Vom ersten Weltkrieg stark gezeichnet, lehnt Célestin Freinet
(1896-1966) als Pazifist eine Erziehung ab, die Kinder für Kriege verwendbar
mache (Wichmann 1992, 6). Die herkömmlichen Schulen würden Kinder mit ihren
scholastischen Verfahrensweisen zu unkritischen Menschen erziehen, deren
Eigeninitiative lähmen und dressierte Kinder hervorbringen (Freinet 1997, 136).
Im engen Austausch mit führenden Reformpädagogen und
Reformpädagoginnen wie Adolphe Ferrière, Ovide Décroly, John Dewey, Maria Montessori,
Helen Parkhurst, Hermann Lietz und Peter Petersen (Dietrich 1995, 13)
entwickeln er sowie seine Frau und Kollegin Elise Freinet eine praxisbezogene
Pädagogik, die besonders sozial benachteiligte Kinder (von Arbeitslosen,
Migranten, Flüchtlingen und Arbeitern) zu einer kritischen Sichtweise befähigen
und ihnen die Kontrolle über ihr Leben ermöglichen soll. Als Volksschullehrer
und Reformer beginnt er, den Schulalltag „von der Wurzel aus“ (Freinet 1998c,
495 f.) zu reformieren.
1925 unternimmt er eine gewerkschaftlich organisierte Lehrerreise
in die Sowjetunion. „Tief beeindruckt“ setzt er sich weiter für die Befreiung
der Arbeiterklasse ein, fühlt sich den gesellschaftlich Benachteiligten
verpflichtet. Er engagiert sich als „entschlossener Pazifist und Sozialist“ in
der Kommunistischen Partei Frankreichs und in der Gewerkschaft. Das kritische
„Erkennen und Durchschauen der (politischen) Wirklichkeit war jedoch noch immer
Freinets zentrales pädagogisches Interesse“ (Dietrich 1995, 18). Aus diesem
Grunde muss er 1932 aus dem öffentlichen Schuldienst ausscheiden. 1934 gründet
er eine Privatschule, wo er seine Ideen verwirklicht. Elternlos gewordene
jüdische Kinder aus Deutschland und spanische Kinder, die vom Bürgerkrieg
betroffen sind, nimmt er auf. Da er sich gegen den Faschismus ausspricht, wird
er anderthalb Jahre interniert. Nach dem zweiten Weltkrieg versucht Freinet
seine Pädagogik in der Öffentlichkeit weniger politisch ausgeprägt zu
gestalten.
Wie andere Reformpädagogen kritisierte Freinet die herkömmliche
„traurige und langweilige Schule“, die scholastische Verfahrensweise, die zur
Verdummung führe und die Eigeninitiative der Kinder lähme und nicht auf das
Leben vorbereite (vgl. Wichmann 1992, 6). Kinder sollen ihre Persönlichkeit „in
einem größtmöglichen Maße“ entfalten (Freinet 1998c, 492), sich gemäß ihrer
„Entwicklungslinie“ (Freinet 1997, 136) in ihrem eigenen Rhythmus entwickeln
und „große Bedürfnisse des Lebens“ befriedigen können (Freinet 1998b, 389). Sie
sollen sich nicht „verleiten lassen zu willkürlich aufgezwungenen Tätigkeiten“
(Freinet 1998b, 375), sondern ihre individuelle „Lebensformel“ leben. Dieser
Ansatz beabsichtigt keine Erziehung zu egozentrischen Individualisten, sondern Kinder
sollen „einmal als Erwachsener ohne interessenbestimmte Verlogenheit mit zur
Verwirklichung einer harmonischen und ausgeglichenen Gesellschaft beitragen“
(Freinet 1998c, 492). Dabei verhindert er allerdings die Überbetonung einer
Pädagogik vom Kinde aus: „Im Gegensatz zu gewissen Theoretikern einer modernen
Erziehung denken wir nicht daran, die Kinder ausschließlich nach ihren eigenen
Neigungen und ihrer persönlichen Phantasie arbeiten zu lassen, Dies hieße, sie
über das wirkliche Leben zu täuschen und würde sie früher oder später mit den
Forderungen, die die Umwelt und die Gemeinschaft an sie stellen, in Konflikt
bringen“( Freinet 1998, 549 f.). Sein Ziel ist also, die Entwicklung zu einer
authentischen Persönlichkeit so weit wie möglich zu fördern, jedoch im Rahmen
einer Gemeinschaft.
Um dieses langfristige Erziehungsziel einer authentischen und
gesellschaftlich interessierten Persönlichkeit zu erreichen, nutzt Freinet in
seiner pädagogischen Praxis „die außerordentliche Fruchtbarkeit“ der
„schöpferischen Kraft“. Schöpferisch tätig sein bedeutet in Freinets Worten
„natürliche Hingabe“, „lebendiges Sprudeln“, „Lebensfreude“ oder „Begeisterung
der ganzen Person“. Schöpferisches Tun sei die „Fackel des Lebens“. Er wolle
Kindern ermöglichen, sich „außerhalb der ausgetretenen Pfade“ zu bewegen, sich
dabei auch „an Dornen zu verletzen“, „an Felsen anzuklammern“, aber dadurch die
Freude zu haben, „die weiten Horizonte voller Licht“ zu erblicken (Freinet
1998a, 115). Er wolle nicht wie die herkömmlichen Schulen die Kinder „auf die
kahle Straße“ führen, „auf der es für sie kein anderes Problem gibt, als passiv
dem ausgerollten roten Band bis ins Unendliche zu folgen“ (Freinet 1998a, 115).
Mit der Fähigkeit zur schöpferischen Kraft, die „vergessen,
verkannt und unterschätzt“ werde (Freinet 1998b, 380), möchte er (wie
Montessori) in der Gesellschaft „eine ganz neue Lebensweise [...] in Gang
setzen“ (Freinet 1998b, 383).
Die Freinet-Methoden ermöglichen aus der Sicht der flow-Theorie besonders Feedback und
Kontrolle. Kontrolle und Feedback werden hier zusammen betrachtet, da sie
unmittelbar miteinander in Beziehung stehen: Feedback ist nützlich zum Erwerb
von Kontrollerfahrungen (vgl. C 1993, 83), Kontrollerfahrungen befähigen
umgekehrt dazu, Rückmeldungen für das eigene Handeln konkret einordnen zu
können.
Die Schüler sollen - wie eben beschrieben - nicht passiv Wissen
aufnehmen, sie sollen selbst die Welt aus ihrem Blickwinkel entdecken und sich
in ihr zurechtfinden. Mittels pädagogisch ermöglichten Feedbacks und
Kontrollerfahrungen wird die dem Menschen innewohnende „Neugierde“ sowie ihr
„Tätigkeitsdrang“ aufrechterhalten, und man könne davon ausgehen, daß der
„Unterricht eine Spur hinterläßt“ (Freinet 1997, 38).
Freinet unterscheidet hier schon pädagogisch Auswirkungen von
Zuständen, die heute in der Psychologie als Handlungs- und Lageorientierung
beschrieben werden (z.B. Kuhl 1984/1985 in Heckhausen 1998, Beckmann 1999).
Lageorientierung (beharrliches Grübeln über Vergangenheit, Gegenwart oder
Zukunft) kann zum Beispiel durch das Erleben von Unkontrollierbarkeit oder
Inkongruenzen entstehen. Auch eine Erziehung zu wenig Eigeninitiative (viel
Kontrolle, Überfürsorge) oder die Unterdrückung zur Entwicklung eines starken
Selbst fördert die Tendenz, sich eher lageorientiert zu verhalten. (Beckmann
1999, 172 f.). Adlai-Gail weist auf das Phänomen der Hilflosigkeit hin[1],
wenn Menschen Situationen als nicht kontrollierbar oder beeinflußbar ansehen
(Adlai-Gail 1994, 116 ff.). Handlungsorientiert sind dagegen Menschen, die
darauf drängen, ihre Absichten in Handlungen umsetzen. Dieser Kontrollzustand
wird erlernt durch „konkrete spezifische Zielsetzungen verbunden mit
Rückmeldungen“ (Beckmann 1999, 172).
Freinets Ansatz wird also besonders unter dem Gesichtspunkt von
Kontrolle und Feedback betrachtet, da er pädagogischen Wert auf psychologisch
bedeutsame Kontrollerfahrungen, Rückmeldungen und kongruentes Erleben legt,
damit Menschen beispielsweise nicht für Kriege verwendbar seien. Sie sollen
handlungs- und entscheidungsfähig werden. Freinet hat schon vor gut 60 Jahren
das pädagogisch umgesetzt, was die Psychologie heute an Erkenntnissen über
Kontrollmodi und psychische Gesundheit besitzt; zum Beispiel, dass bei
lageorientierten Personen ein Leistungsabfall nicht auf Motivationsmangel
zurückzuführen ist, sondern darauf, dass sie ihre störenden Gedanken nicht
ausschalten können (Heckhausen 1989, 201). Im Umkehrschluss würde dies
bedeuten, dass störende Gedanken Ablenkungen erhöhen und die Konzentration auf ein
Ziel erschweren.
Um die Neugierde und die Begeisterung für eine
Sache zu protegieren und Schüler handlungsfähig zu machen, verfolgt Freinet
drei Grundsätze: Die Freinet-Pädagogik ...
·
...
besteht nicht aus festen Regeln, sondern ist eine Geisteshaltung;
·
...
vertritt das Lernprinzip des „tastenden Versuchens“;
· ... baut auf den lebensnahen „natürlichen
Methoden“ auf.
Diese drei Punkte bilden eine zentrale Grundlage, auf welcher
Schülerinnen Feedback erhalten und Kontrolle bekommen können. Im Folgenden werden
diese Punkte deshalb etwas genauer besprochen.
Geisteshaltung
Freinet betont, dass seine Pädagogik eine
Geisteshaltung sei, kein starrer Regelkatalog. Der Erfolg von pädagogischen
Techniken etwa sei abhängig von den Schülern und Lehrerinnen und ihren jeweiligen
Interessen: „Vor allem sollten wir uns davor hüten, wie Sektierer aufzutreten.
Wir haben niemals eine Regel der Freinet-Pädagogik verordnet. Wir bringen nur
ein Bündel erfolgreicher Experimente ein. Wir sagen nicht einmal, daß Sie sie
so, wie sie jetzt vorliegen, in Ihrer Klasse anwenden sollen. Sie stützen sich
vielmehr auf die gelungenen Experimente, um Ihre eigenen Brücken zu schlagen,
die Sie vielleicht als einzige überqueren können, weil jede Klasse immer einzig
in ihrer Art bleibt, so wie jede Erzieherpersönlichkeit immer in ihrem
Charakter einzigartig bleibt“ (Freinet 1997, 140). Wenn Kinder also ihre
individuelle „Lebensformel“ entwickeln sollen, müssen Pädagoginnen auch
individuell auf sie eingehen können. Ein starrer Katalog dagegen würde Kinder
dazu erziehen, abseits ihrer „Linie des Lebens“ zu handeln. Mit dieser
Einstellung bereitet Freinet den Boden für die Entwicklung von authentischen
Persönlichkeiten.
Aus der Sicht der flow-Theorie: Keine Rezepte für flow
Csikszentmihalyi hütet sich wie Freinet davor,
allgemeine Rezepte zu geben, wie Menschen mehr flow erleben können. Denn jeder Mensch nimmt Situationen
unterschiedlich wahr: als gut oder schlecht, erfreulich oder beängstigend,
motivierend oder nicht motivierend. Csikszentmihalyi will nur Prinzipien
verdeutlichen und Anregungen geben. Menschen würden sonst „nur Verschreibungen
anderer folgen“ (Csikszentmihalyi, in: 360°. Geo-Reportage 1999). Dies ist aber
gerade nicht der Sinn des flow-Konzepts.
Freinet und Csikszentmihalyi sehen ihre Ansätze
als hilfreiche Unterstützung für die Förderung des schöpferischen Tuns, sie
wollen beide aus ihren Erkenntnissen „praktische Empfehlungen ableiten“
(Csikszentmihalyi 1997, 488), die als Anregungen für andere Menschen dienen
sollen, damit sie – wie Freinet es ausdrückt – „ihre eigenen Brücken [..]
schlagen“. Zum einen gilt dies für Pädagogen, die Schüler nicht starr auf
einzelne Wege zwingen sollen, zum andern gilt dies auch für das Erlernen von flow allgemein, Menschen müssen selbst
ausprobieren (siehe Kasten unten) und herausfinden, was sie von vorgeschlagenen
Möglichkeiten auf ihr Leben übertragen können und wollen, um mehr flow zu erleben.
Auf der Ebene der flow auslösenden Bedingungen der flow-Theorie gibt es also keine allgemein gültigen (pädagogischen)
Rezepte, die unweigerlich flow
auslösen. Freinets Haltung ist eine der flow-Theorie
äquivalente Einstellung, die schneller flow-Erlebnisse
ermöglicht als das Anwenden starrer Methoden und folglich sukzessive die
Entwicklung einer Teleonomie des Selbst unterstützt.
Tastendes Versuchen
Das zweite wichtige Grundprinzip unter dem Blickwinkel von Feedback und Kontrolle ist das „tastende Versuchen“, das Experimentieren mit und Untersuchen von unbekannten Dingen. Es ist das tastende Versuchen, welches Menschen dazu befähigt, Feedback zu erkennen und Kontrollerfahrungen zu machen. Auf diese Weise können Freinets Schüler das entwickeln, was dem Grundschullehrer wichtig ist: Initiative und Kritikfähigkeit. Dies erreichen sie jedoch kaum, wenn sie aufbereitetes Wissen systematisch in didaktisch leicht verdaulichen Häppchen zu sich nehmen. Diese wiederum ermuntern auch nicht zur Experimentierfreude, ermöglichen deshalb nicht so viele tiefer gehende Kontrollerfahrungen als Erkenntnisse, die durch das unsystematische Herantasten gewonnen werden. „In den alltäglichen Handlungen, die wir verrichten, leben wir alle weiter nach natürlichen Grundsätzen, die auf dem tastenden Versuchen und nicht auf wissenschaftlichen Vorgängen beruhen. Die Wissenschaft spielt keine Rolle bei der Art und Weise, auf welche wir gelernt haben [...] zu gehen, uns auszudrücken, die Natur um uns herum zu betrachten, [...] zu arbeiten, zu graben, zu kochen oder zu angeln. [...] Unsere Psychologie des versuchsweisen Herantastens ist [...] ganz einfach die Norm des Lebens“ (Freinet 1997, 138 f.). Die herkömmlichen Lehrmethoden bezeichnet er als „Dressur“, die „bisweilen ein wissenschaftliches Aussehen“ annehme, „das schwer täuschen kann und uns auf falsche Fährten führt“ (Freinet 1997, 136). Freinet macht plakativ und emotional gefärbt an einem Beispiel deutlich, wie „wissenschaftliches“ Herangehen an neue Themen oder die Anwendung „scholastischer Verfahren“ aussehen können und stellt diesem Vorgehen die natürliche Herangehensweise, das „tastende Versuchen“ in Lernsituationen, gegenüber.
„Seien wir ehrlich: Wenn man ausschließlich den
Pädagogen die Aufgabe überließe, den Kindern den Umgang mit dem Fahrrad
beizubringen, hätten wir nicht viele Radfahrer. Bevor man auf das Fahrrad
steigt, müßte man es tatsächlich kennen, das ist doch grundlegend nicht wahr:
Die Teile, aus denen es besteht, ausführlich beschreiben und zahlreiche Übungen
zu den Gesetzen der Mechanik, der Kraftübertragung und des Gleichgewichts mit
Erfolg absolviert haben. Danach, aber erst danach wäre es dem Kind gestattet,
auf das Fahrrad zu steigen. Nein bleib ganz ruhig! Man würde es nicht
unüberlegt auf eine schwierige Strecke schicken, wo es vielleicht Passanten
verletzen könnte. Die Pädagogen hätten gute Übungsfahrräder bereitgestellt, die
auf Klötzen aufgebockt im Leerlauf betrieben würden, und auf denen das Kind
gefahrlos lernen würde, wie man auf dem Sattel sitzt und in die Pedale tritt.
Glücklicherweise machen die Kinder die allzu vorsichtigen und methodischen
Vorhaben der Pädagogen im Voraus zunichte. Sie entdecken einen alten Drahtesel
ohne Reifen und Bremsen auf einem Speicher, und heimlich lernen sie in wenigen
Augenblicken, wie man auf das Fahrrad steigt, ganz so wie übrigens alle Kinder
lernen: Ohne irgendwelches Wissen um die Regeln und Gesetze schnappen sie sich
die Maschine, suchen sich eine abschüssige Straße... und landen in einer
Böschung. Sie beginnen hartnäckig von neuem und können in Rekordzeit radfahren.
Die Übung macht den Rest. Wenn sie dann – um besser zu fahren – einen Reifen
reparieren, eine Speiche zurechtbiegen oder die Kette neu einsetzen müssen,
wollen sie von den Kameraden, aus Büchern oder von Lehrern das wissen, was ihr
ihnen vergebens einzutrichtern versucht habt“ (Freinet 1967, zit. in Fragen und
Versuche 1994, 29 f.).
Aus der Sicht der flow-Theorie: Ausprobieren
Überträgt man die Bedeutung des tastenden
Versuchens für das Lernen oder die Entwicklung der Persönlichkeit auf die flow-Theorie, so formuliert es Csikszentmihalyi
(eingeordnet auf der Ebene der Auslösebedingungen) wie folgt: „Ziele [...]
schälen sich erst durch Ausprobieren heraus und werden selten eindeutig
ausgedrückt“ (Csikszentmihalyi 1993, 83). Durch tastendes Versuchen können
Interessen immer weiter eingekreist oder Uninteressantes ausgeklammert werden,b
Bis das Selbst seine groben Ziele etabliert hat und das Tun immer
zielgerichteter wird.
Autotelische Persönlichkeiten experimentieren
beispielsweise mit Ideen, sie gehen spielerisch an Aufgabenstellungen heran
(Csikszentmihalyi 1997, 94) und probieren viel aus (Hektner 1996, 169). Das
spielerische Ausprobieren ist oft Ausgangspunkt für die weitere Verwirklichung
von Ideen (Csikszentmihalyi 1997, 94). Mit der Methode des tastenden Versuchens
haben Freinets Schüler und Schülerinnen also die Möglichkeit, Interessen (im flow-Zustand) zu entwickeln und zu
vertiefen und somit ihre autotelische Fährte zu finden. Weiter unten wird am
Beispiel der Fertigkeitsbescheinigung deutlich, auf welche Weise Freinet dieses
Suchen konstruktiv unterstützt.
Das Ausprobieren oder das tastende Versuchen
kann auch auf der Ebene des Menschenbildes eingeordnet werden, da
Csikszentmihalyi und auch Freinet annehmen, dass der Mensch mit Neugierde und Entscheidungsfreude
und dem Wunsch nach innerem Wachstum ausgestattet ist. Das Ausprobieren soll
hier jedoch hauptsächlich auf der Ebene der flow
auslösenden Bedingungen eingeordnet werden, da Menschen spielerisch
Anforderungen erproben können, die Interesse und folglich auch erweiterten flow auslösen können. Dies hat Freinet
sehr konkret am Beispiel des Fahrradfahrenlernens verdeutlicht.
Natürliche Methoden
Um das eben beschriebene pädagogische Prinzip
des tastenden Versuchens praktisch zu ermöglichen, schafft Freinet „natürliche
Methoden“. Dies ist das dritte Prinzip der Freinet-Pädagogik, das unter dem
Gesichtspunkt von Kontrolle und Feedback von Bedeutung ist. Es basiert wie das
tastende Versuchen auf der Geisteshaltung der Pädagogin, eine sinnvolle Lernumgebung
zu schaffen zu wollen.
„Natürlich“ bedeute, daß die Kinder im Tun „in
unmittelbarem Kontakt mit dem Leben selbst“ (Freinet 1997, 142) stehen. Die
„aus Urzeiten überkommenen Tätigkeiten“ (Freinet 1998c, 535) würden durch
„elementare Handarbeit“ Erfahrungen aus erster Hand bieten. Das Handeln könne
auf der „unverfälschten Wesenheit“ der Kinder aufbauen (Freinet 1998c, 534).
Die Schülerinnen untersuchen selbst die Wirklichkeit und gewinnen Erkenntnisse.
Dadurch können Kontrollerfahrungen und das Wahrnehmen von Feedback unmittelbar
erlebt werden. Sie übernähmen z. B. nicht das Schulbuchwissen aus zweiter Hand.
Zum Beispiel lernen Kinder bei Freinet auf
natürliche Weise lesen. Dass was sie bewegt und was sie zu sagen haben,
schreiben sie (am Anfang mit Hilfe des Lehrers) auf und drucken ihre
Geschichten vor dem Hintergrund persönlicher Erlebnisse. Die natürlichen
Methoden trennen die Schüler also nicht von ihrem Leben: Sie „sind nicht immer
gezwungen, in gedruckten Buchstaben ausschließlich das zu lesen, was die
Erwachsenen dachten, ausdrückten und druckten“ (Freinet 1997, 38). Diese
unnatürliche („indoktrinierende“) Form des Lesenlernens sei „die Ursache einer
Ichspaltung“ (Freinet 1997, 38). Die natürliche Methode biete demgegenüber
einen Rahmen, in dem Kinder ihre individuellen Wahrnehmungen festhalten. Durch
diesen unmittelbaren Kontakt mit ihrem Leben lernen sie unter anderem anhand
des Lesens, ihre Linie des Lebens zu
verfolgen und sich zu einer authentischen Persönlichkeit zu entwickeln. „Die
natürlichen Methoden sind die einzigen Methoden, die der Zerstückelung und
Verzettelung der wissenschaftlichen Erkenntnisse entgegenwirken“ (Freinet 1997,
141). Freinet meint damit vermutlich nicht die inhaltliche Zerstückelung eines
Themas (denn dieses wird ja gerade didaktisch umfassend aufbereitet), sondern
die Zerstückelung einer inneren Entwicklung, die nicht einen Weg der sich
spontan und aktuell stellenden Fragen gehen kann.
Aus der Sicht der flow-Theorie: Feedback
„Heute wird Bildung normalerweise in Form
abstrakter Informationen vermittelt: Abgesehen von schlechten Noten gibt es
keine erkennbaren Risiken und keine Möglichkeiten, direkte Konsequenzen zu
erleben. Aber eine schlechte Note sagt einem nur, daß man den Lehrer nicht von
seinem Fleiß überzeugt hat; sie sagt nichts darüber aus, ob das, was man
erlernt hat, tatsächlich wahr ist. Vor wenigen Generationen wußte ein Mensch,
der auf einem Bauernhof aufwuchs, was er lernen mußte und warum er es lernen
mußte. Die Informationen waren konkret, vertraut und relevant. Das Wissen war
integraler Bestandteil des Lebens“ (Csikszentmihalyi 1995, 354).
Csikszentmihalyi und Freinet thematisieren beide die abstrakte und lebensferne
Bildung und wenden sich gegen sie, Freinet mit seinem Grundsatz der natürlichen
Methode. Unverfälscht möchte er den Schülern das Erkennen der Wirklichkeit
ermöglichen. Er fordert wie Csikszentmihalyi eine Erziehung (eingeordnet auf
der Ebene flow auslösender
Bedingungen), „die den Verstand dazu ausbildet, das System von Ursachen und
Wirkungen zu erkennen, in das unser Handeln eingebettet ist “ (Csikszentmihalyi
1995, 355). Dadurch kann ein unmittelbarer Kontakt zum Leben entstehen, einer –
wie Freinet es bezeichnet – „Ichspaltung“ kann somit vorgebeugt werden. Freinet
bezieht sich dabei auf ein Phänomen, das der von Csikszentmihalyi beschriebenen
Teleonomie des Selbst ähnelt: Beide Autoren wollen das authentische Sein
ermöglichen. Konkrete Rückmeldungen sind also wichtig. „Man muß wissen, wann
man etwas richtig und wann man etwas falsch macht“ (Larson 1991, 176).
Feedback kann auf der flow auslösenden Ebene der flow-Theorie
eingeordnet werden, da die Technik der natürlichen Methoden konkretes Feedback
ermöglicht und damit das Auslösen von flow-Erlebnissen
forciert. Wie eine Rückmeldung im einzelnen aussieht, ist im Zusammenhang mit
der Bildung autotelischer Fähigkeiten eher nebensächlich. Wichtig ist vielmehr
„die darin enthaltene symbolische Botschaft: daß ich mein Ziel erreicht habe.
Dieses Wissen schafft Ordnung im Bewußtsein und stärkt die Struktur des Selbst“
(Csikszentmihalyi 1993, 84) Diese Ordnung wird laut Freinet durch natürliche
Methoden mit ihrem konkreten Feedback schneller hervorgerufen als durch
abstrakte Tätigkeiten, die wenig Rückmeldung erkennen lassen.[2]
Freinets Pädagogik macht, wie Csikszentmihalyi
es ca. 40 Jahre später aus der Sicht der flow-Theorie
fordern wird, Ursache und Wirkung beim Lernen transparent. Dies fördert wie
oben angesprochen das von Freinet pädagogisch gewollte Phänomen der
Handlungsorientierung und vermeidet lageorientiertes Verhalten. Das heißt,
nicht nur die Situationen in der Freinet-Schule erhalten dadurch eine flow förderliche Eigenschaft, sondern
die Schüler können die erlernte Handlungsfähigkeit in der Zukunft nutzen und
sind somit fähig, sich z.B. eher in flow-Situationen
zu versetzen als Menschen, die lageorientiert über etwas nachgrübeln.
Die Prinzipien des tastenden Versuchens und die
natürlichen Methoden dienen als Grundlage für eine Pädagogik, die schöpferisches
Tun ermöglicht. Auf diesen Prinzipien bauen nun einzelne Techniken der
Freinet-Pädagogik auf, die Kontrolle und Feedback als zentrale Kriterien
beinhalten. Sie gliedern sich in drei Bereiche: Tätigkeit, Leistung und
Gemeinschaft.
Tätigkeit
In diesem Abschnitt soll an den Beispielen der
Arbeitskarteien und der Schuldruckerei gezeigt werden, wie Schülerinnen
Kontrolle und Feedback während ihrer Tätigkeiten erfahren können.
Die Arbeitskarteien: Verschiedenfarbige,
postkartengroße Karten behandeln den gesamten vorgeschriebenen Grundlehrstoff
der Schulfächer. Von diesen Karten gibt es fünf verschiedene Arten. Mit diesen
Kartenarten durchlaufen die Schülerinnen in ihrem Lernprozeß fünf Stufen, die
sich von Informationen hinsichtlich eines Themas über das Üben und Anwenden
schließlich bis zum Überprüfen des Könnens erstrecken. Die Schülerinnen
bekommen durch die Karten Feedback und ein Gefühl von Kontrolle, inwieweit sie
mit dem Lernen vorankommen und wie sicher sie ihr Aufgabengebiet beherrschen.[3]
„Diese Karteikästen mit Selbstkorrektur sind eine der Meisterleistungen der
Freinet-Techniken. [...] Ihre Originalität beruht darauf, daß jedes Kind nach
seinem eigenen Rhythmus arbeiten kann, ohne durch das Niveau seiner Mitschüler
überrannt oder gebremst zu werden“ (Jörg, zit. in: Freinet 1981, 118).
Alle Karten sind nach Fächern, Schulstufen und
Schwierigkeitsgraden abgestuft gekennzeichnet und aufeinander abgestimmt,
sodass sich die Kinder selbständig von einfachen zu komplizierteren
Informations- und Aufgabenkarten vorarbeiten und die Ergebnisse selbst
kontrollieren können. Auf den Karten finden sich auch Hinweise darauf, wo die
Schüler weiterführende Informationen zu einem Thema finden können.
Die Arbeitskarteien sind also ein Beispiel dafür
wie die Schüler in kleinen Schritten Feedback über ihr Vorankommen erhalten und
somit ein Gefühl von Kontrolle während ihrer Tätigkeiten erreichen und aufrecht
erhalten können. Die Karten dienen als Technik, durch die sich Schüler selber
während des Arbeitens korrigieren können. Auf diese Weise erarbeiten sie sich
ihr jeweiliges Ziel.
Weitere Beispiele für Kontrollerfahrungen und
Rückmeldungen vor dem Hintergrund der natürlichen Methoden und des tastenden
Versuchens stellen die unterschiedlichen Tätigkeiten im Rahmen der
Schuldruckerei dar:
Ein erstes Feedback erhält ein Kind, wenn die
Klasse unter vielen anderen Texten seinen Text zum Druck auswählt. Die erste
Kontrollerfahrung macht das Kind bei der Korrektur seines Textes: Es achtet
beim Redigieren und gemeinsamen Niederschreiben darauf, ob der Text noch seinen
Gedanken und seinem Erleben entspricht. Darauf legt Freinet viel Wert, denn
wenn durch die Korrektur des schriftlichen Ausdrucks ein Gedankengang geändert
wird, interessiert sich das Kind „mit seinem ganzen Wesen nicht mehr für den
erarbeiteten Text“ (Freinet 1997, 41). Dadurch würde man dem Kind seine
Wahrnehmungen verdrehen und die Entwicklung von Authentizität unterbinden.
Nach dem Redigieren folgt der Druckprozess. Dort
finden fachliche Rückmelde- und Kontrollschleifen statt: „Jeder Schriftsetzer
liest das Ganze, dann buchstabiert er seine Reihe, ohne die kleinen
Zwischenräume zu vergessen, die die Wörter voneinander trennen. [...] Sie
setzen die Lettern selbst in den Setzrahmen und verwandeln so mechanisch und
materiell den handgeschriebenen Text in den Drucksatz. Es ist unnötig, die
Kinder zu überwachen. Alle helfen sich gegenseitig so gut sie können, um eine
fehlerfreie Reihe zu setzen“ (Freinet 1997, 42). Kontrollerfahrungen und
Rückmeldungen entstehen, weil die Kinder miteinander Buchstabe für Buchstabe
zusammensetzen, es bilden sich Wörter, Sätze und schließlich der ganze Text.
Neben dem eigentlichen Setzen sind für das
Drucken weitere Arbeiten zu erledigen: „Einfärben, Auflegen des Blattes, Druck,
Ordnen der bedruckten Blätter. Das stellt eine neue sauber aufgetragene,
ernsthafte manuelle Arbeit mit einem genau bestimmten Ziel dar“ (Freinet 1997,
43). All diese Arbeiten vermitteln genaue Rückmeldung, wie weit es noch bis zu
dem fertigen Druckergebnis ist. Diese einzelnen Arbeitsschritte geben den
Schülern das Gefühl, die Entstehung des Druckes unter Kontrolle zu haben. Zum
Drucken gehören auch die Pflege der Schriftzeichen und deren Einordnung in den
Setzkasten nach dem Druck. Dies sind alles Tätigkeiten, die unmittelbares
Feedback gewähren und zudem Kontrolle ermöglichen.
Einige Klassen führen einen „interschulischen
Briefwechsel“ mit Klassen aus anderen Teilen des Landes durch. So verfolgen die
Kinder beispielsweise gegenseitig die Erlebnisse der anderen am Meer oder in
den Bergen. Diese Klassenkorrespondenz bewirkt eine Menge Feedback auf die
Erlebnisse und Gedanken in den gemeinsam ausgewählten und gedruckten Texte. Vor
allem ermöglichen die Reaktionen der Partnerklasse Kontrollerfahrungen zum einen
über die Fähigkeiten des eigenen Ausdrucks (ob die Texte auch tatsächlich von
anderen so verstanden werden, wie sie gemeint sind), zum anderen über die
Bedeutung der beschriebenen Erlebnisse, wenn sie von einer anderen Klasse
anerkannt werden. Vielleicht stellen die anderen Kinder Fragen oder berichten
von ähnlichen Wahrnehmungen. Solche Kontrollerfahrungen sieht Freinet als
pädagogisch wertvoll an, weil die ausgedrückte Wahrnehmung auf Interesse stößt
und sich die Schüler auf diese Weise authentisch und mit Vertrauen in sich
Selbst entwickeln können.
Die Kinder haben beim Schreiben, Drucken und
Setzen nicht nur Kontrolle über die Tätigkeiten, sondern sie üben auch
Kontrolle über den Inhalt aus, an dem sie lesen lernen. Sie lesen ihre eigenen
Texte, lernen Wörter und Ausdrücke, die ihrem Erleben entsprechen: „Indem das
Kind setzt, schafft es ein wenig Leben und, vor allem, einen Teil seines
eigenen Lebens“ Dieser Text ist sein „ganzes Werk“, das „es begierig liest“
(Freinet 1997, 45). Das Arbeiten in der Schuldruckerei ermöglicht also Feedback
und Kontrolle sowohl auf der Ebene der Tätigkeit als auch auf der inhaltlichen
Ebene. Freinet betont, dass diese Kontrollerfahrungen keine „äußerliche,
sondern eine innere Angelegenheit“ seien (Freinet 1998b, 389). Damit macht er
die Qualität dieser Erfahrungen deutlich: Es geht nicht um die Förderung der
Kontrolle um einer Kontrolle wegen, sondern um das Gelingen einer Entwicklung
im Sinne einer persönlichen „Lebensformel“.
Die Freinet-Techniken der Schuldruckerei und der
Arbeitskarteien sind also zwei Beispiele, die demonstrieren, wie die Kinder
Kontrolle und Feedback durch Tätigkeiten bekommen. Das fördert vor dem
Hintergrund der natürlichen Methoden und des tastenden Versuchens das
schöpferische Tun sowie die Entstehung einer „Entwicklungslinie“.
Aus der Sicht der flow-Theorie: Kontrolle
Freinet ermöglicht viele Kontrollerfahrungen,
nicht nur aufgrund seiner pädagogischen Grundhaltung des tastenden Versuchens
und der natürlichen Methode, sondern konkret mittels seiner pädagogischen
Techniken (z. B. Arbeitskarteien, Druckerei). Diese lassen sich in der flow-Theorie auf der Ebene der flow-Auslöser einordnen. Die Kinder
können den Inhalt ihres Bewusstseins in ihrem Rhythmus bestimmen, sodass sich
grundsätzlich Gefühle von Hilflosigkeit zu einem Gefühl von Kontrolle wandeln
(Csikszentmihalyi 1993, 99). Ein Mangel an Kontrolle dagegen kann Antiflow bewirken (Allison und Duncan 1991,
148, 157). So erlebten nicht autotelische Jugendliche in bestimmten
herausfordernden Situationen Hilflosigkeit, da sie die Anforderungen einer
Situation nicht unter Kontrolle hatten (Adlai-Gail 1994, 116 ff.). Gerade
diesem Gefühl des Ausgeliefertseins möchte Freinet begegnen, indem er seine
Pädagogik Kontrollerfahrungen ermöglicht. Weil die Schüler Gefühle von
Kontrolle erleben, können die Schüler dadurch leichter in einen flow-Zustand gelangen als Schüler die
keine Kontrolle über ihr Tun empfinden.
Das Gefühl von Kontrolle hat im flow aus zwei Seiten: Zum einen hat man
in einer „künstlich eingegrenzten Realität einer flow-Episode“ (Csikszentmihalyi 1985, 71) das Gefühl, alles unter
Kontrolle zu haben, „Herr der Lage“ zu sein, was das Handeln betrifft; auf der
anderen Seite muss man aber auch auf Kontrolle über andere Dinge verzichten, um
sich überhaupt auf den gerade aktuellen Ausschnitt der Welt konzentrieren zu
können (Csikszentmihalyi 1997, 501). Dieser Verzicht bedeutet, daß der
„chaotische Normalzustand des Denkens“ (Csikszentmihalyi 1997, 609) aktiv
aufgegeben wird. Kontrolle empfinden bedeutet also, die Kontrolle über den
Inhalt der Aufmerksamkeit zu haben. Dieser Zustand kann für die Entwicklung der
Persönlichkeit „kaum überschätzt werden“ (Csikszentmihalyi 1985, 221).[4]
Kontrollerfahrungen sind also wichtig, weil sie die Qualität des Erlebens
erhöhen und zu einem erfüllten Leben beitragen (Csikszentmihalyi 1995, 52), zu
der Entwicklung einer „Linie des Lebens“
Freinet hat die Bedeutung von Kontrollerfahrung
erkannt. Da er diese auf mehren Ebenen möglich macht, fördert er zum einen die
Persönlichkeitsentwicklung, zum anderen ermöglicht er durch diese flow auslösende Bedingung einen Zugang
zu flow. Damit fördert er das
situative Erreichen des flow-Zustandes
während einer Tätigkeit sowie die längerfristige Entwicklung einer Teleonomie
des Selbst oder autotelischer Fähigkeiten.
Leistung
Schülerinnen in Freinet-Klassen haben nicht nur
die Kontrolle über den Verlauf ihrer Tätigkeiten, sondern erhalten auch
regelmäßig Rückmeldungen über ihre Leistungen und üben Kontrolle über ihre Fähigkeiten
aus. „Neue Arbeitsmittel und neue Arbeitstechniken verlangen auch die Anwendung
neuer Möglichkeiten der Leistungskontrolle“ (Freinet 1998c, 580). Gerade wenn
Kinder unterschiedliche Vorgehensweisen haben und Leistungen nicht objektiv
miteinander verglichen werden können, „will das Kind und der Mensch allgemein,
daß seine Leistung gemessen und bewertet wird und seine Fortschritte so genau
wie möglich festgestellt werden“ (Freinet 1998c, 581). Die Kontrolle darf sich
laut Freinet nicht „nur auf das rein formal erzielte Ergebnis beziehen“,
sondern „muß auch die Qualität der Arbeit und die geleistete Anstrengung
berücksichtigen“ (Freinet 1998c, 581). Denn „immer, wenn der Schüler sein
wirklich Bestes geleistet hat, verdient er auch die beste Note, gleich, wie das
Resultat aussieht“ (Freinet 1998c, 581). So können beispielsweise zwei
verschiedene Aufsätze nicht objektiv miteinander verglichen werden, weil sie
„zwei Arten von Höchstleistungen“ darstellen. Man kann also keine allgemein
gültigen Maßstäbe für die Leistungen der Schülerinnen bestimmen.
Im Folgenden werden aus den Freinet-Techniken
unter dem Gesichtspunkt von Leistung zwei Beispiele vorgestellt, die den
Schülerinnen Kontrolle und Feedback ermöglichen: der Wochenarbeitsplan und die
Fertigkeitsbescheinigung.
Der Wochenarbeitsplan[5]
gibt eine Rückmeldung darüber, ob eine Schülerin die wöchentlichen Arbeiten,
die sie sich vorgenommen hat, erledigt oder nicht. Qua Plan schafft sie sich
jede Woche „Plattformen“, mit denen sie Schritt für Schritt den vorgeschriebenen
Lehrstoff erarbeitet. Der Arbeitsplan erfüllt für sie somit zwei Funktionen:
Zum einen ermöglicht er Kontrollerfahrungen über Leistungen (das habe ich
geschafft); zum anderen dient er als Kontrollinstanz (was muss ich noch tun?).
Der Arbeitsplan ermöglicht nicht nur eine
quantitative Prüfung des wöchentlichen Arbeitspensums, sondern prüft mit der so
genannten Leistungskurve auch die Qualität der Arbeit für die jeweilige Woche.
Hier werden neben den einzelnen Fächern zum Beispiel auch Fleiß, Aufmerksamkeit
und Gemeinschaftsgeist (innerhalb des Klassenverbandes) beurteilt. „Vergleicht
das Kind seine Leistungskurve mit der zuletzt erhaltenen, so kann es sich schon
Vorsätze für die kommende Arbeitswoche fassen. [...] Ganz von selbst vergleichen
die Kinder ihre Leistungskurven. Der Lehrer kann ihnen angeben, wie eine
mustergültige Kurve verlaufen sollte. Mehr braucht er nicht zu tun“ (Freinet,
1998c, 582). Die Leistungskurve bietet also eine Rückmeldung über die
wöchentlich erbrachte Leistung und ermöglicht auch den Kindern die Kontrolle
über die Entwicklung ihrer Fähigkeiten.
Fertigkeitsbescheinigungen stellen neben dem
Wochenarbeitsplan eine weitere pädagogische Technik dar, mittels derer
Schülerinnen ihre Leistung kontrollieren können. „Jeder kann und muß eine
gewisse Meisterschaft in den manuellen und intellektuellen Tätigkeiten seiner
Wahl erlangen. Jeder findet somit auf seine Art und nach seinen Fähigkeiten
einen befriedigenden Erfolg. Dies entspricht vollkommen der Psyche des Kindes
und den vielfältigen Möglichkeiten, die das gesellschaftliche Leben heute
bietet“ (Freinet 1998c, 583) Diese Kontrollerfahrungen sind im Gegensatz zum
Wochenarbeitsplan längerfristig angelegt. Anhand der Fertigkeitsbescheinigungen
wird am Ende eines Jahres überprüft, inwieweit Schüler die „verschiedenen
lebensnahen und lebenswichtigen Tätigkeiten“ (Freinet 1998c, 583) beherrschen,
wie etwa Schriftsteller, Lektor, Historiker, Geograph,
Landwirtschaftsingenieur, Insektensammler, Obstpflücker, Jäger, Entdecker, Viehzüchter
oder Koch. Eine Woche im Monat sind die Schülerinnen jeweils in einem „Beruf“
tätig. Dabei betont Freinet die Bedeutung von Kontrolle bei langfristigen
Tätigkeiten: „Je komplexer und wichtiger die Arbeit ist, je länger der Weg bis
zum Ziel, um so mehr empfindet das Kind das Bedürfnis, sich zwischen den
einzelnen Arbeitsetappen gewisse Plattformen einzurichten“ (Freinet 1998c,
581).
Kontrolle und Rückmeldungen bekommen die
Schülerinnen in ihrem „Beruf“, weil sie ein Verzeichnis einsehen können, das Leistungsanforderungen
für einzelne Fertigkeiten beschreibt (Freinet 1998c, 583). Diese aufgelisteten
Anforderungen ermöglichen zum einen kleine Arbeitsschritte und somit
kurzfristige Kontrollerfahrungen; zum anderen erhalten die Kinder eine „große“
Rückmeldung über die gesamte erbrachte Leistung. Diese erfolgt mit der
Verleihung der Fertigkeitsbescheinigung am Ende eines Schuljahres. Die Kinder
lernen also über einen langen Zeitraum, sich selbst regelmäßig Rückmeldungen zu
holen (z. B. aus dem Verzeichnis) sowie ihre Fähigkeiten und ihr Vorankommen
Schritt für Schritt zu kontrollieren.
Aus der Sicht der flow-Theorie: Ungewissheit und Leistung
Die Fertigkeitsbescheinigung ist eine Methode,
durch die sich Schüler eine lange Zeit mit einem Thema auseinandersetzen
müssen, ohne Anfangs genau zu wissen, auf welchem Niveau sie am Ende des Jahres
stehen werden. Ordnet man diese Form von Herausforderung auf der Ebene der flow-Auslöser in der flow-Theorie ein, so kann man diese
pädagogische Technik unter dem Aspekt langer Phasen der Ungewissheit
betrachten: Wenn Handelnde von außen keine Rückmeldung bekommen, wie etwa
Künstler oder Wissenschaftler, so müssen sie sich auf irgendeine Weise selbst
Feedback geben, um weiter motiviert an der Tätigkeit arbeiten zu können. Eine
Möglichkeit, wie man sich selbst in einer solchen Situation eine Rückmeldung
geben kann, besteht in der Verinnerlichung des Beurteilungsmaßstabes
(Csikszentmihalyi 1997, 170).
Freinet hat mittels einer Liste von Leistungsanforderungen
so einen Beurteilungsmaßstab geschaffen. So wird es möglich, dass sich Schüler
selbst über einen längeren Zeitraum Feedback geben und sehen können, wie hoch
einzelne Anforderungen sind, was sie also tun müssen, um bestimmte Beurteilungen
zu bekommen. Damit fördert er zweierlei: Erstens die unmittelbar nützliche
Fähigkeit der Schüler, sich selbst Feedback für das Erreichen ihrer
Zwischenziele sowie ihres Gesamtzieles zu holen und zweitens kann dadurch ein
Gefühl von Kontrolle über die erbrachten oder zu erbringenden Leistungen des
langfristigen Ziels generiert werden. Mit dieser Einrichtung der selbständigen
Leistungskontrolle bietet er den Schülern eine Grundlage für erweiterte flow-Erlebnisse. Flow kann in diesem Zusammenhang ausgelöst werden, weil sie sich
fachliche „Plattformen“ schaffen, aber auch, weil sie die Kontrolle über
Anforderungen haben, denn sie können selbst bestimmen, wie hoch sie ihr Ziel
stecken. Hier deutet sich an, dass das flow
auslösende Moment der Kontrolle in der Freinet-Pädagogik unmittelbar mit
weiteren Bedingungen verknüpft sein kann, die ebenfalls flow auslösende Wirkung haben. Kontrolle, Feedback, dosierte
Herausforderungen und Ziele sind hier beispielsweise eng miteinander verknüpft
(vgl. am Ende des Kapitels den Abschnitt über weitere flow förderliche Bedingungen). Das erhöht den Zugang zu flow-Erlebnissen.
Gemeinschaft
Neben der Leistungs- und Tätigkeitskontrolle
werden in der Freinet-Pädagogik auf einer dritten Ebene Kontrollerfahrungen
durch den Klassenverband ermöglicht. Die Schüler arbeiten miteinander, sie
gestalten auch das Leben in der Schule. Der Gemeinschaftsaspekt darf bei
Freinet nicht vergessen werden, da er die Persönlichkeitsentwicklung „im Rahmen
der Bedürfnisse der Gemeinschaft“ fördert (Freinet 1998, 537).
Die Klassenversammlung – als Forum für die
Mitbestimmung und Mitverantwortung der Schüler – ist eine Instanz, die die
Schülerinnen motiviert, den Schulalltag mit zu organisieren. Die Aufgaben
werden „zu einer ganz persönlichen Angelegenheit eines jeden Kindes. Die Schule
wird seine Schule, und das ist tatsächlich schon ein erster entscheidender
Erfolg“ (Freinet 1998c, 547). Das Kind identifiziert sich also mit der Schule.
Es kann mitbestimmen. Die Klassenversammlung beinhaltet im Rahmen einer
Gemeinschaft mehrere Aspekte, die Kontrolle ermöglichen und Feedback geben: (1)
Der so Rechenschaftsbericht macht transparent, was in der letzten Woche
beschlossen und umgesetzt worden ist. Diese Rückmeldung fasst die wichtigsten
Dinge zusammen und ermöglicht ein Gefühl, Kontrolle über das Geschehen in der
Klasse zu haben und diese Kontrolle mit persönlichem Engagement auszuüben. Es
wird beispielsweise beschlossen, wer bestimmte Spielsachen einkauft oder wer
ein Weihnachtsspiel organisiert. (2) Auf der Tagesordnung steht auch die
Diskussion darüber, welche Lehrmittel benötigt werden und womit sich die Kinder
im Unterricht beschäftigen wollen. Die Kinder haben hier ein großes
Mitspracherecht und organisieren gemeinsam ihre Interessen (Eine Häsin kaufen? Oder
lieber Schallplatten zu bestimmten Themen?). Durch dieses Mitspracherecht
können die Schüler ein Gefühl von Kontrolle über das Geschehen entwickeln. (3)
Um die Vorhaben umzusetzen, gibt der Kassenwart den Kassenbestand an. Die Lage
der Finanzen wird besprochen. Dies dient als Rückmeldung, inwieweit die Wünsche
der Schülerinnen realistisch sind und erfüllt werden können. (4) Auf der
Wandzeitung schließlich tragen die Schüler im Laufe der Woche unter den
Rubriken „Ich kritisiere – Ich beglückwünsche – Ich möchte gern – Ich habe
verwirklicht“ (Freinet 1997, 109) ihre „Beschwerden“ oder Sonstiges ein. Durch
dieses Arbeitsmittel erhält und gibt jeder einzelne Feedback. Es dient dem
„Pulsschlag der schulischen Gemeinschaft“ (ebd.). „Selbst die Furchtsamsten werden
durch diese familiäre Atmosphäre der Selbstkritik ermuntert, ihre Meinung zu
sagen“ (Freinet 1998c, 546). Die Kinder zeigen „in dieser Art der Selbstkritik
eine erstaunliche Loyalität und einen beachtlichen Mut. Rücksichtnahme aus
Kameradschaft spielt nur eine geringe Rolle. Man darf sich kritisieren und
bleibt doch gut Freund, wenn man loyal ehrlich und gut ist“ (Freinet 1998c,
546).
Die Kinder können sich mit dem Leben in der Schule identifizieren,
weil sie auf verschiedenen Ebenen (Finanzen, fachliche Interessen, soziales
Miteinander) Kontrollerfahrungen machen und regelmäßig Feedback erhalten. Das
System von Feedback und Kontrolle im Rahmen der Klassenversammlung stellt nicht
nur einen pädagogischen Trick für eine beginnende erzieherische Situation dar,
sondern kann sich langfristig aufrechterhalten: Jedes einzelne Kind trägt dazu
bei, dass sich das Schulleben als Gemeinschaft harmonisch entwickeln kann.
Somit lernen die Kinder durch Kontrollerfahrungen und dadurch dass sie Feedback
erhalten, im gemeinsamen Miteinander authentisch zu handeln (Beckmann 1999) und
ihre eigene „Linie des Lebens“ zu vertreten.
Aus der Sicht der flow-Theorie: Glücklicher mit anderen
Ein Beispiel für flow in der Gruppe beschreibt Sato (1991). Japanische Motorradbanden
erleben während ihrer Rennen auf Straßen einen „kollektiven Rausch“. Ein
Bandenmitglied: „Es hat irgendwie damit zu tun, daß wir uns alle ‘im
Gleichklang fühlen’ ... Am Beginn des Rennens sind wir noch nicht vollkommen in
Harmonie. Aber wenn das Rennen sich gut entwickelt, dann fühlen wir
füreinander. […] Wenn unsere Gedanken eins werden. In einem solchen Moment ist
das eine wahre Lust“ (zit. in Sato 1991, 134).
Überträgt man diese Beschreibung auf die
Situation in der Freinet-Schule, so finden genauso wie in der Motorradbande
gruppendynamische Interaktionen statt. Bei einer Klassenversammlung arbeiten
die Schüler gemeinsam an einem Ziel: Wenn die Organisation des Schulalltags gut
läuft, dann kann sich die Klasse „im Gleichklang“ fühlen. Es kann sich während
einer Klassenversammlung ein Harmoniegefühl entwickeln. Die Bedeutung des
Zusammenseins mit anderen beschreibt Csikszentmihalyi (1999, 109): „Im
allgemeinen sind Menschen sehr viel glücklicher und motivierter, wenn sie mit
Freunden zusammen sind, und zwar ganz unabhängig davon, was sie tun.“ Wenn also
der Klassenverband freundschaftlich zusammenarbeitet, die Kinder trotz
gegenseitiger Kritik „gut Freund“ bleiben, so kann sich allein dadurch, dass
die Schüler in Gemeinschaft handeln, ein Gefühl von Glück oder auch flow einstellen.
Da die Schülerinnen in Gemeinschaft ihr Lernen
organisieren, gibt die Freinet-Pädagogik aus der sozialen Interaktion heraus
grundsätzlich Anlass, motiviert und möglicherweise im Zustand von flow in einem Gleichklang zu arbeiten.
Dieses Handeln in der Gemeinschaft kann auf der flow auslösenden Ebene der flow-Theorie
eingeordnet werden.
Freinets Pädagogik wirkt auf zwei Ebenen: auf der individuellen
und der gesellschaftlichen. Auf ersterer beschreibt Freinet einen positiven
Kreislauf, den des schöpferischen Tuns. Schöpferisch tätig sein bedeute, „große
Bedürfnisse des Lebens“ (Freinet 1998b, 389) zu befriedigen. Daraus resultiere
ein „Zustand des Wohlbefindens“, der sich zur transzendenten Erfahrung
ausdehnen könne, der „bis in den höchsten Bereich unseres Seins reicht und nur
zu vergleichen ist mit dem Eindruck, den wir gelegentlich haben, daß wir einer
höheren Ordnung folgen, deren übermenschliche Macht uns erleuchtet“ (Freinet
1998, 389). Dieser Zustand des (transzendenten) Wohlbefindens wiederum führe zu
„tiefer Ausgeglichenheit und Harmonie, Kraft und Vertrauen für das Leben und
führt den Menschen zu einem beharrlichen Aufstieg bis zu den Gipfeln“ (Freinet
1998b, 389). Dieser Kreislauf sei möglich, weil er einem „psychische[n]
Bedürfnis“ entspreche, sich „selbst zu übertreffen“ (Freinet 1997, 115). Er
„stellt die geheimnisvollen Verbindungen wieder her, die der Irrtum
unterbrochen hatte“ (Freinet 1998b, 390).
Aus der Sicht der flow-Theorie: Teleonomie des Selbst[6]
Mit diesem Kreislauf der individuellen
Entwicklung beschreibt Freinet die Teleonomie des Selbst: Die „psychischen
Bedürfnisse“ und der „beharrliche Aufstieg“ sind äquivalent zum menschlichen Streben
nach Komplexität (Csikszentmihalyi 1995, 260). Sie können mit einer Teleonomie
des Selbst ihre Potenziale voll ausschöpfen und „große Bedürfnisse des Lebens“
verwirklichen, da sich eine innere Zielhierarchie entwickelt hat, die die
Schüler zu „tiefer Ausgeglichenheit und Harmonie“ führt. Das heißt aus der
Sicht der flow-Theorie, die
Schülerinnen handeln in einem Zustand psychischer Ordnung.
Diese Folgen der Freinet-Pädagogik können zum
einen auf der Ebene der flow-Auslöser
eingeordnet werden, weil die Teleonomie des Selbst eine innere Instanz ist, die
für flow verantwortlich ist und somit
flow auslösende Funktion hat
(Csikszentmihalyi 199a; 37). Auf diese Weise können die „geheimnisvollen
Verbindungen“ wiederhergestellt werden: Die Schüler finden sich in der Lage,
eine innere Zielhierarchie aufzubauen; die Teleonomie des Selbst entsteht und
festigt sich. Auf der anderen Seite lassen sich die Auswirkungen der
Freinet-Erziehung auch auf der Zustandsebene einordnen, da Freinet einen
Zustand des Wohlbefindens beschreibt, der dem des flow-Erlebens und seinen Auswirkungen sehr ähnlich ist: Er
verwendet Beschreibungen wie „höchste Bereiche des Seins“, „tiefe
Ausgeglichenheit und Harmonie“, „Kraft und Vertrauen für das Leben“. Seine Schilderungen
lassen darauf schließen, dass die Kinder und Jugendlichen ihre Teleonomie des
Selbst entwickeln können. Wenn dies der Fall ist, erleben sie vermutlich
relativ viel flow.
Die zweite Wirkung der Freinet-Pädagogik zeigt sich auf der
gesellschaftlichen Ebene: Allmählich setze sich durch die „außerordentliche
Fruchtbarkeit“ der „schöpferischen Kraft“ eine „neue Lebensweise in Gang“:
Dabei geht es Freinet nicht darum, den Schülern als Teil der Gesellschaft eine
neue Lebensweise überzustülpen, sondern er sieht, dass Veränderungen langsam
geschehen und vor allem, dass sie von unten kommen müssen. „Es geht nicht im
geringsten darum, alle Spuren der Vergangenheit wütend zu vernichten. [...]
Diese Anpassung muß im Zeichen der im Dienst des Lebens stehenden Harmonie und
Ausgeglichenheit vollzogen werden. [...] Es wird eine Bildung sein, die nicht
von oben herunter befohlen wird, ganz gleich, wie auch immer die Anschauung und
der gute Wille der befehlenden Macht beschaffen sein mögen. Sie wird sich aus
dem wirklichen Leben entwickeln“ (Freinet 1998c, 495 f.). Die Veränderungen
erfolgen also einerseits durch Lehrerinnen, die seine Ideen umsetzen[7],
sowie andererseits durch Schülerinnen selbst, die die neue Lebensweise durch
ihre Erfahrungen (mit dem flow-Phänomen)
leben lernen. Somit verändert Freinet die Gesellschaft „von unten her“ gleich
zweigleisig.
Aus der Sicht der flow-Theorie: Erziehung zur guten Gesellschaft
Freinet beschreibt die gesellschaftlichen
Auswirkungen seiner Pädagogik wie Csikszentmihalyi: „Neue Lösungen werden am
ehesten von der Basis ausgehen, wo die Begeisterung und das Engagement am
größten sind“ (Csikszentmihalyi 1995, 367). Freinets Pädagogik begeistert
Lehrerinnen und Lehrer. Auf diese Weise können sie als Multiplikatoren an der
Basis flow fördern und eine
autotelische Lebensweise bei Schülerinnen in Gang setzen. Eine Folge: „Jede
Steigerung der Komplexität auf individueller Ebene läßt sich in einen
gesellschaftlichen Fortschritt umsetzen und umgekehrt“ (Csikszentmihalyi 1995,
352). Menschen, die über autotelische Fähigkeiten verfügen, tragen also zum
gesellschaftlichen Fortschritt einer neuen Lebensweise bei. Umgekehrt fördert
eine zunehmend autotelische Gesellschaft ihrerseits die Möglichkeit, flow zu erleben und Menschen zu autotelischen
Personen zu erziehen. Dadurch kann in einer Gesellschaft eine autotelische
Atmosphäre entstehen, die Freinet als „ganz neue Lebensweise“ bezeichnet. Sie
hat nicht nur positive Auswirkungen für einzelne Menschen, die einen besseren
Zugang zu flow bekommen können,
sondern flow „ist vielleicht das
beste Rezept für soziale Ordnung“ (Csikszentmihalyi 1995, 320). Diesen
Kreislauf hat Freinet mit seiner Erziehung zu autotelischen Fähigkeiten und
seiner pädagogischen Lehrerbewegung initiiert.
Die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser
Pädagogik können auf der flow auslösenden
Ebene der flow-Theorie eingeordnet
werden, zum einen durch persönliches Vorleben derjenigen (Schüler), die die von
Freinet propagierte Lebensweise infolge Erziehung angenommen haben, zum anderen
durch das aktive Verbreiten der Lebensphilosophie durch Lehrer als
Multiplikatoren. Die Menschen, die eine seine Lebensweise angenommen haben und
sie verbreiten, sind für Freinet eine tragende Basis, auf der er das flow-Phänomen in einer Gesellschaft
verbreiten möchte.
Bisher ist die Bedeutung von Kontrollerfahrungen und Feedback auf
verschiedenen Ebenen der Freinet-Pädagogik aufgezeigt worden, womit die ersten beiden
Schritte der hermeneutischen „Horizontverschmelzung“ vollzogen worden sind:
Erstens wurde Freinets Pädagogik unter dem Blickwinkel von Kontrolle und
Feedback beschrieben, und zweitens wurden die daraus hervorgegangenen
charakteristischen Kriterien aus der Sicht unterschiedlicher Ebenen der flow-Theorie interpretiert, um zu
zeigen, dass sich viele Aspekte dieses pädagogischen Ansatzes als flow förderlich erweisen. In diesem
Abschnitt werden nun weitere Aspekte beschrieben, die mit den Elementen des flow-Phänomens übereinstimmen. So zeige
ich mit diesem dritten Schritt des hermeneutischen Vorgehens, dass nicht nur
Kontrollerfahrungen und Feedback eine flow
auslösende Rolle spielen können, sondern dass es in der Freinet-Pädagogik auch
weitere Bedingungen gibt, die flow evozieren
können.
Herausforderung. Freinets Pädagogik ermöglicht herausfordernde
Situationen, jedoch benutzt er nicht explizit den Begriff „Herausforderung“,
sondern er umschreibt die Situationen. Er spricht beispielsweise abstrakt
davon, „das Lebenspotenzial für eine Aktivität zu benutzen [...], das den
kindlichen Möglichkeiten angepasst ist und eine große Spanne von Reaktionen wie
Ermüdung-Erholung; Erregung-Ruhe [...]; Angst-Sicherheit, Risiko und Sieg
umfasst“ (Freinet 1997, 115). Die Arbeit solle dem „ständigen Wunsch“
entsprechen „sich selbst zu übertreffen, die anderen zu übertreffen, große oder
kleine Siege zu erringen“ (Freinet 1997, 115).
Freinet beschreibt auch konkret den Umgang mit schwierigen
Situationen: „Kommen Sie dem Setzer nicht zu Hilfe, um diese für das Kind so
schwierige Arbeit im Handumdrehen zu beendigen; es würde Ihre gutgemeinte
Absicht als echte Beleidigung auffassen. Es will
diese Arbeit selbst tun. Es stimmt seine Kenntnisse und seine Bewegungen, so
gut es kann, aufeinander ab. Das wird vielleicht eine halbe Stunde dauern, aber
welch ein Gewinn und welch eine Freude! [...] Auf diese Weise werden rasch
Lernfortschritte erzielt“ (Freinet 1997, 46). Die Kinder verrichten eine
Arbeit, „die ihre Kräfte übersteigt. [...] Wenn es Schwierigkeiten gibt, umso
besser, denn unsere Schüler strengen sich gerne an, um das selbstgesteckte Ziel
zu erreichen“ (Freinet 1997, 46). Er beschreibt herausfordernde Situationen
also indirekt, über emotionale Zustände wie Erregung sowie über den Willen,
eine schwierige Situation zu meistern und sich selbst zu übertreffen, um die
eigenen Kräfte zu entdecken. Technisch betrachtet ermöglicht er diese
Herausforderungen – wie oben beschreiben – durch das tastende Versuchen,
Wochenarbeitspläne, Fertigkeitsbescheinigungen und durch das Festhalten der
Leistungen im Fortschrittstagebuch.
Herausforderungen werden auch indirekt über seine pädagogische
Grundeinstellung deutlich. Die Kinder müssen sich mit den Anforderungen der
Realität auseinandersetzen (Freinet 1998, 549 f.), sie können nicht tun und
lassen, was sie wollen. Dies fordert die Fähigkeiten der Schüler sicherlich in
einigen Situationen heraus.
Neben dem Aspekt von Kontrollerfahrungen und Feedback ermöglicht
Freinet also auch Herausforderungen, die flow
auslösend wirken können.
Ziel. Freinet ermöglicht eine weiter Komponente, die flow auslösend wirken kann. Die Schüler
Arbeiten auf ein Ziel hin:. „Wenn es normale Anstrengung bedeutet, natürlich
auf ein Ziel gerichtet, das in der Linie unseres Lebens liegt, dann drückt es
nur einen optimalen Prozeß unserer Aktivität aus!“ (Freinet 1998, 345). Hier
wird deutlich, dass es nicht nur einfach Ziele sind, die die Schüler verfolgen,
sondern dass die Ziele auch eine bestimmte Qualität haben sollen: Sie sollen in
der Linie des Lebens liegen, sich also einfügen in den Strom der Handlungen,
die ein Selbst formen. Hier beschreibt Freinet das gleiche Phänomen wie
Csikszentmihalyi bei den Handlungen autotelischer Personen: Je weiter die
Teleonomie des Selbst entwickelt ist, desto konkreter hat sich die
Zielhierarchie einer Person herauskristallisiert. Damit sich umgekehrt ein
authentisches Selbst herausbilden kann, ist es sinnvoll, dass Ziele des
Handelnden in einer Linie liegen. Diese pädagogische Komponente kann also neben
dem Aspekt von Feedback und Kontrolle auch flow
förderlich wirken.
Konzentration. „Die Konzentration ist eines der wichtigsten
Prinzipien unserer neuen Erziehung und eines der wirkungsvollsten“ (Freinet
1998, 345).[8] Freinet
fordert „Aufmerksamkeit von besonderer Qualität, die nicht mehr von einer
anormalen und erschöpfenden Konzentration herrührt, sondern von der Harmonie
eines gut geordneten Mechanismus selbst, den ein kräftiger Motor antreibt“
(Freinet 1998b, 390).
Hier beschreibt Freinet das Phänomen, wie Csikszentmihalyi die Bildung der Teleonomie des Selbst sieht: Durch die Teleonomie des Selbst wird eine Aufmerksamkeit möglich, die nicht mit einer erschöpfenden Konzentration zusammenhängt, sondern die als Motor intrinsisch motiviert die Teleonomie des Selbst und die psychische Ordnung eines Handelnden stärkt.
Freinet erläutert also, dass Konzentration bedeutsam ist und auch,
welche Qualität sie aus pädagogischer Sicht haben sollte. Man kann deshalb
davon ausgehen, dass es die Freinet-Pädagogik den Schülern ermöglicht, sich
während der Arbeit zu konzentrieren. Dadurch eröffnet er einen weiteren Zugang
zu flow.
Struktur. Struktur ermöglicht das Freinet-Konzept auf
zweierlei Weise: Zum einen fördert es durch die Zielsetzung und Realitätsanforderungen
eine organisatorische Struktur des Arbeitens. Dies wird etwa durch das
Erarbeiten von Zielen bei Arbeitsplänen und Fertigkeitsbescheinigungen möglich,
wie auch durch regelmäßige Klassenversammlungen, die den Schulalltag
organisieren.
Neben dieser äußerlichen Arbeitsstruktur fordert Freinet „ein
Höchstmaß an Ordnung und Disziplin“, jedoch nicht im formalen Sinne von „brav,
gehorsam, ruhig“ (1997, 67), sondern er spricht von verwurzelter Ordnung und
Disziplin (Freinet 1997, 105), die aus der Sache selbst erwächst. So wird es
den Kindern ermöglicht, ihre eigene Arbeitsstruktur zu entwickeln und
herauszufinden, auf welchen Wegen sie am besten ihre Ziele erreichen. Freinet
spricht mit der verwurzelten Ordnung und Disziplin das an, was Csikszentmihalyi
als Zustand der psychischen Ordnung infolge von flow-Erlebnissen auf der kurzfristigen Situationsebene und
langfristig als Bildung einer Teleonomie des Selbst beschreibt.
Diese Ordnung will Freinet pädagogisch durch die
Selbstkontrollmöglichkeiten forcieren, beispielsweise mit Arbeitskarteien,
Schuldruckerei oder Leistungskurven. So können intrinsisch motivierte innere
Disziplin und Ordnung entstehen. Dieses disziplinierte Arbeiten wird durch
unter anderem durch erfahrene, bewegliche und beherzte Lehrer möglich. Die
Freinet-Konzeption ermöglicht also strukturiertes Arbeiten: So unterstützen
etwa die Wochenarbeitspläne den äußerlich geregelten Rahmen des Handelns,
woraus sich dann meist eine intrinsisch motivierte innere Ordnung und Disziplin
entwickeln kann. Damit erfüllt die Freinet-Pädagogik eine weitere flow förderliche Bedingung.
Freiheit. Freiheit ist ein wichtiger Punkt in der
Freinet-Pädagogik. Doch Freinet betrachtet Freiheit nicht als „totale Freiheit
des Kindes. [...] Weder in der Schule noch in der Gesellschaft gibt es die
Freiheit an sich. Man hat die Freiheit zu arbeiten, die Freiheit sich zu
bewegen, zu sprechen oder zu schreiben. [...] Die Realisierung eines Maximums
an Freiheit der Arbeit, der Bewegung und des Ausdrucks setzt daher ein Maximum
an technischer Organisation voraus, ohne die der Begriff der Freiheit nur ein
Köder wäre“ (Freinet 1997, 112 f.).
Freiheit ist bei Freinet also ein relativer Begriff. Absolute
Freiheit gibt es aus seiner Sicht nicht. Daher kann man die Freiheit in
Freinets Pädagogik, wie etwa die freie Wahl von Arbeitsschwerpunkten, freies
Experimentieren und den freien Ausdruck in einen strukturierten Rahmen (Maximum
an technischer Organisation) eingebettet sehen. Damit entspricht der Begriff
der Freiheit dem von Csikszentmihalyi, der Grenzen als notwendig ansieht, da
sonst die Konzentration abnimmt, es schwerer wird, in einen flow-Zustand zu gelangen, und ein Gefühl
der Beliebigkeit eintreten könne (C 1993, 294).
In so einem strukturierten Rahmen kann der freie Ausdruck etwa die
Kreativität des Kindes wie auch seine Aktivität fördern (Freinet 1997, 28)
Wichtig ist Freinet die Freiheit im Rahmen der natürlichen Methoden, damit die
Kinder sich auf eigenen Forschungswegen ihren Zielen nähern können. Nur so können
sie sich zu authentischen Personen entwickeln und erfahren keine „Ichspaltung“
(Freinet 1997, 38). In der Freinet-Pädagogik wird also ein weiteres Kriterium
umgesetzt, das flow-förderlichen
Charakter haben kann.
Im Zusammenhang mit dem Thema Freiheit setzen in der pädagogischen
Praxis allerdings Schwierigkeiten ein: Wenn innerhalb der Arbeitsblöcke offene
Situationen entstehen, führt dies im Unterricht immer wieder zu Konflikten oder
sogar chaotischen Situationen. Viele der heutigen Schüler fühlen sich „überfordert
und verängstigt, wenn sie keine Struktur entwickelt haben, wenn sie nicht
wissen, wie Rücksichtnahme und Eigeninteresse im Gleichgewicht gehalten werden
können, kurz: Wenn es ihnen an sozialer Kompetenz mangelt. Hauptsächlich aus
diesem Grund vermeiden viele Lehrpersonen offene Situationen und praktizieren
deshalb auch keine Freinet-Pädagogik“ (Rügsegger 2000, 19). Mit dem Thema Freiheit muss man wahrscheinlich dosiert
umgehen, und darauf achten, dass Schüler diesbezügliche Fähigkeiten herausbilden,
damit sie nicht überfordert werden, sondern Herausforderungen wahrnehmen
können.
Selbstvergessenheit. Der Zustand der Selbstvergessenheit während
einer flow-Episode kann sich bis zum
einem Gefühl von Transzendenz entwickeln (Plöhn 1998, 5). Freinet beschreibt
diese Form der Selbstvergessenheit: Ein „Zustand des Wohlbefindens“ kann bis in
den „höchsten [..] Bereich unseres Seins“ (Freinet 1998b, 389) reichen, wie
eine „höhere Ordnung“, eine „übermenschlichen Macht“, die „uns erleuchtet“
(Freinet 1998b, 389). Diese geradezu religiös klingende Formulierung über die
Qualität von weltlichen Erlebnissen kann mit dem Phänomen verglichen werden,
das die flow-Forschung als eine
intensive Form von Selbstvergessenheit, als Transzendenz beschreibt: das Gefühl
völligen Einsseins mit dem Tun und der jeweiligen Umgebung. Freinet verwendet
auch andere Ausdrücke für diese Erlebenszustand: „natürliche Hingabe“ oder
„Rausch des Triumphes“. Diese Beschreibungen deuten darauf hin, dass auch hier
die Freinet-Pädagogik das flow-Phänomen
hervorrufen kann.
Veränderte
Zeitwahrnehmung. Über
die Zeit schreibt Freinet: „Man behauptet, daß acht Stunden überall acht
Stunden seien. Auf der Uhr vielleicht. Für meine psychologische Wirklichkeit
ist der Maßstab aber offensichtlich falsch“ (Freinet 1998, 129). Er vergleicht
hier die objektive Zeiterfassung mit der subjektiven Wahrnehmung. Die
psychologische Wirklichkeit könnte danach subjektiv eine verkürzte Zeit
darstellen, wenn eine Tätigkeit Freude macht, sie kann sich aber auch zäh in die
Länge ziehen, wenn eine Situation als langweilig oder Angst auslösend erlebt
wird. Die von Freinet veränderte Zeitwahrnehmung beschreibt ein weiteres
Element seiner Pädagogik, das auf das flow-Phänomen
schließen lässt.
Zusammenfassung der flow-förderlichen Bedingungen: Aus der Sicht flow auslösender Bedingungen ist das Hauptkennzeichen der
Freinet-Pädagogik das Ermöglichen von Kontrollerfahrungen und Feedback. Diese
beiden Aspekte sind zentral, da Freinet initiativefreudige und kritische
Menschen hervorbringen will. Des Weiteren ermöglicht er zusätzliche
Bedingungen, die den Zugang zu flow-Erlebnissen
ermöglichen: Herausforderungen, Ziele, klare Strukturen, Konzentration sowie
Freiheit. Selbstvergessenheit und veränderte Zeitwahrnehmung sind
Charakteristiken von flow. Die
folgende Tabelle zeigt zusammenfassend, welche Aussagen von Freinet bestimmten flow-Elementen zugeordnet werden können
(wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich die Quellenangaben auf Freinet).
1. Kontrolle & 2. Feedback |
„Tastendes Versuchen“ und „natürliche Methoden“ wirken der
„Zerstückelung und Verzettelung“ entgegen (1997, 141), wodurch das Handeln
auf einer „unverfälschten Wesenheit“ aufbauen kann (1998c, 534) |
3. Herausforderungen |
„Lebenspotential für eine Aktivität nutzen“, der „ständige[[9]]
Wunsch, sich selbst zu übertreffen“ (1997, 115); „unsere Schüler strengen
sich gerne an, um das selbstgesteckte Ziel zu erreichen“ (1997, 46) |
4. Zielvorgaben |
Auf ein Ziel hinarbeiten, „das in der Linie unseres Lebens
liegt“ (1998, 345) |
5. Struktur |
Durch Wochenarbeitspläne, Fertigkeitsbescheinigungen. „Höchstmaß
an Ordnung und Disziplin“ (1997, 67), die aus der Sache selbst erwächst |
6. Konzentration |
„Die Konzentration ist eines der wichtigsten Prinzipien unserer
neuen Erziehung und eines der wirkungsvollsten“ (1998, 345) |
7. Freiheit |
„Man hat die Freiheit zu arbeiten, die Freiheit, sich zu bewegen
[...]. Die Realisierung eines Maximums an Freiheit der Arbeit [...] setzt
daher ein Maximum an technischer Organisation voraus, ohne die der Begriff
Freiheit nur ein Köder wäre“ (1997, 112 f.) |
8. Selbstvergessenheit (als
Charakteristikum von flow) |
Wohlbefinden „bis in den
„höchsten Bereich unseres Seins“ (1998b, 389), eine „übermenschlichen Macht“,
die „uns erleuchtet“ (1998b, 389), „natürliche Hingabe“ , Rausch des
Triumphes“ |
9. veränderte
Zeitwahrnehmung (als Charakteristikum von flow) |
„Man behauptet, daß acht Stunden überall acht Stunden seien. Auf
der Uhr vielleicht. Für meine psychologische Wirklichkeit ist der Maßstab
aber offensichtlich falsch“ (1998, 129) |
Tabelle 3.3.1.
Flow-Elemente in der Freinet-Pädagogik
Aus der Sicht der flow-Theorie
kann man bei Freinet sieben Merkmale wiederfinden, die mit den Elementen des flow-Zustandes übereinstimmen, und zwei
die das flow-Erleben
charakterisieren. Jedes Element kann vor dem Hintergrund der Kausalitätsfeststellung
von Csikszentmihalyi (Csikszentmihalyi 1993, 287) flow auslösende Funktion haben, den
Zugang zu einem flow-Erlebnis
ermöglichen und dann alle weiteren Elemente nach sich ziehen. Dies gelingt in flow förderlichen pädagogischen Situationen
besonders gut. Da jedoch das Vorhandensein eines Elements allein noch kein flow-Erlebnis als Erlebensform ausmacht,
sind vermutlich auch die anderen Bedingungen wichtig, damit der flow-Zustand eintreten kann. Freinets
Pädagogik ermöglicht nicht nur Kontrollerfahrungen und Feedback, sondern auch
die anderen Elemente, die flow
auslösen können. Den Elementen Selbstvergessenheit und veränderte
Zeitwahrnehmung kommt keine flow
auslösende Bedeutung zu, sondern sie können Hinweise auf das Erleben von flow sein.
Ein
Beispiel für das Zusammenwirken der beschriebenen Elemente könnte wie folgt
aussehen: Ziele, beispielsweise festgelegt durch die Wochenarbeitspläne
oder Fertigkeitsbescheinigungen, fordern die Schüler heraus,
„sich selbst zu übertreffen“. Arbeitskarteien und Anforderungsverzeichnisse
ermöglichen strukturiertes Arbeiten. Mit diesen Techniken sowie mit der
natürlichen Methode haben die Kinder Gelegenheit, sich ganz auf ihre lebensnahe
Tätigkeit zu konzentrieren. Die Kinder und Jugendlichen arbeiten dabei
in Freiheit. Da sie die Ziele auf ihre Weise erarbeiten, nehmen sie
Feedback wahr, wie schnell sie sich ihrem Ziel nähern, und mit dem
Voranschreiten der Tätigkeit können sie Kontrolle erleben. Da Freinet die
scholastische Verfahrensweise ablehnt, haben die Schüler die Möglichkeit, in
ihrem Tun selbstvergessen aufzugehen. Dabei hat Freinet bei den Schülern
vermutlich veränderte Zeitwahrnehmung feststellen können. Dies ist ein
Beispiel, wie die beschriebenen Elemente in der Freinet-Pädagogik
zusammenhängen und so möglicherweise das flow-Phänomen
ausgelöst haben können. Kontrollerfahrungen und Feedback kommen in der
Freinet-Pädagogik eine zentrale Bedeutung zu. Anhand der Elemente die für flow charakteristisch sind und die
gleichzeitig flow auslösen können,
kann geschlossen werden, dass dieses Phänomen bei Freinets Schülern vermehrt
ausgelöst wurde. Dies wird durch seine Aussage unterstrichen, dass er die
schöpferische Kraft pädagogisch als „vergessen, verkannt und unterschätzt“
(1998b, 383) sieht. Er scheint also viel Wert auf diese Form des Erlebens zu
legen, die Ähnlichkeiten zum flow-Phänomen
aufweist. Wie viel flow diese
pädagogische Konzeption heute tatsächlich im Vergleich zu konventionellen
Schulen ermöglicht, müsste weiterführend empirisch untersucht werden.
Dieser Abschnitt soll aufzeigen, dass Freinet allein durch das
Evozieren von flow die Kinder erzogen
hat. Es wird hier nicht der Stellenwert von flow
in der Freinet-Pädagogik betrachtet, welche Bedeutung diese Form des
Erlebens bei Freinet insgesamt hat, sondern hier wird aufgezeigt, dass das flow-Phänomen durch bestimmte günstige flow-förderliche Bedingungen vermutlich
ausgelöst worden ist. Auch wenn flow
in der Freinet-Pädagogik ein beiläufiges Phänomen sein sollte, so kann die
Freinet-Pädagogik nur allein dadurch, dass sie es vermutlich ausgelöst hat (und
heute noch auslöst), die Kinder ein Stück weit erziehen.
Es werden nun vier zentrale Aspekte beleuchtet, die das grundlegende
Wesen von Erziehung darstellen (vgl. Einleitung) und die durch das Evozieren
von flow realisiert werden. Mit
diesem vierten Schritt des hermeneutischen Vorgehens soll die erzieherische
Relevanz des flow-Phänomens in der
Freinet-Pädagogik aufgezeigt werden. Während das vorliegende Kapitel analysiert
hat, welche einzelnen Bedingungen flow
förderlich sind, zeigt dieser Abschnitt die Bedeutung von flow-Erlebnissen für die Erziehung auf. Möglicherweise tragen die
Auswirkungen von flow auch zu der
internationalen Etablierung, Aktualität und dem Erfolg der Freinet-Pädagogik
bei.[10]
1. Das Erziehungsziel: „Körperlich gesund, geistig klar und seelisch
ruhig“ definiert Lauff (1999) das zentrale Ziel von Erziehung. Csikszentmihalyi
beschreibt diesen Zustand als autotelische Fähigkeiten. Mit dieser Form
menschlichen Seins stimmt Freinet in seinem Erziehungsziel übereinnämlich, dass
die Kinder „Lebensfreude“ und „schöpferische Kraft“ beibehalten, sich
ausgeglichen fühlen, sich in einem größtmöglichen Maße entfalten, ihre
individuelle „Lebensformel“ entwickeln und sich nicht „verleiten lassen zu
willkürlichen aufgezwungenen Tätigkeiten“. Mit diesem Ziel kann er Kinder zu
autotelischen Persönlichkeiten erziehen. Seine pädagogischen Vorstellungen
stimmen mit denen von Lauff und von Csikszentmihalyi überein.
Freinets Erziehungsziel ist auf drei Ebenen der flow-Theorie greifbar: (1) Auf der Ebene
des Menschenbildes nimmt er an, dass Menschen ihre Potenziale entfalten sowie
ihre eigene Lebensformel und Lebensfreude entwickeln können. (2) In seinen
Beschreibungen über des transzendenten Tuns und der Möglichkeit einer
veränderten Wahrnehmung der Zeit beschreibt er damit zwei charakteristische
Kriterien, die Menschen im flow-Zustand
wahrnehmen. (3) Schließlich erzieht Freinet auch auf der flow auslösenden Ebene, da er pädagogische Bedingungen wie
Kontrollerfahrungen und Möglichkeiten zum Feedback beschreibt, die das flow-Phänomen auslösen können. Das
Erziehungsziel der „individuellen Lebensformel“ oder des autotelischen Seins kann
somit also auf drei Ebenen erreicht werden.
2. Die
stellvertretende Verantwortung. Freinet übernimmt die stellvertretende Verantwortung für die
Entwicklung der Kinder zu initiativefreudigen Menschen. Die Freinet-Pädagogik
hilft ihnen, Kontrolle über ihr Leben zu empfinden und mit Anforderungen
selbstbestimmt und handlungsorientiert umzugehen. Auf diese Weise können sie
ihre individuelle „Lebensformel“ verwirklichen und „große Bedürfnisse des
Lebens“ realisieren. Freinet übernimmt also die stellvertretende Verantwortung
dafür, dass Kinder ihre Teleonomie des Selbst und folglich auch sich zu
autotelischen Persönlichkeiten entwickeln können. Seine Motivation, auch
gesellschaftlich „eine ganz neue Lebensweise [...] in Gang zu setzen“ und das
lebenslange Konzeptionieren einer lebendigen Schule zeigen, dass er sich für
verbesserte Lernmöglichkeiten verantwortlich fühlt, durch die sich die Kinder
zu authentischen Personen entwickeln können.
Die stellvertretende Verantwortung von Freinet kann in der flow-Theorie auf der Ebene der flow auslösenden Bedingungen eingeordnet
werden: Er schafft Voraussetzungen, die die Schüler befähigen, ihre Interessen
zu verfolgen. Diese Tätigkeiten werden vermutlich zu einem großen Teil im flow erlebt (vgl. Schiefele 1992, 7).
3. Die Werdenskraft. Kinder können ihre Werdenskraft in einer
Freinet-Schule durch die „außerordentliche Fruchtbarkeit“ der schöpferischen
Kraft verwirklichen. Freinet sieht in ihr eine hohe pädagogisch fördernswerte
Bedeutung, ordnet sie jedoch allgemein als „vergessen, verkannt und
unterschätzt“ ein. Die Werdenskraft umschreibt Freinet mit „Lebensformel“,
„Fackel des Lebens“, „Begeisterung der ganzen Person“. Damit erfüllt Freinet
ein drittes Kriterium aus der Sicht einer Erziehung durch flow. Die Werdenskraft wird besonders auf der Ebene der flow-Auslöser bei Freinet deutlich, da
er Methoden aufeinander abstimmt, die flow
oder schöpferische Kraft auslösen können und die Werdenskraft der Schüler
ankurbeln.
Man muss hier allerdings anmerken, dass sich die heutigen Kinder
und Jugendlichen von den Kindern zu Freinets Zeiten unterscheiden, nicht
zuletzt durch den starken Einflussder Medien. Die meisten wachsen in einer
„Konsumwelt mit Unterhaltungsgeräten“ (Rügsegger 2000, 17) auf und lernen immer
weniger, sich eigene Gedanken zu machen, die Welt auf ihre Weise zu erobern
(Rügsegger 2000, 17). Es stellt sich in der heutigen Praxis beispielsweise auch
die Frage, wie die schöpferische Kraft der Kinder hervorgeholt werden kann,
wenn „mehrseitige ‘freie Texte’ [...] nichts anders sind als schlechte
Nacherzählungen von Fernsehfilmen“ (Rügsegger 2000, 18). Eine weitere
Schwierigkeit bei der Umsetzung der Freinet-Pädagogik in einer zunehmend von
den Medien bestimmten Welt scheint zu sein, dass die Kinder wenig Geduld für das
Erreichen eines Ziels aufbringen. Nach dem ersten Misserfolg wird die Arbeit
oft schon hingeschmissen (Rügsegger 2000, 17). Die ursprüngliche pädagogische
Konzeption Freinets muss sicherlich an die heutige Zeit angepasst werden, ohne
dass dabei beispielsweise der Grundsatz der Lebensnähe, der „unmittelbarem
Kontakt mit dem Leben selbst“ (Freinet 1997, 142), vernachlässigt wird. Dann
kann die Werdenskraft der Kinder und Jugendlichen gefördert werden.
4. Die Entwicklungs-
und Lebenshilfe.
Alles Vorangegangene lässt bereits darauf schließen, dass Freinet Entwicklungs-
und Lebenshilfe leistet, denn sein Ziel ist es, Kinder zu kritischen Menschen
zu erziehen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Sie sollen ihre eigene
Lebensformel finden, die sie befähigt, über das zu entscheiden, was sie wollen
oder nicht wollen. Er will sie zu initiativebereiten Menschen erziehen, die
sich beispielsweise nicht für etwas Grausames wie einen Krieg verwenden lassen.
Dies möchte er durch die aktive Auseinandersetzung mit dem Leben selbst
erreichen. Deshalb ermöglicht er durch konkrete lebensnahe Tätigkeiten und
Gruppenarbeit u.a. Kontrollerfahrungen, damit die Kinder aktiv ihr Leben in
einer Gemeinschaft gestalten lernen und nicht nur „passiv“ das tun, was andere
für richtig halten. Mit der Lebenshilfe setzt Freinet ein viertes Kriterium
einer Erziehung durch flow um.
Es kann festgehalten werden, dass Freinet mit seiner Pädagogik
grundlegende Bedingungen erfüllt, die durch das Auslösen von flow erzieherisch wirksam sind. Die Freinet-Pädagogik
scheint also allein durch das Auslösen des flow-Phänomens
erzieherisch wirksam zu sein. Vor diesem Hintergrund kann man seine Aussage
verstehen, dass er eine „ganz neue Lebensweise [...] in Gang setzen“ möchte
(Freinet 1998b, 383) und zu einer „harmonischen und ausgeglichenen Gesellschaft
beitragen“ will (Freinet 1998c, 492).
[1] Das Phänomen
der „erlernten Hilflosigkeit“ ist ausführlich beschrieben von Seligmann (1979).
[2] Aus der Sicht
der flow-Theorie ist es heute im
Vergleich zu früher schwieriger, unmittelbare Kontrolle über die Konsequenzen
des erlernten Wissens zu haben, weil die Schülerinnen 1.) „eine Menge
theoretischer Kenntnisse erwerben, [...] meist ohne zu verstehen, welchem Zweck
dieses Wissen dient“ (Csikszentmihalyi 1995, 254); weil 2.) fast jedes
Wissensgebiet dargeboten wird, „als ob es unabhängig von allen anderen
Fachrichtungen existierte“ (Csikszentmihalyi 1995, 355 f.); und weil 3.)
Schüler heute kaum lernen, wie sie das Wissen einzelner Sachgebiete miteinander
verknüpfen sollen (Csikszentmihalyi 1995, 354).
[3] Die Kinder können sich allein oder mit mehreren Mitschülern
die Karten vornehmen und durcharbeiten.
[4] Ein Gefühl
von Kontrolle kann auch eine Gefahr beinhalten: „Wenn man zu abhängig von der Fähigkeit
zur Kontrolle und der angenehmen Aktivität wird, kann man nichts anderem mehr
Aufmerksamkeit schenken und verliert letztendlich jegliche Kontrolle: die
Freiheit, den Inhalt seines eigenen Bewußtseins zu bestimmen“ (Csikszentmihalyi
1993, 91). Das kontrollierte Tun im flow-Zustand
hat demnach zwei Seiten: Die eine Seite bringt Ordnung ins Bewusstsein und löst
Wohlbefinden aus; die andere Seite kann zur Sucht führen und das Leben von
einer Tätigkeit abhängig machen (Csikszentmihalyi 1999, 86). Vgl. auch im
Schlusskapitel den Abschnitt über die Gefahren durch flow.
[5]
Freinet empfiehlt die Arbeit mit den Wochenarbeitsplänen ab der fünften Klasse.
Die Schülerinnen erarbeiten den gesamten Lehrstoff für alle Fächer und alle
Klassen. Der Arbeitsplan „verlangt guten Willen, eine ungewöhnliche Hingabe und
Durchhaltevermögen, weil die Arbeit nicht belohnt wird, es sei denn durch
Eintragung in die Leistungstabelle“ (Freinet, 1997 106).
[6] Vgl. auch
Auswirkungen bei Montessori und Makarenko in den jeweiligen Kapiteln.
[7] 1924 gründet
Freinet mit anderen Lehrern zusammen eine „Arbeitsgruppe der modernen Schule“
(Cooperative de l’Ecole Laic, C.E.L.). Die Mitgliederzahl belief sich 1986 auf
ca. 30.000. 1957 Gründung der internationalen Lehrerbewegung F.I.M.E.M.: Fédération
Internationale des Membres de l’Ecole Moderne. Die Pädagogik Kooperative Bremen
e.V. ist die Zentrale der Freinet-Bewegung in Deutschland, die auch die
Freinet-Zeitschrift „Fragen und Versuche“ herausgibt (Dietrich 1995).
[8] Hier macht
sich möglicherweise sein Kontakt zu Montessori bemerkbar.
[9] Im Original:
„dem ständigen ...“
[10] Die
Freinet-Kooperative e.V. in Bremen ist der Bundesverband der
Freinet-PädagogInnen in Deutschland. Sie hat eine Liste mit internationalen
Adressen, organisiert Fortbildungen und auch internationale Symposien.