsgrund nehme. Obwohl der Schuldner sich grundsätzlich entlasten könne[62], werde ihm durch die Mahnung die Exkulpation verweigert, daß er von der Annahmebereitschaft des Gläubigers keine Kenntnis habe.

 

b) Ansicht von Siber

 

Entgegen der Auffassung von Mommsen sieht Siber in der Mahnung nur ein Kriterium des Verschuldens. Der Mahnung komme bei den Verzugsvoraussetzungen keine eigenständige oder notwendige Bedeutung zu, vielmehr sei auch ohne Mahnung der Verzugseintritt möglich, wenn der Gläubiger dem Schuldner eine „culpose“ Leistungsverzögerung nachweisen könne. Allerdings sei bei den Verbindlichkeiten, denen kein bestimmter Erfüllungstermin zugrunde liege, die „culpa“ in dem meisten Fällen ohne vorherige Leistungsaufforderung nicht zu beweisen. Die Mahnung sei daher das Mittel, das den Schuldner in eine nachweisliche „culpa“ versetze. Ohne sie sei nicht zu beweisen, daß der Schuldner um das Bestehen und um die Fälligkeit der Verpflichtung wissen müsse.[63]

 

Siber sieht demnach in der Mahnung keinen Schutz des Schuldners, sondern nur eine Beweiserleichterung für den Gläubiger. Daraus folgt konsequenterweise, daß die Mahnung keine notwendige Voraussetzung des Verzuges ist, sondern der Gläubiger in allen Fällen die Möglichkeit hat, den Nachweis der „culpa“ zu erbringen und, wenn ihm dies gelingt, der Schuldner auch ohne Mahnung in Verzug gerate.

 

Aus den weiteren Ausführungen Sibers ist zu entnehmen, daß er die Mahnung nicht nur als Beweismittel für den Verschuldensnachweis ansieht, sondern die Mahnung sogar zu einer Umkehr der Beweislast führe. Grundsätzlich trägt nach seiner Auffassung der Gläubiger auch bei Nichtterminschulden die Beweislast für die „culpa“. Die Mahnung führe aber dazu, daß der Schuldner zu einem Exkulpationsbeweis gezwungen werde.[64] Siber geht daher davon aus, daß mit der Mahnung ein formaler Verschuldensnachweis getätigt sei und der Entlastungsbeweis anschließend in diesen Fällen grundsätzlich beim Schuldner liege.[65]

 

c) Weitere Ansichten in der Literatur

 

Die weiteren Auffassungen in der Literatur gehen überwiegend -wie Siber- davon aus, daß die Mahnung für den subjektiven Tatbestand des Verzuges entscheidend sei.[66]

 

Nach der Auffassung von Jakobs hat die Mahnung im römischen Recht nur die Funktion, die Frage zu klären, ob die Nichterfüllung bei dem Schuldner ihre Ursache habe. Liege eine Mahnung vor, so sei klargestellt, daß die Nichterfüllung ihren Grund nicht bei dem Gläubiger habe.[67]

 

In eine ähnliche Richtung weisen die Formulierungen von Savigny. Durch die Mahnung werde das Dasein oder der Vorwand stillschweigender Nachsicht beseitigt.[68]

 

Ebenso lassen sich die Ausführungen von Pernice einordnen. Nach seiner Ansicht ist zwar der Eintritt der mora von einem Verschuldenserfordernis unabhängig. Er geht aber davon aus, daß schon durch die interpellatio über die Frage entschieden sei, ob der Schuldner sich durch Nichtwissen entschuldigen könne.[69]

 

Windscheid hat sich dagegen fast vollständig der Lehre von Mommsen angeschlossen und die Mahnung für die Festsetzung der Leistungszeit und damit für die Begründung der objektiven Rechtsverletzung für erforderlich gehalten.[70] Aufgrund des starken Einflusses Windscheids auf die Entwicklung des BGB ist das Bürgerliche Gesetzbuch von dieser Deutung der Mahnungsfunktion stark geprägt.       

 

3. Funktion der Mahnung nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs

 

Die Verfasser des Bürgerlichen Gesetzbuches haben sich, wie aus den Gesetzesbegründungen zu entnehmen ist, weitgehend die Auffassungen von Mommsen  und Windscheid zu eigen gemacht. Es wird zwar nicht explizit hervorgehoben, daß die bloße Leistungsverzögerung noch keine Rechtsverletzung sei, aber aus den Anmerkungen ist zu entnehmen, daß der Gesetzgeber die Funktion der Mahnung in der Festlegung der Leistungszeit und Bestimmung der Leistungspflicht gesehen hat, so daß vor der Aufforderung des Gläubigers wegen der noch unbestimmten Leistungszeit keine Rechtsverletzung vorliege. In den Vorentwürfen wird ausdrücklich auf Windscheid Bezug genommen und hervorgehoben, daß die Mahnung die Zeit der Erfüllung der Verbindlichkeit bestimmen solle und, wenn der Rechtssatz „dies interpellat pro homine“ zur Anwendung komme, schon durch diese Zeitbestimmung die Leistungs- und Erfüllungspflicht des Schuldners zu diesem Termin festgestellt sei.[71] Aus den Motiven zum BGB geht weiter hervor, daß die Mahnung nicht nur für die objektive Rechtsverletzung relevant ist, sondern auch für den subjektiven Tatbestand des Verzuges von Bedeutung sei. Die Mahnung solle den Schuldner von Zweifeln befreien, wann er leisten müsse. Bei einer festgesetzten Leistungszeit sei die Mahnung nämlich dann entbehrlich, wenn der Schuldner nicht im Zweifel sein könne, daß er ohne Mahnung leisten müsse.[72]      

 

In der Rechtswissenschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts wurde diese Auffassung des Gesetzgebers unkritisch übernommen. Die bloße Leistungsverzögerung wurde nicht als Rechtsverletzung angesehen, da die Fälligkeit der Forderung nur mit dem Forderndürfen identisch sei und nicht gleichzeitig ein Leistenmüssen des Schuldners enthalte.[73] Ohne Mahnung liege noch keine Pflichtverletzung vor. Die Mahnung diene dazu, daß die Verzögerung den Charakter der Rechtsverletzung annehme und dem Schuldner der Einwand verwehrt werde, der Gläubiger erwarte noch nicht die sofortige Erfüllung.

 

Aus den älteren Reichsgerichtsentscheidungen kann entnommen werden, daß das Reichsgericht die Mahnung in Zusammenhang mit der Leistungszeit brachte.[74] In der grundlegenden Reichsgerichtsentscheidung, bei der die Definition der Mahnung als ernstliche Leistungsaufforderung entwickelt wurde, wurde ausgeführt, daß die Mahnung dem Schuldner Klarheit darüber verschaffen solle, daß der Gläubiger zu einem bestimmten Termin die Leistung verlange. Der Schuldner solle durch die Mahnung Gewißheit erlangen, von welchem Zeitpunkt der Gläubiger die Leistung als eine verspätete erachte. Eine Mahnung sei nicht gegeben, wenn diese keinen bestimmten Termin festsetzen würde.[75] Insgesamt können aber aus den spärlichen Angaben keine zweifelsfreien Schlußfolgerungen gezogen werden, welche Mahnungsfunktion das Reichsgericht angenommen hat. In den späteren Urteilen ist auf diese Leistungszeitbestimmung auch nicht mehr eingegangen worden.