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3. Reformpädagogik aus der Sicht der flow-Theorie

 

3.1 Produktionsschulen: Reale Herausforderungen

 

Arbeitsschulbewegung als konzeptionelle Wurzel

Die Produktionsschulen sind eine Ausprägung der Arbeitsschulbewegung (vgl. Hamann, 1993; 196 ff. Oberliesen 1992, Rebele 1989, 301). Die Arbeitsschulbewegung wie auch später die Produktionsschulen haben unterschiedliche Gesichter. Beispielsweise gründet Adolphe Ferriere (1879-1960) eine „Tatschule“ mit psychologischem Hintergrund (vgl. Böhm 1994, 42f). Georg Kerschensteiner (1854-1932) betont handwerkliche Tätigkeiten. Bei ihm gibt es Schulküchen, Schulgärten, Werkstätten, naturwissenschaftliche Laboratorien (vgl. Rebele 1989, 301 ff.). Eine weitere Tendenz zeigt sich in der Betonung geistiger Selbsttätigkeit, beispielsweise bei Hugo Gaudig (1860-1923). Ihm ist es wichtig, dass die Schüler selbständig arbeiten: Sie sollen sich selber Ziele setzen, ihren Weg dorthin selber finden, eigene Entscheidungen treffen und selbsttätig die Kontrolle über ihr Tun übernehmen (vgl. ebd. 308 ff.). Gaudig und Kerschensteiner werden in die sogenannte bürgerliche Richtung der Arbeitsschulbewegung eingeordnet. Die sozialistische Variante dieser Bewegung dagegen sieht die Produktionsarbeit (bei Karl Marx, 1818-1883) und Industriearbeit[1] (bei Pavel Petrovic Blonskij, 1884-1941) im Vordergrund (vgl. Böhm 1994, 43, 118). Gemeinsam ist sozialistischen wie auch bürgerlichen Ansätzen, dass sie das rein rezeptive Lernen ablehnen und die Selbsttätigkeit der Schüler fördern wollen (vgl. Böhm 1994, 43). Das Lernen soll anhand realer Herausforderungen geschehen.

 

Produktionsschulen: unterschiedliche Konzepte

Paul Oestreich war es, der den Begriff der „Produktionsschule“ 1920 auf der Reichsschulkonferenz geprägt hat (vgl. Kipp 2001, 7; Oberliesen 1992, 14; Hurtienne 1970, 83). Als führender Pädagoge des „Bundes der entschiedenen Schulreformer“ wendet er sich wie andere Reformpädagogen gegen die Methoden und Wirkungen der herkömmlichen Schulen (vgl. Bullan et al. 21992, 33). Oestreich wollte „die Produktionsschule nicht als eine Schule zur Kinderausbeutung, [...] sondern als die Schule zum produzierend sich findenden, schöpferischen, am Leben stets beteiligten, beseelten Menschen“ (Oestreich 1978, 23).

In Deutschland ist der reformpädagogische Gedanke der Produktionsschulen in den dreißiger Jahren nicht weiter verfolgt worden, denn die Idee einer Verbindung von Bildung und Wirtschaft stieß auf Skepsis (dies ist auch heute noch ein Kritikpunkt).

Erst in Dänemark wurde die Idee der Produktionsschule 1978 als erstes von Mogens Thyge Jensen[2] in die Praxis umgesetzt: Dort entstanden Produktionsschulen, weil es viele jugendliche Arbeitslose gab, die aufgrund ihrer psychischen und fachlichen Schwäche auf dem Arbeitsmarkt gescheitert waren. Dänemark hatte das Ziel, „eine neue Pädagogik für gesellschaftlich benachteiligte Jugendliche anzubieten“ (Jensen, interviewt in Bullan et al 21992, 21). Da diese Schulform in Dänemark sowie auch in Deutschland erfolgreich ist (ca. drei Viertel in Produktionsschulen ausgebildeten Jugendlichen finden einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz [Bullan et al 21992, 30]) und in Deutschland Schulen an ihrer Aufgabe gescheitert sind, ausgrenzungsgefährdete Jugendliche in den Arbeitsmarkt zu integrieren (Bullan et al. 21992, 32), hat sich die Produktionsschule als ein Modell dafür entwickelt, wie benachteiligte Jugendliche vor einem sozialen Abrutsch aufgefangen werden können.

Produktionsschulen sind alternative Schulmodelle, die gegenwärtig die Berufsvorbereitung reformieren. Bei dieser ganztägigen Schulform steht didaktisch die professionelle Produktion von Waren und Dienstleistungen im Mittelpunkt: Die Schülerinnen lernen das, was sie zur Herstellung eines Produkts oder einer Dienstleistung wissen und können müssen. Die Produktion bzw. die Erbringung von Dienstleistungen findet in klassischen Bereichen wie Tischlerei, Gärtnerei, Küche statt, aber auch in „neueren“ Bereichen wie Umwelt, Tourismus (Bullan et al. 21992, 48 ff.) oder EDV-Technologie (Jensen, interviewt in: Bullan et al. 21992, 28). Es finden keine Scheinsituationen beim Lernen statt, weil das Lernen im Zusammenhang mit der Produktion steht, also einen unmittelbaren Sinn hat (Ljung 2000, 61).

Die Schüler werden nicht in Klassen eingeteilt, sondern arbeiten und lernen zu sechs bis acht Personen in einer Gruppe mit einem Lehrer, meist ganztägig. Dabei basiert der Unterricht auf individuellen Ausbildungsplänen der Schüler. Nicht nur das Lernen und Arbeiten entwickelt die Schüler weiter, sondern die Schule hat auch die Funktion eines Lebensraumes (Bullan et al. 21992, 44), sodass auch gemeinschaftliche Aktivitäten wie Computerabende oder geselliges Beisammensein stattfinden.

Betrachtet man diese Schulform von der formalen Seite, so gibt es keine festen Einschulungstermine, eine Einschulung ist jederzeit möglich und die Dauer des Schulaufenthaltes unterschiedlich. Sie liegt je nach Lernstand zwischen einem und drei Jahren. Das heißt, Schülerinnen besuchen die Schule so lange, bis sie eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle haben.[3] Die Schule verlangt nicht viele Hintergrundinformationen über die einzelnen Schüler, sondern hat den Ansatz, mit den Schülern gemeinsam in die Zukunft zu blicken. Die Schüler werden als verantwortliche Individuen betrachtet.

Meist beziehen die Schüler ein geringes Einkommen, das je nach Schule unterschiedlich ausfällt. In der Produktionsschule Altona in Hamburg bekommen die Schüler beispielsweise 300 Mark „Schülergeld“ monatlich (Rapp 2000, 37).

An dieser Stelle setzt ein Kritikpunkt an: Das Konzept „Produktionsschule“ ist allerdings umstritten (z. B. Biermann 1994, 4; Hurtienne 1970, 92 f.). Eine Frage, die in der Diskussion um die Produktionsschule immer wieder gestellt werden wird, ist, „auf welche Weise ökonomisch produktive Arbeit für die Bildung und Erziehung ausgeschöpft werden kann“ (Hurtienne 1970, 102). In der Praxis gestaltet es sich schwierig, die Balance zwischen Produktivität und Pädagogik zu halten (Jensen, interviewt in: Bullan et al. 21992, 31 f.). Deshalb stößt der Gedanke an eine Verbindung von Bildung und Wirtschaft oft auf Skepsis –Produktionsschulen wurden „als Kinderfabrik“ (Hurtienne 1970, 89) bezeichnet. Es kommt also auf den Blickwinkel an. Manche sehen in dieser Schulform eine Form kapitalistischer Ausbeutung. Verfechter dieser Schulform betonen demgegenüber, dass dringender pädagogischer Handlungsbedarf besteht, jungen Menschen die Entwicklung von Perspektiven zu ermöglichen – und genau dies täten die Produktionsschulen besonders effektiv.

Die Produktionsschule ist noch einer weiteren Gratwanderung ausgesetzt. Es kann leicht vorkommen, dass mehr produziert wird als notwendig. Dann kann schnell die Produktion zum Ziel der Schule werden, auf Kosten anderer pädagogischer Elemente. Werden auf der anderen Seite sozialpädagogische Aspekte überbetont, so kann die Produktion aber auch ihren Realitätsbezug verlieren, „dann wird die Arbeit Spielerei. Wir tun so, als ob wir produzieren“ (Jensen, interviewt in: Bullan 21992, 31).[4]

„Eine aktuelle Theorie der Produktionsschule gibt es nicht“ (Hecking et al. 1994, 16). Gemeinsam ist den Ansätzen, dass die Schulen mit professionellem Anspruch Produkte herstellen oder Dienstleitungen für den Markt anbieten. Doch jede Produktionsschule hat ihr eigenes Gesicht:

Die Hamburger Produktionsschule nimmt beispielsweise Schüler auf, die in eine Berufsvorbereitungs-Klasse (BVK) gehen oder gehen sollten und die neun Pflichtschuljahre hinter sich haben. Die Aufnahme erfolgt nach einem Einstellungsgespräch, das die Motivation der Jugendlichen auslotet. Die Schule hat vier Werkstätten, in denen 40 Jugendliche in der Regel für ein Jahr arbeiten: Küche, Tischlerei, EDV, Medien (PS.A. Informationsfaltblatt).

Im Bremen dagegen befindet sich die Produktionsschule für Metalltechnik mit der Berufsschule zusammen in einem Haus. Das ermöglicht, dass die ehemaligen Produktionsschüler bei ihrer späteren Ausbildung noch weiter in ihre vertraute Umgebung zur Berufsschule gehen können. Die Schüler können im Gegensatz zu Hamburg dort zwei Jahre in der Produktionsschule verbringen (Hecking et al. 1994).

In der Schweiz (Winterthur) nimmt die Produktionsschule für angehende Metallarbeiter nur Schüler auf, die den Realschulabschluss haben, und die Jugendlichen müssen eine Aufnahmeprüfung bestehen. Die Schüler arbeiten nicht wie in Bremen, Hamburg oder Kassel hauptsächlich in den Werkstätten, sondern nur zweieinhalb Tage pro Woche, der Rest ist Theorie (Meyser 1994).

Küchen, Gärtnereien, Textilwerkstätten, Tischlereien sind die „klassischen“ Werkstätten, die in diesen Schulen Produkte herstellen. Neuere Werkstätten, die auch Dienstleistungen anbieten, sind zum Beispiel eine Medienwerkstatt, die digitale Foto- und Videoproduktionen anbietet (in Hamburg geplant), ein Reisebüro für Jugendgruppen und Klassen, die nach Hamburg kommen, oder die oben schon teilweise erwähnten Bereiche wie Umwelt, Tourismus und Theater in Dänemark.

Was Hilker 1924 formuliert hat, gilt heute noch: „Der Produktionsschulgedanke ist keine zerebrale Konstruktion; er ist aus dem tiefen Erleben der Not unserer Zeit geboren, im langsamen Wachsen von allen Kräften des denkenden, fühlenden und wollenden Menschen gespeist, auch heute noch nicht zum Letzten gereift, sondern immer in lebendigem Werden“ (Hilker 1924, 30; zit. in: Kipp 2000, 7). Produktionsschulen unterscheiden sich in ihren Angeboten und der situativen pädagogischen Umsetzung. Gemeinsam ist den Ansätzen, dass sie an den Stärken der Schüler ansetzen und sie dadurch auf einen Ausbildungsplatz vorbereiten, dass die Jugendlichen unter professionellem Anspruch Produkte herstellen oder Dienstleistungen für den Markt anbieten. So gibt es in Deutschland mehrere Schulen, die auf dem dänischen Modell fußen: Bremen (Hecking et al. 1994), Kassel (Hanke & Kipp 1994) und Hamburg-Altona (Bullan et al. 21992; Johanssen, Schmidt-Mildtner & Schwarzbach 1994; PS.A. 1998).

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Talentförderung

In einer Produktionsschule befassen sich die Jugendlichen mit dem Ausbildungsfach, das sie interessiert. In der flow-Theorie lässt sich Interesse auf der Ebene der flow-Auslöser einordnen und ist eine nützliche Voraussetzung, um in den Zustand von flow zu gelangen. So zeigt Schiefele, dass sich hoch Interessierte häufiger in einem flow ähnlichen Zustand befinden als wenig Interessierte (Schiefele 1996, 234). Es hat sich auch herausgestellt, dass sich die Häufigkeit von flow-Erlebnissen „als besserer Indikator für die Talententwicklung als objektive Messungen von kognitiven Fähigkeiten“ erweist (Csikszentmihalyi 1995, 254). Das bedeutet, dass „flow wichtige Implikationen für den Unterricht an unseren Schulen hat“ (ebd.). Wenn sich also die Produktionsschüler aufgrund ihres Interesses für ein Fach entscheiden, ihre Stärken gefördert werden und sie flow erleben, werden sie ihre Berufsvorbereitung erfolgreich abschließen und auch in der Ausbildung Freude am Tun haben können. Womöglich ist auch aus diesem Grund der Erfolg der Produktionsschulen so hoch, wie beispielsweise in Hamburg (Rapp 2000, 45). In Dänemark finden etwa drei Viertel der Jugendlichen, die eine solche Schule besucht haben, eine Arbeit oder einen Ausbildungsplatz  (Jensen, interviewt in: Bullan et al. 21992, 30).

 

Zielgruppe

Produktionsschulen sind aus der Kritik an den Berufsschulen entstanden, die es nicht schaffen, marginalisierte Jugendliche auf einen Beruf vorzubereiten und in die Gesellschaft zu integrieren (Bullan et al. 21992, 11). Diese ausgrenzungsgefährdeten Schüler können wie folgt beschrieben werden (Bullan et al. 21992, 18 ff.):

Sie haben erstens einen geringen Wissenstand (jedoch keine mangelnde Intelligenz). Sie haben weder einen Schulabschluss noch Aussicht auf eine Ausbildung. Oft sind sie Analphabeten, die weder einen Kontoauszug lesen noch einen Wohngeld- oder Sozialhilfeantrag stellen können.

Sie sind zweitens emotional benachteiligt: „negative Selbsteinschätzung und mangelnde Ich-Stärke“ rühren unter anderem daher, dass die Jugendlichen die gesellschaftliche Stigmatisierung übernehmen, sie seien Versager. Oft haben die Jugendlichen ihr Selbstvertrauen verloren.

Sie sind drittens sozial benachteiligt. Sie leben in Familien, in denen meist Lieblosigkeit und Gewalt zum Alltag gehören. Die Familien sind größtenteils abhängig von Sozialhilfe und oft wohnungslos, die Eltern haben häufig keine Arbeit. Viele Eltern sind Alkoholiker oder nehmen Medikamente oder andere Drogen, etliche missbrauchen ihre Kinder. Aufgrund dieser Biographien befinden sich viele Schülerinnen in pädagogischen Maßnahmen (wie etwa Erziehungsberatung, psychiatrischer Dienst), doch meist verlaufen diese erfolglos (Bullan et al. 21992, 12).

Die emotionale wie soziale Benachteiligung sowie ihr geringer Wissensstand wirken sich negativ auf die Motivation dieser Jugendlichen aus, etwas anzupacken. Dies führt zu schlechteren Leistungen und wiederum zu noch weniger motivierter Anstrengungsbereitschaft. Selbstvertrauen und Zuversicht gehen in einem Teufelskreis zunehmend verloren. Es gilt also, Wissen zu fördern sowie emotionale und soziale Defizite zu beheben.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Übernommene Denkbilder

Betrachtet man die Benachteiligungen der Zielgruppe auf der Ebene der flow-Auslöser,so zeigt sich Stigmatisierung kann die Wahrnehmung der Jugendlichen auf ihr Können verdecken. Csikszentmihalyi spricht von den „Schleiern der Maja“, um mit diesem Bild der Hindus zu beschreiben, „dass die Wirklichkeit unserem Blick entzogen“ ist (Csikszentmihalyi 1995, 89). Zerrbilder des eigenen Selbst kommen dadurch zustande, dass eine Realität im Kopf unter anderem durch gesellschaftliches Denken geformt wird: „Wir interagieren mit Eltern, Freunden und Arbeitskollegen und lernen dabei, die Welt aus dem Blickwinkel dieser speziellen Interaktion wahrzunehmen. Es macht einen Unterschied, ob man die Welt von einem Arbeitgeberclub oder von einem Gewerkschaftshaus [...] betrachtet“ (Csikszentmihalyi 1995, 90).

Es ist gut möglich, dass sich die Jugendlichen zunehmend aus dem Blickwinkel der Gesellschaft betrachten. Ihre negative Selbsteinschätzung, ihre soziale Benachteiligung und ihre übernommenen Denkmuster können somit den Blick für ihre Fähigkeiten trüben. Daraus resultiert eine abnehmende Anstrengungsbereitschaft. Ein Kreislauf entsteht nach dem Motto: Wenn ich sowieso nichts schaffe, wieso soll ich mich dann noch anstrengen? Laut Bullan haben die Jugendlichen den Bezug zu ihrer Realität verloren (Bullan et al. 21992, 9; 18). Aufgabe der Produktionsschule ist es, dieses Trugbild aufzulösen, damit sich das Selbst der Schülerinnen stärkt und die Versagensängste nach und nach verschwinden (vgl. Csikszentmihalyi 1997, 165). Mit einem sich neu entwickelnden Bild von sich können die Schüler dann ihre Fähigkeiten erproben und für einen Ausbildungsplatz festigen. Hierdurch kann ihre Selbstachtung steigen (vgl. Csikszentmihalyi 1995, 255). Ein positiver Kreislauf entsteht: Mit einer veränderten Wahrnehmung können die Jugendlichen auch besser in einen Zustand von flow geraten. Bei dem Erfolg der Produktionsschulen (Bullan 21992, 30; Rapp 2000, 45) lässt sich annehmen, dass diese Schulform bei Schülern flow hervorruft (vgl. auch Aussagen eines Produktionsschülers in Weise 2000, 105).

 

Reale Herausforderungen[5] an Jugendliche

Das Produktionsschulkonzept wird hier hauptsächlich unter dem Aspekt der realen Herausforderungen betrachtet, da diese ein zentrales Prinzip dieser Schulform sind. Arbeit und Produktion dienen als „motivierende pädagogische Mittel. [...] Wenn man [...] vor einer Produktion steht, dann entdeckt man, es ist gut, wenn man ein bißchen lesen kann, es ist gut, wenn man mit EDV umgehen kann. Ich glaube, der Erfolg der Produktionsschulen hat damit zu tun“ (Jensen, interviewt in: Bullan et al. 21992, 22). Dieses Zitat ist ein entscheidender Hinweis darauf, welchen Stellenwert reale Herausforderungen in der Produktionsschule haben: Die Produktion und das damit verbundene Lernen sind real, weil nicht für den Papierkorb produziert wird, sondern für Kunden zu einem bestimmten Termin und in einer bestimmten Qualität. Das heißt, es gibt auf einer fachlichen Ebene qualitative und zeitliche Anforderungen, die die Schüler erfüllen müssen. Das Reale daran sind die Konsequenzen des Handelns: Lernen und Arbeiten führen nicht zu einer abstrakten Note, sondern zu einem fertigen Produkt. Auch Termindruck und Kunden stellen ernst zu nehmende Anforderungen an die Produkte oder Dienstsleistungen.

Die Qualität der Herausforderungen hat zusammengefasst folgenden Anspruch: „Wichtig ist, daß es in der Produktion einen Ablauf von der Idee bis zur Realisierung gibt. Der ganze Verlauf muß eine überschaubare Einheit, eine Ganzheit sein“ (Jensen, interviewt in Bullan et al. 21992, 26).

Diese Schulform schafft demnach Herausforderungen, die als überschaubare Einheit für die benachteiligten Jugendlichen einen Sinn machen sollen und sie nicht an ihre bisherigen Misserfolge erinnern. Dadurch lernen die Schülerinnen, dass sie „eine sinnvolle Aufgabenstellung bewältigen können“ (Bullan et al. 21992, 39). Infolgedessen wird „die Schule so interessant, so wichtig und so nützlich [...], daß die Schüler die Produktionsschule freiwillig besuchen“ (Bullan et al. 21992, 41).

Die Herausforderungen können die oben beschriebenen Defizite der Jugendlichen ausgleichen. Es sind also nicht nur fachliche Herausforderungen, die die Fähigkeiten der Schüler erweitern, sondern es werden auch emotionale und soziale Anforderungen an die Jugendlichen gestellt. All diese Herausforderungen können, wenn sie als solche von den Schülern wahrgenommen werden, einzeln oder in ihrer aufeinander abgestimmten Gesamtheit möglicherweise nützlich sein, um in dieser Schulform flow auszulösen. (Neben herausfordernden Situationen bietet die Produktionsschule auch weitere flow förderliche Bedingungen, die zusammen mit den realen Herausforderungen flow evozierend wirken, dazu genauer am Ende dieses Kapitels.)

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Herausforderungen

Eine wesentliche Bedingung für das Auslösen von flow ist die Wahrnehmung von herausfordernden Situationen (Csikszentmihalyi 1991, 43 f.). Das heißt, Anforderungen müssen so wahrgenommen werden, dass sie weder über- noch unterfordernd wirken. Dies scheint eine zentrale Voraussetzung für flow auslösende Momente zu sein.[6] Herausforderungen in der Produktionsschule lassen sich aus der Sicht der flow-Theorie auf der flow auslösenden Ebene einordnen. Die Produktionsschule bietet für die unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeiten der Schüler Herausforderungen, die an den Stärken der Schüler ansetzen und sie zu Handlung und Orientierung befähigen (Bullan et al. 21992, 63 f.). Ein Jugendlicher ohne Erfahrungen kann in den Werkstätten zuarbeiten, ein Fortgeschrittener kann kompliziertere Dinge herstellen oder sich auf eine nächste Herausforderung mit theoretischem Unterricht vorbereiten.

Die Schule bietet viele Nischen, wo neue Herausforderungen entdeckt werden können. Fähigkeiten werden nicht zusammenhangslos in irgendwelchen Situationen herausgefordert, sondern die Schüler können ihre Fähigkeiten sukzessive erweitern, in verschiedenen und sich differenzierter wiederholenden Situationen über den Zeitraum des Produktionsschulbesuches. Plöhn (1998, 10) definierte diese Form des herausgeforderten Erlebens als erweitertes flow-Erleben. Massimini und Carli (1991, 312) beschreiben diese Fähigkeits- und Motivationserweiterung wie folgt: „Um die eigenen Möglichkeiten zu entwickeln, muß man sozusagen täglich eine Dosis hoher Anforderungen nehmen“ Auch Hektner (1996, 167) zeigt, dass Herausforderungen offenbar für eine optimale Entwicklung von Jugendlichen verantwortlich sind. Dies kann als pädagogisches Ziel der Produktionsschule formuliert werden, denn marginalisierte Jugendliche sollen Schritt für Schritt auf ihre Integration, also auf ihre Arbeitsstelle vorbereitet werden. Sukzessive und auf einander aufbauende Herausforderungen sind eine Bedingung, die erweiterte flow-Erlebnisse provozieren kann.

Genau dies ist das zentrale Prinzip einer Produktionsschule. Die Fähigkeiten werden individuell und sukzessive erweitert, damit die Schüler sich weiterbilden und schrittweise Fähigkeiten und eine berufliche Perspektive aufbauen können. Auf verschiedenen Ebenen werden ihre Fähigkeiten immer weiter herausgefordert – real und unmittelbar. Auf diese Weise werden wahrscheinlich flow-Erlebnisse in Produktionsschulen ausgelöst.

 

Im Folgenden werden fachliche, emotionale und soziale Herausforderungen beschrieben, die die Produktionsschulen an ihre Schüler stellen. Sie werden auf diese Weise aufgeschlüsselt, um zu zeigen, in welcher Tiefe dieser reformpädagogische Ansatz durch seine realen Herausforderungen wirkt. Es wird jeweils deutlich werden, warum das Produktionsschulkonzept hier in dieser Arbeit unter dem Schwerpunkt Herausforderung betrachtet wird.

 

Fachliche Herausforderungen

Fünf Merkmale kennzeichnen fachliche Herausforderungen: 1.) Die Schüler stehen vor einer Interesse erregenden „Sachlage“, die eine zusammenhängende Tätigkeit darstellt, an der sie etwas lernen können und die geeignet ist, so etwas wie „Training on the Job“ durchzuführen. 2.) Das heißt aus der Perspektive der Schüler, dass sie ein „echtes Problem“ lösen wollen, etwas, das sie reizt. 3.) In dem Produktionsprozess können sie mögliche Lösungswege erkennen und 4.) diese dann in „geordneter Weise“ entwickeln (5) sowie den Sinn und Wert ihres Tuns erkennen (vgl. Rapp 2000, 20). Diese vielschichtigen Merkmale fachlicher Herausforderungen machen die Bedeutung dieses pädagogischen Elements in der Produktionsschule deutlich.

Die fachlichen Herausforderungen nivellieren – praktisch gesehen – sukzessive den defizitären Wissenstand der Jugendlichen. Die erste fachliche Herausforderung liegt im Kennenlernen einer Werkstatt: Ein neuer Schüler arbeitet ohne Erfahrung auf einer angemessen Fähigkeitsstufe mit und trägt so auch schon zum Gelingen der Produktion bei. Er lässt sich auf einen achtstündigen Arbeitstag ein und setzt sich fachlich mit der Materie auseinander. Wenn sich ein zukünftiger Schüler noch unschlüssig ist, in welchem Bereich er arbeiten möchte, kann er in mehrere Werkstätten einen Einblick erhalten, in denen er sofort mitarbeitet.

Danach wartet die zweite Herausforderung: Ein individueller „Karriereplan“ wird zusammen mit den Schülerinnen erstellt. Das Arbeiten wird verbindlich, und der Plan ist dazu da, dass die Jugendlichen Verantwortung für ihre (fachliche) Entwicklung übernehmen (Jensen, interviewt in: Bullan et al. 21992, 28).

Weitere fachliche Herausforderungen werden schrittweise im Rahmen der Produktion gemeistert. Diese Herausforderungen beginnen beispielsweise in der Küche damit, Salat sandfrei zu waschen, und enden mit dem Herstellen komplizierter Gerichte.

Der Theorieunterricht, der anfangs freiwillig besucht werden kann, und später Pflicht wird, ist dann die nächste Stufe der Herausforderungen. Die Theorie steht im Zusammenhang mit der Produktion und erweitert das fachliche Wissen, etwa wenn es für den Fortschritt des Produktionsprozesses erforderlich ist. Es ist thematisch selten ein isolierter Unterricht. Die Produktion muss es zeitlich und räumlich zulassen, dass Fragen theoretisch erarbeitet werden können (Lesepausen, Diskussion, Reflexion). Bei größeren fachlichen Lücken oder wenn Schüler ihre Kenntnisse durch Zusatzunterricht verbessern wollen, findet Unterricht auch außerhalb der Produktionsräume statt. Zum Beispiel nutzen ausländische Jugendliche den Deutschunterricht, wenn sie in der Küche tätig sind und Rezepte kaum lesen können.

Die fachlichen Herausforderungen werden also in vier Schritten zunehmend gesteigert: mit dem Kennenlernen einer Werkstatt, dem individuellen Schulplan, der Produktion und schließlich dem Theorieunterricht. Zusammengefasst haben die Produktionsschulen folgenden Anspruch: „Wichtig ist, daß es in der Produktion einen Ablauf von der Idee bis zur Realisierung gibt. Der ganze Verlauf muß eine überschaubare Einheit, eine Ganzheit sein“ (Jensen, interviewt in: Bullan et al. 21992, 26). Die Schule ist also so übersichtlich organisiert, dass die Jugendlichen mit ihrem geringen Wissenstand immer einen sinnvollen Bezug zur Arbeit haben und ihre Fähigkeiten sukzessive erweitern können. Das motiviert.

Ein praktisches Beispiel dafür, wie reale Herausforderungen auf der fachlichen Ebene aussehen können, ist die Herstellung von 15 Rollstühlen für Namibia an der Bremer Produktionsschule (Hecking et al. 1994). Dort haben Konstruktionsmechaniker im dritten Ausbildungsjahr ihre anfangs geringen Kenntnisse stetig an größeren fachlichen Herausforderung weiterentwickelt. Das Projekt endete mit der Einsicht der Schülerinnen: „Man muß nicht alle fünf Minuten zum Meister gehen und fragen“ (Hecking et al. 1994, 17). Diese Erkenntnis macht deutlich, dass die Schüler sich auch selbst fachlich herausfordern, wenn sie etwas nicht wissen – sie überlegen und kommen selbständig zu einem Ergebnis.

 

Aus der Sicht der Verhaltensbiologie: Lust an Leistung

Von Cube (1998) beschäftigt sich aus verhaltensbiologischer Sicht mit dem flow-Erleben im Rahmen der Mitarbeiterführung. Er schreibt: „Lust an Leistung erlebt man dann, wenn der Sicherheitstrieb befriedigt wird. Charakteristisch für diese Lust ist, daß sie im Prozess der Leistung selbst, im ‘Fließen’ erlebt wird“ (von Cube 1998, 77).

Vor dem Hintergrund seines Menschenbildes geht er davon aus, dass Menschen das Unbekannte entdecken möchten, damit sie ein Gefühl von Sicherheit bekommen: Was ihnen nicht mehr unbekannt vorkommt, wird vertraut, das fühlt sich sicher an. Flow ist laut von Cube (1998, 29) „die Lust des Sicherheitstriebes“. Ist das Gefühl von Sicherheit zu hoch (weil beispielsweise Fähigkeiten gewachsen sind), wird nach von Cube eine Situation langweilig. Eine neue Herausforderung als Unsicherheitsfaktor evoziert wiederum flow (von Cube 1998, 81 ff.). Den Aspekt der Herausforderung bezieht der Verhaltensbiologe von Cube also auf das subjektive Gefühl von Sicherheit, nicht wie Csikszentmihalyi auf die Motivation, eine Herausforderung meistern zu wollen.

Wenn man die Schüler aus verhaltensbiologischer flow-Sicht betrachtet, kann man sagen, dass sie mit jeder bewältigten Unsicherheit (Herausforderung) ein Stück mehr Sicherheit (Selbstsicherheit, Selbstachtung, siehe oben) gewinnen. Dies wird zum Beispiel an der Motivation der Schülerinnen deutlich, die zur Erkenntnis gelangt sind, dass sie sich im Verlauf des Projektes selbst Antworten erarbeiten konnten, ohne alle fünf Minuten den Meister fragen zu müssen. Das lässt auf ein Gefühl von Sicherheit und Selbstvertrauen schließen. Auf Basis dieser Sicherheit können die Schülerinnen dann mit weiteren Herausforderungen (Unsicherheiten) ihre Fähigkeiten und ihr Sicherheitsgefühl ausbauen, das heißt die Dosis an Anforderungen sukzessive erhöhen. Das ermöglicht laut von Cube zum einen zunehmende Sicherheit, zum anderen kann daraus gefolgert werden, dass aufgrund der Sicherheitsbedürfnisse erweiterte flow-Erlebnisse möglich werden. Herausforderungen lassen sich im Rahmen der flow-Theorie somit auf der Ebene der flow auslösenden Bedingungen einordnen.

Begibt man sich in die Sichtweise von von Cube, könnte man auch einen Schritt zurück gehen und sagen, dass sich die Schülerinnen überhaupt gerade deshalb auf das unsichere (herausfordernde) Projekt Produktionsschule einlassen, weil sie hoffen, ihr Gefühl von Sicherheit im Leben insgesamt erhöhen zu können (Berufsaussichten, festes Gehalt, eigene Wohnung).

 

Ein anderes Beispiel für reale Herausforderungen an die Schüler, ist das Arbeiten in der Küche (vgl. Bullan et al. 21992, 52 ff.). Die Hamburger Produktionsschule stellt Frühstück und Mittagessen für die Schule her und ist im Catering tätig (Rapp 2000, 42). Die Kasseler Produktionsschule hat neben der Eigenversorgung beispielsweise den Auftrag, eine Kindertagesstätte zu verpflegen (vgl. Hanke & Kipp 1994). Die Herausforderungen, die die Küchenarbeit bietet, betreffen verschiedene Bereiche des Schülerlebens:

1.) Die Schüler ernähren sich vorwiegend von Fastfood und frühstücken meist nicht. In der Küche lernen sie auf ernährungsphysiologischer Ebene, dass es gesund ist, frische Sachen wie Obst und Gemüse zu essen und dass ein Frühstück wichtig ist. „Essen“ bedeutet also nicht nur Fastfood am Mittag. Die Schüler eigenen sich zudem auch Kenntnisse an, wie sie sich selbst im Alltag eine Malzeit zubereiten können, damit sie weniger vom Fastfood abhängig sind.

2.) Das Arbeiten in der Küche hat überschaubare Schritte und verschiedene Schwierigkeitsgrade (vom einfachen Salatwaschen bis zur Herstellung von Mayonnaise oder komplizierteren Dekorationen auf Torten). Hier können die Fähigkeiten auf der fachlichen Ebene immer wieder herausgefordert werden.

3.) Fachlich herausfordernd ist zudem, dass die Schüler das Essen für die gesamte Schule zubereiten. Es muss schmecken, appetitlich aussehen, in ausreichender Menge hergestellt werden und zu einer bestimmten Zeit fertig sein.

4.) Gutes Essen trägt auch dazu bei, dass die Schule als attraktiver Lebensraum empfunden wird. Damit kann die Küche das Wohlbefinden der Schüler und Lehrer in der Schule beeinflussen. Die Schüler werden also unter anderem dadurch gefordert, dass sie für das  Wohlbefinden der anderen zu sorgen haben. Dies ist nicht nur eine fachliche Herausforderung (richtige Essensplanung, Gelingen der Zubereitung), sondern auch eine emotionale (siehe nächsten Abschnitt), weil ein gewisser Druck auf den Schultern der Köche liegt, der sie möglicherweise zu guten Leistungen anspornt.

5.) Eine weitere Herausforderung ist die Bedeutung der Küche und des Essens an sich. Die Schüler lernen, dass Essen eine soziale Funktion hat, es „bietet besondere Möglichkeiten der Kommunikation“ (Bullan et al. 21992, 53). Es ist anzunehmen, dass das Essen als kommunikativer Brauch eine zwischenmenschliche Herausforderung für die meisten Schüler darstellt, weil sie den sozialen Aspekt gemeinschaftlichen Essens in ihrer Familie kaum kennen gelernt haben.

Diese traditionelle Küchenwerkstatt bietet also Herausforderungen auf verschiedenen Ebenen: Sie fördert ernährungstechnisches Wissen und gibt immer wieder Gelegenheit, sich eigene Kochkenntnisse anzueignen. Die Schüler tragen eine große Verantwortung beim Zubereiten der Speisen für die Schule, das Arbeiten in der Küche selbst bietet fachlich immer neue Herausforderungen und die Schüler lernen, dass Essen nicht nur die Funktion hat, satt zu machen, sondern dass es darüber hinaus eine soziale Funktion haben kann.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Freude am Schmecken

Auf der Ebene der flow auslösenden Bedingungen bietet das Arbeiten in der Küche immer neue Herausforderungen, beispielsweise fachliche wie Schmecken, Zubereiten und Dekorieren. „Die ESM- Studien mit dem elektronischen Empfänger haben ergeben, daß die Menschen sich selbst in unserer hochtechnisierten städtischen Gesellschaft bei den Mahlzeiten immer noch am glücklichsten und entspanntesten fühlen“ (Csikszentmihalyi 1993, 155). Die Nahrungsaufnahme ist nicht nur ein Urvergnügen, das satt macht, sondern die Essenszubereitung hat sich seit der Zeit der Jäger und Sammler bis heute immer weiter verfeinert – bis zur Gourmetküche. Die Menschen haben sich in ihrer Entstehungsgeschichte also mit Aufmerksamkeit und Experimentierfreude auf eine Suche nach Geschmäckern begeben, nicht, um besser satt zu werden, sondern weil das Experimentieren Freude macht und flow auslöst: Das Zusammenstellen von Gerichten, das Schmecken, das Identifizieren von Zutaten und Gewürzen bietet Herausforderungen. Doch „in unserer Kultur bemerken viele Menschen trotz des plötzlichen Auflebens der Gourmetküche kaum, was sie sich in den Mund schieben, und versäumen daher viele Möglichkeiten, sich zu freuen“ (Csikszentmihalyi 1993, 156).

Das Arbeiten in der Küche bietet also interessierten Schülern auf der persönlichen Ebene die Gelegenheit, sich über Geschmäcker zu freuen und möglicherweise beim Zusammenstellen der Zutaten, Abschmecken und Verfeinern flow zu erleben, da ihr Gaumen herausgefordert wird. Damit haben die Produktionsschüler in der Küche auch die Möglichkeit, sich von ihren eher mechanischen Fastfood-Gewohnheiten zu verabschieden.

 

Emotionale Herausforderungen

Nachdem die Möglichkeiten umrissen worden sind, wie die Schüler fachlich herausgefordert werden können, beschäftigt sich dieser Abschnitt nun damit, welche emotionalen Herausforderungen auf die Schülerinnen in der Produktionsschule zukommen können. Diese geben neben den fachlichen eine Orientierung – und möglicherweise Ziele – für das eigene Leben.

Ungefähr 1500 Schüler verlassen allein in Hamburg jährlich ihre Schule ohne einen berufsqualifizierenden Abschluss (Rapp 2000, 37). Viele davon haben „jede Motivation zum Lernen verloren“ (ebd.). Wenn die Schüler in der Schule unter anderem auch emotional herausgefordert werden heißt dies, dass sie lernen, ihr Leben ein Stück weit selbst in die Hand zu nehmen (Rapp 2000, 38) und dass sie ihre Motivation wiederfinden. Ein Schüler: „Also, ich wusste das nicht immer, was ich machen wollte. Aber-, ich habe mehrere Sachen ausprobiert, zum Beispiel Friseur, Kosmetik, dann hab ich im Tierheim was gemacht, und dann hab ich auch Floristik gemacht. Ja und was hab ich noch gemacht, das weiß ich jetzt gar nicht mehr. Ja und dann kam ich irgendwann auf Garten- und Landschaftsbau [...], dann hab ich gemerkt, dass es supertoll ist, dass man sich da richtig auspowern kann [...], und deswegen denk ich, dass das genau das Richtige war. Abends komm ich nach Hause, mach mich fertig, esse was und dann fall’ ich tot ins Bett. Das ist einfach das Schönste“ (Weise 2000, 105). Dieser Schüler beschreibt auf emotionaler Ebene, wie es ihm mit der richtigen Wahl seines Berufes ergeht. Insofern führen offensichtlich nicht nur allein fachliche Herausforderung zur Lebensorientierung und Zufriedenheit, sondern auch die damit verbundenen Emotionen. So können Schüler die Fähigkeit erwerben, persönlich bedeutsame Ziele zu pflegen, eine Fähigkeit, über die die Zielgruppe der Berufsschulen meist nicht verfügt (Rapp 2000, 27). Damit kann die Berufsvorbereitung als Ziel der Produktionsschule gelingen. Dies ist ein zweites Argument, für die Bedeutung von Herausforderungen in dieser Schulform. Die emotionalen Herausforderungen wirken den emotionalen Defiziten der Schüler entgegen, also ihrem geringen Selbstvertrauen, ihrer geringen Selbsteinschätzung und ihrem Gefühl, ein Versager zu sein. Dies wird in der oben zitierten Aussage des Schülers deutlich.

In der Altonaer Produktionsschule führen zum Beispiel folgende Elemente der Pädagogik dazu, dass die Schüler emotionale Herausforderungen erfahren:

1)      Jungen und Mädchen werden gleichrangig behandelt.

2)      Die Jugendlichen müssen ein Wahlfach belegen.

3)      Die Jugendlichen sollen einen Sinn in Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit und Ausdauer erblicken.

In der Produktionsschule werden die Fähigkeiten von Jungen und Mädchen fachlich gleichrangig bewertet und gleich stark herausgefordert: Die Fähigkeiten von Mädchen, häufig im Küchen- und Textilbereich, werden genauso herausgefordert wie die der Jungen in der Tischlerei (Bullan et al. 21992, 40).

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Chancengleichheit

Jeder soll die gleichen Chancen in der Schule bekommen. Wenn es darum geht flow auszulösen, wirkt sich diese emtionsbezogene Metaebene positiv aus: „Durch Chancengleichheit und Gleichheit vor dem Gesetz wird es möglich, daß alle, sofern sie bestrebt sind, ihre eigenen Interessen zu verwirklichen, in Frieden zusammenleben“ (Csikszentmihalyi 1995, 344). Wenn Menschen also bestrebt sind, komplexer zu werden, bietet Chancengleichheit den Jugendlichen in der Schule die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten und ihre Persönlichkeit in friedlicher Koexistenz zu entwickeln. Werden sie dagegen ungleich behandelt, kann es zu Neid und Eifersucht kommen (Csikszentmihalyi 1995, 140).

Reaktionen wie Gefühle von Zweitrangigkeit, die die Schüler in ihrem sozialen Umfeld erfahren und auch als Stigma übernommen haben, versucht die Produktionsschule zu vermeiden, indem sie es sich zum Grundsatz macht, alle Fähigkeiten der Jugendlichen gleich zu behandeln und den Jugendlichen gleiche Chancen einzuräumen. Auf diese Weise können sie gezielt ihren Interessen nachgehen und sich auf ihre Herausforderungen konzentrieren. Sie werden nicht von Gefühlen wie etwa Neid oder Eifersucht abgelenkt, die durch ungleiche Behandlung entstehen. Anders ausgedrückt: Friedliche Koexistenz sowie friedliche Zusammenarbeit werden in den Produktionsgruppen gefördert (Bullan et al. 21992, 9). Da eine potentielle Antiflow-Quelle (Neid und Eifersucht) ausgeschaltet wird und sich die Schüler allein deshalb schon etwas besser auf herausfordernde Situationen konzentrieren können, wird der Zugang zu flow leichter möglich als bei ungerechter Behandlung. Die Beachtung von Gleichrangigkeit ist kein direkter flow förderlicher Aspekt, wirkt aber vermutlich indirekt, da sie flow verhindernde Störfaktoren ausschaltet.

 

Das Wahlfach ist ein weiteres Beispiel für die Anforderungen, die an die Emotionen der Schüler gestellt werden. An einem Tag in der Woche wird nicht in den Werkstätten gearbeitet, sondern die Schülerinnen sollen sich mit Dingen beschäftigen, die ihnen persönlich wichtig sind. Sie haben die Möglichkeit, „ihre Sinne zu schärfen und positiv besetzte, unbekannte sinnliche Erfahrungen zu machen“ (Bullan et al. 21992, 64). Die Schüler können in Hamburg beispielsweise unter folgenden Wahlkursen entscheiden: persönliche Lebenshilfe (zum Beispiel Partnerschaft und Sexualität, Konflikte in der Familie, Umgang mit Behörden oder „Wie komme ich zu einer Wohnung?“); kreativ-sportliche Kurse (Lesen und kreatives Schreiben, Theater, Tanz oder Ballspiele, Kanufahren oder Yoga); politische oder soziale Themen (zum Beispiel Umweltprobleme).

Die Schüler entscheiden sich oft für ein Thema, das ihnen in ihrer Situation Antworten auf drängende Fragen gibt. Auf diese Weise werden die Schüler mit dem Wahlfach emotional dort abgeholt, wo sie sich gerade befinden (Bullan et al. 21992, 65), und haben die Möglichkeit, ihr Selbstvertrauen aufzubauen.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Wahlmöglichkeiten[7]

Wahlmöglichkeiten sind auf der Ebene der flow auslösenden Bedingungen einzuordnen, und zwar als eine der Voraussetzung, die eine autotelische Umgebung ausmachen. (Csikszentmihalyi 1993, 124; Rathunde 1991, 353). Über Wahlmöglichkeiten bekommen Menschen das Gefühl, Kontrolle[8] zu haben und ihre Interessen zu steuern können (vgl. Rathunde 1991, 353). Die Produktionsschule bietet den Jugendlichen Wahlmöglichkeiten an.

Da die Schüler wählen können, womit sie sich im Rahmen des ergänzenden Lernens befassen wollen, trägt die Produktionsschule mit ihrem Wahlangebot somit zu einer autotelischen Umgebung bei. Dies fördert autotelisches Verhalten (Rathunde 1991, 353). Dabei ist zu beachten, dass die Jugendlichen nicht sich selbst überlassen werden (ebd.) sondern einen Entscheidungsspielraum erhalten. Unter diesen Vorrausetzungen können vermutlich auch andere flow auslösende Bedingungen zu flow führen als in nicht-autotelischen Situationen, in denen keine Wahlmöglichkeiten bestehen. Dabei ist es nicht wichtig, dass die Jugendlichen eine Riesenauswahl an Angeboten zur Verfügung haben, es reichen auch wenige Auswahlmöglichkeiten, denn sonst kann eine Wahl zur Qual werden: „Die unvermeidliche Konsequenz gleich attraktiver Chancen ist Unsicherheit bei der Wahl eines Ziels: Unsicherheit wiederum nagt an der Entschiedenheit, und Mangel an Entschiedenheit entwertet die Möglichkeiten“ (Csikszentmihalyi 1993, 294). Die Produktionsschule bietet also eine überschaubare Handlungsfreiheit, die zur Bildung einer autotelischen Umgebung beiträgt. Dadurch kann der Zugang zu flow-Erlebnissen unterstützt werden.

 

Eine dritte emotionale Herausforderung liegt im Erlernen von Arbeitstugenden: Sorgfalt, Ausdauer, Tempo, Zusammenarbeit mit anderen. Diese Sekundärtugenden sind wichtig, weil sie den Produktionsprozess voranbringen. Da diese Anforderungen Sinn machen, können sie trotz der „der subjektiv unendlich wichtigeren persönlichen Probleme“ (Bullan et al. 21992, 13) erfüllt werden. „Die durchaus notwendige und schwierige Erziehung zur Pünktlichkeit ist nur möglich, wenn pünktliches Erscheinen für den Jugendlichen und seine Mitwelt als notwendiges Mittel zum wichtigen Zweck erkennbar ist. Pünktlichkeit lernt ein unpünktlicher Schüler nicht dadurch, daß sein Lehrer diese Tugend von ihm verlangt“ (Bullan et al. 21992, 13). Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit und Ausdauer zu erlernen ist also eine emotionale Herausforderung, die gemeistert werden muss, damit ein Produkt termingerecht und qualitativ hochwertig auf den Markt kommen kann. Dadurch lernen die Schüler emotional etwas, das vorher in ihrem Leben keinen Sinn machte. Denn gerade an leeren Anforderungen der „Sekundärtugenden“ sind die Schüler an den vorherigen Schulen gescheitert (Bullan et al. 21992, 14).

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Bedeutungssysteme

Csikszentmihalyi schreibt Sinn und Bedeutung wichtige Funktionen zu (Csikszentmihalyi 1993, 283 ff.), was in der flow-Theorie auf die Ebene der flow auslösenden Bedingungen: „Jede menschliche Kultur enthält definitionsgemäß Bedeutungssysteme, die ihr einen allumfassenden Sinn geben, an dem das Einzelwesen seine Ziele ausrichtet“ (Csikszentmihalyi 1993, 286). Überträgt man diesen soziologischen Gedanken auf die Produktionsschule als eine Kultur im Kleinen (da die Jugendlichen Träger kultureller Werte sind), entstehen in den Schulen Bedeutungssysteme durch die Herstellung eines jeweiligen Produktes. So sind etwa Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit und Ausdauer in dieses Bedeutungssystem eingebunden und an der Produktion als Ziel ausgerichtet. Ihre Funktionen sind leicht einsehbar und machen somit für das Verhalten der Jugendlichen Sinn. Sie können Ordnung ins Bewusstsein bringen, weil sie mit dem übergeordneten Ziel der Produktion in Einklang stehen[9] (vgl. Csikszentmihalyi 1993, 283 f.). Diese ineinandergreifenden Herausforderungen, die auf ein Ziel ausgerichtet sind, können flow-Erlebnisse evozieren (Csikszentmihalyi 1993, 285).

 

Soziale Herausforderungen

Auch hier, unter dem Aspekt des Zwischenmenschlichen, soll begründet werden, warum reale Herausforderungen in dieser Schulform einen zentralen Stellenwert haben: Die Schüler stellen ein Produkt im Team her, lernen, sich mit Kollegen auseinander zu setzen. Sie machen Bekanntschaft mit innerbetrieblichen Umgangsformen, lernen Verantwortung zu übernehmen (Mertens 2000, 56) und arbeiten in einer Ersatz-Familienatmosphäre (Rapp 2000, 41; Bullan et al 21992, 44). Dies sind für Schüler aus schwierigen familiären Verhältnissen soziale Herausforderungen, mit denen sie oft erst in der Schule konfrontiert werden.

Nach den bisher beschriebenen fachlichen und emotionalen werden im Folgenden zwei soziale Herausforderungen betrachtet, die für das Gelingen der Produktion notwendig sind: das Einhalten von Regeln und das Erlernen von sozialer Geborgenheit. Sie ermöglichen neue, positive Erfahrungen, die in Kontrast zu denen aus meist lieblosen Elternhäusern stehen.

Schulregeln werden „für das Funktionieren der Produktionsschule aufgestellt“ und haben das „Ziel, Sicherheit im Umgang miteinander und mit der Produktion zu vermitteln“ (Bullan et al. 21992, 43). Betrachtet man etwa die Regeln hinsichtlich der Umgangsformen, so dürfen die Schülerinnen zum Beispiel keine Gewalt anwenden. Sie müssen ihre Konflikte auf andere Weise lösen. Werden Regeln übertreten, hat das Konsequenzen. Wenn Schülerinnen zum Beispiel einen Schaden anrichten, müssen sie ihn selbst beseitigen oder zumindest beitragen, dass er beseitigt wird. Fehlen Schüler unentschuldigt, obwohl sie sich freiwillig zum regelmäßigen Erscheinen verpflichtet haben, so wird Geld vom Schülergehalt abgezogen. Die Strafen erfolgen nicht gemäß einem starren Katalog, sondern die Situation wird dabei mit berücksichtigt. Doch führen schwerere Verstöße wie Diebstahl oder Gewalt meist zum Ausschluss aus der Produktionsschule (Bullan et al. 21992, 43 f.).

Lehrer haben auf der Ebene der sozialen Interaktion eine Modellfunktion: Sie sollten neben ihrer fachlichen und pädagogischen Qualifikation in ihrer Persönlichkeit „den Mut zum eigenen Stil haben“ (Bullan et al. 21992, 46). Von den Lehrern wird erwartet, dass sie ihren eigenen Sprachstil, ihren eigenen Kleidungsstil haben, verlässlich, berechenbar und durchschaubar sind. Sie sollen auch klare Anweisungen geben, nicht im Befehlston, aber auch nicht als Bittstellung. Durch ihren ganz persönlichen Stil leben sie den sie den Schülern vor dass man als Individuum eigene Vorstellungen haben und dennoch Regeln akzeptieren kann.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Regeln

Betrachtet man die Ebene der flow-Auslöser, so sind Regeln notwendig, damit ein Ziel erkennbar und flow dadurch möglich wird (Csikszentmihalyi 1993, 294).

Regeln bieten einen Handlungsrahmen. Dies ist für die Produktionsschüler aufgrund ihrer Biographie wichtig, um über klare Regeln ihre Interessen und ihre Motivation zu finden. Allerdings zeigen mögliche gesellschaftspolitische Auswirkungen, dass die regeln nicht zu eng gesetzt sein dürfen: „Die Verheißungen des Nationalsozialismus, Marxismus und der verschiedenen religiösen Fundamentalisten geben den Menschen ein einfaches Sortiment von Zielen und Regeln“ (Csikszentmihalyi 1997a, 455). Enge Regeln wirken anfangs motivierend auf kleine Gruppen und ganze Gesellschaften (vgl. ebd.), „doch die Kehrseite läßt nicht lange auf sich warten: Intoleranz, Unterdrückung, Härte und Fremdenfeindlichkeit, die zu Kriegen oder Schlimmerem führen“ (ebd.). Regeln sollen also einen Rahmen bieten und Handlungsspielräume zulassen, nicht das Denken und Handeln in ein Korsett pressen.

Regeln in der Produktionsschule geben einen Rahmen vor und werden „für das Funktionieren der Produktionsschule aufgestellt“ (Bullan et al. 21992, 43): Betrachtet man beispielsweise die Regeln der Umgangsformen, so dürfen die Schüler etwa keine Gewalt anwenden (anders als bei den meisten Schülern zu Hause). Es wird erwartet, dass sie ihre Konflikte auf andere Weise lösen. Die Schüler müssen in der Produktion miteinander kommunizieren und zuverlässig handeln, damit sie ihre Arbeit aufeinander abstimmen können. Wenn nicht nur die Produktion, sondern auch der Umgang untereinander gut läuft, können die Arbeitsgruppen aufgrund fachlicher sowie zwischenmenschlichen Situationen flow erleben (vgl. nächsten Kasten).

Diese Schulform nutzt Regeln als sinnvolle Wegweiser, die nicht als Dogma dienen, sondern vielmehr Grenzen für einen funktionierenden Handlungsspielraum darstellen. Das ermöglicht eine Basis, auf der die flow-Erlebnisse entstehen können.

 

Ein zweiter Aspekt, der die Schüler sozial herausfordert, ist das Erlernen von sozialer Geborgenheit. Dies ist vor allem deshalb eine (pädagogisch begleitete) Herausforderung, weil die meisten Schülerinnen Geborgenheit aus ihrem Elternhaus nicht kennen und erst anhand der Teamarbeit im Produktionsprozess erlernen. Die Jugendlichen erleben in kleinen Gruppen (bis zu zehn Schüler), dass sie für den Produktionsprozess wichtig sind und sich die „Kollegen“ auf sie verlassen können müssen, damit sie als Gruppe das Produkt überhaupt fertig stellen können. So lässt sich eine effektive selbstverantwortliche Zusammenarbeit erreichen. Dadurch entsteht ein Gefühl sozialer Geborgenheit, das sich positiv verfestigen kann (Bullan et al. 21992, 42 f.).

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: flow-Erlebnisse durch die Gruppe

„Die ideale soziale Gemeinschaft zur Realisierung eines Ziels ist eine Gruppe, die klein genug ist, um einen intensiven persönlichen Austausch zu gewährleisten, die auf einer freiwilligen Teilnahme basiert und jedem Mitglied die Möglichkeit gibt, zum gemeinsamen Ziel beizutragen, indem die Person das tut, was sie am besten kann“ Eine Gruppe dieser Art kann ein „Höchstmaß an flow-Erlebnissen“ auslösen (Csikszentmihalyi 1995, 368). Csikszentmihalyi beschreibt hier vier Kriterien, die die Produktionsschule erfüllt, un die auf der flow auslösenden Ebene einzuordnen sind: 1.) Die Schülerinnen nehmen auf freiwilliger Basis an Produktion und Unterricht teil. 2.) Die Produktionslinien bestehen beispielsweise in Hamburg aus zehn Personen, die einen intensiven Austausch realisieren können. Das ist förderlich für das Gelingen der Produktion. 3.) Jeder Schüler trägt zu einem gemeinsamen Produkt oder einer gemeinsamer Dienstleistung bei, und schließlich setzt 4.) jeder seine Fähigkeiten ein, damit das Produkt professionellen Ansprüchen genügt. Damit ermöglicht die Produktionsschule optimale Voraussetzungen für ein Höchstmaß an flow-Erlebnissen in den Arbeitsgruppen. In Kombination mit einzelnen fachlichen Herausforderungen kann die Teamarbeit mit viel flow verbunden sein.

 

Das letzte für die Anfangsmotivation der Schüler bedeutsame pädagogische Element der Produktionsschule ist die Gestaltung der Schule als Lebensraum. Es soll eine Atmosphäre entstehen, die nicht wie die in den Familien belastend wirkt, sondern in der die Jugendlichen sich wohl fühlen können. Denn „in der Produktionsschule wird nicht nur miteinander gearbeitet, sondern gemeinsam gelernt, gegessen, gesungen, gespielt und gefeiert, hier wird zusammen gelebt“ (Bullan et al. 21992, 44)[10]. Aus diesem Grund haben die Räume mit ihren unterschiedlichen Funktionen unterschiedliche Einrichtungen: der „klug und pfiffig“ gestaltete Essensraum und der Pausenraum dienen zur Erholung und unterscheiden sich etwa vom Klassenraum, in dem gerade Deutsch unterrichtet wurde, sie unterscheiden sich auch von den Werkstätten. Insgesamt ist die Produktionsschule hell und freundlich eingerichtet, damit sie die Jugendlichen nicht an „Schule“ erinnert.

Zusammen mit den Aktivitäten, wie Essen, Singen und Veranstaltungen soll der Lebensraum Schule das Gefühl von sozialer Geborgenheit vermitteln.

 

Aus der Sicht der flow Theorie: Raumgestaltung

Jeder Raum mit einem eigenen „Gesicht“ hat eine andere psychische Auswirkung auf Menschen (Csikszentmihalyi 1997b, 44). Zum Beispiel berichten amerikanische Männer, dass sie sich im Hobby-Keller wohl fühlen. Frauen sind demgegenüber besonders gut aufgelegt, wenn sie sich im Badezimmer aufhalten (wo sie von den Forderungen der Familie relativ unbehelligt bleiben) oder wenn sie in der Küche sind und beim Kochen ein Gefühl von Kontrolle empfinden (Csikszentmihalyi 1997b, 44). Räume können also mit Emotionen verbunden sein, weil in ihnen Aktivitäten stattfinden, die mit unterschiedlichen Gefühlszuständen verbunden sind. Vor diesem Hintergrund gestaltet auch die Produktionsschule ihre Räume unterschiedlich. Indem die Räume gerade nicht an Schule erinnern, soll die Umgebung das Wohlbefinden der Schüler fördern.

Csikszentmihalyi schreibt jedoch auch, dass eine kreative Umgebung allein nicht unbedingt neue nobelpreisverdächtige Ideen hervorbringt. Nicht der Zusammenhang Umgebung - Eingebung, scheint kausal zu sein, sondern eine „geistige Vorbereitung“ (Csikszentmihalyi 1997a, 197) ist offenbar in Verbindung mit einer neuen Umgebung von großer Bedeutung: „Nur wenn man mit einer drängenden Frage und dem notwendigen symbolischen Rüstzeug für ihre Beantwortung in eine reizvolle Umgebung kommt, kann diese ihre Wirkung entfalten“ (Csikszentmihalyi 1997a, 197). Überträgt man diesen Gedanken auf die Situation der Produktionsschüler, so besteht geistige Vorbereitung möglicherweise darin, dass sie aus ihrer Sackgassensituation seit längerem heraus wollen und es mit Hilfe anderer pädagogischer Institutionen bisher nicht geschafft haben. Das notwendige symbolische Rüstzeug kann die Ausarbeitung der individuellen Karrierepläne sein, ein persönlicher Leitfaden, dessen Umsetzung pädagogisch unterstützt wird.

Die Produktionsschule macht aus Sicht der flow-Theorie (auf der Ebene der flow-Auslöser) also mit der Raumgestaltung einen vorbereitenden Schritt, um das Wohlbefinden der Schüler bei ihren jeweiligen Aktivitäten positiv zu beeinflussen. Bei zunehmender Entwicklung der Fähigkeiten können – so Csikszentmihalyi – dann Denkprozesse positiv unterstützt werden. Diese sind dann möglicherweise Grundlage für flow-Erlebnisse.

 

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Produktionsschulen Herausforderungen auf drei Ebenen (die fachliche, emotionale, soziale) ermöglichen. Sie sollen in dieser Schulform für eine marginalisierte Zielgruppe zusammen eine Ganzheit (s.o.) ergeben, sodass die Schüler ihre Fähigkeiten sukzessive für ihre Berufsvorbereitung nutzen können. Die reale Herausforderung wurde hier aus Sicht der flow-Theorie als zentrales Element der Produktionsschulpädagogik gesehen, weil sie auf verschiedenen Ebenen wirkt.

 

Auswirkungen

Die erste Auswirkung dieser Pädagogik der realen Herausforderung ist, dass Schülerinnen – ehemals ohne Perspektive auf einen Ausbildungsplatz – motiviert arbeiten: Bullan et al. (21992, 9) haben bei allen Produktionsschulen „übereinstimmend festgestellt, daß ernsthaft gearbeitet wurde und daß eine fröhliche und kooperative Atmosphäre herrschte. [...] Gammeln, sich drücken oder Aggressionen gab es nicht, waren für uns nicht feststellbar.“ Ausgrenzungsgefährdete Jugendliche mit wenig Wissen, emotional und sozial am Rand der Gesellschaft, haben unter anderem durch reale Herausforderungen einen Sinn entdeckt, der sie zum Arbeiten und Lernen motiviert.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Ziele ernst nehmen

„Kein Ziel kann große Wirkung haben, wenn man es nicht ernst nimmt“ (Csikszentmihalyi 1993, 293). Die Schüler arbeiten in einer Produktionsschule ernsthaft. Die Jugendlichen können ineinander greifenden Aspekte des Produktionsprozesses ernst nehmen, weil die Herstellung des Produktes und die Nachfrage keine Scheinsituationen darstellen.

Betrachtet man diese Auswirkung der Produktionsschulpädagogik in der flow-Theorie auf der Ebene der flow-Auslöser, so scheinen reale Herausforderungen oder Ziele ein nützliches Mittel zu sein, um ausgrenzungsgefährdete Jugendliche zum Arbeiten und Lernen zu motivieren. Die Arbeitsatmosphäre ist „fröhlich und kooperativ“. Vor diesem Hintergrund kann man annehmen, dass Produktionsschulen flow förderliche Lern- und Arbeitsumgebung schaffen. [11]

 

Der Erfolg der Produktionsschule zeigt sich auch in einer zweiten Auswirkung ihrer Pädagogik der Herausforderungen: „Ungefähr drei Viertel der Jugendlichen finden nach dem Besuch der Produktionsschule Arbeit oder Ausbildung, der wesentliche Teil Ausbildung. Diese Zahlen sind sicherlich die politische Begründung für die Ausweitung dieser Schulform“ (Jensen, interviewt in: Bullan et al. 21992, 30)[12] Heute gibt es über 100 Produktionsschulen in Dänemark (Die erste Produktionsschule ...).

 

 

 

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Anforderungen herausgefunden

„Wir müssen [..] stückweise und experimentell herausfinden, welche Kombinationen von Anforderungen und Fähigkeiten für ein Schulzimmer [...] vorgesehen werden können, so daß möglichst viel Leute Zugang zu flow finden“ (Csikszentmihalyi 1985, 232). Diese frühe Forderung Csikszentmihalyis, die sich auf die flow auslösende Ebene der flow-Theorie bezieht , scheint in der Produktionsschule eine Umsetzung gefunden zu haben. Die Befürworter der Produktionsschule haben entdeckt, welche Anforderungen an die jeweiligen Fähigkeiten der Schülerinnen in den „Klassenzimmern“ angebracht sind. Die Schüler werden fachlich, emotional und sozial dort abgeholt, wo sie in ihrer Entwicklung stehen: Sie erhalten einen individuellen Ausbildungsplan, ihre Fähigkeiten werden auf unterschiedlichen Ebenen herausgefordert, sie werden fachlich und pädagogisch auf ihrem Weg zu einem neuen Lebensabschnitt betreut. Man kann davon ausgehen, dass dieses reformpädagogische Konzept richtige Anforderungen für ihre Zielgruppe gefunden hat und wahrscheinlich durch das Zusammenwirken vieler dosierter Herausforderungen flow-Erlebnisse evoziert.

 

Zusammengefasst: In der Produktionsschule entstehen durch das Ziel, ein Produkt herzustellen, reale Herausforderungen auf fachlicher, emotionaler und sozialer Ebene. Sie können, wie oben bereits erwähnt, im Erziehungsprozess nicht voneinander getrennt werden: Wenn die Schülerinnen beispielsweise fachlich immer weiter herausgefordert werden, können sie dies nur bewältigen, wenn sie emotional dazu auch hinreichend motiviert sind. Wenn sich die Schüler emotional auf Sekundärtugenden einlassen, gleichfalls steht dieser Lernprozess auch mit fachlichen und sozialen Einsichten in Zusammenhang. Wahrscheinlich strahlt eine gemeisterte Herausforderung auf andere Bereiche des Schülerlebens aus (LeFevre 1991, 323):[13] So gesehen erweist sich die pädagogische Wirkung der realen Herausforderungen erneut als mehr als die Summe ihrer Teile.

 

Weitere flow-Elemente

Bisher ist das Wesen der Produktionsschule aus der Sicht des herausfordernden Moments betrachtet worden, womit die ersten beiden Schritte der Horizontverschmelzung vollzogen worden sind: 1.) Da Herausforderungen mit einem Kriterium der flow-Theorie übereinstimmen und vor dem Hintergrund der Kausalitätsfeststellung von Csikszentmihalyi (1993, 278) flow auslösende Wirkung haben können, wurde bei der Untersuchung des Produktionsschulkonzepts der Schwerpunkt auf die realen Herausforderungen gelegt, die dieser Schulform bietet. 2.) Charakteristische Aspekte dieses Schulkonzepts wurden aus der Sicht der flow-Theorie dargestellt und erklärt, um zu zeigen, dass viele einzelne Elemente der Produktionsschulpädagogik als flow unterstützend angesehen werden können.

In diesem Abschnitt werden nun weitere flow-förderliche Bedingungen des Produktionsschulkonzepts beschrieben, die mit den Elementen des flow-Phänomens übereinstimmen. Dieser dritte hermeneutische Schritt wird zeigen, dass die Produktionsschule nicht nur Herausforderungen als flow-Auslöser ermöglicht, sondern auch andere Katalysatoren für flow aufweist. Je mehr Übereinstimmungen zwischen Elementen des flow-Phänomens und der pädagogischen Praxis sich finden, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Produktionsschule tatsächlich flow evoziert.

Ziele. Die Schüler haben Ziele auf mehreren Ebenen. Zum einen wollen sie in einem überschaubaren Zeitrahmen zusammen mit anderen ein Produkt herstellen: ein Essen, einen Rollstuhl, eine Website. Die Ziele sind sinnvoll: Die Jugendlichen arbeiten und lernen nicht für den Papierkorb, sondern es geht darum, für einen Kunden ein Produkt fertig zu stellen. Das Gesamtziel, ein Produkt herzustellen, unterteilt sich dabei in unterschiedlich große Ziele für Anfänger oder „Experten“. Neben der fachlichen Ebene gibt es die persönliche: Die Schüler sind freiwillig in der Schule, weil sie das Ziel haben, ihr Leben zu verändern. Sie wollen sich qualifizieren, um eine Ausbildungsstelle oder einen Job zu finden, um ein geregeltes Leben zu führen und nicht sozial abzurutschen. Die Produktionsschule ist für diese verschiedenen Ziele mit individueller Unterstützung da. Sie schafft also mit der Möglichkeit, konkrete Ziele verfolgen zu können, weitere flow-förderliche Bedingungen.

Feedback und Kontrolle. Die Produktionsschule ermöglicht Feedback und Kontrolle hauptsächlich im Produktionsprozess. 1.) Die Schüler merken, dass sie das Produkt Schritt für Schritt fertig stellen. Sie sehen beispielsweise beim Verkauf des Mittagessens in der eigenen Schule, ob und wie es den anderen Schülern und Lehrern schmeckt. Dies kann als konkrete Rückmeldung verstanden werden. 2.) Da Theorie und Praxis in dieser Schulform aufeinander abgestimmt sind, sehen die Schüler, wie sich ihr Wissen stückweise erweitert, wie sie sukzessive Fähigkeiten für die Herstellung erwerben. Besonders im Vergleich zu neuen Mitschülern kann ein Schüler seine eigenen Fortschritte ermessen. 3.) Die Motivation der Fortgeschrittenen kann als „externe“ Kontrollmöglichkeit dienen, die zeigt, dass das Lernen und Produzieren auch noch nach zwei Jahren Freude macht (vielleicht sogar aufgrund der „Expertise“ macht als am Anfang [Rheinberg 1996, 106]). Die Produktionsschule ermöglicht also sehr konkrete fachliche Rückmeldungen und Kontrollerfahrungen. Eine Lehrerin dazu: „Bei diesen Schülern merkt man einen ganz großen Entwicklungsschub innerhalb eines Jahres, [...] weil sie sehr oft zum ersten Mal in ihrer Schulkarriere merken und auch bestätigt kriegen, dass sie was können“ (Weise 2000, 105). Die Lehrer geben den Schülern also auch regelmäßig Rückmeldungen, sodass die Schüler Kontrolle über ihren Entwicklungsprozess bekommen. Eine Schülerin beschreibt ihre Kontrollerfahrungen: „Ich hatte so ein bisschen Panik, dass das nicht so hinhaut, auch so mit der Zeit [...], aber es hat ja gut geklappt [...], dadurch hab ich eigentlich sehr viel gelernt“ (Weise 2000, 106).

Auch auf zwischenmenschlicher Ebene gibt es wahrscheinlich Rückmeldungen: Wenn die Schüler termingerecht arbeiten, kann sich ein Vertrauensverhältnis in der Arbeitsgruppe aufbauen, die Schüler fühlen sich dazugehörig, ihnen wird von Lehrern und Mitschülern Verantwortung aufgetragen und Vertrauen entgegengebracht. Diese Rückmeldungen bleiben wohl eher unbewusst, wenn sie nicht durch pädagogische Betreuung transparent gemacht und auf eine Metaebene gebracht werden. Auch auf der emotionalen Ebene können positive Rückmeldung und Kontrollerfahrung stattfinden: Die Schüler trauen sich mehr zu, packen im Produktionsprozess unbefangener und selbstbewusster mit an. Ihnen gelingt immer mehr. Diese Rückmeldung motiviert zu weiterem Lernen und Arbeiten[14]. Schließlich erfolgt eine Rückmeldung über erworbene Fähigkeiten, wenn die Jugendlichen einen Ausbildungsplatz oder einen Job finden. Das löst vermutlich auch ein Gefühl von Kontrolle aus: Die Schüler merken, dass sie ihr eigenes Leben gestalten können. Durch Rückmeldungen und Kontrollerfahrungen schafft die Produktionsschule eine weitere flow förderliche Voraussetzung.

Konzentration. Konzentration wird gefördert, weil die Produktionsschule mit dem Produktionsprozess, der eine „überschaubare Einheit“ bildet, pädagogisch wirken will. Durch das Mittel der Überschaubarkeit wird versucht, bei den Schülern Orientierungslosigkeit zu verhindern. So können sich die Jugendlichen auf den Produktionsprozess wie auch auf den dafür notwendigen theoretischen Unterricht konzentrieren. Durch pädagogische Begleitung, durch Gleichbehandlung der Geschlechter und durch Regeln wird die Konzentration auch indirekt gefördert, weil dadurch Ablenkungen wie etwa Streit mit Kollegen oder das Gefühl von Benachteiligung minimiert werden. Diese Schulform ermöglicht also durch ihre konzeptionelle Gestaltung die Konzentration auf Wesentliches. Die Schüler können lernen, Prioritäten zu setzen und sich auf ihre Ziele zu konzentrieren. Damit bietet die Produktionsschule eine weitere Vorrausetzung, die flow- Erlebnisse begünstigt.

Struktur. Das Arbeiten und Leben in einer Produktionsschule ist strukturiert. So ergeben sich durch den Produktionsprozess eine fachliche Struktur und ein zeitlicher Rahmen, in dem das Produkt fertiggestellt werden muss. Die Jugendlichen arbeiten ganztags in der Schule, haben geregelte Pausen- und Ferienzeiten. Praktisches Arbeiten und theoretischer Unterricht sind als „Ganzheit“ (Jensen, interviewt in: Bullan 21992, 26; Weise 2000, 112) aufeinander abgestimmt, sodass Fähigkeiten Schritt für Schritt gezielt erweitert werden können – jeweils vor dem Hintergrund eines individuellen Ausbildungsplans. Regeln im Umgang untereinander strukturieren das Zusammenarbeiten und die Umgangsformen. Diese Schulform ist nicht zuletzt deshalb strukturiert, weil sie sonst weder erfolgreich produzieren noch die Jugendlichen auf eine Lebensperspektive vorbereiten könnte. Die Struktur ist jedoch nicht starr, sondern zeigt den Jugendlichen Grenzen und Leitlinien auf, ermöglicht also in einem gewissen Rahmen Handlungsspielräume. Struktur stellt eine weitere Bedingung dar, die flow auslösen kann.

Freiheit. Freiheit ermöglicht die Produktionsschule zum einen insofern, als die Schüler freiwillig die Schule besuchen. Sie können die Schulausbildung jederzeit beenden. Freiheit ermöglicht die Schule auch in der Wahl des „Faches“: Je nach den Produktionsbereichen einer Schule können sich die Schüler in bestimmte Berufe einlernen. Formal mag diese Schulform auf den ersten Blick im Verglich zu anderen Schulen weniger frei wirken, weil sie meist eine Ganztagsschule ist, die Schüler zum Teil weniger Ferien haben und auch Termindruck und reale Anforderungen zu spüren bekommen. Allerdings fördert dieses sinnvolle Arbeiten möglicherweise öfter ein Gefühl von flow und innerer Freiheit (Massimini & Carli 1991, 297) als das „Herumgammeln“ in der Freizeit (vgl. LeFevre 1991, 319.) Wenn die Schüler aber das Lernen und Arbeiten sowie die positiven Konsequenzen dieser Tätigkeiten für ihre Zukunft als eine Form von Freiheit empfinden, dann lässt sich folgern,. Dass diese Schulform auch Freiheit als eine weitere flow-förderliche Bedingung schafft.

Selbstvergessenheit. Das Thema Selbstvergessenheit wird im Zusammenhang mit der Produktionsschule in der Literatur nicht explizit beschreiben oder umschrieben, wie es beispielsweise bei Montessori der Fall ist. Der bereits oben zitierte Schüler beschreibt indirekt, dass er in dem aufgeht, was er tut: „Und dann hab ich gemerkt, dass es supertoll ist, dass man sich hier richtig auspowern kann“ (Weise 2000, 105). Auspowern, supertoll – diese Beschreibung lässt darauf schließen, dass dieser Schüler etwas gefunden hat, das ihm viel Freude macht, und dass er möglicherweise während der Arbeit in einen Zustand von Selbstvergessenheit gerät. Jedoch ist dies vielleicht eine Überbewertung aus akademischer Sicht, denn er sagt auch: „Weil ich immer so ‘ne überschüssige Kraft hab [...], dieser Tag war irgendwie ätzend, ich bin noch gar nicht richtig ausgepowert.“ Vielleicht meint der Schüler dieses Auspowern rein körperlich und kommt dabei gar nicht in einen Zustand von Selbstvergessenheit. Allerdings wird durch das Auspowern der Tag schön, das „Ätzende“ gerät in den Hintergrund. Dies mag ein Hinweis auf eine positive Erlebensqualität des „Auspowerns“ haben. Im Zusammenhang mit der Produktionsschule gibt es zum Thema Selbstvergessenheit vor dem Hintergrund der flow-Theorie noch keine Forschungsergebnisse. Man kann über diesen Aspekt aufgrund einzelner Aussagen höchstens Vermutungen anstellen.

Veränderte Zeitwahrnehmung. Dieser Punkt wird im Zusammenhang mit Produktionsschulen in der Literatur nicht erwähnt. Der Reformschule liegt ein vergleichsweise junges Konzept zu Grunde, bei dem es in Deutschland noch um Erprobung und politische Legitimation geht. In diesem Konzept ist weniger von Selbstverwirklichung die Rede als etwa in dem heute pädagogisch etablierten und vielseitig untersuchten Ansatz von Montessori. Das Augenmerk liegt darauf, ob die Jugendlichen einen Ausbildungsplatz bekommen und auf dem Arbeitsmarkt integriert werden können. Das Thema Selbstverwirklichung im Zustand veränderter Zeitwahrnehmung hat bei Diskussionen über Produktionsschulen wohl allenfalls periphere Bedeutung.

Zusammenfassung der flow-förderlichen Bedingungen. Aus der Sicht flow auslösender Bedingungen ist ein Hauptkennzeichen von Produktionsschulen, dass sie reale Herausforderungen an die Schüler stellen. Des weiteren fördert diese Schulform Ziele, klare Strukturen, Konzentration, Kontrollerfahrungen und Feedback sowie ein Gefühl von Freiwilligkeit, möglicherweise auch von innerer Freiheit. Selbstvergessenheit und veränderte Zeitwahrnehmung werden nicht beschrieben. Die folgende Tabelle zeigt zusammenfassend, welche Aspekte des Produktionsschulkonzepts Elementen des flow-Phänomens zugeordnet werden können.[15]

 

 

1.    Herausforderungen

Praxis und Theorie sind im Produktionsprozess individuell aufeinander abgestimmt. Jeder Schüler erarbeitet einen persönlichen Lehrplan, damit er seine Fähigkeiten optimal entwickeln kann

2.    Konzentration

Schule will als eine „überschaubare Einheit“ pädagogisch wirken, Orientierungslosigkeit bei den Schülern verhindern, Fähigkeiten kanalisieren. Pädagogische Begleitung, Gleichbehandlung von Schülern und Schülerinnen, Regeln

3.    Zielvorgaben

Herstellung eines Produktes, die Schüler wollen sich qualifizieren, um eine Ausbildungsstelle oder einen Job zu finden und ein geregeltes Leben zu führen

4.    Struktur

Produktionsprozess mit fachlicher Struktur und zeitlichem Rahmen, ganztägige Schulform, geregelte Pausen- und Ferienzeiten, individuelle Ausbildungspläne. Regeln im Umgang untereinander

5.    Kontrolle

          &

6.    Feedback

Das Produkt wird Schritt für Schritt fertiggestellt, Theorie und Praxis sind dazu aufeinander abgestimmt. Sukzessiver Fähigkeitserwerb, Teamarbeit. „Bei diesen Schülern merkt man einen ganz großen Entwicklungsschub innerhalb eines Jahres, [...] weil sie sehr oft zum ersten Mal in ihrer Schulkarriere merken und auch bestätigt kriegen, dass sie was können“ (Weise 2000, 105)

7.    Freiheit

Freiwilliger Schulbesuch, freie Wahl des Faches

8.    Selbstvergessenheit

   (als Charakteristikum von flow)

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9.    veränderte Zeitwahrnehmung

(als Charakteristikum von flow)

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Tabelle: flow-Elemente in der Produktionsschul-Pädagogik

 

Sieben Aspekte stimmen mit den Elementen überein, die zusammengenommen eine flow-Erfahrung ausmachen. Jedes einzelne  Element kann vor dem Hintergrund der Kausalitätsfeststellung von Csikszentmihalyi den flow-Zustand in Gang setzen und zieht alle anderen Elemente nach sich, sobald das flow-Erlebnis beginnt. (Csikszentmihalyi 1993, 278).

Obwohl in der vorliegenden Arbeit postuliert wird, dass Herausforderungen in der Produktionsschulpädagogik eine zentrale Voraussetzung für flow sind, müssen Herausforderungen allein noch kein flow-Erlebnis auslösen (Rheinberg 1995, 143 f.). So sind auch andere Bedingungen wichtig, damit sich flow einstellen kann. Ein Beispiel für das Zusammenwirken dieser Elemente könnte in der Produktionsschule wie folgt aussehen: Die Produktionsschule strebt an, dass die Jugendlichen ihre Fähigkeiten erweitern und das Ziel „Berufsvorbereitung“ erreichen. Dazu müssen sie regelmäßig Herausforderungen meistern, um ihre Fähigkeiten für den Arbeitsmarkt zu schulen. Da die Schulform strukturiert ist und die Schule zusammen mit den Schülern individuelle „Karrierepläne“ erarbeitet sowie Lebenshilfe bei ablenkenden Problemen anbietet, können sich die Schüler auf das Lernen und Arbeiten konzentrieren. Sie erhalten im Verlauf ihrer Schulzeit regelmäßig Feedback über das Gelingen ihrer Arbeit und können ein Gefühl von Kontrolle über ihre Fähigkeiten entwickeln. Da sich die Schüler freiwillig für den Besuch einer Produktionsschule entschieden haben und jederzeit aufhören können, erleben sie möglicherweise auch ein Gefühl von Freiheit.

Da die Produktionsschule sieben Bedingungen erfüllt, die alle jeweils den flow-Zustand hervorrufen können, kann angenommen werden, dass das Konzept der Produktionsschule flow-Erlebnisse ermöglicht.

 

Bedeutung für die Erziehung

Dieser Abschnitt soll aufzeigen, dass die Pädagogik der Produktionsschule allein durch das Evozieren von flow Jugendliche erziehen kann. Es wird hier nicht der Stellenwert von flow in der Produktionsschul-Pädagogik betrachtet, welche Bedeutung diese Form des Erlebens dort insgesamt hat, sondern hier wird aufgezeigt, dass das flow-Phänomen durch bestimmte günstige flow-förderliche Bedingungen wahrscheinlich ausgelöst wird. Auch wenn flow in dieser Schulform ein beiläufiges Phänomen sein sollte, so kann diese Erziehung nur allein dadurch, dass sie vermutlich flow auslöst, Jugendliche ein Stück weit erziehen.

Es werden nun vier zentrale Aspekte beleuchtet, die das grundlegende Wesen von Erziehung darstellen (vgl. Einleitung) und die durch das Evozieren von flow realisiert werden. Mit diesem vierten Schritt des hermeneutischen Vorgehens soll die erzieherische Relevanz des flow-Phänomens in der Produktionsschul-Pädagogik aufgezeigt werden. Während das vorliegende Kapitel analysiert hat, welche einzelnen Bedingungen flow förderlich sind, zeigt dieser Abschnitt die Bedeutung von flow-Erlebnissen für die Erziehung auf.

1. Erziehungsziel: Die Produktionsschule erfüllt das Erziehungsziel, dass Jugendliche „körperlich gesund, geistig klar und seelisch ruhig“ (Lauff 1999) werden. Die Schüler lernen, sich selbständig in Situationen betätigen zu können, sie lernen, dass sie nicht immer einen Meister fragen müssen, sondern dass sie sich Antworten auch selbst erarbeiten können (Hecking et al. 1994, 17). Innerhalb ihrer Schulzeit durchlaufen die Jugendlichen enorme Entwicklungsschritte (Weise 2000, 105). Da sie Produkte in Teamarbeit auf den Markt bringen und ihre Fähigkeiten zunehmen, gewinnen die Schüler an Selbstvertrauen. Durchschnittlich drei Viertel der anfangs marginalisierten Schüler entwickeln sich zu motivierten Auszubildenden. In den Darstellungen einzelner Konzepte wird nicht explizit darauf hingewiesen, dass die Jugendlichen klarer, ruhiger und gesünder werden, doch kann auf diese Eigenschaften rückgeschlossen werden, da das steigende Selbstvertrauen und zunehmende Fähigkeiten wahrscheinlich auch psychische Ordnung erzeugen und damit eine innere Ruhe in das Seelenleben bringen. Man kann annehmen, dass sich die Schüler auch geistig klar fühlen, weil sie aus einer gewissen Orientierungslosigkeit herauskommen, auf berufliche Ziele hinarbeiten und damit auch eine Lebensperspektive aufbauen können.

Doch ob die Schüler sich zu autotelischen Persönlichkeiten entwickeln, ist eine offene Frage, gilt es doch primär, diese Zielgruppe erst einmal zu einer beruflichen Orientierung zu befähigen und zu ermutigen.

2. Die stellvertretende Verantwortung: Produktionsschulenübernehmen „stellvertretende Verantwortung“ (Lauff 1999), weil sie das konzeptionelle Ziel haben, ausgrenzungsgefährdete Jugendliche in die Gesellschaft zu integrieren. Aus ihrer Verantwortung heraus reformieren sie das System der Berufsvorbereitung, da mit der Konzeption der Produktionsschule Arbeit und Lernen für eine ganz bestimmte Zielgruppe entwickelt wird. Zudem setzen sich diese Schulen beispielsweise mit der Erarbeitung eines individuellen Karriereplans auch für die Entwicklung jedes einzelnen Jugendlichen ein. Damit erfüllt die Konzeption der Produktionsschule eine wichtige Voraussetzung von Erziehung.

3. Werdenskraft: Der oben zitierte Schüler beschreibt, dass er genau „das Richtige“ für sich gefunden hätte. Unter anderem kann er mittels realer Herausforderungen seine „vorhandenen Fähigkeiten und Neigungen“ (Bullan et al 21992, 65) so weit ausbauen, dass er aufgrund dessen einen Ausbildungsplatz erhalten wird. Damit deutet sich an, dass der Schüler seine „Werdenskraft“ (Lauff 1999) entwickeln kann. Auch aufgrund des Erfolges der Produktionsschulen lässt sich annehmen, dass diese Schulform die Werdenskraft der Jugendlichen offenbar fördert – vermutlich auch durch eine Reihe von flow-Erlebnissen während des Arbeitens und Lernens. Damit erfüllt dies Schulform ein weiteres Kriterium von Erziehung.

4. Entwicklungs- und Lebenshilfe: Produktionsschulen leisten „Entwicklungs- und Lebenshilfe“ (Dolch 71965, 54): Sie schaffen es, dass etwa 75 Prozent der ausgrenzungsgefährdeten Schüler einen Ausbildungsplatz oder Job erhalten. Die Hamburger Produktionsschule spricht explizit von Lebenshilfe, die sie den Schülern als „Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit “ (Bullan et al 21992, 43) anbietet, unter anderem durch Hilfe und Beistand bei Wohnraumproblemen, Behördengängen, sowie bei Schwierigkeiten bei Problemen mit Polizei oder Justiz. Lebenshilfe wird von der Schule auch dadurch geleistet, dass die Jugendlichen ständig Herausforderungen auf verschiedenen Ebenen meistern müssen. Dadurch erlernen sie den Umgang mit neuen Anforderungen. Sie erwerben auf diese Weise fachliche, emotionale und soziale Fähigkeiten, die sie zum Arbeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt befähigen. Somit erfüllen Produktionsschulen auch das vierte Merkmal von Erziehung, die durch flow-Erlebnisse ermöglicht werden kann.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Produktionsschule durch sinngebende Herausforderungen marginalisierte Jugendliche zu einer freudigen Auseinandersetzung mit Ausbildungsinhalten und zu emotionalen und sozialen Fähigkeiten motiviert. Sie initiiert und fördert eine zielorientierte Entwicklung der Jugendlichen. Diese Schulform scheint geeignet zu sein, flow-Erlebnisse zu fördern.

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[1] „Niedere Stände“ wurden in elementaren Dingen unterrichtet, (Textil, Garten, Feldarbeit). Der Erlös dieser Kinderarbeit galt oft als Ersatz für das Schulgeld. Mit zunehmendem Ausbau der Schulpflicht verschwand die Industrieschule (Böhm 141994, 333).

[2] Mogens Thyge Jensen hat in Dänemark die erste Produktionsschule gegründet und sitzt heute als Berater im Kultusministerium für die dänischen Produktionsschulen (Jensen,Jensen interviewt in: Bullan et al. 21992, 21).

[3] Uum einen Übergang ins Ausbildungs- oder Berufsleben zu erleichtern, werden sie nachbetreut.

[4] Um dem vorzubeugen und damit das Schulleben betrieblich und arbeitsweltlich realitätsnah abläuft, hat beispielsweise die Altonaer Produktionsschule die GmbH als Rechtsform gewählt (Rapp 2000, 33).

[5] Nicht nur die Produktionsschule motiviert Jugendliche durch reale Herausforderungen. Auch das Projekt „Junior“ vom Institut der deutschen Wirtschaft motiviert Jugendliche ab der 9. Klasse: Schüler und SchülerinnenSchüler gründen für den Zeitraum eines Schuljahres ein Miniunternehmen. Diese schulische Maßnahme ist vom Kultusministerium anerkannt und ist bei den Schülern beliebt. sSo steieg die Zahl der teilnehmenden SchülerinnenSchüler  von 1994/95 bis 1998/99 von 80 auf 2021 und die zZahl der Mioniunternehmen in demselben stieg in diesem Zeitraum von sechs6 auf 157. Dies ist ein weiteres Beispiel, wie SchülerSchüler durch reale Herausforderungen motiviert werden. Dieses Konzept richtet sich, anders als viele andere reformpädagogische Konzepte nicht an benachteiligte Jugendliche, sondern an „normale“ Schüler (fJunior (1999);altblatt und Junior-Zeit (1998-2000).

[6] Allerdings ist noch nicht geklärt, ob Csikszentmihalyis Postulat, das Zusammenpassen von Anforderungen und Fähigkeiten, wirklich zentral für das Auslösen von flow-Erlebnissen ist. Denn dies ist auch eine Bedingung von Leistungsmotivation (Rheinberg 1995, 144). Es ist also noch nicht geklärt, welchen Stellenwert Herausforderungen als flow auslösende Bedingungen nun genau haben.

[7] Vgl. auch das Thema Entscheidung in den Kapiteln über Montessori und Makarenko sowieund das Thema Kontrolle im Kapitel über Freinet.

[8] Die Bedeutung der Kontrolle für das Erleben von flow ist in dem Kapitel über Freinet dargestellt.

[9] Siehe auch den Kasten über Lebensthemen im Kapitel über Makarenko.

[10] Die Schüler wohnen nicht in der Schule.

[11] vVgl. auch im Kapitel über Makarenko den Kasten „Zielsystem“.

[12] Das restliche Viertel, besteht aus Jugendlichen, die nur drei Tage in der Schule sind, oder Mädchen, die ein Kind bekommen, heiraten oder jungen Männern, die zum Militärdienst gehen.(Jensen, interviewt in: Bullan et al. 21992, 30ebd.).

[13] Vgl. im Kapitel über Montessori den Kasten über den: Generalisierungseffekt.

[14] Vgl. im Kapitel über Montessori den Kasten über den: Generalisierungseffekt.

[15] Am Ende der Arbeit finden sich diese wie alle weiteren vier Tabellen über die Reformpädagogen in einer Synopse wieder. Sie macht zusammenfassend ersichtlich, welches hier in dieser Arbeit vorgestellte reformpädagogische Konzept welche flow-Elemente erfüllt.