1920. In
Russland gibt es als Folge der Oktoberrevolution (1917) und des Bürgerkriegs
(1918-1920) an die sieben bis neun Millionen[1]
elternlose Kinder und Jugendliche, die jahrelang auf der Straße leben, sich zum
Teil in Banden organisiert haben, um als Obdachlose überleben zu können. Die
Verwahrlosung dieser „besprizornye“ (Aufsichtslosen) „nahm Anfang der zwanziger
Jahre immer gefährlichere Formen an und wurde zum vordergründigen
gesamtgesellschaftlichen Erziehungsproblem“ (Nezel 1983, 9).
Um dieser
sozialen Verwahrlosung entgegenzutreten, wird der Lehrer Anton Semjonowitsch
Makarenko[2]
von der Gouvernements- und Volksabteilung beauftragt, diese Jugendlichen zu
erziehen. Makarenko baut für die straffälligen Jugendlichen zwei
Arbeitskolonien auf: „Maxim Gorki“ (1920 bis 1928) und die Dzerzinski-Kommune
(1928 bis 1935).
Die
Pädagogik Makarenkos wird hier vor dem Hintergrund einer Hungersnot, des
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Chaos sowie des politischen Umbruchs
zum Sozialismus betrachtet. In dieser unsicheren Situation entwickelt er für
Jugendliche eine „Insel“, die eine wichtige Basis für das Gelingen seiner
Pädagogik bietet. Damit gibt er den „sehr vernachlässigt[en] und
verwildert[en]“ (Makarenko 1989, 28) Straßenkindern die Möglichkeit, ein
geregeltes Leben zu führen.
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Anomie
Betrachtet man die Ausgangssituation aus der Sicht der flow-Theorie, so findet man, eingeordnet
auf der Ebene des Zustandes, den Begriff der Anomie[3].
Ein Gefühl von Anomie ist verbunden mit 1.) Normenlosigkeit (die Jugendlichen
rauben, die gesellschaftlichen Regeln sind wirkungslos); 2.) Sinnlosigkeit (nur
räuberische Handlungen machen Sinn, da die Kinder und Jugendlichen dadurch
wenigstens satt werden); 3.) Isolation (die Jugendlichen erleben keine soziale
Unterstützung) (Mitchell 1991, 57). Es ist ein subjektiv unangenehm empfundener
Zustand. In der Zeit des wirtschaftlichen Chaos und des politischen Umbruchs
leben die Jugendlichen in Russland in diesem Zustand der Anomie (griech.:
Gesetz-, Normenlosigkeit). „Das anomische Individuum findet keine Unterstützung
durch wichtige andere Personen, es hat die Freiheit, zwischen sinnlosen
Alternativen zu wählen, ohne Richtung und Absicht, durch keine Einschränkungen
eingebunden, von keinem Glauben begleitet, von keiner Hoffnung beflügelt“
(Mitchell 1991, 57). Diese Beschreibung trifft auf die verwahrlosten
Jugendlichen zu, die Makarenko erziehen soll: Das Leben auf der Straße ist
alles andere als sozial unterstützend, die Jugendlichen leben in einer
zerrütteten Gesellschaft im politischen Umbruch, ohne deutlich erkennen zu
können, was erlaubt und verboten ist. So rauben und stehlen sie, um satt zu
werden. Ihre Situation der Anomie bietet keine Hoffnung auf eine erfreuliche
Zukunft. Dieser Zustand der Anomie ist nicht förderlich für die Entstehung von flow-Erlebnissen, weil es weder klare
Ziele noch eine Richtung gibt, die dem Tun einen Sinn geben (vgl. ebd.).
„Die Anomie läßt das Individuum nach sozialer Stabilität,
Sicherheit und Gewißheit suchen“ (Mitchell 1991, 57). Diese Suche beendete
Makarenko vorerst mit seinen Arbeitskolonien. Als Lehrer vertrat er eine neue
Richtung, die im Gegensatz zu den alten Schulmethoden Erfolg in dieser
Situation versprach. Seine Arbeitskolonie gab den verwahrlosten Kindern und
Jugendlichen die Möglichkeit, ihre Situation der Anomie zu verlassen, ihr streunendes,
strukturloses Leben ad acta zu legen. Ein strukturierter Tagesablauf[4]
mit festen Zielen gab den „Strolchen“ eine Richtung, die ihre Handlungen
kanalisierte. Damit wurde der flow
verhindernde Zustand der Anomie vermutlich aufgehoben (Mitchell 1991, 50 ff.).
Die Möglichkeit, aus einer Situation der Anomie auszubrechen, legte einen
ersten Grundstein, der einen Zugang zu flow-Erlebnissen
ermöglichen konnte.
Makarenko entwickelt,
begeistert von dem positiven und konstruktiven anthropologischen Ansatz Gorkis,[5]
eine “aktive und zielstrebige“[6]
Erziehungspraxis, die sich an schlummernde Potenziale im Menschen wendet. Diese
könnten von „moralisch bösen“ Kräften überlagert werden, sodass es folglich
Menschen gibt „die in eine schwere Lage gekommen sind“ (Makarenko 1967, 92).
„Geborene Verbrecher, geborene schwierige Charaktere gibt es überhaupt nicht“
(Makarenko 1956, 134). Deshalb „projektiert“ er „das Beste“ oder „das Gute“ (Makarenko
1965, 316) in den Jugendlichen: Jeder solle etwas tun, „das wichtig für ihn
ist“. Ein Jugendlicher solle sich „in vernünftiger Weise entweder mit einer
Arbeit, mit Lernen oder einem Spiel“ beschäftigen (Makarenko 1956, 90). „Er
soll niemals nur schwatzen, ziellos die Zeit verbringen [...], ohne zu wissen,
wo er bleiben soll.“ Auf diese Weise könnten die verborgenen Potenziale der
„sehr vernachlässigt[en] und verwildert[en]“ (Makarenko 1989, 28) Jugendlichen
entwickelt werden.
Aus der Sicht der flow-Theorie: Potenziale entdecken
Ordnet man Makarenkos Menschenbild in die flow-Theorie ein, so zeigt sich auf der
Ebene des Menschenbildes, dass es sich mit dem von Csikszentmihalyi
überschneidet. Makarenko ermöglicht zum einen die Entdeckung von Potenzialen,
indem er „das Beste“ und „das Gute“ im Menschen sieht. Zum anderen ermöglicht
er den Jugendlichen, das zu tun, was ihnen wichtig ist. Dadurch wissen die
Jugendlichen, „wo sie bleiben sollen“. Nach Csikszentmihalyi kann jeder Mensch
mehr werden als er ist (Csikszentmihalyi 1995, 373) und auf diese Weise sein
Potenzial entdecken: .„Jeder Mensch hat etwas in sich, das er entdecken muß“
(Proband, zit. in: Csikszentmihalyi 1993, 258). Wenn Menschen in diesem
Zusammenhang tun können, was ihnen wichtig ist, können sie ihre Teleonomie des
Selbst entwickeln und stärken sowie sukzessive autotelische Fähigkeiten
erwerben. Infolgedessen verbringen sie auch nicht ziellos ihre Zeit: Ihr
Denken, Planen und Handeln richtet sich auf zukünftige Ziele hin aus (Adlai-Gail
1994, 136 f.). Makarenkos Annahmen über den Menschen weisen Aspekte auf, die in
der flow-Theorie nicht nur auf der
Ebene des Menschenbildes eingeordnet werden können, sondern auch sich
gegenseitig verstärkende, flow
auslösende Wirkung haben: Die Förderung der Potenziale motiviert dazu, seine
Zeit nicht ziellos zu verbringen. Das Gefühl, zu „wissen wo [man] bleiben
soll“, soll die Jugendlichen näher zu ihren Potenzialen bringen. Diese Annahme,
dass es Potenziale gibt, die eine Teleonomie des Selbst ermöglichen, legt
sozusagen die „philosophische“ Basis, auf der durch die Umsetzung weiterer
Vorrausetzungen flow-Erlebnisse ausgelöst werden können.
Die
menschliche Eigenschaft zur Freude ist die zweite Voraussetzung, auf der
Makarenko seine Pädagogik aufbaut.[7]
Die „Freude auf den morgigen Tag ist einer der wichtigsten Gegenstände der
Arbeit“ (Makarenko 1989, 545). Der Grund: „Die Freude auf das Morgen“
motiviere. Sie sei „ein wirklicher Antrieb“ (Makarenko 1956, 79), das
„eigentliche Stimulans“ (Makarenko 1967, 237), das den Menschen befähige, seine
Fähigkeiten sowie seine Individualität zu entwickeln. Makarenko schreibt: „Der
Mensch kann auf Erden nicht leben, wenn er nichts Freudiges vor sich sieht“
(Makarenko 1989, 454). Die Freude drücke sich „in der ständigen Bereitschaft
und Liebe“ aus „mit dem Material fertig zu werden“ (Makarenko 1956, 90).
Die
Fähigkeit zur Freude ist neben der Entwicklung von Potenzialen also die zweite
Säule seines Menschenbildes. Während die Potenziale das „Was“ beschreiben,
steht die Freude für ein pädagogisch grundlegendes „Wie“.
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Freude
Makarenkos
Pädagogik basiert unter anderem auf dem Prinzip der Freude. Er erkennt Freude
nicht nur als einen zentralen Antrieb des Menschen zum Handeln, der Mensch kann
ohne Freude nicht leben. Csikszentmihalyi (1991, 380) schreibt ebenfalls über
die Notwendigkeit von Freude, sie sei „grundlegend für die Bewahrung des
Lebens“. Ein Mangel an Freude entmenschlicht (Csikszentmihalyi 1985, 224) und
„lähmt uns langsam, aber sicher“ (Csikszentmihalyi 1985, 227). Hier zeigt sich
aus der Sicht der flow-Theorie,
eingeordnet auf der Ebene der flow-Auslöser,
dass Makarenko schon ein wichtiges psychologisches Instrument kannte, das
hilft, flow mit auszulösen
(Csikszentmihalyi 1985, 206) Mit der Anerkennung der Freude als Sauerstoff des
Lebens kann die Freude auch auf der Ebene des Menschenbildes eingeordnet
werden, da der Mensch ohne sie nicht leben könne und Menschen von sich aus
bestrebt sind, diesen erfreulichen Zustand aufrechtzuerhalten (Csikszentmihalyi
1991a, 37).[8]
Makarenko nimmt an, dass jeder Mensch zu dieser intrinsisch motivierenden Freude fähig ist, dies kann aus der Sicht der flow-Theorie (Ebene des Menschenbildes) nicht bestätigt werden, denn „manche Menschen sind von ihrer Veranlagung her nicht fähig, flow zu erleben“ (C 1993, 118 f., 123; 1991, 382). Zum Beispiel scheinen Schizophrene keinen flow erleben zu können, „sie leiden an Anhedonie. Wörtlich bedeutet es ‘Mangel an Vergnügen’. Dieses Symptom scheint mit Reizüberflutung verwandt zu sein. Dies bedeutet, dass Schizophrene dazu verdammt sind, irrelevante Reize zu bemerken und, ob sie wollen oder nicht, als Information zu verarbeiten“ (Csikszentmihalyi 1993, 118). Dieses Beispiel aus der Psychiatrie liefert ein Extrembeispiel, weshalb Freude unmöglich werden kann, „weil die psychische Energie zu flexibel und erratisch ist“ (Csikszentmihalyi 1993, 120)
Zusammenfassend kann man
festhalten, dass Makarenko mit seiner Einstellung zur Bedeutung der Freude
grundsätzlich Vorrausetzungen schafft, die flow-Erlebnisse
zur Folge haben können.
Das
Erziehungsziel steht nun vor dem Hintergrund der eben beschriebenen
Basisfaktoren, der Ausschaltung der Anomie, der Annahme von schlummernden
Potentialen und der menschlichen Fähigkeit zur Freude. Makarenkos
Erziehungsziel ist die „harmonische Persönlichkeit“ (Makarenko 1956, 466). Sie
sei fröhlich, zuversichtlich und glücklich. Der sowjetische Reformpädagoge
möchte schöpferische Menschen hervorbringen (Makarenko 1956, 323), die ihre
Fähigkeiten entwickeln, ihre Individualität wahren und ihren Neigungen folgen
(Makarenko 1956, 456).
Dabei habe
die Arbeit als Mittel der Erziehung eine besondere Stellung inne: Sie werde
„zur wichtigsten Ausdrucksform“ der Persönlichkeit und des Talents. Die Arbeit
ist in den Kolonien so organisiert, dass die Jugendlichen schöpferisch arbeiten[9]
und konstruktiv etwas schaffen (Makarenko 1967, 434 f.). Sie stille die
„Aussicht auf Erfüllung“ (Makarenko 1956, 82). Der Lehrer wisse „sehr gut, um
wie viel fröhlicher und glücklicher jene Menschen leben“ (Makarenko 1967, 435),
die Freude bei der Arbeit haben. Die Arbeit sei also ein Mittel, wodurch sich
die Jugendlichen zu einer „harmonischen Persönlichkeit“ entwickeln sollen.[10]
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Arbeit
Durch die Arbeit in den Kolonien sollen sich die Kinder und
Jugendlichen zu fröhlichen, zuversichtlichen, schöpferischen und glücklichen
Menschen entwickeln. Betrachtet man dieses Erziehungsziel und -mittel aus der
Sicht der flow-Theorie, so zeigen
Untersuchungen auf der Ebene der flow-Auslöser,
dass Menschen bei der Arbeit durchschnittlich mehr flow erleben als in ihrer Freizeit (LeFevre 1991, 324; Csikszentmihalyi
& LeFevre 1989, 820). Menschen fühlen sich beim Arbeiten „glücklicher,
fröhlicher, stärker, aktiver, konzentrierter, kreativer und zufriedener“ [11]
(Csikszentmihalyi 1993, 210). Das subjektive Erleben während der Arbeit im
Vergleich zur Freizeit fällt also zu Gunsten der Arbeit aus: In der Freizeit
fühlten sich Menschen „eher traurig, schwach, gelangweilt und unzufrieden“
(Csikszentmihalyi 1993, 211). „Ironischerweise ist die Arbeit leichter zu
genießen als die Freizeit, weil sie, wie flow-Aktivitäten,
eingebaute Ziele [...] hat, die darauf hinwirken, daß man sich auf sie
konzentriert und sich in ihr verliert. Freizeit hingegen ist unstrukturiert,
und es kostet viel mehr Mühe, sie zu etwas zu gestalten, das man genießen kann“
(Csikszentmihalyi 1993, 214).
Neben dem Vergleich Arbeit-Freizeit resümiert
Csikszentmihalyi auch über die Auswirkungen, wenn jemand Arbeit hat oder
arbeitslos ist: Haben Menschen keine Arbeit, so ist es für sie schwer, Erfüllung
zu finden, und dies ist meist mit einem starken „Nachlassen der Selbstachtung“
verbunden sowie mit „allgemeine[r] innere[r] Unruhe“ (Csikszentmihalyi 1999,
80). Hier zeigt sich also eine Übereinstimmung zu Makarenkos Konzept, dass
Arbeit grundsätzlich eine „Aussicht auf Erfüllung“ stillen kann. Vor dem
Hintergrund der flow-Theorie
(Auslöserebene) schafft Makarenko also ein effektives Erziehungsmittel, um die
Kinder und Jugendlichen zu glücklichen und harmonischen Persönlichkeiten
erziehen zu können. Er ermöglicht in den Arbeitskolonien ein strukturiertes,
zielorientiertes Leben, das eine Grundlage für das Erzeugen von flow-Erlebnissen bietet.
Arbeit,
Freude und das Ausschalten des Zustandes der Anomie dienen als Grundlagen der
Makarenko-Pädagogik. Sie sollen hier als elementare Vorbereitung für weitere flow auslösende Bedingungen aufgefasst
werden.
„Den
Menschen erziehen bedeutet, bei ihm Perspektiven herausbilden“ (Makarenko 1956,
80). Das ist ein Leitgedanke des sowjetischen Volksschullehrers. Unter einer
Perspektive versteht er die Freude auf erfreuliche und realistisch erreichbare
Aussichten und Ziele in der Zukunft.[12]
Perspektiven werden bei Makarenko also mit Freude auf die Zukunft
gleichgesetzt. Doch sollen hier Freude und Perspektiven unterschieden werden,
weil die Fähigkeit zur Freude, wie eben angesprochen, eine pädagogische (eher
abstrakte) Basis darstellt, auf der dann das Erreichen von Perspektiven
didaktisch (sehr konkret) aufbaut.
Damit die
verwahrlosten Jugendlichen, die lange Zeit „von der Hand in den Mund“ gelebt
haben, überhaupt in der Lage sind, Ziele zu verwirklichen, werden Perspektiven
didaktisch aufeinander abgestimmt: „Die Methodik dieser Arbeit besteht darin,
dass neue Perspektiven geschaffen, bereits vorhandene ausgenutzt und allmählich
durch wertvollere ersetzt werden“ (Makarenko 1956, 80). Ein ganzes „System der
Perspektiven“ ermögliche es den Zöglingen, unterschiedlich weit entfernte,
miteinander in Beziehung stehende Perspektiven durch aktives und zielstrebiges
Tun sukzessive zu erreichen. „Kein Parallel- oder Nebenziel darf uns vom
Hauptziel ablenken. Wenn zum Beispiel ein Nebenziel auftaucht, müssen wir es
also vor allem daraufhin prüfen, ob es mit dem Hauptziel in Einklang zu bringen
ist“ (Makarenko 1956, 510). Die Perspektiven sind also nicht als punktuelle,
unverbundene Ziele zu verstehen, sondern als ein großes Konzept, das didaktisch
aufbereitet ist und auf der Grundlage von Freude dazu dienen soll, eine
harmonische Persönlichkeit zu entwickeln. Makarenko unterscheidet drei Arten
von Zielen: die nahe, mittlere und weite Perspektive. Er initiiert das
Interesse an Perspektiven durch die so genannte Methode der Explosion. Diese
wird im folgenden Abschnitt beschrieben.
Zuvor
sollen aber zwei Fragen beantwortet werden: Erstens warum die von Makarenko
beschriebenen Perspektiven mit Zielen gleichgesetzt werden können und zweitens,
warum Ziele bzw. Perspektiven ein zentrales Element bei Makarenko sind.
Perspektive wird hier mit Zielen gleichgesetzt, weil Makarenko die beiden
Begriffe parallel benutzt. Er spricht von Perspektiven, die die Kinder und
Jugendlichen entwickeln sollen. Dieser Begriff beinhaltet etwas Subjektives,
auf die Zöglinge Bezogenes: Perspektiven sind als Ziele zu verstehen, die
subjektive Bedeutung für die Freude auf etwas haben. Umgekehrt muss ein Ziel
dagegen nicht unbedingt eine persönliche Bedeutung haben oder Freude auslösen,
das heißt, zu einer Perspektive entwickeln. Makarenkos erzieherische Absicht
ist es, „objektive“ Hauptziele zu schaffen, die durch keine Nebenziele
verwischt werden sollen. Diese sollen Perspektiven bei den Kindern und
Jugendlichen herausbilden. Makarenko benutzt also selbst beide Begriffe
synonym. Deshalb werden Perspektive hier auch als Ziele betrachtet.
Perspektiven
bzw. Ziele haben deshalb für Makarenko einen zentralen Stellenwert, weil er
durch das Herausbilden von Perspektiven
Menschen erziehen will. Unter dem Blickwinkel des erzieherischen Erfolgs
haben Perspektiven oder Ziele eine zentrale Bedeutung in der Konzeption
Makarenkosund können gleichzeitig auch ein wichtiger Ansatzpunkt sein, um flow auszulösen. Vor diesem Hintergrund
lohnt es sich, die Pädagogik Makarenkos unter dem Blickwinkel von Zielen zu
untersuchen und zu verstehen. Es werden dadurch weitere Kriterien seiner
Pädagogik interessant, die aus der Sicht von flow betrachtet werden, wie etwa Arbeit oder Anomie. Makarenkos
Ansatz wird hier also aus dem Blickwinkel des Themas Ziel beleuchtet. Andere
Aspekte der Makarenko-Pädagogik wie der Kollektivgedanke oder Kommandeursspiele
werden durch diese Betrachtungsweise ausgeklammert.
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Zielsystem
Makarenko kreiert ein System von Perspektiven, damit die Zöglinge
je nach ihren Fähigkeiten bestimmte Ziele erreichen können. Mit der Fähigkeit,
immer weiter entfernt liegende Ziele verfolgen zu können, will er die Kinder zu
einer „harmonischen Persönlichkeit“ erziehen. Diesen Gedankengang findet man
auch bei Csikszentmihalyi, eingeordnet auf der Ebene der flow-Auslöser, wieder. Allerdings umgekehrt: Er beschreibt, wie bei
autotelischen Personen „die unverbundenen Ziele der einzelnen flow-Aktivitäten [...] in einem
übergreifenden Zielsystem“ verschmelzen, denn all diese Ziele verleihen dem
Handelnden Sinn (Csikszentmihalyi 1993, 284). Autotelische Personen tun also
genau das, wozu Makarenko seine Zöglinge befähigen will. Er organisiert das
sinnvolle Ineinandergreifen von Zielen, indem er alle Ziele unter dem Hauptziel
„harmonische Persönlichkeit“ subsumiert und miteinander in Beziehung setzt.
Wenn also autotelische Personen diese Eigenschaft aufweisen, so ist es
wahrscheinlich auch sinnvoll, solche Bedingungen zu schaffen, damit sich
überhaupt ein Zielsystem bei Menschen herausbilden kann. Mit seinem System der
Perspektiven bietet Makarenko demnach optimale Voraussetzungen für das Erzeugen
von flow.
Die Freude auf Perspektiven initiieren
Es ist
nicht einfach, bei marginalisierten Jugendlichen, die auf der Straße um ihr
Überleben kämpfen müssen, Freude zu initiieren oder überhaupt eine Perspektive
attraktiv erscheinen zu lassen. Deswegen findet die so genannte Methode der
Explosion Anwendung. Sie führt, so Makarenko, eine freie und bewusste
Entscheidung für oder gegen ein Leben im Kollektiv herbei.[13]
Wenn sich
die verwahrloste Kinder und Jugendliche für die Kolonie entschieden hatten,
wurden sie „in den Baderaum geführt, und von dort kamen sie mit geschnittenem
Haar, gewaschen und in den gleichen Paradeuniformen mit den weißen Kragen
wieder heraus. Dann wurde auf einem Schubkarren ihre alte Kleidung
herangefahren, mit Benzin übergossen und feierlich verbrannt“ (Makarenko 1956,
264). Diese Zeremonie „hinterließ einen unerhörten Eindruck“ (Makarenko 1956,
264) und „angenehme Gefühle des eigenen Sieges“ (Makarenko 1989, 635) und
symbolisiert die freie Entscheidung des Zöglings, von seinem verwahrlosten
Leben Abschied zu nehmen. Nun kann eine
Pädagogik der Perspektiven Fuß fassen.
Die
Methode der Explosion bringe Klarheit in ein seelisch „sehr tiefes, völlig
undurchdringliches Dickicht von Konflikten, das evolutionär zu entwirren fast
unmöglich ist“ (Makarenko 1989, 633). Makarenko bezeichnet diese Methode als
nicht ungefährlich, weil der Zögling am Rande eines Abgrundes stehe (Makarenko
1989, 635), in den er fallen könne. Möglicherweise hat eine Explosion in
Makarenkos Sinn bei einigen Zöglingen eine Schockwirkung zur Folge: „ In
ps[ychologischer] Bedeutung hat der Begr[iff] Schock Verbreitung gefunden, um
die Plötzlichkeit, das Unerwartete und die Intensität der nervösen oder auch
psychischen Reaktion zu kennzeichnen. Psychischer Schock und Nervenschock
können eine traumatische Neurose veranlassen“ (o. A. 1987, 590). Makarenko hat
wohl dieses Gefahrenpotential einer Explosion erkannt und wendet diese Methode
deshalb „sehr dosiert“ an.
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Entscheidungen[14]
Durch die äußerliche Veränderung und das Verbrennen der
Kleidung wird den neuen Zöglingen vermutlich explosionsartig klar, dass sie eine
Wahl getroffen haben, die ihr Leben verändern wird. Aus der Sicht der flow-Theorie (auf der Ebene der
Auslöser) ist die Entscheidungsfähigkeit ein Schritt „seinen eigenen obersten
Sinn oder sein Ziel selbst zu finden“ (Csikszentmihalyi 1993, 294). Dies
ermöglicht Makarenko mit der Methode der Explosion. Die verwahrlosten Kinder
und Jugendlichen entschieden sich freiwillig und bewusst für die neue
Lebensrichtung. Pädagogisch wird die Bedeutung ihrer Entscheidung durch die
„unvergeßliche“ Zeremonie symbolisiert.
Neben diesem Schritt zu einer potentiell größeren
Sinnfindung ermöglichen Entscheidungen den Fokus auf kleinere Ziele: Denn eine
Konsequenz von Entscheidungen ist zum Beispiel, „sich stärker für Ziele
einzusetzen. Man handelt zuverlässig und wird von innen heraus gesteuert“
(Csikszentmihalyi 1993, 276). Genau diese intrinsische Motivation ist Makarenko
wichtig, wenn er die Freude auf Ziele sowie die Perspektivbildung erzieherisch
betont. „Ein wesentlicher Unterschied zwischen Menschen mit und ohne autotelischem
Selbst ist, daß erstere wissen, daß sie ihr jeweiliges Ziel selbst ausgewählt
haben“ (Csikszentmihalyi 1993, 276). Möglicherweise ist dies ein Sinn der
Methode der Explosion, der den ersten Schritt zu einem autotelischen Selbst
initiiert.
Was geschieht nun bei einer Explosion? Makarenko will das „völlig undurchdringliche Dickicht von Konflikten“ durch die Explosion entwirren und Klarheit erreichen. Csikszentmihalyi beschreibt dieses psychologische Phänomen so: „Innere Konflikte sind Folge rivalisierender Ansprüche an die Aufmerksamkeit. Zu viele Wünsche, zu viele unvereinbare Ziele ringen um die psychische Energie, um sie zum eigenen Zweck einzusetzen. Daraus folgt als einziger Weg, den Konflikt zu reduzieren, wichtige Ansprüche von unwichtigem abzuschneiden und unter den verbleibenden Prioritäten zu setzen“ (C 1993, 295). Diese Reduktion des inneren Konflikts wird durch die Explosion forciert: Die Jugendlichen entscheiden sich, ob sie ihr Leben ändern oder auf der Straße perspektivlos weiterleben möchten, ob sie sich vorstellen können, in einer Arbeitskolonie zu leben oder nicht. Mit der Entscheidung erreichen die Kinder und Jugendlichen für sich eine Klarheit.
Aus der Sicht von flow
ist die Methode der Explosion als Zeremonie nach der getroffenen Entscheidung
wahrscheinlich flow förderlich, weil
sie den Jugendlichen einen neuen Lebensweg und innere Klarheit ermöglicht. Mit
einer Reduzierung der Wahlmöglichkeiten ebnet sie grundsätzlich den Zugang zu flow-Erlebnissen.
Damit die
Zöglinge nach ihrer Entscheidung überhaupt die Motivation entwickeln,
Perspektiven zu erreichen, sei das höchste Gebot „die völlige Ignorierung der
Vergangenheit und ganz besonders der begangenen Verbrechen“ (Makarenko, zit.
in: Nastainczyk 1963, 173). Hier wird an einem Detail aus der pädagogischen
Praxis deutlich, welch konstruktive Bedeutung Perspektiven haben: Die
Vergangenheit soll ignoriert werden, weil man mit ihr keine Perspektiven
verwirklichen kann. Die unerfreuliche Vergangenheit der Verwahrlosten fördert
vermutlich auch nicht die Freude und die Entwicklung der schöpferischen
Potentiale. Deshalb stellt Makarenko die konstruktiven, zukunftsweisenden
Perspektiven in den Vordergrund seiner Erziehung zur „harmonischen
Persönlichkeit“.
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Zukunftsorientierung
Makarenko fokussiert seine Erziehung auf das, was
autotelische Menschen vermutlich meistens tun: Sie denken nicht an die
Vergangenheit, sondern an die Zukunft. Csikszentmihalyi zitiert eine
„außergewöhnliche Persönlichkeit“ (Csikszentmihalyi 1995, 25), den Kolumnisten
Jack Anderson: „‘Ich versuche, motiviert zu arbeiten, indem ich dieser Sache
höchste Priorität einräume, ganz gleich, um was es sich handelt. Ich möchte
nicht in der Vergangenheit leben. Ich habe einiges erreicht, aber das ist
vorbei, damit habe ich abgeschlossen, auch wenn ich froh bin, daß es mir
gelungen ist. Doch für das Heute hat es keine Bedeutung. Entscheidend ist, was
ich heute und morgen tue.’ Diese Art von Zukunftsorientierung war typisch. Kaum
jemand schwelgte in Erinnerungen an vergangene Erfolge. Alle Energien waren auf
die künftigen Ziele ausgerichtet“ (Csikszentmihalyi 1997, 316).
Die Eigenschaft autotelischer Personen, sich ganz auf die
Zukunft zu konzentrieren und die Vergangenheit, auch wenn sie positiv war,
nicht zu beachten, wird durch Makarenkos Ansatz der Ignorierung der
Vergangenheit gefördert. Dieser von außen vorgegebene Aufmerksamkeitsfokus
schafft die Voraussetzung für die Zöglinge, sich während ihrer Zeit in der
Kolonie nicht mit unrelevanten Informationen aus der Zeit ihrer „verlorenen
Jahre“ zu belasten oder abzulenken. Damit bietet sich für die Jugendlichen auch
die Gelegenheit, mit ihrer Vergangenheit insgesamt abschließen zu können und
ihren Fokus auf ihre Fähigkeiten und Stärken zu richten. Diese Regel lässt den
Optimismus Makarenkos erkennen, er will, wie Gorki, „das Beste im Menschen
sichtbar machen“ (Makarenko 1956, 316). Makarenko fördert durch diesen
Grundsatz das, was der zitierte Proband umsetzt: den Blick in die Zukunft, der unabhängig
von der Vergangenheit ist. Diese Regel ist aus der Sicht der flow-Theorie auf der flow auslösenden Ebene sinnvoll, damit
sich die Jugendlichen ohne innere Ablenkung auf etwas Neues konzentrieren
können. Diese Voraussetzung bietet eine Grundlage für das Evozieren von flow-Erlebnissen.
Nahe Perspektiven können auf unterschiedlichen Ebenen
Freude auslösen: zum einen die Freude auf materielle Ziele wie „ausgestattete
Räume und Klassen, warme Zimmer, ausreichendes Essen, saubere Betten“. Dann
fallen zwischenmenschliche Perspektiven darunter wie beispielsweise „ein
freundlicher und schlichter Umgangston“.[15]
Auch geistige, weniger anspruchsvolle Perspektiven wie „Kino, Konzerte,
Abendveranstaltung, Arbeitsgemeinschaften, Leseabende“ seien nahe Perspektiven
(Makarenko 1956, 81).
Die nahe Perspektive, eine „Aufgabe [...], die alle
mitreißt“ (Makarenko 1956, 83), fordere etwas von den Jugendlichen: „einen
gewissen Arbeitsaufwand“ (Makarenko 1956, 82). Diese relativ geringe
Anstrengung bringe unmittelbaren Nutzen (Makarenko 1956, 83) und Befriedigung
(Makarenko 1956, 82). Sie sei „keine Kette von langweiligen und einförmigen
Handgriffen“ (Makarenko 1956, 83). Das motiviert. Deshalb ist es pädagogisch
sinnvoll, schnell erreichbare Ziele bei Menschen zu ermöglichen, „die noch
nicht fähig sind, ihr Streben und ihre Interessen für lange Zeit
vorauszubestimmen“, etwa bei jüngeren Kindern (12-13 Jahre) oder neuen
Zöglingen. Die Motivation zu einer nahen Perspektive äußert sich zum Beispiel
darin, dass die Zöglinge „schon früh beim Aufstehen begeistert“ seien
(Makarenko 1956, 83). [16]
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Konkrete Ziele
Eingeordnet auf der Ebene flow auslösender Bedingungen sagt
Csikszentmihalyi allgemein über Ziele: „Um flow
zu erleben, muß man ein deutliches Ziel anstreben“ (Csikszentmihalyi 1993,
275), und macht folgenden Vorschlag: „Beginnen Sie jeden Morgen mit einem
konkreten Ziel, auf das sie sich freuen können. [...] Es spielt keine Rolle, ob
die Ziele anfangs banal und nicht besonders interessant sind“ (Csikszentmihalyi
1997, 496 f.). Die kleinen Ziele können ganz heterogen sein: eine Verabredung,
das Einpflanzen einer Blume, eine E-Mail schreiben oder den Schreibtisch
aufräumen. Konkrete, kurzfristige Ziele motivieren, weil sie unmittelbar
erreicht werden können. Deshalb rufen sie auch unmittelbar Freude hervor. Mit
ihnen kann man flow kultivieren
(Csikszentmihalyi 1997, 495).
Csikszentmihalyi und Makarenko
haben in diesem Punkt die gleiche dem flow
förderliche Einstellung, die mehrere Aspekte umfasst: 1.) Das Ziel muss
unmittelbar erreicht werden. 2.) Es soll anfangs einfach und nicht
anspruchsvoll sein. 3.) Diese Form der Ziele ist für diejenigen geeignet, die
noch nicht geübt sind, sich explizit und konkret Freude zu machen oder sich
über einen langen Zeitraum in einen Zustand von Freude oder optimalen Erlebens
zu versetzen 4.) diese Ziele dienen als Lernsituation, sich auch mit größeren
Zielen freudig auseinandersetzen zu können. 5.) Das Ziel soll schon am Morgen
beim Aufstehen Freude aufkommen lassen. Konkrete Ziele haben also die gleichen
motivationalen oder freudigen Auswirkungen wie die nahe Perspektive. Vor diesem
Hintergrund kann man vermuten, dass Makarenko mit dieser Methode beginnt, flow zu initiieren und zu kultivieren.
Makarenko
will bei der erzieherischen Umsetzung der nahen Perspektiven eine hedonistische
Freude vermeiden, da sie das schöpferische Tun nicht fördere. „Es wäre [...]
ein großer Fehler, wollte man die nahe Perspektive nur auf dem Prinzip des Angenehmen
aufbauen [...]. Auf diese Weise würden wir die Kinder zu völlig unzulässiger
Genußsucht erziehen“ (Makarenko 1956, 82). Nicht die „Freude durch bloßes
Vergnügen und sofortige Befriedigung“ rufe „das optimistische Gefühl“ hervor,
sondern die „Freude auf die Arbeit und die Erfolge des kommenden Tages“
(Makarenko 1956, 83 f.).
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Hedonismus
Makarenko spricht eine zentrale Unterscheidung an, die auch
Csikszentmihalyi betont. Aus der Sicht der flow-Theorie
(auf der Ebene der flow-Auslöser) ist
es wichtig, Freude und Vergnügungen nicht zu verwechseln (1993, 69 ff.). Flow „ist nicht die Folge einer
hedonistischen, lotusblütenessenden Lebensweise“ (Csikszentmihalyi 1993, 279).[17]
Denn hedonistisches Vergnügen ermöglicht „kein psychologisches Wachstum“
(Csikszentmihalyi 1995, 260), Freude dagegen schon, nämlich dann, wenn Menschen
flow erleben, das heißt, „psychische
Energie in neue Ziele investieren, die eine relative Herausforderung
darstellen“ (Csikszentmihalyi 1993, 71). Freude ist also das Resultat von
Energieaufwand und Zielverfolgung, beides fördert nicht nur die situative
Freude oder, wie Makarenko es ausdrückt,
„das optimistische Gefühl“ etwa über das Gelingen des Tuns, sondern motiviert
zu weiteren Anstrengungen und Zielen, zur „Arbeit und zu Erfolgen des kommenden
Tages“. Im bloßen Vergnügen sieht Makarenko keinen erzieherischen Wert. Die
Perspektiven baut er deshalb auch auf dem Prinzip der Freude auf. Damit schafft
er konkrete Rahmenbedingungen, die flow-Erlebnisse
zur Folge haben können.
Die
„mittlere Perspektive“
Mittlere Perspektiven sind umfangreichere Ziele, die zeitlich weiter entfernt liegen als die nahen Perspektiven. Laut Makarenko sind sie „unbedingt erforderlich“, dürfen „jedoch nicht zu häufig vorkommen“, so etwa nicht mehr als zwei- bis dreimal im Jahr (Makarenko 1956, 84). Beispiele für mittlere Perspektiven können sein: „Teilnahme an festlichen Demonstrationen [...], Beginn und Abschluß des Schuljahres, die Entlassung von Zöglingen, [...] die Eröffnung einer neuen Werkstatt, die Erfüllung des Produktionsplans oder die Sommerferien“ (Makarenko 1956, 85).
Eine
mittlere Perspektive manifestiere sich zuerst nur in den Ideen und Gesprächen,
dann in der Bildung eines Ausschusses „und schließlich in der Vorbereitung
eines Ereignisses“ (Makarenko 1956, 85). Letztendlich wird das entsprechende
Ereignis durchgeführt und dadurch eine mittlere Perspektive verwirklicht.
Von
pädagogischer Relevanz ist die mittlere Perspektive, weil sie Freude über einen
längeren Zeitraum kanalisiert. Weniger wichtig ist Makarenko zufolge ihr
Inhalt.[18]
Würde man den Zöglingen eine mittlere Perspektive, etwa die Sommerferien,
streichen, so wäre dies „nicht nur schädlich, weil sie dann keine Erholung
haben, sondern hauptsächlich, weil ihnen eine Perspektive der Freude genommen
wird“ (Makarenko 1956, 85). Hier betont Makarenko, dass gerade die Freude
darüber, ein Ziel aktiv und zielstrebig zu erreichen, den pädagogischen Wert
ausmache.
Aus der Sicht der flow-Theorie: Komplexere Ziele
Damit
erzieherisch erreicht wird, dass sich Kinder und Jugendliche sukzessive zu
einer harmonischen Persönlichkeit entwickeln, sollen sie sich im Kollektiv mit größeren
Zielen auseinander setzen. Wichtig dabei ist, dass sie ihre Aufmerksamkeit und
Energie über einen längeren Zeitraum auf ein Ziel richten und sich darauf
freuen, dieses auch zu erreichen. Makarenko fördert hier einen Prozess, der,
eingeordnet auf der Ebene der flow-Auslöser,
mit den Anregungen Csikszentmihalyis zur Förderung von flow-Erlebnissen übereinstimmt. Csikszentmihalyi unterteilt zwar
nur in kurz- und langfristige Vorhaben. Doch er nennt für das Auslösen von flow implizit die Bedeutung von mittelfristigen
Zielen: „Das Wichtigste ist, daß man die einfachen Anfangsschritte übt, bis man
sie gemeistert hat, und sich dann langsam zu komplexeren Zielen vorarbeitet“
(Csikszentmihalyi 1997, 497).
Genau
diesen Prozess verfolgt Makarenko. Er beginnt mit nahen Perspektiven und
ermöglicht das Voranschreiten zu komplexeren, mittleren Perspektiven. Dadurch
können die Jugendlichen sukzessive auf einer immer höheren Ebene in den Zustand
von flow gelangen und somit auch
langsam eine Teleonomie des Selbst entwickeln.
„Jungens, wir müssen arbeiten ... Anders arbeiten ... Versteht ihr?“ Makarenkos Zöglinge verstehen – und haben ein Aha-Erlebnis: Während eines Heimabends kommen sie darauf, dass es sich lohnt „die uralte menschliche Trägheit“ zu überwinden, um schöpferisch zu arbeiten. „Sie sahen vor sich die schönste Perspektive, die es gibt – den Wert der menschlichen Persönlichkeit“ (Makarenko 1989, 547). Makarenko erkannte die Jugendlichen daraufhin kaum wieder, „prustend, stöhnend die Köpfe verdrehend, überwanden sie redlich, wenn auch mit großer Mühe, die uralte menschliche Trägheit“ (Makarenko 1967, 239). Die Entdeckung der weiten Perspektive ließ das Arbeiten in einem anderen, motivierenden Licht erscheinen.
Dies ist
ein Beispiel einer weiten Perspektive, eine Erkenntnis, die Zöglinge befähigt
„ihr Streben und ihre Interessen für lange Zeit vorauszubestimmen“ (Makarenko
1956, 83). Damit hat Makarenko unter anderem durch die Methode der sukzessiven
Perspektivbildung sein Erziehungsziel erreicht: die harmonische Persönlichkeit.
Das befähigt die Jugendlichen auch umgekehrt, die „vielen Einzelheiten“ des
„gegenwärtigen Lebens klarer [zu] erkennen“, wie zum Beispiel die Bedeutung der
Arbeit. Die Folge sei, dass „eine solche weite Perspektive [...] zu großen
Arbeitsleistungen und Anstrengungen“ motiviere. Sie „kann eine wirklich
freudige Perspektive“ sein (Makarenko 1956, 86).
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Lebensthemen
Eine weite
Perspektive ermöglicht den Jugendlichen sowohl Überblick wie auch Klarheit bei
Einzelheiten. Diese entwickelte Fähigkeit der Zöglinge kann mit dem verglichen
werden, was Csikszentmihalyi Lebensthema nennt. Ein Lebensthema ist,
eingeordnet in die flow-Theorie auf
der Ebene der Auslöser, „ein Raster aus Zielen, die mit einem letztendlichen
Ziel verbunden sind, welches allem, was der Mensch tut, Bedeutung verleiht. Das
Lebensthema gibt an, was die Existenz erfreulich macht [...]. Mit einem
Lebensthema hat alles, was geschieht, eine Bedeutung und einen Sinn“
(Csikszentmihalyi 1993, 301).
Bei einer
weiten Perspektive oder einem Lebensthema greifen große und kleine Ziele klar
ineinander. Sie passen zueinander, weil sich eine Teleonomie des Selbst
gebildet hat, sodass in dieser entstandenen Zielhierarchie zwischen wichtig und
unwichtig, sinnvoll und sinnlos unterschieden werden kann. Die Jugendlichen
haben vermutlich ihre Persönlichkeit als Lebensthema entdeckt. Sie haben die
Fähigkeit erworben, ihre Tätigkeiten in „ein Raster aus Zielen“ einzuordnen:
Zum Beispiel sehen sie einen neuen Sinn im Arbeiten.
Da den Zöglingen Einzelheiten
sinnvoll erscheinen, und die Einzelheiten womöglich auch eingebettet sind in
ein großes Ganzes, möglicherweise in ein Lebensthema, und motiviert arbeiten,
kann man annehmen, dass sie flow
erleben.
Bezüglich
des Systems der Perspektiven kann festgehalten werden, dass Ziele in der
Makarenko-Pädagogik in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen, didaktisch
aufbereitet sind und somit sukzessive Fähigkeiten dahingehend stärken,
langfristige Vorhaben mit Freude zu realisieren. Konkret unterstützend auf die
Zielorientierung der Kinder und Jugendlichen wirkt dabei vermutlich die Methode
der Explosion und die Ablehnung von Hedonismus. Als flow förderliche pädagogische Grundlage dient wahrscheinlich die
Ausschaltung der Anomie und das Betonen von Freude. Mit der weiten Perspektive
werden die ehemals perspektivlosen Jugendlichen befähigt, Nebenziele von
Hauptzielen zu trennen, einen Sinn in dem zu sehen, was sie tun, und Freude
erleben zu können. Diese Fähigkeiten kennzeichnen die harmonische
Persönlichkeit.
Die
Zöglinge scheinen einen Zustand erreicht zu haben, der „ständige Frische“ und
„Bereitschaft zum Handeln“ aufweist. Die Jugendlichen seien „stets von Ruhe und
Kraft getragen“. Sie würden sich weder unruhig, aufgeregt oder hysterisch
zeigen (Makarenko 1956, 87 f.). Sie erledigten sogar „Unangenehmes mit Freuden“
(Makarenko 1956, 149). Als harmonische Persönlichkeit verbreiteten sie eine
„Dur-Stimmung“, einen „heiteren Ton“. Jeder Zögling habe ein optimistisches
Gefühl, einen „Ausdruck des inneren festen Vertrauens auf die eigenen Kräfte
[...] und auf die Zukunft“ (Makarenko 1956, 87).
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Autotelische Fähigkeiten
Hier beschreibt Makarenko das, was
aus der Sicht der flow-Theorie eine
autotelische Persönlichkeit ausmacht. Ein autotelischer Mensch ruht in sich, hat Selbstvertrauen
(Csikszentmihalyi 1985, 234; 1993, 65). Flow-Menschen
erledigen sogar unangenehme Dinge mit Freude, weil sie unerfreuliche
Situationen in erfreuliche verwandeln können (Csikszentmihalyi 1993, 126 ff.).
Sie strahlen eine „Aura der Frische“ aus (Csikszentmihalyi 1997, 89) und setzen
sich immer neue Herausforderungen. Makarenkos Skizze über den Charakter seiner
Jungen kann auf zwei Ebenen der flow-Theorie
eingeordnet werden: zum einen auf der Ebene des Menschenbildes, da die
Jugendlichen zentrale Eigenschaften aufzuweisen scheinen, die auch autotelische
Persönlichkeiten an den tag legen. Diese personenbezogene Ebene macht deutlich,
wie sich Makarenko die Verwirklichung menschlicher Potenziale vorstellt. Zum
anderen kann Makarenkos Beschreibung der Charaktereigenschaften auch auf der
Ebene der flow-Auslöser eingeordnet
werden, denn mit diesen Fähigkeiten können sich die Jugendlichen wie (oder als)
autotelische Personen in den flow-Zustand
versetzen. Makarenko hat es möglicherweise unter anderem mit seinem System der
Perspektiven geschafft, Straßenjungen ohne Perspektive zu Personen zu erziehen,
die zuversichtlich in die Zukunft blicken. Er hat vermutlich erweiterte flow-Erlebnisse ausgelöst. Das flow-Phänomen wird auch deutlich
angesichts der Ausdrücke, die er verwendet, z.B. „schöpferisches Arbeiten“,
„Freude“, „Perspektive“, „Begeisterung“, „ständige Frische“, „Dur-Stimmung“,
„Glück“, „harmonische Persönlichkeit“, „Erfüllung“, „wirklicher Antrieb“,
„optimistisches Gefühl“, „mit dem Hauptziel in Einklang“, „klar gesteckte
Ziele“, „fröhlich“, „in der Lage, Dinge zu meistern“, „Gefühle des eigenen
Sieges“, „starke zielstrebige Bewegung“, „inneres festes Vertrauen“. Makarenko
umschreibt also eine Qualität des Erlebens, die dem sehr nahe kommt, was heute
unter dem Begriff flow beschrieben
wird.
Die zweite Auswirkung der Perspektivenbildung ist ein Prozess der nicht enden wollenden intrinsischen Motivation: „In Wirklichkeit gibt es diese Erfüllung jedoch nicht. Wenn man ihr näher kommt, entstehen neue Zukunftspläne, und je anstrengender es ist, die verschiedenen Hindernisse zu überwinden, um so verlockender sind diese Pläne“ (Makarenko 1956, 82). Das heißt, die Jugendlichen haben Freude daran, neue Ziele zu verwirklichen und strengen sich dafür auch an.
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Die Teleonomie des Selbst[20]
Einzuordnen auf der Ebene der flow auslösenden Bedingungen in der flow-Theorie beschreibt Makarenko das, was auch Csikszentmihalyi
über das seelische Wachstum formuliert: „Wenn wir von dieser Freude erst einmal
gekostet haben, werden wir alle Anstrengungen verdoppeln, sie wieder zu
empfinden“ (Csikszentmihalyi 1993, 64).[21]
Beide Autoren beschreiben also die Motivation, sich für Ziele anzustrengen und
Herausforderungen zu meistern. Diese Fähigkeiten haben autotelische Personen
(Csikszentmihalyi 1991a, 44; 1993, 64) Die Jugendlichen befinden sich
möglicherweise in einem Prozess des autotelischen Wachstums. Deshalb können sie
ihre Potenziale entfalten[22]
und sich zu harmonischen Persönlichkeiten entwickeln, die „glücklich“ sind,
weil sie ihren „Neigungen“ folgen können. Makarenko scheint hier einen Zustand
der Zöglinge zu beschreiben, den Csikszentmihalyi als Teleonomie des Selbst
definiert, die wie eine Sucht nach flow
(Csikszentmihalyi 1995, 260) das Wachstum des Selbst steuert. Die ehemals
perspektivlosen Jugendlichen erleben offenbar eine positive Spirale des
erweiterten flow. Laut Makarenkos
Beschreibungen scheinen sie nicht nur flow
in einzelnen Situationen zu erleben, sondern auch autotelische Fähigkeiten
entwickeln zu können. In diesem Sinne spricht Makarenko von seinem
Erziehungsziel der „harmonischen Persönlichkeit“.
Betrachtet man nun Makarenkos Pädagogik langfristig, so verhindert sie vermutlich die Weiterbildung autotelischer Fähigkeiten. Denn über dem Erziehungsziel „harmonische Persönlichkeit“ steht etwas für ihn Höherwertiges: Makarenko möchte als „Produkt“ seiner Erziehung einen „neuen typischen Sowjetmenschen“ hervorbringen, der sich als „Mitglied eines Kollektivs“ mit dem Kommunismus identifiziert (Makarenko 1956, 465). Als „nützlicher, qualifizierter, gebildeter und politisch geschulter und erzogener Bürger“ solle er der „ganzen zukünftigen Menschheit zum Wohle“ dienen (Makarenko 1956, 440).
Dieses
Ziel grenzt die Entwicklung der „Individualität“ und der „Neigungen“ auf lange
Sicht ein: „In unserer Gesellschaft sind Grenzen gezogen, über die hinaus die
Persönlichkeit sich nicht schwingen kann, welche homerische Lust sie auch
verspüre“ (Makarenko 1967, 17) Die Jugendlichen könnten ihre Persönlichkeit nur
im Rahmen einer „einheitliche[n] sowjetische[n] Seele“ (Makarenko 1956, 440)
entfalten. Neigungen und Fähigkeiten, die über diese „Sozialmachung“
hinausgehen, werden nicht gefördert. Die „begrenzte Schwingungsweite“
(Makarenko 1967, 18) zeichnet dafür verantwortlich, dass der „reale Bürger des
Landes“ kaum die Chance erhält, sich außerhalb des Kollektivs neue
Herausforderungen zu suchen und gegebenenfalls etwas Neues zur Gesellschaft
beizutragen.
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Anti-flow
Eingeordnet auf der Ebene der flow auslösenden Bedingungen zeigt Csikszentmihalyi einen zentralen
Aspekt für das langfristige Aufrechterhalten von flow bei einer bestimmten Tätigkeit auf: „Um im flow zu bleiben, muß man die Komplexität
der Aktivität ständig erhöhen, indem man neue Fertigkeiten entwickelt und sich
entsprechend neue Herausforderungen sucht“ (Csikszentmihalyi 1991a, 44). Die
begrenzte Schwingungsweite gibt jedoch nicht genug Raum für eine weitere
Entwicklung autotelischer Fähigkeiten auf hohem Niveau, weil sie keine neuen
Herausforderungen bietet. Solange die Jugendlichen also Perspektiven
entwickeln, die mit den Zielen des Kollektivs vereinbar sind, löst Makarenkos
Pädagogik vermutlich das flow-Phänomen
aus. Er verhindert aber wahrscheinlich flow
an dem Punkt, an welchem sich die Zöglinge zu Persönlichkeiten oder
Spezialisten herangebildet haben und aufgrund ihrer Teleonomie des Selbst
individuelle Perspektiven entwickeln, die außerhalb der Ziele des Kollektivs
liegen.
Leitet man daraus eine mögliche Folge ab, so kann genau das
passieren, was Makarenko mit seiner marxistischen Erziehung abschaffen wollte:
Langeweile und Entfremdung.[23]
In so einem Zustand werden Menschen „gezwungen [...], sich gegen ihre Ziele zu
verhalten“ (Csikszentmihalyi 1993, 121). Zwar entfremdet Makarenko nicht durch
Ausbeutung, aber eine Entfremdung tritt
womöglich ein, weil sich Menschen mit etwas identifiziert haben, was ihnen
durch starre Grenzen wieder genommen wird. Die Jugendlichen werden quasi wieder
von sich selbst entfremdet, weil sie alle einer „einheitlichen [...] Seele
entsprechen“ sollen.[24]
Diese Form von Entfremdung möchte ich als „autotelische Entwurzelung“
bezeichnen: Menschen entwickeln sich und ihre Fähigkeiten aufgrund bestimmter
Tätigkeiten, die sie dann aber zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht weiter
ausführen können oder dürfen. Das, was ihre Persönlichkeit zu einem als wichtig
empfundenen Teil geformt hat, wird ihnen wieder genommen. Makarenkos Erziehung
führt somit letztendlich zu einem ein Gefühl von Anti-flow bei hohen Fähigkeiten. [25]
Bisher ist
die Bedeutung von Zielen bzw. Perspektiven als flow auslösende Bedingungen beschrieben worden: 1.) Makarenkos
Pädagogik wurde unter dem Blickwinkel von Zielen, bzw. Perspektiven betrachtet,
da dieses pädagogische Element mit einem möglichen flow auslösenden Moment übereinstimmt. 2.) Einzelne
charakteristische Elemente der Makarenko-Pädagogik wurden aus der Sicht der flow-Theorie dargestellt, um zu zeigen,
dass sich unter diesem Blickwinkel weitere Aspekte dieses pädagogischen
Ansatzes als flow-förderlich
erweisen. Mit diesen beiden methodischen Schritten wurden zwei Elemente der
„Horizontverschmelzung“ zwischen flow-Theorie
und der Makarenko-Reformpädagogik untersucht.
Nun werden
in einem dritten hermeneutischen Schritt weitere Aspekte der
Makarenko-Pädagogik vorgestellt, die mit dem flow-Zustand übereinstimmen und gleichzeitig flow auslösen können. So soll aufgezeigt werden, dass nicht nur das
pädagogische Element der Perspektiven flow
auslösenden Charakter hat, sondern dass der Sowjetpädagoge auch andere flow förderliche Bedingungen kreiert
hat. Je mehr Übereinstimmung sich zwischen den Elementen des flow-Phänomens und weiteren möglichern
Auslösern feststellen lässt, desto größer ist vermutlich die
Wahrscheinlichkeit, dass Makarenkos Pädagogik das flow-Phänomen auch tatsächlich evoziert hat.[26]
Da die
Makarenko-Pädagogik zu einem früheren Zeitpunkt und in einem anderen
kulturellen wie politischen Umfeld als die flow-Theorie
existiert hat, ergeben sich auch unterschiedliche sprachliche Formulierungen.
Deshalb können die in der Terminologie der flow-Theorie
formulierten Elemente nicht unbedingt wörtlich in den Texten von Makarenko
gesucht werden. Die Inhalte werden aufgrund des Verständnisses der beiden
Ansätze ausgelegt (vgl. zur Methode genauer Kapitel 2).
Herausforderung: Makarenkos Pädagogik
ermöglicht Herausforderungen. Dies wird an mehreren Stellen seiner Werke
deutlich: „Ich bin glücklich, daß mein Kollektiv immer klar gesteckte, schwer
zu erreichende Ziele“ setzt (Makarenko 1967, 422). Die Aufgaben werden je nach
Alter und Fähigkeiten der Jugendlichen gestellt, damit sie realisierbar sind
und herausfordernd auf die Zöglinge wirken (vgl. auch Nezel 1983, 122). An
anderer Stelle schreibt Makarenko, der Erzieher müsse „möglichst hohe
Forderungen an den Zögling stellen und ihm möglichst hohe Achtung
entgegenbringen (Makarenko 1956, 54). Die Herausforderungen werden auf
persönlicher Ebene zwischen Erzieher und Zögling also auch zwischenmenschlich
begleitet. Makarenko beschreibt die Qualität von herausfordernden Situationen,
die die Jugendlichen meistern müssen, folgendermaßen: „Die Arbeit im Werk darf
keine Kette von langweiligen und einförmigen Handgriffen sein.“ Sie muss eine
„ehrenvolle Aufgabe“ sein, „die alle mitreißt, weil [...] sie den einzelnen
Zöglingen unmittelbaren Nutzen bringt durch die Fertigkeit, die sie bei der
Erfüllung dieser Aufgabe erwerben (Makarenko 1967, 220 f.). Ein Zögling soll
„das tun, was wichtig für ihn ist“ (Makarenko 1956, 90) und die „Aussicht auf
Erfüllung“ (Makarenko 1956, 82) verspricht. Herausforderungen stehen also nicht
für sich, sondern sie sind eingebettet, zum einen auf zwischenmenschlicher, zum
anderen auf qualitativer Ebene: Die Aufgaben sollen als erfüllend wahrgenommen
werden. Diese Einbettung ist möglicherweise bei straffälligen Jugendlichen
wichtig, da die hohen Anforderungen möglicherweise ohne diese
Qualitätssteigerung keinen pädagogischen Nutzen zeigen würden, wenn ihre
Erfüllung nicht als befriedigend erlebt würde. Makarenko ermöglicht also
Herausforderungen in seinen Kolonien. Damit schafft er neben den Zielen also
weitere Vorrausetzungen, die grundsätzlich flow
auslösen können.
Struktur: Makarenko bietet den Zöglingen im
Kollektiv eine strukturierte Umgebung auf drei Ebenen an: eine äußere Struktur,
eine innerlich wahrnehmbare sowie eine prozessbegleitende. Äußerlich
strukturiert ist beispielsweise der Tagesablauf, weil Makarenko seine Kinder um
sechs Uhr morgens aufstehen lässt (Makarenko 1967, 72). Alle machen gemeinsam
sauber, dazu stehen pro Tag 15 Minuten zur Verfügung (Makarenko 1967, 76). Es
finden auch regelmäßig unterschiedliche Versammlungen statt, etwa
Vollversammlungen. Ein weiteres Beispiel für äußere Struktur ist die Heimordnung,
an deren Regeln sich jeder Zögling halten muss, weil die Regeln des
Zusammenlebens sonst nicht verbindlich wären: „Die Heimordnung muss für alle
verbindlich sein“ (Makarenko 1967, 359). So ist etwa auch eine „festgelegte
Höflichkeitsform“ (Makarenko 1967, 253) wichtig für den Umgang miteinander. Die
Verhängung einer Strafe muss mit einem „Jawohl“ beantwortet werden, weil die
Strafe sonst als nicht angenommen gilt. Auch die Arbeiten im Kollektiv sollen
strukturiert sein: Die Jungen sollen „organisiert an sie herangehen, mit genau
bestimmten Funktionen [...], genau festgelegter und unbedingter
Verantwortlichkeit der einzelnen Personen und des ganzen Kollektivs“ (Makarenko
1967, 239). Die Zöglinge sollen sich also nicht „alle planlos auf die Aufgaben
stürzen“ (Makarenko 1967, 239). Diese Punkte sind Beispiele, wie das Leben im
Kollektiv durch äußere Regeln wie eine Heimordnung oder inhaltliche
Arbeitsaufteilung strukturiert ist.
Eine
andere Form von Struktur bezieht sich auf die subjektive Wahrnehmung der Jugendlichen.
„Während des ganzen Arbeitstages muß der Zögling in vernünftiger Weise entweder
mit einer Arbeit, mit Lernen oder einem Spiel beschäftigt sein, er soll lesen
oder kann irgendein Gespräch führen, das wichtig für ihn ist. [...] Er soll
niemals [...] in den Räumen herumlungern, ohne zu wissen, wo er bleiben soll“
(Makarenko 1967, 241) Diese Qualität des Erlebens von Tätigkeiten trägt zur
Strukturierung des Tagesablaufs bei, weil die Zöglinge etwas tun, das subjektiv
wichtig für sie ist. Der Tag ist sozusagen inhaltlich sinnvoll strukturiert.
Nicht
zuletzt ermöglicht Makarenko mit seinem System der Perspektiven Struktur. Je
weniger die Jugendlichen sich mit einem längerfristigen Ziel auseinander setzen
können, desto konkretere und absehbarere Ziele werden zunächst an den einzelnen
Zögling gestellt. Sukzessive wird so die Fähigkeit, auf eine Sache hinarbeiten
zu können, erweitert. Anders formuliert: Die äußere Struktur der pädagogisch
initiierten Perspektiven soll nach und nach durch eine sich bildende innere
Struktur ersetzt werden. Neben Zielen als flow-förderlichem
Aspekt ermöglicht Makarenko also auch Struktur, die für das Evozieren von flow günstig ist.
Konzentration: Die Makarenko-Pädagogik
ermöglicht Konzentration auf zwei Ebenen. Zum einen gibt es einen
erzieherischen „obersten Grundsatz“, und zwar „die völlige Ignorierung der
Vergangenheit und ganz besonders der begangenen Verbrechen“ (Makarenko, zit. in
Nastainczyk 1963, 173). Dieses Gebot macht es den Jugendlichen möglich, den
Blick auf die Zukunft zu richten. Die Zöglinge sollen in ihrem Leben noch
einmal neu anfangen können, ohne dass die Vergangenheit dabei eine Rolle
spielt, deshalb wird der Vergangenheit keine Aufmerksamkeit geschenkt. So
können sich die Kinder und Jugendlichen auf ihre Zukunft konzentrieren.
Neben
diesem grundsätzlichen pädagogischen Fokus gibt es auch auf der Handlungsebene
Möglichkeiten, sich zu konzentrieren – durch Ziele oder Perspektiven: „Perspektiven
haben eine interessante Besonderheit. Sie ziehen die Aufmerksamkeit des
Menschen durch die allgemeine Aussicht auf Erfüllung an“ (Makarenko 1967, 219
f.). Die Fähigkeit der Zöglinge, sich auf Ziele zu konzentrieren, wird also
durch die Freude auf das jeweilige Ziel gefördert. Andere Dinge, die von diesem
Ziel ablenken könnten, haben wohl wenig Chancen, die Aufmerksamkeit auf sich zu
ziehen, weil sie dann vergleichsweise unattraktiv scheinen. Makarenko achtet
auf der Handlungsebene konzeptionell darauf, dass kein „Nebenziel“ vom
„Hauptziel“ ablenkt. Wenn Nebenziele auftauchen, prüft er, ob sie mit dem
Hauptziel in Einklang stehen, damit sich die Kinder und Jugendlichen auf das
Wesentliche konzentrieren können (Makarenko 1956, 510). Die Klarheit von Zielen
und die Konzentration darauf[27]
ist ein Kriterium der Makarenko-Pädagogik, das darauf abzielt, die Zöglinge zur
harmonischen Persönlichkeit zu erziehen. Makarenko ermöglicht also
konzentriertes Arbeiten. Damit erfüllt sein pädagogischer Ansatz ein weiteres flow-förderliches Element.
Feedback und Kontrolle: Unmittelbare
Rückmeldungen gibt es in dem Kollektiv unter anderem durch Tätigkeiten, denn
„die Ergebnisse der Arbeit“ treten „deutlich zutage“ (Makarenko 1967, 423).
Makarenko deutet neben dieser sofortigen Rückmeldung durch das Arbeiten auch
ein mittelbares Feedback an, wenn längerfristig als Folge getaner Arbeit „der
Wohlstand klar genug in Erscheinung tritt“ (Makarenko 1967, 423). Neben diesen
objektiv beobachtbaren kurzfristigen und längerfristigen Rückmeldungen durch
die Arbeit erhalten und geben die Jugendlichen auch zwischenmenschliches
Feedback. So sind zum Beispiel Regeln im Umgang miteinander einzuhalten: Ein
Befehl wird mit „Jawohl“ beantwortet, um zu zeigen, dass er verstanden wurde
(Makarenko 1967, 252).
Auch auf
der emotionalen Ebene erhalten die Zöglinge Feedback und ein Gefühl von
Kontrolle, da ihnen ein „Orientierungssinn“ anerzogen wird: „Sie müssen daran
gewöhnt werden, zu spüren, was um sie herum vor sich geht. [...] Sie müssen lernen,
rasch die Linie in ihrem Verhalten zu finden, die den Interessen des Kollektivs
am meisten dient“ (Makarenko 1967, 240). Durch ihr Verhalten bekommen sie also
Rückmeldungen, ob sie sich konform zeigen oder nicht. Diese Rückmeldungen geben
ihnen möglicherweise ein Gefühl von Orientierung und Kontrolle über ihr
Verhalten und Handeln innerhalb des Kollektivs.
Auf der emotionalen Ebene fordert Makarenko auch Selbstkontrolle: Die Kinder und Jugendlichen sollen sich in ihren Emotionen zügeln, wenn ein Streit auszubrechen droht. Sie sollen ihre Gefühle im Zaum halten und abwägen inwieweit ein Streit, bzw. das (kämpferische) Durchsetzen ihrer Interessen, für das Kollektiv überhaupt nützlich ist (Makarenko 1967, 252). Diese Regel soll dafür sorgen, dass Situationen nicht eskalieren, sondern unter Kontrolle beleiben. Außerdem ermöglicht sie es den Jugendlichen über ihren subjektiven Tellerrand hinauszuschauen und zu überprüfen, ob ihr eigenes Verhalten mit den Zielen des Kollektivs vereinbar ist.
Durch den
Aufenthalt in dem Kollektiv lernen die Kinder und Jugendlichen „ihr Streben und
Ihre Interessen für lange Zeit vorauszubestimmen“ (Makarenko 1956, 83). Hier
wird ein Gefühl von Kontrolle in Zusammenhang mit entfernt liegenden Zielen
indirekt am Ergebnis der Erziehung deutlich, denn die ehemals verwahrlosten
Jugendlichen entwickeln ein Gefühl von Kontrolle über ihr Leben, da sie die
Fähigkeit erlernen, ihre Interessen im Voraus zu bestimmen. Makarenkos
Pädagogik ermöglicht also auf verschiedenen Ebenen Feedback und Gefühle von
Kontrolle: Auf der Handlungsebene durch die Arbeit, auf der emotionalen Ebene
etwa durch das Zügeln von Wut. Der pädagogische Ansatz fördert also Feedback
und Kontrolle als weitere mögliche flow-förderliche
Elemente.
Freiheit: Makarenko widmet sich explizit dem
Thema Freiheit. Erstens können sich
die verwahrlosten Jugendlichen formal für oder gegen ein Leben in der Kolonie
entscheiden und jederzeit wieder gehen. Sie werden zum Beitritt nicht gezwungen
(entscheiden sie sich für das Kollektiv, so sind sie allerdings an seine Regeln
gebunden). Zweitens drückt sich Freiheit bei Makarenko indirekt aus, denn im
Kollektiv wird die Vergangenheit der Jugendlichen ignoriert (Nastainczyk 1963,
173). Dies kann als eine Form von Freiheit verstanden werden, da die
Jugendlichen von ihrem unerfreulichen, schwierigen Leben auf der Straße
Abschied nehmen und somit die Möglichkeit haben, sich und ihre Fähigkeiten zu
dem zu entwickeln, was ihnen möglich ist. Da die Vergangenheit nicht mehr
veränderbar ist, soll sie wohl nicht länger das Bewusstsein der Jugendlichen
füllen und auch nicht zu möglichen Nachteilen oder Ungerechtigkeiten führen.
Neben
diesen beiden formalen Regeln, die Freiheit ermöglichen, zeigt Makarenko im
Zusammenhang mit der „Arbeitserziehung“ konkret einen weiteren Grundsatz auf:
Eine Aufgabe soll dem Zögling die Freiheit der Entscheidung lassen, wie er sie
erledigt. „Wichtig ist, daß dem Kind in der Wahl der Mittel eine gewisse
Freiheit gewährt wird und es bestimmte Verantwortung für die Erledigung der
Arbeit und ihre Qualität trägt. Der Nutzen wird geringer sein, wenn Sie dem
Kind sagen: ‘Hier hast du einen Besen, fege das Zimmer aus; mach es so und so!’
Besser ist, Sie übertragen dem Kind für längere Zeit die Reinhaltung eines
bestimmten Zimmers; wie es das aber macht – überlassen Sie die Lösung der
Aufgabe und Verantwortung dafür ihm selbst“ (Makarenko 1967, 437). Makarenko
bietet also innerhalb eines vorgegebenen Rahmens eine gewisse Freiheit, Dinge
so zu machen, wie sie am besten von der Hand gehen.
Makarenko
spricht von Freiheit im Zusammenhang mit der Fähigkeit zur Disziplin. Sie
versetzt „jede einzelne Persönlichkeit, [...] in eine geschütztere, freiere
Lage“ (Makarenko 1967, 365). Bleibt man bei der Beschreibung von Freiheit auf
der Ebene des Subjekts, so versteht Makarenko unter Disziplin „Das genaue
Empfinden der eigenen Lage in der Umwelt“ (Makarenko 1967, 380). „Disziplin ist
das Wirken der zügelnden Elemente im Handeln des Individuums“ (Makarenko 1967,
380). Sie ist nicht zu verstehen als „eine Form von Unterdrückung“ (Makarenko
1967, 345). Freiheit versteht Makarenko nicht als Freiheit an sich, sondern als
Freiheit zu etwas, als Möglichkeit, seine Fähigkeiten zu entwickeln und dadurch
letztendlich die persönliche Freiheit zu haben, nicht an Hindernissen zu
scheitern, sondern sie überwinden zu können (Makarenko 1967, 355). Auf diese
Weise können die Grenzen des eigenen Handels erweitert werden. Er betont, dass
Disziplin nicht als Methode anzusehen ist, sondern als Ergebnis von Erziehung (Makarenko
1967, 377). Die Pädagogik ermöglicht
also auch das flow förderliche
Element der Freiheit.
Veränderte Zeitwahrnehmung: Diesen
Erlebensaspekt spricht Makarenko nicht an.
Selbstvergessenheit: Eine Form
von Selbstvergessenheit wird bei Makarenko indirekt deutlich: „Ein Junge spielt
auf dem Hof, begeistert und voller Eifer“ (Makarenko 1967, 253). Makarenko will
„schöpferische Arbeit [...] lehren“ (Makarenko 1967, 434), will „Freude“ und
„Begeisterung“ (Makarenko 1967, 411) hervorrufen und dadurch eine „Dur-Stimmung“,
einen „lebensfreudigen Ton“ (Makarenko 1967, 239), im Kollektiv erzeugen. Diese
Punkte machen indirekt auf Selbstvergessenheit aufmerksam, weil sie im Sinne
der flow-Theorie Ausdruck dieses
Zustandes sein können. Da die Zöglinge im Zustand der Begeisterung und voller
Eifer zu arbeiten und spielen scheinen, kann man Selbstvergessenheit also auch
in den Arbeitskolonien Makarenkos finden.
Zusammenfassung der flow förderlichen Bedingungen: Im Zusammenhang mit
möglichen flow auslösenden Bedingungen
ist ein Hauptkennzeichen bei Makarenko das Verfolgen von Zielen auf
unterschiedlichen Fähigkeitsebenen der Zöglinge. Daneben schafft seine
Pädagogik weitere Bedingungen, die flow
auslösen können: Herausforderungen, Konzentration, Struktur, Kontrolle und
Feedback sowie Freiheit. Auch bringt Makarenkos Ansatz möglicherweise
Selbstvergessenheit hervor, ein Charakteristikum des flow-Zustandes.. Eine Be- oder Umschreibung von veränderter
Zeitwahrnehmung findet man bei Makarenko nicht. In der folgenden Tabelle[28]
werden die Elemente zusammengefasst, die mit denjenigen des flow-Erlebens übereinstimmen (die
Quellenangeben beziehen sich auf Makarenko, wenn nicht anders angegeben).
1. Zielvorgaben |
„Den Menschen
erziehen bedeutet, bei ihm Perspektiven herausbilden“ (1956, 80) |
2. Herausforderungen |
„Möglichst
hohe Forderungen“ (1956, 54). „keine Kette von langweiligen und einförmigen
Handgriffen“, eine „Aufgabe, die alle mitreißt (1967, 220) und „Aussicht auf
Erfüllung“ verspricht (1956, 82) |
3. Konzentration |
„Die
völlige Ignorierung der Vergangenheit und ganz besonders der begangenen
Verbrechen“ (Makarenko, zit. in Nastainczyk 1963, 173); „Perspektiven haben eine
interessante Besonderheit. Sie ziehen die Aufmerksamkeit des Menschen durch
die allgemeine Aussicht auf Erfüllung an“ (1967, 219 f.). Kein „Nebenziel“
soll vom „Hauptziel“ ablenken (1956, 510) |
4. Struktur |
„Die
Heimordnung muss für alle verbindlich sein“ (1967, 359); die Jungen sollen
„organisiert an sie [die Arbeit, Anm. I. P.] herangehen, mit genau bestimmten
Funktionen [...], genau festgelegter und unbedingter Verantwortlichkeit“
(1967, 239); der Zögling „soll niemals [...] in den Räumen herumlungern, ohne
zu wissen, wo er bleiben soll“ (1967, 241) |
5. Kontrolle
& 6. Feedback |
„Die
Ergebnisse der Arbeit“ treten „deutlich zutage“ (1967, 423).
„Orientierungssinn“ (1967, 240). Durch ihr Verhalten bekommen die Zöglinge also
Rückmeldungen, ob sie sich konform verhalten oder nicht |
7. Freiheit
|
„Wichtig
ist, daß dem Kind in der Wahl der Mittel eine gewisse Freiheit gewährt wird“
(1967, 437) |
8. Selbstvergessenheit (als Charakteris- tikum von flow) |
„Ein Junge
spielt auf dem Hof, begeistert und voller Eifer“ (1967, 253). Makarenko will
„schöpferische Arbeit [...] lehren“ (1967, 434) |
9. veränderte
Zeitwahrnehmung (als Charakteris- tikum
von flow) |
--- |
Tabelle 3.3.1.
Flow-Elemente in der
Makarenko-Pädagogik
Aus der
Sicht der flow-Theorie kann man bei
Makarenko also acht von neun Merkmalen wiederfinden, die den flow-Zustandes charakterisieren. Jede
einzelne Bedingung, die in der Makarenko-Pädagogik mit einem flow auslösenden Element übereinstimmt,
kann einen Eintritt in den flow-Zustand
bewirken (Csikszentmihalyi 1993, 278) und zieht damit alle anderen Elemente
nach sich. Da Zielvorgaben – der zentrale Bestandteil in Makarenkos Ansatz –
allein noch nicht notwendigerweise flow
auslöst, wurde seine Pädagogik hier auch daraufhin untersucht, ob sie weitere flow förderliche Elemente aufweist.
Deren gleichzeitiges Vorhandensein ist nützlich, damit sich flow leichter entwickeln kann.
Ein
Beispiel für das Zusammenwirken dieser Elemente kann bei Makarenko wie folgt
aussehen: Die Jugendlichen verfolgen eine Perspektive, ein Ziel, etwa
den Bau einer Werkstatt. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden,
gehen die Jugendlichen strukturiert vor – auch mit äußerer Hilfe. Sie
können sich auf das Erreichen des Ziels konzentrieren, da es zum einen
in sich Aufforderungscharakter besitzt, zum anderen aber auch darauf geachtet
wird, dass keine Nebenziele von einer zu erreichenden Perspektive ablenken. Da
die Ergebnisse ihres Tuns deutlich zu Tage treten, bekommen die Zöglinge zum
einen Feedback über ihr Handeln, zum anderen machen sie gleichzeitig Kontrollerfahrungen
dahingehend, dass sie das Ziel Schritt für Schritt erreichen werden. Wenn die
Jugendlichen die Fähigkeit entwickeln, dabei schöpferisch zu arbeiten, kann
eine Form von Selbstvergessenheit eintreten.
Insgesamt
erfüllt Makarenkos Pädagogik sieben flow-förderliche
Kriterien, die mit den Elementen des flow-Zustandes
übereinstimmen. Da sie konzeptionell in dem Makarenko-Ansatz miteinander in
Verbindung stehen, kann daraus geschlossen werden, dass Makarenko das flow-Phänomen bei „seinen“ Jugendlichen
ausgelöst hat.
Dieser Abschnitt soll aufzeigen, dass Makarenko allein durch
das Evozieren von flow Jugendliche
erzogen hat. Es wird hier nicht der Stellenwert von flow in der Makarenko-Pädagogik betrachtet, welche Bedeutung diese
Form des Erlebens dort insgesamt hat, sondern hier wird aufgezeigt, dass das flow-Phänomen durch bestimmte günstige flow-förderliche Bedingungen vermutlich
ausgelöst worden ist. Auch wenn flow
in der Makarenko-Pädagogik ein beiläufiges Phänomen sein sollte, so kann diese
Erziehung nur allein dadurch, dass sie flow
vermutlich ausgelöst hat, Jugendliche ein Stück weit erzogen haben.
Es werden nun vier zentrale Aspekte beleuchtet, die das
grundlegende Wesen von Erziehung darstellen (vgl. Einleitung) und die durch das
Evozieren von flow realisiert werden.
Mit diesem vierten Schritt des hermeneutischen Vorgehens soll die erzieherische
Relevanz des flow-Phänomens in der
Makarenko-Pädagogik aufgezeigt werden. Während das vorliegende Kapitel
analysiert hat, welche einzelnen Bedingungen flow förderlich sind, zeigt dieser Abschnitt die Bedeutung von flow-Erlebnissen für die Erziehung auf.
1. Das Erziehungsziel: Nach
Lauff (1999) ist ein allgemein gültiges Erziehungsziel der körperlich gesunde,
geistig klare und seelisch ruhige Mensch. Dieses Erziehungsziel verfolgt
Makarenko und nennt es „harmonische Persönlichkeit“. Die von im erzogenen scheinen
geistig klar (Makarenko 1956, 86) und seelisch ruhig zu sein (Makarenko 1956,
88). Diese Eigenschaften können entstehen, weil die Jugendlichen befähigt
werden, ihren Neigungen, bzw. ihrem Talent zu folgen, sie sollen tun, was ihnen
wichtig ist und können somit ihre Potenziale ausleben.
Vor dem
Hintergrund der flow-Theorie kann das
Erziehungsziel der harmonischen Persönlichkeit auf drei Ebenen greifen: erstens
auf der des Menschenbildes, da Makarenko annimmt, dass die ehemals
verwahrlosten Jugendlichen ihre Potenziale entwickeln und zu Persönlichkeiten
mit Perspektiven heranreifen können. Zweitens erzieht Makarenko auf der Ebene
der flow-förderlichen Bedingungen, da
er mit dem System der Perspektiven vermutlich flow auslöst. Und drittens wird seine Erziehungsmethode
möglicherweise auch auf der Ebene des flow-Zustandes
wirksam, da er Freude, Fröhlichkeit und Begeisterung fördert. Makarenkos
Erziehungsziel scheint also auf drei Ebenen der flow-Theorie Fuß fassen zu können.
2. „Stellvertretende Verantwortung“ ist ein
weiteres Merkmal, das Erziehung laut Lauff (1999) beinhaltet. Makarenko scheint
diese stellvertretende Verantwortung zu übernehmen, da er beispielsweise
verlangt, dass sich die Jugendlichen mit Dingen beschäftigen, die ihnen wichtig
sind. Sie sollen nicht ziellos herumlungern, sondern die Möglichkeit ergreifen,
sich weiterzuentwickeln. Auch sollen sie lernen, Verantwortung zu übernehmen
und eine „weite Perspektive“ für sich suchen und finden. Mit diesen
Voraussetzungen können sie sich zur harmonischen Persönlichkeit voller
Lebensfreude entfalten. Makarenko übernimmt also stellvertretende
Verantwortung, da er die Rahmenbedingungen dafür schafft, verwahrloste
Jugendliche zu lebensfreudigen Menschen mit Perspektive zu erziehen.
Die
stellvertretende Verantwortung bei Makarenko kann in der flow-Theorie auf der Ebene der flow
auslösenden Bedingung eingeordnet werden, da sich die Jugendlichen mit
Situationen auseinandersetzen müssen, die sie als wichtig empfinden und
möglicherweise auch im flow-Zustand
erleben.
3. Werdenskraft: Die Zöglinge können ihre „Werdenskraft“ (Lauff 1999) bei
Makarenko verwirklichen. Makarenko beschreibt, wie ehemals verwahrloste
Jugendliche den Wert ihrer Persönlichkeit entdeckt haben (Makarenko 1989, 547).
Sie gelangen zu Erkenntnissen, die sie befähigen, auf eine bestimmte Art und
Weise arbeiten und das Leben sehen zu können. Ihre Persönlichkeit ist komplexer
geworden.
Kritisch ist hier zu fragen, inwieweit in einer Kolonie, die den „einheitlichen Sowjetmenschen“ als ein Erziehungsziel hat, die Werdenskraft überhaupt voll entfaltet werden kann. Bei Makarenkos Zöglingen kann eine Entfaltung der Werdenskraft bis zu einer gewissen Entwicklungsstufe angenommen werden, da sie von der Straße kommen, und sich zu motiviert arbeitenden Jugendlichen entwickeln. Doch wie weit kann die Werdenskraft einer straff organisierten Kolonie gefördert werden? Engt die oben beschriebene „begrenzte Schwingungsweite“ diese Werdenskraft nicht doch ab einem bestimmten Punkt in der Entwicklung des Jugendlichen ein? Wenn ja, dann würde das bedeuten, dass an diesem Punkt Erziehung im Sinne von Lauff aufhört. Festgehalten werden kann, dass Makarenko seine Zöglinge durchaus in ihrer Werdenskraft unterstützt, möglicherweise aber nur bis zu einer bestimmten Stufe ihrer Persönlichkeitsentfaltung.
4. Entwicklungs- und Lebenshilfe: In
Makarenkos Pädagogik findet sich dieses letzte Grundelement von Erziehung, sie
leistet Entwicklungs- und Lebenshilfe. Betrachtet man Makarenkos Beschreibung
der Jugendlichen vor ihrem Kolonieaufenthalt und ihrer späteren Entwicklung, so
zeigt sich, dass sie offenbar Lebensfreude, Lebensfähigkeit und Persönlichkeit
herausgebildet haben. Makarenko beschreibt „harmonische Persönlichkeiten“, die
vermutlich flow erleben. Durch die
Förderung dieser Fähigkeit hat Makarenko Entwicklungshilfe geleistet.
Lebenshilfe leistet Makarenko insofern, als die ehemals verwahrlosten
Jugendlichen während ihres Aufenthaltes sozialisiert werden und vermutlich
wieder an einem „normalen“ gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.
Die Entwicklungs- und Lebenshilfe ist in der flow-Theorie auf der Ebenen des Menschenbildes einzuordnen, da Makarenko die Potenziale der Jugendlichen fördert. Zugleich liegt dieser Erziehungsaspekt auch auf der Ebene der flow-Auslöser, da die Persönlichkeitsentwicklung vermutlich zunehmend mehr flow-Erlebnisse ermöglicht.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass Makarenkos Pädagogik mit den vier Grundelementen von Erziehung übereinstimmt, die durch das Auslösen von flow erzieherisch wirksam werden. Einschränkend ist aus pädagogischer Sicht wahrscheinlich die „begrenzte Schwingungsweite“, die die Werdenskraft vermutlich nur bis zu einem bestimmten Punkt der Persönlichkeitsentwicklung unterstützen kann.
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[1] Amtliche Schätzung
aus dem Jahr 1922 (Nastainczyk 1963, 114).
[2] Anton
Semjonowitsch Makarenko (1888-1939) erwirbt mit 17 Jahren nach einem
einjährigen Lehrgang den Titel „Volksschullehrer“ und arbeitet ab diesem
Zeitpunkt als Lehrer an verschiedenen Schulen. Er experimentiert seit 1911 mit
ersten pädagogischen Versuchen, die eine der Grundlagen seiner späteren
Pädagogik werden. 1917 schließt er mit 26 Jahren als bester seines Jahrgangs
sein Lehrerstudium ab. Ausführlicher zu Makarenkos Biographie in Nastainczyk (1963,
33-43). Bei Makarenko (1967, 456-462) gibt es Daten aus dem Leben und Schaffen.
Furrer (1988, 91-99) beschreibt und unterscheidet die offizielle Biographie und
die so genannte Marburger-Biographie.
[3] Den
Begriff ‘Anomie’ prägte der französische Soziologe Emile Durkheim (Mitchell
1991, 53f.; Csikszentmihalyi 1993, 121).
[4] Zum
Beispiel betont Makarenko irgendwo, dass die Jugendlichen jeden Tag um sechs
Uhr aufstehen müssen, keine Minute später.
[5] Makarenkos
Vorbild ist der Lenin sehr nahestehende Schriftsteller Maxim Gorki (Makarenko 1967, 22), da Gorki mit seinen Werken
Lebensfreude und Vertrauen in die Zukunft verkörpert: „Entscheidend ist hier
der Gorkische Optimismus. Denn Gorki ist nicht nur in dem Sinne Optimist, dass
er vor seinem geistigen Auge eine glückliche Menschheit sieht“ (Makarenko 1967,
22 f.). „Er versteht es, das Beste im Menschen sichtbar zu machen“ (Makarenko
1956, 316).
[6] Vgl.
Makarenko 1956, 134.
[7] Vgl. auch
Igerl 1986, 37 ff.
[8] Vgl. unten
in diesem Kapitel im Abschnitt „Auswirkungen“ den Kasten „Teleonomie des
Selbst“.
[9] Zeitlich
betrachtet verbringen die Jugendlichen vier Stunden pro Tag in der Produktion,
fünf Stunden am Tag in der Schule (Nastainczyk 1963, 52).
[10] Fußnote
Makarenkos Pädagogik hatte auch in der ehemaligen DDR bei der Umbildung des
Schulwesens in eine sozialistische Erziehungsinstitution großen Einfluss (Bolz
1973, 16 f.).
[11] Makarenko
und die flow-Forschung benutzen die
gleichen Wörter: „glücklich“, „fröhlich“, „zuversichtlich“ (vgl. Einleitung).In
unterschiedlichen Epochen und politischen Kulturen.
[12] Vgl.
Berger 1957, 11.
[13] Erst in
seiner zweiten Arbeitskolonie hat er dieses methodische Mittel
weiterentwickelt.
[14] Vgl. auch
im Kapitel über Montessori den Abschnitt „Konzentrationszyklus“. Montessori
beschreibt die Qualität des Erlebens bei Entscheidungen, Makarenko forciert
Entscheidungen aus methodischer Sicht.
[15] Die
materiellen und zwischenmenschlichen Bedürfnisse „bilden das notwendige Minimum
an Perspektiven“ (Makarenko 1956, 81).
[16] Diese
Aussagen sollen allein aus der Sicht der flow-Theorie
betrachtet werden. Nicht aus politsicher Sicht.
[17] Vgl. auch
in der Einleitung in dem Abschnitt über „Auswirkungen von flow-Entzug“. Vergnügungen, wie etwa ein schönes Essen, sind ein
Teil der Lebensqualität, weil sie homöostatisch befriedigend sind. Vgl. zur
Freude am Schmecken als flow-Erlebnis
im Kapitel über die Produktionsschule im Zusammenhang mit fachlichen
Herausforderungen.
[18] Vgl. auch
bei Montessori das Verhältnis von dem Inhalt des Tuns und der Qualität des
Erlebens.
[19] „Die
Erziehung zu einer solchen Perspektive ist eine sehr wichtige Etappe in der
gesamten politischen Erziehung, da sie einen natürlichen und praktischen
Übergang zu der umfassensten Perspektive – der
Zukunft unserer ganzen Union –
bildet“ (Makarenko 1956, 86). „In diese weite Perspektive des
Sowjetlandes lassen sich auch immer leicht und bequem persönlich weite
Perspektiven der einzelnen Zöglinge einfügen.“
[20] Vgl. auch
in den Kapiteln über Freinet (Abschnitt „Auswirkungen...“) und Montessori
(Abschnitt „Menschenbild“).
[21] „Es
besteht eine Wechselbeziehung zwischen Zielen und der Anstrengung für deren
Erreichung“ (Csikszentmihalyi 1993, 293). „Wenn man das Ziel wechselt, sobald
ein Hindernis auftaucht, erlangt man zwar ein angenehmeres und leichteres
Leben, aber vermutlich zum Preis von Leere und Sinnlosigkeit“ (Csikszentmihalyi
1993, 292).
[22] Vgl. oben
in diesem Kapitel den Kasten „Freude“.
[23] „Auf
individueller Ebene entspricht [...] Entfremdung der Langeweile“
(Csikszentmihalyi 1993, 121).
[24] Da
individuelle Potenziale brachliegen, können diese folglich auch keinen
gesellschaftlichen Nutzen bringen. „Flow
ist wichtig, weil er [...] uns ermöglicht [...], bedeutsame Beiträge für die
Menschheit zu leisten“ (Csikszentmihalyi 1993, 65). Das Erziehungsziel
„typischer Sowjetmenschen“ verhindert also, dass die motivierten Zöglinge
überhaupt einen qualifizierten Beitrag für die Sowjetgesellschaft leisten
können.
[25] Allerdings
muss der enge Rahmen des Kollektivs nicht jeden Menschen darin behindern, seine
autotelischen Fähigkeiten zu entwickeln. Für andere kann ein enger Rahmen auch flow auslösen. Es gibt z. B.
Fließbandarbeiter, die selbst in einem solch engen Rahmen flow erleben (Csikszentmihalyi 1993, 61).
[26] Die
Bedingungen für das Auftreten von flow sind
noch nicht zufriedenstellend geklärt (Rheinberg 1995, 143 f.).
[27] Hier wird
deutlich, dass Elemente wie Ziele und Konzentration, die das flow-Erleben
beschreiben, im Grunde nicht isoliert betrachtet werden können, sondern sie werden
in dieser Arbeit als analytisch aufgelöst betrachtet.
[28] Am Ende
der Arbeit finden sich diese wie alle weiteren vier Tabellen über die
Reformpädagogen in einer Synopse wieder. Sie macht auf einem Blick ersichtlich,
welches reformpädagogische Konzept welche flow-Kriterien
erfüllt.