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4       Konsequenzen für die Praxis

Im folgenden werden diejenigen Erkenntnisse thesenartig beschrieben, die in dieser Arbeit auf heuristisch-hermeneutischem Wege gewonnen wurden. Danach folgt ein Ausblick darauf, inwieweit die Ergebnisse einen Wert für die pädagogische Praxis und die wissenschaftliche Forschung haben.

 

Erste Erkenntnis:

Flow ist ein altes Phänomen in der Pädagogik

In dieser Arbeit wurde durch die Auslegung fünf reformpädagogischer Konzepte aus der Sicht der flow-Theorie gezeigt, dass der heutige Begriff des flow-Erlebens ein altes Phänomen beschreibt, das der reformpädagogischen Praxis immanent war:

1. Die Reformpädagogen haben das flow-Phänomen unterschiedlich benannt: „Begeisterung“, „lebendiges Sprudeln“ (Freinet), „Versenken der Seele“ (Montessori), „Freude“, „wirklicher Antrieb“, „Erfüllung“ (Makarenko) „ernsthaft arbeiten“ (Produktionsschule), „Glück“ (Neill) und „schöpferische Leidenschaft“ (Hahn).

2. Die betrachtete reformpädagogische Erziehung setzt je nach Konzept besonders ausgeprägt ein bestimmtes Kriterium um, welche das flow-Phänomen auslöst. Dies sind:[1]

·         Perspektiven bei Makarenko,

·         reale Herausforderungen in der Produktionsschule,

·         Kontrolle und Feedback bei Freinet,

·         Konzentration bei Montessori sowie

·         Überwinderkraft bei Hahn (Plöhn 1998, 13 ff.);

·         vermutlich wenig ausgelöst wurde das flow-Phänomen durch Neills Vorstellung von Freiheit.

Neben diesen besonders ausgeprägten Kriterien setzen die meisten reformpädagogischen Konzepte auch andere Aspekte um[2], wie aus folgender Synopse hervorgeht:

5           

Synopse

 

 

 

 

Produktionsschule

 

 

Makarenko

 

Montessori

 

Freinet

 

Neill (flow-verhindernde Bedingungen)

Konzentration

Schule will als eine „überschaubare Einheit“ pädagogisch wirken und Orientierungslosigkeit der Schüler unterbinden, Fähigkeiten kanalisieren. Pädagogische Begleitung, Gleichbehandlung von Schüler und Schülerinnen, Regeln.

„Völlige Ignorierung der Vergangenheit“ ( zit. in Nastainczyk 1963, 173); „Aufmerksamkeit [...]durch die allgemeine Aussicht auf Erfüllung“ (1967, 219 f.). Kein „Nebenziel“ soll vom „Hauptziel“ ablenken (1956, 510).

„Das ist offenbar der Schlüssel der ganzen Pädagogik: Diese kostbaren Augenblicke der Konzentration zu erkennen“ (131995, 22); „intensive Aufmerksamkeit“ (41976, 69);[3] „daß die Seele im Inneren auf einen Anreiz reagiert und dabei verweilt“ (41976, 89).

„Die Konzentration ist eines der wichtigsten Prinzipien unserer neuen Erziehung und eines der wirkungsvollsten“ (1998, 345)

Keine Rückzugsmöglichkeit; es ist „schwer, in Ruhe zu arbeiten“ (1998, 93).

Herausfor-derungen

Praxis und Theorie sind im Produktionsprozess aufeinander abgestimmt. Jeder Schüler erarbeitet einen persönlichen Lehrplan, damit er seine Fähigkeiten optimal entwickeln kann.

„Möglichst hohe Forderungen“ (1956, 54). „keine Kette von langweiligen und einförmigen Handgriffen“, eine „Aufgabe, die alle mitreißt (1967, 220) und „Aussicht auf Erfüllung“ verspricht (1956, 82)

 

Freie Entfaltung der Potentiale durch „eine neue und schwierige Beschäftigung“ (41976, 97).

„Lebenspotential für eine Aktivität nutzen“, der „ständige[[4]] Wunsch, sich selbst zu übertreffen“ (1997, 115); „unsere Schüler strengen sich gerne an, um das selbstgesteckte Ziel zu erreichen“ (1997, 46)

Die Schüler „machen sich kaum an schwierigere Sachen heran“ (1998, 32)

Ziel

ein Produkt herzustellen, Die Schüler wollen sich qualifizieren, um eine Ausbildungsstelle oder einen Job zu finden und ein geregeltes Leben zu führen.

„Den Menschen erziehen bedeutet, bei ihm Perspektiven herausbilden“ (1956, 80)

Intrinsisch motivierende: „Allein die Befriedigung des inneren Bedürfnisses setzt der Tätigkeit ein Ende“ (131995, 33). Sie setzt keine extrinsisch motivierenden Zielvorgaben.

Auf ein Ziel hinarbeiten, „dass in der Linie unseres Lebens liegt“ (1998, 345)

Keine Prüfungen (1998, 25) Annahme Kinder würden „eklektisch“ Handeln, ihr Leben sei Leben voll „bruchstückhafter Interessen“ (1998, 325); freiwilliger Unterricht,

Struktur

Produktionsprozess mit fachlicher Struktur und zeitlichem Rahmen, ganztägige Schulform, geregelte Pausen- und Ferienzeiten, individuelle Ausbildungspläne. Regeln im Umgang untereinander.

„Die Heimordnung muß für alle verbindlich sein“ (1967, 359); die Jungen sollen „organisiert an sie [die Arbeit] herangehen, genau bestimmten Funktionen [...], mit genau festgelegter und unbedingter Verantwortlichkeit“ (1967, 239); der Zögling „soll niemals [...] in den Räumen herumlungern, ohne zu wissen, wo er bleiben soll“ (1967, 241)

Z.B. natürliche Ordnung der vorbereiteten Umgebung für die „psychische Hygiene“ (41976, 136); Rituale bei Stilleübungen; „Anleitung zu psychologischen Beobachtungen“ (41976, 118).

Durch Wochenarbeitspläne, Fertigkeitsbescheinigungen. „Höchstmaß an Ordnung und Disziplin“ (1997, 67), die aus der Sache selbst erwächst.

Antiautoritäres Erziehungskonzept und Repressionsfreiheit (Böhm 1994, 496) weisen auf wenig Struktur im allgemeinen hin. Regelmäßige Vollversammlungen geben dem wöchentlichen Tun Struktur.

 

Kontrolle

 &

Feedback

Das Produkt wird Schritt für Schritt fertiggestellt, Theorie und Praxis sind dazu aufeinander abgestimmt. Sukzessiver Fähigkeitserwerb, Teamarbeit „Bei diesen Schülern merkt man einen ganz großen Entwicklungsschub innerhalb eines Jahres, [...] weil sie sehr oft zum ersten Mal in ihrer Schulkarriere merken und auch bestätigt kriegen, dass sie was können“ (Weise 2000, 105).

Die Ergebnisse der Arbeit“ treten „deutlich zutage“ (1967, 423). „Orientierungssinn“ (1967, 240). Durch ihr Verhalten bekommen die Zöglinge also Rückmeldungen, ob sie sich konform verhalten oder nicht.

„Forschungstrieb befriedigen“, „Einsichten gewinnen“ (131995, 35).

„Tastendes Versuchen“ und „natürliche Methoden“ wirken der „Zerstückelung und Verzettelung“ entgegen (1997, 141), wodurch das Handeln auf einer „unverfälschten Wesenheit“ aufbauen kann (1998c, 534)

„man sollte überhaupt einem Kind niemals helfen, wenn es ein Problem nicht selbst lösen kann“ (1998, 186)

Freiheit

Freiwilliger Schulbesuch, freie Wahl des Faches,

„Wichtig ist, daß dem Kind in der Wahl der Mittel eine gewisse Freiheit gewährt wird“ (1967, 437)

„spontaner Entwicklung Freiheit lassen“ (13 1995, 20). Man kann „sich nur innerhalb bestimmter Grenzen realisieren“ (zit. in Holstiege 1987, 16); „Herr über eigenes Tun“ (1994, 14).

„Man hat die Freiheit zu arbeiten, die Freiheit, sich zu bewegen [...]. Die Realisierung eines Maximums an Freiheit der Arbeit [...] setzt daher ein Maximum an technischer Organisation voraus, ohne die der Begriff Freiheit nur ein Köder wäre“ (1997, 112 f.)

Freiheit als Hauptprinzip der Schule (1998, 89) „sich selbst überlassen und unbeeinflußt von Erwachsenen“ (1998, 23)

Selbstvergessenheit

als Charakteristikum von Flow

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„Ein Junge spielt auf dem Hof, begeistert und voller Eifer“ (1967, 253). Makarenko will „schöpferische Arbeit [...] lehren“ (1967, 434),

„Versenken der Seele“ (131995, 22).

„natürliche Hingabe“, „Rausch des Triumphes“.

„Schöpferische Kraft“ (1998, 43), „Lebenlassen“ (1998, 22) lassen grundsätzlich an das Phänomen der Selbstvergessenheit denken.

Zeitwahrnehmung

als Charakteristikum von Flow

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Das Kind „löst sich für eine geraume Zeit von seiner Umgebung los“ (zit. in Holstiege 1997, 100); „das Mädchen schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf“ (131995, 18).

„Man behauptet, daß acht Stunden überall acht Stunden seien. Auf der Uhr vielleicht. Für meine psychologische Wirklichkeit ist der Maßstab aber offensichtlich falsch“ (1998, 129).

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Tabelle 6: Flow-förderliche Bedingungen einzelner Reformpädagogen. Die Ausnahme bildet die Spalte bei Neill. Dort sind Bedingungen zusammengefasst, die hauptsächlich flow-verhindernd wirken. Wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich die Quellenangaben auf die jeweiligen Autoren.

 

Diese unterschiedlichen Kriterien, die mit den Elementen des flow-Erlebens übereinstimmen, sind Begleiterscheinungen von flow und können deshalb das flow-Phänomen auslösen (Csikszentmihalyi 1993, 278). Aus Sicht der flow-Theorie lösen die hier interpretierten reformpädagogischen Konzepte also flow-Erlebnisse aus (bei Neill war dies allerdings weniger der Fall). Somit sind die reformpädagogischen Konzepte und die flow-Theorie über diese Kriterien miteinander verbunden. Diese Kriterien sind es, die das flow-Phänomen als zentrales Charakteristikum schon vor 80 Jahren in der Erziehung wirksam und international[5] etablierten. Neills Konzept bildet indes eine Ausnahme. Es scheint wenig Kriterien zu erfüllen, die flow auslösen. Damit stellt Summerhill ein pädagogisches Beispiel dar, das den Zugang zum flow-Phänomen erschwert.

3. Ein weiterer Hinweis auf das pädagogisch altbekannte flow-Phänomen sind die Auswirkungen der reformpädagogischen Ansätze. Sie ähneln dem, was in der flow-Forschung als autotelische Fähigkeiten, Teleonomie des Selbst oder autotelische Persönlichkeiten beschrieben wird. Makarenko beschreibt seine Jugendlichen als „harmonische Persönlichkeit[en]“, die „zuversichtlich“ das täten, was ihnen „wichtig“ sei. Montessori beschreibt das Resultat ihrer Erziehung als „normale Kinder“, die „erfrischt und ausgeruht“ sowie innerlich gefestigt seien und mit „Ordnung“ im Bewusstsein lebten. Freinet schildert die Auswirkungen seiner Schulform als Menschen, die sich mit einem „beharrlichen Aufstieg“ „selbst übertreffen“ und eine „neue Lebensweise“ verkörperten sowie „höchste Bereiche des Seins“ kennen lernen. Produktionsschulen ermöglichen, dass sich randständige Jugendliche, die sich als „Versager“ fühlen, zu motivierten ausbildungsfähigen Jugendlichen entwickeln, die „ernsthaft“ und „fröhlich“ arbeiteten. Neill will „glückliche Kinder“ hervorbringen. Doch aus der Sicht der flow-Theorie weisen wenig Textstellen bei Neill auf die Erreichung dieses Zieles hin.

Damit haben die Reformpädagogen die starren Herbartschen Formalstufen überwunden, die die Einheitlichkeit der Erziehung und das Kognitive betonen. Die Reformer stellten die Individualität der Zöglinge in den Vordergrund und schafften eine freudige Grundstimmung, eine „freudig gestimmte Atmosphäre“ in Erziehungsprozessen, die die „unbeschwerte Fröhlichkeit“ „in ihrer weitreichenden erzieherischen Tragweite“ wertschätzt (Bollnow 41970, 26 ff.).

Die erste Erkenntnis ist also, dass das flow-Phänomen schon seit ca. 80 Jahren in der Erziehung in vielen Ländern explizit ausgelöst wird. Abgesehen von den Produktionsschulen, die erst seit 1978 in Dänemark praktisch umgesetzt werden.

 

Zweite Erkenntnis:

Reformpädagogische Ansätze sind heute noch attraktiv, da sie flow auslösen

Im Rahmen dieser Dissertation geht es darum, dass bewährte reformpädagogische Konzepte, die heute angewendet werden, flow-Erlebnisse auslösen können. Dies wird an einem Beispiel aus der Erlebnispädagogik (Plöhn 1998) gezeigt.

Das wichtigstes Ergebnis dieser empirischen Untersuchung ist (vgl. Anhang), dass die Schülerinnen während einer Klassenreise auf einem Großsegler erweiterte flow-Erlebnisse erlebt haben. Das heißt, die Schülerinnen können ihre Fähigkeiten nach und nach an einer sich wiederholenden Tätigkeit über einen bestimmten Zeitraum ausbauen. Die Ergebnisse (Plöhn 1998, 46 f.) zeigen, dass die Fähigkeiten mit wiederholtem Tun bei der gleichen Tätigkeit (Mastklettern) zunehmen, zugleich die Tätigkeit in Durchschnitt als immer langweiliger empfunden wird. Das flow-Gefühl nahm durchschnittlich ab. Mit einer neuen Herausforderung an diese bereits gestiegenen Fähigkeiten empfanden die Schüler ihr Erleben wieder als qualitativ höherwertig, sie erlebten durchschnittlich wieder mehr flow.[6] Die Untersuchung zeigt, dass Hahns „schöpferische Leidenschaft“ offensichtlich als erweiterte flow-Erlebnisse betrachtet werden kann (Plöhn 1998, 124 ff.). Diese Arbeit liefert ein Beleg dafür, dass ein traditionelles reformpädagogisches Konzept auch heute noch flow auslösen kann.

Dieses grundsätzliche Prinzip des erweiterten flow-Erlebens scheint auch bei den anderen hier beschriebenen Reformpädagogen in der Erziehungspraxis erfolgt zu sein: Einige Reformkonzepte haben sich bis heute zum Teil weltweit ausgebreitet (z.B. Montessori), weil sie die dem Menschen innewohnende Suche erfüllen, als Individuum komplexer zu werden. [7] Diese aktuelle Attraktivität dient zusammen mit dem vorherigen Beleg als empirische Bestätigung dafür, dass reformpädagogische Erziehungspraxis heute noch flow auslösen kann.

Die zweite Erkenntnis besteht also darin, dass die reformpädagogischen Konzepte heute noch attraktiv sind, weil sie u. a. flow auszulösen scheinen (Fischer 1999, Plöhn 1998).

 

Dritte Erkenntnis:

Die Förderung autotelischer Fähigkeiten ist ein wichtiges Element von Erziehung

Für die Zukunft stellt sich die Frage, ob man überhaupt durch das Evozieren von flow-Erlebnissen erziehen kann. Haben beispielsweise Reformpädagogen ihre Schüler erzogen, wenn sie auf unterschiedliche Weise mit unterschiedlichen Inhalten das flow-Phänomen erzeugt haben? Kann man Kinder und Jugendliche heute durch das Auslösen von erweiterten flow-Erlebnisse erziehen? Anders ausgedrückt: Ist das flow-Konzept überhaupt für Erziehung relevant? Die Antwort lautet ja. Sie soll skizziert werden.

Als Urphänomen vollzieht sich Erziehung[8], wenn bestimmte Eckpfeiler gegeben sind:

1.    Ein Kind muss mit seiner „Werdenskraft“ (Lauff 1999) sein Wachstum verwirklichen können;

2.    ein Erwachsener übernimmt die „stellvertretende Verantwortung“ (Lauff 1999), indem er

3.    „Entwicklungs- und Lebenshilfe“ (Dolch 71965, 54) leistet, und

4.    Erziehung muss ein Ziel haben, z. B. „körperlich gesunde, geistig klare und seelisch ruhige“ (Lauff 1999) Menschen hervorbringen, die über autotelische Fähigkeiten verfügen.

Diese Eckpfeiler sind bei einer Erziehung, die erweiterte flow-Erlebnisse evoziert, gegeben:

1. Das Kind kann durch erweiterten flow sein Wachstum, seine Werdenskraft, verwirklichen. Die in dieser Arbeit beschriebenen Reformpädagogen hatten das Ziel, die Potenziale der Kinder optimal zu fördern. Mit unterschiedlichen Herangehensweisen und z. T. mit einer „Pädagogik vom Kinde aus“ lösten sie das flow-Phänomen aus (Neill indes weniger). Deshalb können die Kinder und Jugendlichen als „Neugierwesen par Excellenze“ (Roth 1976, 118) und mit ihrer Sucht nach dem Komplexerwerden (Csikszentmihalyi 1995, 260) permanent Energie einsetzen, um ihr „Interesse am Möglichen“ (Jaspers, zit. in: Csikszentmihalyi 1985, 223 f.) aufrechtzuerhalten. Damit förderten die Reformer - aus der Sicht der flow-Theorie - die Bildung autotelischer Fähigkeiten und die Entwicklung einer Teleonomie des Selbst: Sie unterstützten die Werdenskraft der Kinder, die durch flow-Erlebnisse ihr Wachstum verwirklichen konnten.

2. Die stellvertretende Verantwortung ist der zweite Eckpfeiler des Urphänomens von Erziehung. Stellvertretend bleibe die Verantwortung so lange, bis das Kind mittels seiner Werdenskraft sein Wachstum selbständig verwirklichen könne. In der Sprache der flow-Theorie hat es dann die  Teleonomie seines Selbst entdeckt und baut diese weiter mit sich zunehmend entwickelnden autotelischen Fähigkeiten aus. Sukzessive löse dann die steigende Werdenskraft die stellvertretende Verantwortung ab. Die Reformer experimentierten auf unterschiedlichen facettenreichen Wegen, wie Kinder am besten auf die Anforderungen des Lebens vorbereitet werden könnten.

3. Mit dieser Verantwortung leisteten Makarenko[9], Montessori, Freinet, Hahn und leisten heute die Lehrerinnen der Produktionsschule Entwicklungs- und Lebenshilfe: Der werdende Mensch wird als Person mit eigenen Interessen und Zielen betrachtet und nicht wie ein Klumpen Ton auf eine bestimmte Weise geformt.[10] Damit errichtet die Förderung von autotelischen Fähigkeiten als Lebenshilfe einen dritten Pfeiler von Erziehung.

4. Der vierte Pfeiler fußt auf dem Ziel der Erziehung. Lauff spricht von einem körperlich gesunden, geistig klaren und seelisch ruhigen Menschen als ewig gültigem Zweck der Erziehung und weist damit auf zentrale Merkmale hin, die Menschen mit autotelischen Fähigkeiten aufweisen. Die Reformpädagogen erzogen zu autotelischen Fähigkeiten, was sich z. B. in ihren Erziehungszielen ausdrückt: Ihre Ziele waren, Kinder und Jugendliche zu „harmonischen Persönlichkeiten“ (Makarenko), zu „Lebensfreude“ (Freinet), zu „normalen“ Kindern (Montessori), zu „glücklichen Kindern“ (Neill) und zu ausbildungsfähigen Jugendlichen (Produktionsschule) zu erziehen. Dies wird durch das Erleben von flow erreicht. Damit wird u.a. der vierte Eckpfeiler von Erziehung verwirklicht.

Bei einer reformpädagogischen Förderung der autotelischen Fähigkeiten können also vier Eckpfeiler von Erziehung erfüllt werden: 1.) Das Kind kann seine Werdenskraft verwirklichen, indem es wächst, 2.) Pädagogen (oder Eltern etc.) übernehmen eine stellvertretende Verantwortung, und 3.) zeigen sich Kinder und Jugendliche körperlich gesund, geistig klar und seelisch ruhig. Schließlich kann 4.) dieser Prozess als Entwicklungs- und Lebenshilfe bezeichnet werden. Das Induzieren von Flow-Erlebnisse scheint also eine Erziehungsfunktion auszuüben zu können, weil sich flow positiv auf die Lebensgestaltung auswirkt: Menschen sind glücklicher, gesünder, zielorientierter, weniger passiv, leistungsfähiger und haben ihr Leben mehr in der Hand, machen das Beste aus einer Situation. Diese Eigenschaften sind nützlich, um sein Leben eigenständig gestalten zu können.

Diese Arbeit hat gezeigt, dass es viele Wege gibt, auf denen das flow-Phänomen ausgelöst werden kann und wie in unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen (im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nachkriegschaos sowie in Friedenszeiten) bei unterschiedlichen Kindern und Jugendlichen (z. B. bei straffälligen Jugendliche oder bei Arbeiterkindern) flow ausgelöst werden kann. Die Förderung von autotelischen Fähigkeiten hat also in verschiedenen Situationen und bei unterschiedlichem „Klientel“ eine erzieherische Funktion. Dies deckt sich gut mit dem Ergebnis der Flow-Forschung, dass flow ein universellen Phänomen ist, unabhängig von Alter, Geschlecht und sozialer Schicht (Csikszentmihalyi 1991b, 387 f.).

Erziehung ist als Urphänomen vorerst unabhängig von bestimmten Erziehungsinhalten: Autotelische Fähigkeiten lernen Menschen nicht wie Inhalte, die sie wieder vergessen, weil sie für ein Leben nach der Schule nicht mehr benötigt werden. Autotelische Fähigkeiten sind dagegen quasi ein anthropologisches Werkzeug, das Menschen für ihr ganzes Leben befähigt, mit Inhalten oder Anforderungen motiviert umzugehen. Deswegen haben sie eine wichtige erzieherische Funktion inne.[11]

 

Vierte Erkenntnis:

Die flow-Theorie kann in der Geschichte der Pädagogik verankert werden

Da das Phänomen vor ca. 80 Jahren in der Praxis bewusst ausgelöst wurde, kann die flow-Theorie aus heutiger Sicht im nachhinein in der Geschichte der Pädagogik verwurzelt werden. Dadurch erhält die flow-Theorie in der Erziehungswissenschaft rückwirkend Kontinuität (Nohl 71970, 119).

Daraus resultiert, dass das flow-Erlebnis aus der Geschichte heraus vermutlich „besser“ verstanden werden kann, es ermöglicht „höheres Verstehen“ (Dilthey 21958, 212). Anhand dieser Arbeit ist zum Beispiel deutlich geworden, dass die Elemente des flow-Erlebens als Auslöser von flow wirksam sein können. Bisher ist die Bedeutung der Elemente des flow-Erlebens lediglich peripher erwähnt worden (Csikszentmihalyi 1993, 278). Für die Erziehung ist sie nicht explizit herausgearbeitet worden, sondern es wurde nur auf sie hingewiesen (Csikszentmihalyi, Rathunde & Whalen 1993, 220).[12] Eine Verwurzelung bedeutet also, dass dem flow-Erlebnis, sowie seinen Elementen eine fundierte Bedeutung in der Erziehung zukommt.

Die nachträgliche Verwurzelung und eine zukünftige Herausarbeitung einer kontinuierlichen Entwicklung des flow-Phänomens können vor diesem Hintergrund helfen, mit neuen Verständnis des flow-Phänomens eine eigenständige flow-Pädagogik zu entfalten. Das Evozieren von flow kann mittels unterschiedlicher personengerechter „Techniken“ hervorgerufen werden. Dabei hat auch[13] die reformpädagogische Geschichte gezeigt, dass es keine Rezepte gibt, sondern nur Möglichkeiten, die Pädagoginnen flexibel je nach Situation und Klientel einsetzen können.[14] Eine Verankerung der flow-Theorie in der Geschichte reformpädagogischer Konzepte wird also eine praktische Umsetzung der flow-Theorie für erzieherische Zwecke erleichtern.

Andersherum: Wenn nun das flow-Konzept altbewährte Methoden aus neuer Sicht aktualisiert, wird die Bedeutung der Reformpädagogik doppelt unterstrichen. Sie hat dann erstens „Wirkungsgeschichte“, da sie sich bis heute etabliert und das pädagogische Denken geformt hat (Röhrs 21983, 13). Zweitens gewinnen einige ihrer etablierten Anteile durch das motivationspsychologische flow-Konzept wieder an neuem Glanz. Reformpädagogik ist also in ihrer Wirksamkeit mit dieser Interpretation doppelt abgesichert: Aus ihrer Geschichte heraus und aus der heutigen Auslegung aus der Sicht der flow-Theorie. Das bedeutet zum einen eine feste Verwurzelung für die flow-Theorie, zum anderen eine praxisorientierte Wiederbelebung der reformpädagogischen Anteile, die das flow-Phänomen ausgelöst haben. Auf die Praxis komme ich im folgenden zu sprechen.

Fünfte Erkenntnis:

Altbewährte Auslöser des flow-Phänomens

können heute in der Praxis genutzt werden

Ein flow-Auslöser kann in den verschiedenen Stadien eines erweiterten flow-Erlebens unterschiedliche Bedeutung haben. Darauf weisen Ergebnisse über die Veränderung von Überwindung als möglicher Auslöser von flow-Erlebnissen auf einer Klassenreise hin (Plöhn 1998, 62 ff.), die nach einem traditionellen reformpädagogischen Konzept von Hahn verlief. [15]

Vor diesem Hintergrund werden jetzt die in dieser Arbeit beschriebenen flow auslösenden Kriterien wie Konzentration, Ziele, Kontrollerfahrungen usw. betrachtet, und zwar unter der Perspektive, wie sie sich im Verlauf eines erweiterten flow-Erlebens verändern können. Dazu werden die Ergebnisse aus dem anderen Teil dieser Dissertation (Plöhn 1998, 42 ff.) herangezogen. Diese Ergebnisse beschreiben, wie Jugendliche bestimmte Kriterien während einer Situation wahrnahmen. Da diese Kriterien flow auslösen können, werden die situativen Wahrnehmungen der Jugendlichen so betrachtet, als sollte das jeweilige Kriterium für das Auslösen von flow verantwortlich sein. Anders ausgedrückt: Wenn die Jugendlichen in einer Situation des erweiterten flow-Erlebens zum Beispiel wenig Konzentration empfanden, konnte ihre geringe Konzentration kaum flow auslösen. Deshalb gibt die als gering erlebte Konzentration einen möglichen Hinweis, dem zufolge aus pädagogischer Sicht vielleicht Bedingungen verbessert werden könnten, so dass sich Menschen besser konzentrieren können, damit Konzentration als Auslöser für flow in Frage kommen kann. Das Ziel dieser Kombination der beiden Arbeiten ist, dadurch erste praktische Anhaltspunkte zu erhalten, wie mit flow auslösenden Kriterien in der Praxis umgegangen werden kann.

Ausgangspunkt der folgenden Betrachtung ist, dass das Prinzip des erweiterten flow-Erlebens theoretisch immer gleich sein sollte, unabhängig vom Auslöser: Wenn sich die Fähigkeiten erhöhen, müssen irgendwann auch die Anforderungen steigen, damit Menschen weiterhin Spaß an einer Tätigkeit haben. Mit der Entwicklung von Fähigkeiten sind beim flow-Erlebnis möglicherweise auch weitere Veränderungen auf emotionaler und kognitiver Ebene verbunden (womöglich hängen z.B. steigende Fähigkeiten und abnehmende Konzentration zusammen). Angenommen wird, dass erweiterte flow-Erlebnisse vom Prinzip her also einheitlich verlaufen, gleichgültig, durch welchen Auslöser flow evoziert wurde. Deshalb werden die Ergebnisse der beiden Arbeiten hier als Synthese zusammengeführt. Um die Ausführungen zu veranschaulichen, werden die Ergebnisse über das erweiterte flow-Erleben jeweils in einer Graphik dargestellt. Anschließend wird daran die potentielle Bedeutung eines Auslösers für das erweiterte flow-Erleben besprochen.

Zu betonen ist: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung über das erweiterte flow-Erleben sind deskriptiven Charakters, sie geben keine Korrelationen an. Doch die unterschiedlichen Items in dem festgestellten Zyklus des erweiterten flow-Erlebens verlaufen erstaunlicherweise oft synchron, so dass sich praxisorientierte Vermutungen schon hier lohnen. Allerdings müßten die Veränderungen der Werte in einem erweiterten flow-Erleben in weiteren Untersuchungen repliziert werden, damit sich die hier geäußerten praxisorientierten Vermutungen festigen oder zerschlagen können. Diese Praxisorientierungen dienen nur als Anregungen, wie Situationen betrachtet werden können, um flow zu fördern. Sie sollen kein Regelwerk darstellen. Dies ist für einen pädagogischen Umgang mit dem flow-Konzept wichtig.

 

Die Produktionsschule evoziert

erweitertes flow-Erleben zu einem großen Teil durch reale Herausforderungen

Reale Herausforderungen scheinen an sich schon einen motivierenden Charakter zu haben. Obwohl Schüler und Schülerinnen zwei Tage vor ihrer Klassenreise nicht in die Masten hatten klettern wollen, empfanden sie das Mastklettern auf einem Großsegler in der realen Situation als Herausforderung, und es sollte zu einer Tätigkeit an Bord werden, die am meisten Spannung, flow und Wohlbefinden auslöste (Plöhn 1998, 38, 46 ff.).

Dieser grundsätzlich motivierende Charakter von realen Herausforderungen zeigt sich bei dem Konzept der Produktionsschule. Nur in realen Situationen sehen die randständigen Jugendlichen einen Sinn. Gerade in Situationen, die keinen Sinn machen, sind die Jugendlichen gescheitert: Nur durch reale Situationen können sie noch zum Lernen motiviert werden. Darauf baut das gesamte Konzept der Produktionsschule auf. Reale Herausforderungen können demnach also grundsätzlich zu etwas motivieren.

Betrachtet man die empirischen Ergebnisse zur realen Herausforderung (Plöhn 1998, 142, Item 23, 24) im Verlauf des erweiterten flow-Erlebens, so wird das Verhältnis von Anforderung und Fähigkeiten wie folgt wahrgenommen:


Abbildung 1: Herausforderung (Quelle: Plöhn 1998, 46). Diese beiden Items sind die Definitionsitems von flow: Wenn Menschen das richtige Verhältnis von Anforderungen und Fähigkeiten empfinden, dann erleben sie laut Definition flow[16]. Die Graphik zeigt, dass die Schüler und Schülerinnen durchschnittlich in der ersten und fünften Mastbesteigung etwas überfordert, in der dritten Mastbesteigung hingegen eher unterfordert sind, in der zweiten und vierten fühlen sie sich herausgefordert und erleben deshalb durchschnittlich am meisten flow (Plöhn 1998, 42 ff.). Dieses Ergebnis der Definitionsitems gilt als Bezugspunkt für die anderen hier betrachteten Auslöser.

 


Herausforderungen können zwei Reaktionen auslösen: Neugierde, aber auch etwas Angst (Plöhn 1998, 49, 73). Für die Praxis bedeutet deshalb der Umgang mit realen Herausforderungen als Auslöser für erweiterte flow-Erlebnisse, dass Menschen dort abgeholt werden müssen, wo sie stehen. Eine Situation darf weder überfordern, wie es sich tendenziell in der ersten und fünften Mastbesteigung andeutete, noch darf sie unterfordern, sondern für das Evozieren von flow sollte sie neugierig machen und somit die Motivation mobilisieren. Dies gilt nicht nur für Anfangssituationen, sondern auch für Situationen, die später auf bereits gewachsene Fähigkeiten aufbauen. Jeder Zuwachs an Fähigkeiten bedeutet eine neue Plattform, von der aus ein Lernender neu handeln kann. Das heißt, um erweiterte flow Erlebnisse für eine Erziehung zu autotelischen Fähigkeiten zu evozieren, ist es vermutlich nützlich, Kinder und Jugendliche auch bei höheren Fähigkeiten dort abzuholen, wo sie stehen. Andernfalls scheint die Intensität des Erlebens zu sinken (Plöhn 1998, vgl. Abb. 7.4, 3. u. 5. Mastbesteigung), und die Bildung von autotelischen Fähigkeiten als Erziehungsziel kann damit erschwert oder unterbunden werden. Je weiter sich die Fähigkeiten gebildet haben, desto weniger müssen evozierte Herausforderungen vermutlich pädagogisch dosiert werden, da sich Menschen auf hohem Niveau mit erworbenen autotelischen Fähigkeiten selbsttätig Herausforderungen suchen.

Die Produktionsschule holt die Schüler dort ab, wo sie stehen, indem sie z. B. einen individuellen „Karriereplan“ mit den Schülerinnen entwickelt. Auch werden ihre emotionalen und sozialen Fähigkeiten laufend angemessen gefordert. Das ermöglicht erweiterte flow-Erlebnisse und eröffnet die Perspektive, dass die Schülerinnen autotelische Fähigkeiten bilden.[17] Reale Herausforderungen sind eine zentrale Möglichkeit, flow bei den Schülern der Produktionsschule zu induzieren. Weitere flow-förderliche Elemente sind bei dieser Schulform anzutreffen, und bereiten als Gesamtpaket eine flow unterstützende Konzeption (vgl. den letzen Abschnitt „Weitere flow-Elemente“ im Kapitel über Produktionsschulen oder Synopse am Ende der Arbeit).

 

Makarenko evozierte das erweiterte flow-Phänomen

zu einem großen Teil durch die Realisierung von Perspektiven

Ziele können das flow-Phänomen auslösen. Makarenko entwickelte eine Pädagogik, in der es möglich war, nach und nach Perspektiven zu entwickeln. So konnten zum einen Fähigkeiten immer weiter steigen, und zum anderen fügten sich neue und größer werdende Perspektiven zu einem großen Hauptziel (Freude und Glück im Kollektiv) zusammen. Somit konnten Makarenkos Zöglinge einen erreichten flow-Zustand nach und nach mit neuen Zielen erweitern. Das ermöglichte erweiterte flow-Erlebnisse. Allerdings schien dies nur im Rahmen des Kollektivlebens möglich gewesen zu sein. Ziele, die darüber hinaus angestrebt worden waren, konnten vermutlich nicht verwirklicht werden.

Inwieweit Perspektiven oder Ziele im Verlauf eines erweiterten flow-Erlebens durchschnittlich wahrgenommen wurde, kann man mit der folgenden Frage aus dem ESM (Plöhn 1998, 142, Item 29) betrachten: „Wie wichtig war Dein Tun bezogen auf Deine allgemeinen (Lebens-) Ziele?“ Betrachtet man den Verlauf des erweiterten flow-Erlebens bezüglich der Fragestellung, so stellt sich folgende Kurve dar:

Abbildung 2: „Wie wichtig war Dein Tun bezogen auf Deine allgemeinen (Lebens-) Ziele?“ Die Daten für diese Abbildung entstammen aus der Auswertung der Fragebögen von Plöhn (1998).

 

Was kann man daraus für die praktische erzieherische Situation entnehmen? Wenn Personen in einem Zyklus des erweiterten flow-Erlebens z. B. irgendwann weniger (Lebens-) Zielbezogenheit empfinden (vgl. 3. Mastbesteigung), kann man prüfen, ob eine Tätigkeit überhaupt noch den eigenen Interessen entspricht. Wenn dies der Fall ist, können wahrscheinlich neue Ziele wieder ein Gefühl von (Lebens-) Zielbezogenheit vermitteln (vgl. 4. u. 5. Mastbesteigung). Vielleicht empfinden Menschen in einer Situation auch wenig (Lebens-) Zielbezogenheit, weil ein undefiniertes Ziel schon irgendwie erreicht worden ist (Csikszentmihalyi1993, 83), und sie aus Gewohnheit an einer alten Tätigkeit festhalten (obwohl vielleicht am Horizont bereits schon neue Ziele aufgetaucht sind). Gleich welcher Grund hinter dem Gefühl stehe, weniger (lebens-) zielbezogen zu handeln, so kann es dennoch nützlich sein, darüber nachzudenken, welche Ziele und Perspektiven man im Leben wie erreichen möchte. Neue Ziele oder Perspektiven würden erweiterte flow-Erlebnisse ermöglichen. Dies hat die Pädagogik von Makarenko gezeigt und deutet sich auch in der obigen Graphik an (4. Mastbesteigung).

Interessant ist, dass ein Gefühl von Lebenszielbezogenheit laut Graphik möglicherweise eher bei Tätigkeiten auftritt, die die Tendenz haben, etwas Neues zu beinhalten (vgl. 1. u. 5. Mastbesteigung) als zu unterfordern (3. Mastbesteigung)[18]. Für eine Erziehung, die heute mit Zielsetzungen flow auslösen will, kann das bedeuten, dass Menschen mehr Lebenszielbezogenheit empfinden, wenn sie mit etwas Neuem konfrontiert sind, als wenn sie vertraute Tätigkeiten ausführen (vgl. 2. u. 3. Mastbesteigung). Menschen, die vorwiegend durch Ziele in den Zustand von flow gelangen, müssen möglicherweise schon mit der Zielsetzung, also bereits vor dem Tun, etwas Neues erkennen können, um flow zu erleben.[19] Allerdings wird das Gefühl von etwas Neuem meist im flow-Zustand erfahren, auch wenn die Tätigkeit auf den ersten äußeren Blick nichts Neues verspricht. So können sich auch neue Ziele während einer flow-Tätigkeit ergeben.

Diese hergeleitete Vermutung wird durch die Pädagogik Makarenkos unterstützt. Er ermöglichte mit seinem „System der Perspektiven“ den Ausbau der Fähigkeiten und die sukzessive Horizonterweiterung, indem die Jugendlichen mit nahen Perspektiven anfingen und sich durch neue Aspekte für größere Ziele motivierten. Dadurch löste er vermutlich das flow-Phänomen aus und förderte wahrscheinlich autotelische Fähigkeiten. Doch auch weitere Elemente seiner Pädagogik schienen flow-förderlich zu sein, die zusammen mit dem Kriterium „Perspektive“ flow indiziert haben mögen (vgl. den letzen Abschnitt „Weitere flow-Elemente“ im Kapitel über Makarenko oder Synopse am Ende der Arbeit).

 

Montessori evozierte das flow-Phänomen

zu einem großen Teil durch Unterstützung zur Konzentration

Im Zustand von flow sind Menschen mühelos konzentriert. Deshalb kann die Fähigkeit zur Konzentration flow auslösen. Wie ein Zyklus der Konzentration wohl meist verläuft, beschreibt Montessori aus ihrer Praxiserfahrung: „Eine neue und schwierige Beschäftigung“ (Montessori 41976, 97) sei meist die Ursache einer „großen Arbeit“[20], die in einen „Zustand der völligen Sammlung“ (Montessori 1995, 21) münde. Montessori ermöglicht über die Konzentration neue und schwierige Beschäftigungen. Damit fördert sie das Erleben von erweitertem flow.

Der Verlauf der Konzentration während des erweiterten flow-Erlebens wird mit zwei Items (Plöhn 1998, 141, Item 1 u. 2) betrachtet: „Wie stark warst Du konzentriert?“ und „Fiel es Dir schwer, Dich zu konzentrieren?“


Abbildung 3: Konzentration. Die Daten für diese Abbildung entstammen aus der Auswertung der Fragebögen von Plöhn (1998).

 


Je langweiliger die Situation wahrgenommen wurde (1. - 3. Mastbesteigung), desto weniger stark konzentrierten sich die Schüler und desto schwerer fiel es ihnen, sich zu konzentrieren. Wurden die Fähigkeiten wieder von einer neuen Tätigkeit herausgefordert (4. Mastbesteigung), so konzentrierten sich die Schüler wieder vermehrt, und es fiel ihnen auch leichter, sich zu konzentrieren.

Für die Erziehungspraxis kann das bedeuten, dass unkonzentrierte Kinder möglicherweise unterfordert oder gelangweilt sind. Das heißt, Pädagoginnen könnten erzieherisch wirksame Situation kreieren, in der keine irrelevanten Informationen die Aufmerksamkeit ablenken können und somit konzentriertes Tun ermöglicht wird. Nützlich ist wahrscheinlich, wie Montessori es beschrieben hat, ein neuer Aspekt an einer Sache. Dann kann sich die Konzentration auf das Neue fokussieren und somit flow auslösen. Möglicherweise ist die Konzentration dann am tiefsten und auch am mühelosesten (vgl. 1. Mastbesteigung).

Betrachtet man noch einmal die Abbildung, so zeigt sich, dass die Tiefe und Mühelosigkeit der Konzentration mit einer etwas überfordernden Situation abnehmen (5. Mastbesteigung). Wenn sich Menschen also wenig konzentrieren, fühlen sie sich möglicherweise auch überfordert. In einer Erziehungssituation können z. B. Schülerinnen und Lehrerinnen gemeinsam herausfinden, was genau die Aufmerksamkeit ablenkt und somit flow verhindert. Der aufgespürte Störfaktor sollte dann aus pädagogischer Sicht ausgeschaltet werden, damit konzentriertes Tun ermöglicht wird.

Ob sich Kinder und Jugendliche nun durch Überforderung oder Unterforderung unkonzentriert verhalten, ist z. B. bei Hochbegabten falsch „diagnostiziert“ worden (Cropley 1982, 11 f.). Um diesen Fehler nicht beim Auslösenwollen von flow zu reproduzieren, darf die Unkonzentriertheit nicht als isoliertes Symptom betrachtet werden, sondern muss in einen Zusammenhang gestellt werden. Pädagoginnen, die flow auslösen wollen, sollten ermöglichen, dass Kinder ihren Fähigkeiten entsprechende Tätigkeiten ausführen können. Das kann etwa bedeuten, dass man die Kinder und Jugendlichen ernst nimmt und anhört, was sie machen wollen. Dies tat Montessori, sie ermöglichte die freie Wahl von Tätigkeiten in einem bestimmten Rahmen und löste damit konzentriertes Arbeiten sowie erweiterte flow-Erlebnisse aus. Damit ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie die Entwicklung autotelischer Fähigkeiten ermöglichte. Montessori ermöglichte mit ihrer Konzeption weiter flow-förderliche Bedingungen, die Mit der Möglichkeit zur Konzentration Hand in Hand gehen und dadurch flow mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auslösen können, als eine alleinige Möglichkeit zur Konzentration (vgl. den letzen Abschnitt „Weitere flow-Elemente“ im Kapitel über Montessori oder Synopse am Ende der Arbeit).

 

Freinet evozierte das flow-Phänomen

zu einem großen Teil durch Kontrollerfahrungen und Feedback

Freinet praktizierte eine Pädagogik, die Feedback und Kontrolle ermöglichte, zum Beispiel durch den Wochenarbeitsplan. Die Schülerinnen wussten anhand des Plans zu jedem Zeitpunkt, ob und wie weit sie ihrem Wochenziel näher kamen. Wenn Schüler  in einem Themengebiet vorübergehend kein Feedback erhielten, das heißt nicht gut vorankommen, konnten sie ein anderes Thema bearbeiten, das ihnen ein Gefühl von Feedback oder Kontrolle vermittelte. Damit konnte Freinet erweiterte flow-Erlebnisse fördern.

Zwei Items wurden für Kontrolle und Feedback betrachtet: „Hattest Du die Situation unter Kontrolle?“ und „Bist Du gerade gut vorangekommen?“ (Plöhn 1998, 141 f., Item 5; Item 27).

Abbildung 4: Feedback und Kontrolle. Die Daten für diese Abbildung entstammen aus der Auswertung der Fragebögen von Plöhn (1998).

 

Am schlechtesten vorangekommen sind Jugendliche in einer Situation, in der sie durchschnittlich eher unterfordert waren (3. Mastbesteigung). Sie konnten in diesem Moment nicht gut vorankommen, weil sie schon über die notwendigen Fähigkeiten zum Mastklettern verfügten. Sie hatten also schon Rückmeldungen über ihre Fähigkeiten erhalten. Wenn Menschen wahrnehmen, dass sie nicht gut vorankommen, müssen sie neues Feedback bekommen, das anzeigt, dass sie einem Ziel wieder näherkommen. Dies kann zum Beispiel in langweiligen Situationen durch neue Anforderungen erreicht werden.

Betrachtet man dagegen, wie die Schülerinnen eine Rückmeldung bei einer eher überfordernden Situation (5. Mastbesteigung) wahrnahmen, so zeigt sich, dass die Schüler dieser Situation eher Feedback entnehmen konnten, als der langweiligen Situation. In der überforderten Situation sahen die Schüler, dass sie ihrem Ziel (Segel einpacken) näher gekommen sind. Vielleicht kann man daraus für die Praxis ableiten, dass leichte Überforderungen für das Erhalten von Feedback günstiger sind als tendenzielle Langeweile. Umgekehrt wirkt Feedback als Auslöser für flow wahrscheinlich eher in einer überfordernden Situation als in einer langweiligen.

Betrachtet man nun das Gefühl von Kontrolle im Zusammenhang mit erweitertem flow-Erleben, so deutet sich an, dass eine Überforderung (5. Mastbesteigung) relativ wenig Kontrollerfahrungen ermöglicht. Möglicherweise dient bei geringer Kontrollerfahrung ein Feedback, gut voranzukommen, als motivierender Stabilisator für ein geringes Kontrollgefühl.

Denkbar ist auch, dass sich die beiden Wahrnehmungen umgekehrt ergänzen: Wenig Feedback kann als motivierendes Korrektiv für ein Gefühl von Kontrolle in einer eher langweiligen Situation (3. Mastbesteigung) gelten. Für die Praxis kann diese Vermutung nützlich sein, indem man bei wenig Kontrollerfahrungen, wie sie in neuen herausfordernden Situationen gegeben sind, von außen Feedback gibt. Pädagoginnen könnten eine Zeitlang ersatzweise das Feedback geben, um flow in Gang zu setzen. Nach und nach müsste sich das externe Feedback von außen durch das Feedback ersetzen, das aus der Tätigkeit selbst erwächst. Freinet ermöglichte mit seiner Pädagogik diese gegenseitige Ergänzung durch die „Techniken“ Feedback und Kontrolle. So halfen sich die Kinder beispielsweise gegenseitig in der Druckerei. Besonders Anfänger erhalten durch andere Schüler Feedback von außen, das sich langsam mit zunehmenden Fähigkeiten durch ein Gefühl von Kontrolle ersetzten kann. Mit einer sich ergänzenden Kombination von Feedback und Kontrolle kann eine Angst vor Kontrollverlust, die zur Stagnation führt (Csikszentmihalyi 1995, 317 f.), verhindert werden. Die Motivation bleibt erhalten und ermöglicht flow-Erlebnisse. Damit ist die Chance hoch, dass Freinet zu autotelischen Fähigkeiten erzog. Neben Feedback und Kontrolle gibt es in der Freinet-Pädagogik weiter flow-förderliche Elemente, die zusammengenommen auf verschiedenen Ebenen flow auslösen können (vgl. den letzen Abschnitt „Weitere flow-Elemente“ im Kapitel über Freinet oder Synopse am Ende der Arbeit).

 

Neill versuchte das flow-Phänomen zu evozieren,

indem er seinen Schülerinnen viel Freiheit ließ

Flow ist begleitet von einem Gefühl von Freiheit (Massimini & Carli 1991, 297 f.) und ein Gefühl von Freiheit kann flow auslösen (Allison & Duncan 1991, 156). Neill kreierte eine Schulsituation, die Freiheit als Hauptprinzip zum Inhalt hat. Doch seine Pädagogik der Freiheit schien nicht optimal zu sein, um flow-Erlebnisse auszulösen.

Um den Aspekt Freiheit im Verlauf des erweiterten flow-Erlebens näher zu betrachten, wird nun das Item „frei - gezwungen“ (Plöhn 1998, 141, Item 21) betrachtet.

Abbildung 5: Freiheit. Die Daten für diese Abbildung entstammen aus der Auswertung der Fragebögen von Plöhn (1998).

 

Die Schüler fühlten sich auf der Klassenreise am wenigsten frei, wenn sie sowohl überfordert, als auch gelangweilt waren (3. u. 5. Mastbesteigung). Das heißt für eine Erziehung zur Freiheit, dass Menschen weder unter- noch überfordert werden sollten. Die Fähigkeiten müssen herausgefordert werden, damit Menschen in den Zustand von flow kommen und sich frei fühlen (Csikszentmihalyi und Graef 1980).

Neills Erziehungskonzeption forderte die Schüler vermutlich wenig heraus, weil er sie u. a. mit seiner eklektischen Erziehungsphilosophie nicht zu Herausforderungen anleitete. So zeigten die Jugendlichen kein Interesse an schwierigeren Tischlerarbeiten. Dies ist ein Hinweis darauf, dass diese Kinder vermutlich keine autotelischen Fähigkeiten erworben hatten, die dann ein Gefühl von Freiheit ermöglichten. Denn gerade autotelische Fähigkeiten motivieren zu neuen Herausforderungen. Neills Erziehungskonzeption schien die Kinder eher zu unterfordern und mit der Freiwilligkeit des Unterrichts etwa Beliebigkeit und Langeweile (Zuber 1998, 128) hervorzurufen. Neill setzte auch keine Ziele, gab kaum Feedback und ermöglichte wenig Konzentration. Seine Konzeption erzeugte aus der Sicht der flow-Theorie wahrscheinlich wenig flow.

Insgesamt kann man für die Konsequenzen in der Praxis festhalten, das in einer tendenziell langweiligen Situation die Elemente des flow-Erlebens anscheinend geringer wahrgenommen werden und flow somit vermutlich unterbinden. Dahinter steht die Annahme, dass die einzelnen Elemente im Flow den Zustand so lange aufrechterhalten, bis ein Element „wegklappt“, sich die Konzentration zum Beispiel aufgrund der begrenzten Aufmerksamkeitskapazität des Menschen verringert und somit das mühelose Fließen ins Stocken gerät und unterbrochen wird. Eine Ausnahme scheint das Gefühl von Kontrolle zu sein, denn das wurde in einer eher langweiligen Situation nahezu gleich stark wahrgenommen wie in einer herausfordernden Situation. Mit einer neuen Herausforderung und einem neuen Ziel stieg die Intensität des Erlebens wieder an. Das bedeutet für einen Zusammenhang von Auslösern und erweitertem flow, dass flow auslösende Kriterien dann pädagogisch eingesetzt werden können, wenn eine Tätigkeit beginnt, langweilig zu werden. Das heißt konkret:

1.    Es müssen neue Ziele gesetzt werden (wie, das beschreibt Makarenko);

2.    die neuen Ziele müssen herausfordern (wie, das beschreibt die Produktionsschule);

3.    Feedback muss das Handeln auf ein höheres Niveau bringen (wie, das beschreibt Freinet);

4.    es muss wieder mehr Konzentration ermöglicht werden (wie, das beschreibt Montessori);

5.    Menschen müssen neue Energie investieren (wie, das beschreibt Hahn).

6.    Die Förderung von Kontrollerfahrungen ist bei Langeweile vermutlich weniger wichtig.

Betrachtet man neben einer eher langweiligen Situation die eher überfordernde Situation, so deutet sich an, dass bestimmte Kriterien gefördert werden müssen, damit Menschen trotz einer leichten Überforderung flow erleben können oder zumindest in die Nähe eines flow-Zustandes kommen:

1.    Ein Gefühl von Kontrolle kann gefördert werden;

2.    Anforderungen können niedriger gestaltet werden.

Andere Elemente des flow-Erlebens, das heißt Feedback, Lebenszielbezogenheit und Konzentrationsstärke scheinen sich bei Überforderungen kaum zu verringern. Aus diesem Grunde sind sie als Auslöser für flow in einer überfordernden Situation vermutlich nicht effektiv.

Für eine Erziehung zu autotelischen Fähigkeiten bedeuten diese Annahmen, dass einer langweiligen und einer überfordernden Situation vermutlich unterschiedlich begegnet werden müsste, um flow-Erlebnisse hervorzurufen.

Diese Vermutungen sollen nicht als Rezepte verstanden werden, sondern können als mögliches Repertoire dazu dienen, eine flow-Pädagogik umzusetzen. Zum Beispiel muss man je nach Situation und Person abwägen, wie man etwa Schülerinnen unterstützen könnte, um eine Überforderungen in flow umzuwandeln. Wenn eine Überforderung, wie die Ergebnisse der Klassenreise andeuten, durchschnittlich als „gut vorankommen“, „wenig frei“ und „wenig Kontrolle“ empfunden wird, müsste man nun in der Praxis abschätzen, wie Menschen mit den einzelnen Kriterien umgehen. Aus pädagogischer Sicht wäre es dann sinnvoll, die Situation und die Person in eine adäquate Übereinstimmung zu bringen (Plöhn 1997).

Wie wichtig eine flexible Handhabung ist, zeige ein Denkbeispiel: Man stelle sich Makarenkos verwahrloste Jugendlichen in Summerhill vor: Dort hätten sie mit großer Sicherheit keine Perspektiven bilden können und wahrscheinlich auch keine erweiterten flow-Erlebnisse gehabt. Oder man stelle sich Freinet-Schülerinnen bei Makarenko vor: Dort würden sie als zukünftige Sowjetmenschen wahrscheinlich eher kontrolliert werden, als dass sie die Möglichkeit hätten, ihrerseits ein Gefühl von Kontrolle durch das Erkennen von Feedback zu bilden. Produktionsschüler würden dagegen möglicherweise eher in einer geregelten Kolonie bei Makarenko flow erfahren, als Freinet-Schülerinnen. Rezepte gibt es also nicht. Wie flow ausgelöst und daraufhin erweiterte flow-Erlebnisse evoziert werden können, muss wahrscheinlich auf drei Parameter hin abgestimmt werden: erstens auf Voraussetzungen seitens der Zöglinge, zweitens auf die gesellschaftliche Situation und drittens auch auf die Erzieherpersönlichkeit, die von etwas überzeugt sein muss, damit Erziehung authentisch wird. Die vermutlichen Auslöser der reformpädagogischen Konzepte geben vor dem Hintergrund der Kausalitätsfeststellung von Csikszentmihalyi (1993, 278) nützliche Hinweise, mit welchen Methoden das flow-Phänomen vermutlich ausgelöst wurde und heute noch ausgelöst werden kann.

 

Gefahren durch flow

Flow-Erlebnisse haben nicht nur positive Konsequenzen für die Menschen, sondern können auch Gefahren beinhalten. Ich möchte hier auf vier Nachteile aufmerksam machen:

1.) Konsequenzen von flow können für andere Menschen oder die Gesellschaft zerstörerisch wirken. Dafür gibt es einige Beispiele: Kriminelle Akte gehören beispielsweise zu Tätigkeiten, die flow auslösen, weil das Ziel klar ist und das Handeln ein schnelles Feedback über das Resultat des Tuns liefert. Das gilt etwa für kriminelle Jugendlichen, die ein Auto aufbrechen oder für die Entwicklung von weltweit wirksamen Computerviren. Da diese Handlungen zum Chaos beitragen und ihnen aufgrund ihrer destruktiven Wirkung schnell Aufmerksamkeit zukommt , erzeugen sie auch eine schnelle (und motivierende) Rückmeldung. Sie sind ein effektvoller Beitrag zur Entropie und wirken deshalb flow auslösend (Csikszentmihalyi 1995, 318).

Doch nicht nur die Kriminalität birgt die Gefahr, dass einige Menschen flow erleben und andere Menschen die negativen Konsequenzen spüren. Auch Wissenschaft und Politik können Menschen gefährden. Ein bekanntes Beispiel aus der Wissenschaft ist Oppenheimer, der an der Atombombe arbeitete. Ein politisches Beispiel geben die Nazis ab: Sie gaben der Bevölkerung eindeutige Ziele und Regeln, die mit ihrem Prinzip „Kraft durch Freude“ sicherlich viel flow auslösten. Ebenso das Hinarbeiten von Islamisten auf terroristische Anschläge scheint klare Ziele für seine Anhänger zu haben und scheint sinnstiftend für die Attentäter zu sein. Womöglich ist dieses fanatische Denken und Handeln auch mit flow verbunden. Doch die Regeln der Nazis, wie der der Terroristen begrenzten das Denken innerhalb eines engen Horizonts und arten nicht nur in Intoleranz und Unterdrückung anderer Menschen aus, sondern beinhalten auch Mord. Hier zeigt sich in einem hohen Maße, wie schädlich flow-Erlebnisse sein können, wenn andere Menschen und womöglich der Weltfrieden darunter zu leiden haben.[21] Negative Folgen von flow können nicht nur kurzfristig auftreten, sondern können sich über Generationen auswirken. Das gilt für die Auswirkungen eines terroristischen Anschlags, für die Langzeitopfer des Nationalsozialismus ebenso wie auch für die Menschen in Hiroshima und Nagasaki.

2.) Neben dieser Gefahr (einige Menschen erleben flow, andere spüren die negativen Konsequenzen) gibt es Situationen, die flow-Erlebnisse bei Menschen auslösen, die dann aber negative Folgen für diese Menschen selbst haben. Beispiele dafür sind Sekten, Jugendkulte und sogenannte neue Religionen (Haack 1991). Deren Ziel ist nicht, wie anfangs vorgegaukelt wird, den Menschen zu helfen, sondern die Macht der jeweiligen „Religion“ zu erhalten. Dabei wenden diese totalitär strukturierten Gruppierungen Methoden an wie z. B. einfach strukturierte Ziele[22] und erheben einen Absolutheitsanspruch (Haack 1991, 13). Sie ermöglichen zu Beginn mit großer Wahrscheinlichkeit flow, da ihre „wahre“ Lösung für jedes Problem scheinbar eine Antwort ermöglicht. Doch diese flow-Erlebnisse sind mit „Seelenwäsche und Persönlichkeitsveränderung“ verbunden. Nicht selten werden Sektenmitglieder deshalb seelisch krank (z. B. Haack 1991, 103 ff.). Die anfangs aufbauende Wirkung von flow-Erlebnissen wird hier nach kurzer Zeit also in ihr Gegenteil verkehrt.

3.) Ein dritter Nachteil betrifft Menschen, die flow suchtartig nur in einem einzigen Tätigkeitsfeld erleben wie z. B. in der Arbeit (Csikszentmihalyi 1999, 86). Diese Personen erweitern ihre Fähigkeiten nur auf einem Gebiet und motivieren sich kaum für andere Dinge. Dadurch versäumen sie zum einen viele flow-Erlebnisse bei anderen Gelegenheiten. Zum anderen sind diese Menschen meist unglücklich, wenn ihre einzige Quelle von flow versiegt, wenn die Arbeit aus dem Leben fällt (Rente, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit). Das Vertrackte daran ist, dass diese Menschen in der Situation selbst flow erleben, glücklich sind und auch meist nichts anderes vermissen, weil sie gerade durch diese Tätigkeit wachsen. Sie sind durch die Sucht sozusagen für weitere Horizonte und ihre Zukunft nicht offen.

4.) Ein weiterer Nachteil kann beim intrinsisch motivierten Lernen entstehen, und zwar „Richtungslosigkeit“ (Heiland 1979, 43). Wenn Schülerinnen nur intrinsisch motiviert lernen, wie es etwa in der Konzeption von Neill vorgesehen war, lassen sich Schüler möglicherweise nur von den Reizen einfangen, die gerade interessant sind. Dies würde beispielsweise auch die eklektische Lebensphilosophie von Neill erklären. Der Nachteil dieser Richtungslosigkeit bewirkt wahrscheinlich, dass sich diese Menschen weniger auf die Verwirklichung von Zielen konzentrieren, die die Teleonomie eines Selbst festigen könnte.

Negative Konsequenzen von flow können also zustande kommen, wenn 1. einige Menschen flow haben und andere darunter leiden müssen (Kriminalität, ideologische Strömungen, Wissenschaft), wenn 2. Menschen in einem falschen Kontext flow erleben und später selbst darunter leiden müssen, wie etwa in Sekten, wenn 3. Menschen süchtig nach flow sind (z. B. in der Arbeit) und dadurch andere erfreuliche Tätigkeiten ignorieren und wenn Menschen 4. beim intrinsisch motivierten Lernen keine Richtungsvorstellung entwickeln.

Die Gefahren machen deutlich, dass man mit dem Auslösen von flow auf Konsequenzen achten muss, damit Menschen wachsen und nicht sich selbst oder andere zerstören. Dies gestaltet sich vielleicht in einer fraglichen Situation nicht einfach, da doch der intrinsische Charakter eines flow-Erlebnisses ebenso lohnend wie bestechend ist und Menschen deshalb geneigt sind, nicht an die Konsequenzen zu denken. Diese situative „Unbeschwertheit“ scheint eine Kehrseite von intrinsischer Motivation zu sein, die sich im flow-Erlebnis als Prototyp äußert.

Deswegen muss man flow-Erlebnisse erzieherisch verantwortlich handhaben und flow nur dann fördern, wenn es die „‘Gesamtsumme’ der Entropie der Welt“ (Csikszentmihalyi 1999, 182) verringert. Dazu gehören z. B. weder kriminelle Tätigkeiten noch die Benachteiligung bestimmter Menschen, wie etwa durch Ideologien. Wenn diese „Faustregel“ beachtet wird, kann flow als universelles Phänomen und anthropologische Quelle von Freude eine sehr sinnvolle erzieherische Wirkung haben und sogar zur Stärkung der sozialen Ordnung beitragen (Csikszentmihalyi 1995, 320).

 

Ausblicke

Für eine theoretische und praktische Zukunft von flow in der Erziehung kann folgendes unternommen werden.

Die flow-Theorie und die Reformpädagogik können sich für weitere Forschung gegenseitig befruchten. Diese Arbeit bildet dafür einen Auftakt. Durch die flow-Theorie können Aspekte der Reformpädagogik aktualisiert werden. Dies wurde in dieser Arbeit dargelegt. Umgekehrt können aus reformpädagogischen Konzeptionen Hinweise entnommen werden, die die flow-Forschung voranzubringen geeignet sind. Montessori etwa beschreibt, dass ein Entscheidungsprozeß vor Beginn des konzentrierten Tuns mit Müdigkeit verbunden sei. Daraufhin könnte untersucht werden, ob vor einem flow-Erlebnis Müdigkeit auftritt, wenn ja, ob sie regelmäßig auftrete; wann sich die Müdigkeit flow hemmend und wann flow fördernd auswirke. Ergebnisse, die daraus resultierten, könnten wiederum für die Montessoripädagogik nützlich sein. Reformpädagogische Konzepte und flow-Theorie können sich also wechselseitig in ihren Erkenntnissen voranbringen

Im Rahmen des gegenseitigen Erkenntnisgewinns könnten weitere pädagogische Ansätze aus der Sicht der flow-Theorie ausgelegt werden. Das würde erstens Erkenntnisse darüber erbringen, welche weiteren pädagogischen Ansätze das flow-Phänomen vermutlich auslösten und welche Kriterien als Auslöser des flow-Phänomens eine Rolle spielten. Man könnte auch pädagogische Konzeptionen betrachten, die wenig schöpferisches Tun evozierten. Das würde wahrscheinlich Hinweise liefern, was flow verhindern würde, was Pädagogen also besser vermeiden sollten, wenn sie mittels flow-Erlebnisse erziehen wollen.

Mit der Betrachtung weiterer pädagogischer Konzeptionen würde zweitens die flow-Theorie fester in der Geschichte der Pädagogik verankert werden können, wodurch das flow-Phänomen besser verstanden und mit Blick auf eine verbesserte erzieherische Praxis womöglich differenziert werden kann.

Dabei muss auf eine Gefahr von Seiten der flow-Forschung hingewiesen werden: Da die flow-Forschung Lebensfreude und Glück sowie Motivation definiert und analysiert, ist die Gefahr gegeben, dass die Lebensfreude auf bestimmte „gesetzmäßige“ Aspekte reduziert und das flow-Phänomen verstümmelt würde. Die Qualität von flow als subjektives und situatives Empfinden kann dabei möglicherweise aus den Augen verloren werden (Csikszentmihalyi 1985, 225) und zu einem hermetisch abgeschlossenen Regelwerk ausarten, das Pädagogen dann verkrampft umsetzen wollten. Die Forschung muss deshalb stets das Individuum (auf das ja die Erziehungswissenschaft letztendlich ausgerichtet ist) sowie die Praxis vor Augen haben, damit flow pädagogisch wirksam evoziert werden kann.

Um die Bedeutung von flow-Erlebnissen für die Erziehung zu untermauern, könnte man Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft aus der Perspektive der flow-Theorie untersuchen. So etwa einzelne Erziehungsziele: Autonomie (z. B. Hansel 1989), Mündigkeit (z. B. Maier 1981) oder Friedensfähigkeit (z. B. Nicklas & Ostermann 1976). Auch einzelne Begriffe wie „Sozialisation“ (z. B. Wurzbacher 31974, Bronfenbrenner 1976), „Enkulturation“ (z. B. Mollenhauer 21985) oder „Bildung“ (z. B. Ballauf [1953]) können aus der Sicht der flow-Theorie betrachtet werden. Erziehung, Bildung und Sozialisation könnten langfristig flow-freundlich ineinander greifen. So könnte eine übergeordnete Strömung menschlichen Seins entstehen (die Freinet als „neue Lebensweise“ und Montessori als „neue Weißheit“ bezeichnet), die überhaupt ein Mehr an flow-Erlebnissen ermöglichte.

Um detaillierter zu eruieren, was genau unter welchen Bedingungen flow-Erlebnisse auslöst, wären empirische Untersuchungen in verschiedenen pädagogischen Feldern hilfreich. Eine Vermutung ergibt sich aus dieser Arbeit: Wenn Menschen wenig Kontrolle empfinden, könnte man dies möglicherweise durch externes Feedback ausgleichen, um flow auszulösen. Für die Feststellung weiterer Voraussetzungen wäre etwa ein Fragebogen zu entwickeln, damit die Auslöser eines flow-Erlebnisses festgestellt werden könnten.

Um die konkrete Praxis auf das flow-Erleben hin zu überprüfen, könnte man untersuchen, ob Reformansätze von alternativen Schulen mehr flow auslösen als wenig reformierte staatliche Schulen. Dies wäre beispielsweise durch vergleichende Untersuchungen mit der Experience Sampling Method (Csikszentmihalyi & Larson 1987) oder mit einem „retrospektiven“ Fragebogen (Remy 2000) möglich. Dazu wäre es auch interessant, den Transfer in den Alltag zu prüfen und zu vergleichen. Für die Untersuchung der konkreten Praxis könnte man zudem beispielsweise Schülerinnen befragen, was bei ihnen flow auslöse und wie er verhindert werde. Man könnte dies z. B. mit einer teilnehmenden Beobachtung dessen kombinieren, wie sich Lehrer im Klassenzimmer verhalten und daraus dann neue Anforderungen für die Lehrerausbildung formulieren. Diese Fragestellungen könnten auch in die Arbeitswelt übertragen werden. Dort wäre dann zu untersuchen, was flow auslöst und verhindert. Daraus resultierende Ergebnisse könnten verbesserte Arbeitsbedingungen schaffen, die die intrinsische Motivation der Mitarbeiter förderte.

Interessant wäre auch, im Zusammenhang mit negativen Konsequenzen von flow sich die Frage zu stellen, was außer autotelischen Fähigkeiten noch erlernt werden muss, damit Menschen z. B. ihre beruflichen Tätigkeiten, ihre Einstellungen in Relation zu anderen wichtigen Themen in der Gesellschaft wahrnehmen. Eine Erziehung zu autotelischen Fähigkeiten müsste versuchen eine Grenze deutlich zu machen, die vielen Menschen flow ermöglicht, negative Konsequenzen hingegen eindämmt. Zum Beispiel wäre es sicherlich sinnvoll, Metafähigkeiten (Csikszentmihalyi 1997, 498) zu fördern, die Menschen z.B. befähigten, mögliche Konsequenzen des Handelns zu erkennen (Csikszentmihalyi 1995, 355).

 

Persönliche Einschätzung

Schüler und Schülerinnen sollen auf ein Leben nach der Schule vorbereitet werden. Deswegen hat im Schulunterricht beispielsweise der Umgang mit Computer und Internet einen zeitgemäßen Stellenwert bekommen. Ebenso sollte im Rahmen von Erziehung und Bildung auch die Fähigkeit zum flow-Erleben als ein anthropologisches Rüstzeug anerkannt werden: Denn Menschen mit autotelischen Fähigkeiten sind intrinsisch motivierter, arbeiten konzentrierter, zielstrebiger und sind auch gesünder und widerstandsfähiger als Menschen, die wenig oder kaum flow erleben. Diese Auswirkungen von flow-Erlebnissen erhöhen das seelische Wohlbefinden und bereiten Schüler auch auf Ihre berufliche Zukunft vor. Betrachtet man allein die nicht-fachlichen Anforderungen in der Berufswelt, so müssen Menschen beispielsweise zunehmend mit Veränderungen umgehen können. Dies gelingt umso besser je mehr Neugier und Begeisterung man für etwas Neues aufbringen kann und je mehr man die Auseinandersetzung mit veränderten Bedingungen dann auch im flow erlebt.

Wie die flow-Erlebnisse in der (Schul-) Erziehung ausgelöst und erlernt werden können, haben einige Reformpädagogen praxisnah gezeigt.

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Zum vorhergehenden Kapitel: Neill

Zum Literaturverzeichnis



[1] Vgl. die jeweiligen Resümees der einzelnen reformpädagogischen Konzepte „Bedeutung für die Erziehung“.

[2] Vgl. auch am Ende der jeweiligen reformpädagogischen Analysen die Abschnitte „Weitere flow-Elemente“.

[3] Hier ist die grammatikalische Form verändert.

[4] Im Original: „dem ständigen ...“

[5] Das flow-Phänomen hatte schon damals universelle Attraktivität (wie heute flow-Erlebnisse): in der Sowjetpädagogik bei Makarenko, in Italien bei Montessori, in England bei Neill, in Dänemark in den Produktionsschulen und in Frankreich bei Freinet. Das Phänomen zeigte sich auch unabhängig vom Erziehungsziel, ob nun eine „Pädagogik vom Kinde aus“, die Kinder zu glücklichen Individualisten wie bei Neill erziehen sollte, oder ob eine Kollektiverziehung Jugendliche zum „typischen Sowjetmenschen“ formen sollte, wie bei Makarenko.

[6] Auf verschiedenen Ebenen des Erlebens wird der Hinweis auf erweitertes flow-Erleben deskriptiv unterstützt (Plöhn 1998, 46 ff.).

[7] Aus diesem Grunde habe ich die Reformkonzepte für diese Arbeit ausgewählt. Flow stößt auf Interesse, nicht nur wissenschaftlich, sondern auch in der Bevölkerung (z.B. Francke, Höfer & Kahlen 1999; 360°. Geo-Reportage 1999; Müller 1999, Plöhn 2001).

[8] Vgl. Lauff 1999.

[9] Bei Makarenko ist die Lebenshilfe aus meiner personalistischen Sichtweise eingeschränkt aufgrund der begrenzten „Schwingungsweite“.

[10] Eine Ausnahme ist Neill: Er fördert das flow-Phänomen kaum, er macht sich zwar Gedanken über seine Erziehung zu einem lebensbejahenden Leben, doch erzieht er nicht, weil er die Werdenskraft seiner Schülerinnen nicht unterstützt, er zeigt auch keine stellvertretende Verantwortung, wenn er die Schüler nicht herausfordert und ihnen nicht helfen will.

[11] Autotelische Fähigkeiten sind nicht nur für die individuelle Entwicklung von Bedeutung, sie scheinen auch wichtig zu sein für die soziale Ordnung (Csikszentmihalyi 1995, 320) und für die Verringerung von gesellschaftlichen Problemen wie Kriminalität oder Sucht (vgl. Einleitung).

[12] Die Bedeutung von flow in der Erziehung wird eher im Zusammenhang mit Familie, Schule und Lehrern betrachtet (Csikszentmihalyi 1993, 152 ff.; Csikszentmihalyi, Rathunde & Whalen 1993, 152 ff.; Hektner 1996, 158 f.).

[13] Vgl. wie Csikszentmihalyi 1993, 65.

[14] Freinet hat explizit darauf hingewiesen.

[15] Dieses Prinzip ist in der empirischen Untersuchung über das flow-Erleben in der hahnschen Erlebnispädagogik auf deskriptiver Ebene deutlich geworden.

[16] Allerdings sind diese definitorischen Bedingungen noch nicht „zufriedenstellend geklärt“ (Rheinberg 1995, 143).

[17] Auch v. Cube (1998, 162 f.) weist aus verhaltensbiologischer Sicht darauf hin, dass flow-Erlebnisse eher auftreten, wenn Stärken gefördert, als wenn Schwächen thematisiert werden.

[18] Das Gefühl einer Über- oder Unterforderung geht nicht, wie oben angesprochen, aus dieser Graphik hervor (vgl. Abbildung 1).

[19] Vgl. auch im Kapitel über Montessori: Sie beschreibt, dass sich Kinder etwas Neues und Schwierigeres suchen.

[20] Vgl. das Kapitel über Makarenko.

[21] Vgl. z. B. Csikszentmihalyi 1997, 455.

[22] Vgl. dazu auch den Kasten „Fehlende Ziele“ im Kapitel über Makarenko.