Erstes Kapitel:

Schuldrechtsreform und historische Darstellung der Verzugslehre

 

Bevor die einzelnen Tatbestandsmerkmale des Verzuges erörtert werden, ist ein Blick auf die Schuldrechtsreform, die einige Veränderungen dieses Instituts vorsieht, und die Geschichte des Verzuges zu werfen. Für die Auslegung der Verzugsvoraussetzungen sind nämlich sowohl der Entwurf der Schuldrechtskommission als auch die historische Entwicklung des Schuldnerverzuges zu berücksichtigen. Der Kommissionsentwurf setzt sich mit den Mängeln des geltenden Rechts auseinander und verdeutlicht die Schwächen der bisherigen Rechtsanwendung. Die Historie des Verzuges ist bedeutsam für die Interpretation des Willens des Gesetzgebers, da sich die Verzugsvoraussetzungen bereits aus dem römischen Recht ableiten lassen und in den Materialen zum Bürgerlichen Gesetzbuch auf die Praxis des römischen und gemeinen Rechts zurückgegriffen wird.

 

A. Überblick zur Schuldrechtsreform

 

Im Jahre 1992 legte die vom Bundesministerium der Justiz einberufene Kommission zu Überarbeitung der Schuldrechts ihren Abschlußbericht[3] vor. Ihr Auftrag war es, einen Gesetzesvorschlag zu unterbreiten, der es dem Gesetzgeber erlauben sollte, das allgemeine Leistungsstörungsrecht, das Gewährleistungsrecht des Kauf- und Werkvertrages sowie das Verjährungsrechts unter besonderen Berücksichtigung der Ergebnisse der Rechtsprechung und Praxis übersichtlicher und zeitgemäßer zu gestalten.[4]

 

I. Einordnung des Leistungsstörungsinstituts „Schuldnerverzug“ nach dem Kommissionsentwurf

 

Rechtspolitisch dringendsten Handlungsbedarf sieht die Kommission im Verjährungs- sowie im Leistungsstörungs- und Gewährleistungsrecht.[5] Einen der Hauptmängel des geltenden Rechts erkennt die Kommission u.a. darin, daß der Begriff der Unmöglichkeit der Leistung mit allen seinen durch das Gesetz geforderten Differenzierungen, deren rechtspolitische Rechtfertigung nicht erkennbar sei, systematisch im Mittelpunkt der gesetzlichen Regelung stehe. Ferner wird die Alternativität von Rücktritt und Schadensersatz in §§ 325, 326 BGB kritisiert sowie die Anknüpfung des Rücktrittsrechts an das Erfordernis des Verschuldens.[6] Diesen Mißständen soll nach dem Willen der Kommission durch die Einführung der „Pflichtverletzung“ als dem zentralen Begriff des Leistungsstörungsrechts begegnet werden. Das Leistungsstörungsrecht soll auf einem einheitlichen Grundtatbestand der Pflichtverletzung aufgebaut werden, in dem das Leistungsstörungsinstitut des Schuldnerverzuges aufgehen soll (§ 275 BGB-KE). Wörtlich heißt es dazu in dem Abschlußbericht: „Anders als im geltenden Recht sind Unmöglichkeit und Verzug nicht mehr besondere und eigenständig geregelte Formen der Leistungsstörungen“, und „was den Verzug anbelangt, so bildet auch er neben der Pflichtverletzung nur ein zusätzliches Erfordernis für den Anspruch des Gläubigers auf Ersatz des Verzögerungsschadens“ (§§ 280 II S. 2, 284 BGB-KE).[7] Der Tatbestand des Schuldnerverzuges wird damit nach dem Entwurf nicht überflüssig, da der Anspruch auf Ersatz des Verzögerungsschadens weiterhin auf diesem Tatbestand aufbauen soll.

 

II. Voraussetzungen des Schuldnerverzuges nach dem Kommissionsentwurf

 

Der Kommissionsentwurf sieht im Kern eine unveränderte Regelung des Schuldnerverzugs vor. Die Verzugsvoraussetzungen des Kommissionsentwurf entsprechen dem geltenden Recht. Für den Verzugseintritt ist weiterhin eine Mahnung nach Fälligkeit und Vertretenmüssen erforderlich (vgl. § 284 I BGB-KE). Der wesentliche Reformbedarf wird bei den Mahnungssurrogaten gesehen.[8]

 

Die Kommission erkennt als Mangel des geltenden Rechts, daß nur die kalendermäßige Berechenbarkeit seit der Kündigung eine Mahnung entbehrlich mache. Nach der bisherigen gesetzlichen Regelung kann der Schuldner ohne Mahnung in Verzug gesetzt werden, wenn entweder eine kalendermäßig bestimmte Zeit vorliegt oder der Leistung eine Kündigung vorauszugehen hat und die Leistungszeit sich von der Kündigung ab nach dem Kalender berechnen läßt (§ 284 II BGB).

 

Des weiteren sollen die von der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen, bei denen eine Mahnung gem. § 242 BGB nicht für nötig gehalten wird, gesetzlich geregelt werden. Vor allem die Fallgruppen der ernsthaften und endgültigen Erfüllungsverweigerung, der spontan zu erfüllenden Aufklärungs- und Warnpflichten sowie die Selbstmahnung sollen durch die geplante gesetzliche Regelung erfaßt werden.[9]

 

In dem Kommissionsentwurf wird der Tatbestand des § 284 II BGB daher erheblich erweitert. § 284 II Nr. 1 BGB-KE entspricht der bisherigen Regelung des § 284 II 1 BGB. Eine Mahnung ist danach überflüssig, wenn für die Leistung eine Zeit nach dem Kalender bestimmt ist. § 284 II Nr. 2 BGB-KE erweitert dagegen den bisherigen Anwendungsbereich des § 284 II 2 BGB. Die kalendermäßige Berechenbarkeit des Leistungstermins knüpft nach der neuen Regelung an ein „Ereignis“ an und nicht an die „Kündigung“. In der Begründung zum Entwurf wird ausdrücklich hervorgehoben, daß auch andere Ereignisse als die Kündigung wie beispielsweise die „Lieferung“ als Ausgangspunkt für die kalendermäßige Berechnung in Betracht kommen würden. Es soll z. B. bei einer Vereinbarung „Zahlung zwei Wochen nach Lieferung“  Schuldnerverzug ohne Mahnung eintreten.[10] § 284 Nr. 3 und Nr. 4 BGB-KE sehen des weiteren bei offensichtlicher Erfolglosigkeit der Mahnung und wenn aus besonderen Gründen der sofortige Eintritt des Verzuges gerechtfertigt ist (beispielsweise bei einer Lieferung mit evidenter Eilbedürftigkeit) einen Verzugseintritt ohne Mahnung vor.[11]

 

B. Historie

 

I. Römisches Recht

 

Der Verzug wurde schon im römischen Rechts unter der Bezeichnung mora debitoris als selbständiges Rechtsinstitut angesehen. Welche einzelnen Voraussetzungen die mora im klassischen Recht enthielt, kann heute nicht mehr in allen Einzelheiten geklärt werden, da für die mora das Material des klassischen römischen Rechts lückenhaft ist.[12] Aber auch bei der Auslegung des justinianischen Rechts besteht keine Einigkeit.

 

Die Tatbestandvoraussetzungen der mora debitoris entsprachen weitgehend dem heutigen Recht. Neben der Nichterfüllung wurde eine einklagbare und fällige Verbindlichkeit verlangt und die Leistungsverzögerung mußte dem Schuldner zuzurechnen sein.[13] Ob diese Zurechnung mit unserem heutigen Verschuldensbegriff gleichzusetzen ist, ist nicht geklärt. Schon in der gemeinrechtlichen Doktrin wurde darüber diskutiert, ob die Haftung für mora Verschulden voraussetze.[14]

 

Neben diesen Tatbestandsmerkmalen setzte dieses Institut wie der heute kodifizierte Schuldnerverzug eine interpellatio (Mahnung) voraus. Diese interpellatio wurde sogar als „notwendige“ Voraussetzung bezeichnet bzw. Verzug ohne Mahnung als begriffswidrig gekennzeichnet.[15] Damit sollte ausgedrückt werden, daß der Verzug ohne das Tatbestandsmerkmal „Mahnung“ nicht denkbar ist. Trotz dieser Bezeichnung waren Ausnahmen (beispielsweise bei Sachentziehungsdelikten und bei Abwesenheit des Schuldners) anerkannt, bei denen der Schuldner ohne interpellatio in Verzug gesetzt werden konnte.[16]

 

Ob der im gemeinem Recht allgemein anerkannt Satz „dies interpellat pro homine“ (der Tag mahnt anstelle des Menschen) im römischen Recht zur Anwendung kam, ist nicht mehr zweifelsfrei zu klären. Es wird vielfach die Auffassung vertreten, daß auch bei Terminschulden eine Mahnung erforderlich gewesen sei und dieser Rechtssatz keine Anerkennung gefunden habe.[17]

 

II. Gemeines Recht, landesrechtliche Kodifikationen im 18. und 19. Jahrhundert und Entstehung des Schuldnerverzuges im Bürgerlichen Gesetzbuch

 

In der Theorie und Praxis des gemeinen Rechts wurden die Erkenntnisse des römischen Rechts übernommen und weiterentwickelt. Daneben enthielten die landesrechtlichen Kodifikationen eigenständige Verzugsregelungen, die aber in großen Teilen sowohl mit dem gemeinen Recht als auch untereinander übereinstimmten. Die Verfasser des BGB ließen sich bei der Gestaltung der Verzugsvorschriften von dieser Rechtspraxis des 19. Jahrhunderts leiten.

 

Im gemeinen Recht sowie in den Kodifikationen war allgemein anerkannt, daß die Forderung fällig sein mußte, bevor von Verzug gesprochen werden konnte.[18] Daneben war grundsätzlich die Mahnung als Voraussetzung des Verzuges vorgesehen.[19]

 

1. Verzugseintritt ohne Mahnung

 

Vor Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches hatte sich schon eine Vielzahl von Fallgruppen herausgebildet, bei denen die Leistungsverzögerung des Schuldner ohne Mahnung zum Verzug führte.

 

Bei Terminschulden wurde in der Praxis des gemeinen Rechts eine Mahnung für entbehrlich gehalten.[20] Der größten Teil der Kodifikationen des 18. und 19.Jahrhunderts enthielten ebenfalls diesen Rechtsatz als Ausnahmetatbestand von dem Erfordernis der Mahnung.[21] Keine Einigkeit herrschte allerdings über die Auslegung dieser Regel. Es wurde teilweise die Auffassung vertreten, daß die Mahnung nur bei einer vertraglich festgelegten Frist entbehrlich sei.[22] Auf der anderen Seite bestimmten einige Kodifikationen ausdrücklich einen größeren Anwendungsbereich dieser Regelung und hielten die einseitige Terminbestimmung, z. B. durch Gesetz oder Urteil, für ausreichend.[23] Im Bürgerlichen Gesetzbuch ist dieser Rechtssatz in § 284 II BGB gesetzlich normiert worden. In den Begründungen haben die Verfasser des BGB die weite Auslegung favorisiert: „Es ist kein Grund ersichtlich, diesen Rechtssatz nur für die vertragsmäßige Terminbestimmung anzuerkennen, wenn der Schuldner nicht im Zweifel ist, wann er spätestens leisten müsse.“[24]

 

Neben diesem Rechtssatz wurde im gemeinen Recht der Verzugseintritt ohne Mahnung bei Deliktschulden anerkannt, die sich auf die Rückgabe einer Sache bezogen (fur semper in mora).[25] In den landesrechtlichen Kodifikationen war diese Ausnahmeregel ebenfalls enthalten.[26] Diese Regelung wurde von den Verfassern des BGB im Grundsatz[27] nicht übernommen, da das angestrebte Ergebnis sich durch anderweitige in das BGB aufgenommene Vorschriften erreichen läßt, die im römischen und gemeinen Recht noch nicht anerkannt waren.

 

Der Satz „fur semper in mora“ erklärt sich aus der Eigentümlichkeiten des römischen Rechts.[28] Im römischen Recht konnte der Deliktgläubiger durch seine Klage nur die Rückgabe des Gegenstandes erreichen und nicht gleichzeitig die Erstattung des Interesses. Einen den §§ 823 I, 249, 251 I BGB vergleichbaren Schadensersatzanspruch des Eigentümers gegen den Dieb war nicht bekannt. Vielmehr stand dem Eigentümer für die Sachverfolgung nur ein Bereicherungsanspruch zur Verfügung. Diese Kondiktion richtete sich auf eine bestimmte Leistung, hier also Herausgabe der entzogenen Sachen und ging unter, wenn die Erfüllung der Leistung unmöglich war. Es war aus diesem Grunde ein besonderer Anspruch erforderlich, um den zeitlichen Schaden, der sich durch die Verzögerung ergab, zu ersetzen und einen Ersatzanspruch bei unverschuldeter Unmöglichkeit zu gewährleisten. Deshalb war im römischen Recht für diese Ersatzansprüche ein besonderer Grund erforderlich und diesen fand man darin, daß in diesen Fällen eine „mora ohne interpellatio“ angenommen wurde.[29] Diese Problematik verlor im Bürgerlichen Recht an Bedeutung, da sich das BGB in Abkehr vom römischen Recht mit dem § 823 I BGB zur Einführung einer sachverfolgenden Schadensersatzklage entschlossen hat, die sowohl das zeitliche Interesse umfaßt als auch eine Haftung für den zufälligen Untergang der Sache enthält (vgl. §§ 249, 251 I BGB). Die Schadenzufügung durch verschuldete unerlaubte Handlung verpflichtet daher nach dem BGB an sich schon zum Schadensersatz, der im Umfang dem Anspruch aus Verzugsgrundsätzen entspricht. Die Aufstellung der Regel, daß ein Deliktschuldner ohne Mahnung in Verzug kommt, wurde deswegen von den Gesetzesverfassern für entbehrlich gehalten.[30]

 

Eine vergleichbare Situation ist bei einer weiteren Fallgruppe gegeben, die vor Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches zur Anwendung kam und die nicht in das BGB aufgenommen wurde. Es war im gemeinen Recht anerkannt, daß bei Abwesenheit des Schuldners eine Mahnung nicht notwendig sei.[31] Diese Ausnahmeregelung ist im Bürgerlichen Gesetzbuch zur Wahrung der Gläubigerinteressen nicht mehr erforderlich, da der Gläubiger durch die Inanspruchnahme der öffentlichen Zustellung die Möglichkeit erhielt, den Schuldner trotz Abwesenheit zu mahnen.[32]

 

2. Vertretenmüssen

 

Ob Verschulden eine Voraussetzung des Verzuges darstellt, war in der Theorie des gemeinen Rechts aufgrund der nicht geklärten Rechtslage im römischen Recht lebhaft umstritten. Die Meinungen reichten von der grundsätzlichen Bejahung des Verschuldenserfordernis[33] bis zur vollständigen Ablehnung.[34] Ebenso wurde über die Beschaffenheit der Entschuldigungsgründe diskutiert. Beispielsweise wurde gefordert, daß die Entschuldigungsgründe auf  äußere objektive Hindernisse zu beschränken seien. Gründe, die lediglich in der Person des Schuldners zu sehen seien, sollten zur Exkulpation nicht genügen.[35] Im Gegensatz zu diesem theoretischen Stand der Diskussion war in der gemeinrechtlichen Praxis überwiegend das Verschuldenserfordernis anerkannt und eine Beschränkung der Exkulpationsgründe auf nur äußere objektive Hindernisse wurde nicht vorgenommen.[36] Die Kodifikationen -abgesehen vom französischen und schweizerischen Recht- verlangten ebenfalls für den Eintritt des Verzuges ein Verschulden des Schuldners.[37]

 

Diese gemeinrechtliche Streitfrage wurde durch die Aufnahme des § 285 in das Bürgerlichen Gesetzbuch beendet. Der Gesetzgeber sah den Verzug als zeitweilige Unmöglichkeit an und ließ sich von dem Prinzip der Haftungseinheitlichkeit leiten.[38] Da Verzug eine Nichterfüllung in Ansehung der Zeit darstelle, müsse sich der Schuldner in gleicher Weise wie bei den Unmöglichkeitsvorschriften exkulpieren können.[39]

 

III. Zusammenfassung

 

Diese geschichtliche Entwicklung verdeutlicht, daß die Grundsätze der Lehre des Verzuges fast unverändert aus dem römischen Recht übernommen wurden. Das Erfordernis der Mahnung und die kodifizierten Ausnahmen lassen sich aus dem römischen und gemeinen Recht ableiten. In der heutigen Rechtsprechung wurden nur die Ausnahmefälle hinsichtlich der „Entbehrlichkeit der Mahnung“ erheblich erweitert.