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3.3           Montessori: Konzentration

3.3.1       Zur Person

Maria Montessori (1870 - 1952) wird schon als Erstklässlerin als optimistisch, willensstark, diszipliniert, entschlossen und von hohem Selbstvertrauen beschrieben (vgl. Missmahl-Maurer 1994, 20). Unter großen Schwierigkeiten setzt sie sich beharrlich und zielstrebig gegen Konventionen durch (sie entscheidet sich z.B. gegen den Willen ihres Vaters für ein technisches Gymnasium und wird später die erste Medizinstudentin und Ärztin Italiens). Sie lässt sich durch nichts von ihrem inneren Drang, von ihren Überzeugungen ablenken, sondern konzentriert sich auf das, was ihr persönlich wichtig ist. Dies ist möglicherweise ein Grund ihres überzeugten Einsatzes für die freie Entfaltung menschlicher Potenziale.

 

3.3.2       Montessoris Menschenbild

Als Assistenzärztin an der psychiatrischen Universitäts-Klinik in Rom sieht Montessori Kinder leblos auf Bänken liegen. Die Kinder spielen mit Brotbrocken, bevor sie diese essen. Montessori bemerkt, dass diese Kinder geistig ausgehungert sind. Sie sieht, dass Kinder zur Gesundung nicht nur medizinisch, sondern  auch psychologisch versorgt werden müssten. Diese Beobachtung ist ein zentraler Anstoß für Montessori, sich als Ärztin mit der psychischen Entwicklung von Kindern auseinander zu setzen.

In diesem Zusammenhang sieht Montessori den Menschen als Werk der Natur und nimmt an, dass jeder Mensch mit einem „Bauplan der Seele“ ausgestattet sei, das heißt, er habe all die Anlagen in sich, derer er zur Menschwerdung bedarf. Diese Anlagen  „berufen“ ihn, sich voll zu entfalten. Als eigener „Baumeister“ (Montessori 41972, 13 ff.) könne jeder Mensch seine „ungeheuren Möglichkeiten“ (Montessori 41972, 15) nutzen, um sich „aus sich selbst“ (Montessori 41972, 67) eine individuelle „Persönlichkeit“ aufzubauen (Montessori 1973, 73). Die Persönlichkeit entwickle sich in einer „permanenten Steigerung, die von selbst stattfindet“ (Montessori 41976, 90). Diese Entwicklung sei ein „menschliches Vergnügen“[1] (Montessori 41976, 205) und habe „einen Sinn in sich selber“ (Montessori 1995, 27).

Das Kind werde also mit Potenzialen geboren, und es sei seine Berufung, sie in Freude selbst zu verwirklichen und damit seine Persönlichkeit herauszubilden.[2] Die Freude an der Entwicklung der Potenziale finde in einem positiven Kreislauf statt, der sich selbst verfestige.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Teleonomie des Selbst

Betrachtet man Montessoris Menschenbild aus der Sicht der flow-Theorie, so findet man dort auf der Ebene des Menschenbildes den Begriff der Teleonomie des Selbst. Diese Teleonomie des Selbst ist dafür zuständig, dass Personen ihre Potenziale nach einer inneren Zielhierarchie entfalten, nach dem Prinzip: „Du sollst mehr werden als du bist“ (Csikszentmihalyi 1995, 373).

Die Zielhierarchie entwickelt sich, wenn ein Kleinkind beginnt, seine Aufmerksamkeit zu steuern. Dann reift das Selbst heran, etabliert sich zunehmend (Csikszentmihalyi 1991a, 33) und „entwickelt seine eigene Zielhierarchie, die schließlich das Selbst ausmacht“ (Csikszentmihalyi 1991a, 35). Dieses Hauptziel des Selbst, diese Zielhierarchie mittels des flow-Zustandes aufrechtzuerhalten (Csikszentmihalyi 1991a, 37), äußert sich in einem Kreislauf: Erschaffenes formt das Selbst, dadurch wird die Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge gelenkt, und das Selbst fokussiert seinerseits seine Aufmerksamkeit wiederum zielgerichteter. Auf diese Weise erschafft sich jeder Mensch sein Selbst (Csikszentmihalyi 1993, 55).

Montessori sieht genauso wie Csikszentmihalyi den Menschen mit einer inhärenten Entwicklungsmotivation ausgestattet. Sie haben beide die humanistisch geprägte Annahme, dass Menschen „aus sich heraus“ komplexer werden können und wollen. Montessori hat bei „ihren“ Kindern beobachtet, dass dies ein „menschliches Vergnügen“ sei. Genau diesen Aspekt beinhaltet auch die Teleonomie des Selbst: Da sie im flow-Zustand die meiste Übereinstimung mit „der eigenen Zielstruktur hat“, ist der erfreuliche flow-Zustand ihr Hauptziel (Csikszentmihalyi 1991, 35). Montessoris Menschenbild über die inhärente und freudige Entwicklungsmotivation und der Nähe zur Teleonomie des Selbst bietet eine humanistische Grundlage für die Ermöglichung von flow-Erlebnissen.

Montessoris Bild über die menschliche Entwicklung enthält einen weiteren Aspekt: Das Kind entwickle seine volle Persönlichkeit nur dann, wenn es ihm gelinge, sich von der Hilfe des Erwachsenen unabhängig zu machen (Montessori 1973, 52). Andere, d.h. Eltern, Erzieher, Lehrer haben die Aufgabe, dem Kind zu zeigen, wie es sich entwickeln kann: „Lehre mich allein zu handeln! Das Kind verteidigt sich gegen die Hilfe des Erwachsenen, wenn dieser versucht an seine Stelle zu treten“. (Montessori 1973, 51). Das Kind will und soll also allein handeln können. Keiner soll ihm Erkenntnisse vorwegnehmen, keiner soll ihm den Weg dorthin vorsagen. Der Prozess geschehe „unabhängig vom Einfluss der anderen Wesen“ (Montessori 1973, 51). Das heißt, das „Telos des Menschen“ (Böhm 31985, 112) soll von anderen unbeeinträchtigt zur vollen Entfaltung kommen.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Autonomie/ Innere Freiheit

Der Entwicklungsprozess verläuft nach Montessori in einem hohen Maße autonom und  selbstbestimmt. Außenstehende können und dürfen dabei nur behilflich sein. Hektner (1996) hat diesen „Spagat“ der Persönlichkeitsentwicklung zwischen Autonomie und sozialer Eingebundenheit aus der Sicht der flow-Theorie betrachtet: Jeder Jugendliche habe die Fähigkeit, sich zu einer autotelischen Persönlichkeit zu entwickeln. Doch müssten Jugendliche erkennen, dass sie jeweils die Hauptrolle in ihrer eigenen Entwicklung spielen (Hektner 1996, 166).[3] Für Eltern, Schulen usw. bedeutet dies, einen Weg zwischen Behüten und Loslassen zu finden, damit Kinder und Jugendliche langfristig intrinsische Motivation bei ihrer Entwicklung empfinden. Ein Beispiel für die Praxis beschreibt Rathunde (1991, 354): Wahlmöglichkeiten seien nützlich, damit Kinder Entscheidungen selbstbestimmt fällen können.

Montessori hat einen Weg zwischen sozialer Eingebundenheit und Autonomie gefunden. „Lehr mich allein zu handeln“ ist ihr Leitsatz: Erzieher sind wichtig, damit sie die Entwicklung der Kinder optimal unterstützen können. Sie ziehen sich zurück, wenn das Kind unabhängig von anderen konzentriert im Tun aufgeht (Montessori 1999, 47). Die autonome Phase ist also das konzentrierte Tun, während der soziale Kontakt stattfindet, um Kindern zum konzentrierten Tun zu verhelfen. Damit möchte Montessori Kinder zu unabhängigen Menschen erziehen, die ihre eigene Teleonomie des Selbst leben.

Hier zeigt sich also eine Übereinstimmung von Montessoris und Csikszentmihalyis Menschenbild hinsichtlich des autonomen, selbstbestimmten Charakter menschlicher Entwicklungsprozesse. Die Übereinstimmung mit der flow-Forschung unterstreicht die Bedeutung ihres Menschenbildes aus motivationaler Sicht, umgekehrt erfährt die flow-Theorie hier eine anwendbare Erweiterung durch eine lang erprobte pädagogische Praxis. Für das Evozieren von flow bedeutet dies, dass Montessori mit ihrer Ansicht über den Menschen Basisvorrausetzungen schafft, die flow fördern.

 

3.3.3       Erziehungsziel

Das Ziel der Erziehung ist eine normale Entwicklung zu einem normalen Kind. Montessori nennt den Prozess „Normalisation“ oder „Normalisierung“[4]. Das heißt, das Kind sei immer „organisch verknüpft mit den Uranfängen seines eigenen Lebens“ (Montessori 1995, 34). Es verfolge also einen roten Faden, dem gemäß es seine Persönlichkeit aufbaue. Diesen Faden nicht zu zerstören sei das Ziel der Erziehung, damit das Kind in seinem Entwicklungsprozess sein „inneres Gleichgewicht in Harmonie“ (Montessori 1995, 43) erhalte. Die Entwicklung zur Normalität „ist eine große innere Energie“ (Montessori 1994, 123). Deswegen könne sich die Persönlichkeit auch „mit der geringsten Anstrengung und so vollständig wie möglich entwickeln“ (Montessori 41976, 160).

Die Folgen: „besondere Züge“. „Im Bewusstsein ihrer eigenen Kraft“ werden Kinder „Herr über ihr eigenes Tun“ (1994, 14). „Es ist, also ob für die Kräfte, die in ihrer Seele ruhten, ein Weg frei geworden wäre“ (1992, 44). Es seien „arbeitsame und ruhige, disziplinierte“ Kinder, „voll von Liebe und Interesse“ (Montessori 1934/1985, 31), „erfrischt und ausgeruht“, voll „Lebenskraft“ (Montessori 101978, 166) und „innerer Festigkeit“ (Montessori 1995, 21). Sie haben einen „Gesichtsausdruck“ voller „Freude“ (Montessori 101978, 166).

 

 

 

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Autotelische Persönlichkeit

Aus der Sicht der flow-Theorie (Ebene Menschenbild)  sind die positiven Auswirkungen der Normalität bei Montessori vergleichbar mit Eigenschaften einer autotelischen Persönlichkeit: Arbeitsam und voll Lebenskraft sind autotelische Persönlichkeiten, weil sie sich immer wieder neue Herausforderungen suchen (Csikszentmihalyi 1991a, 44). Sie arbeiten erfüllt von Liebe und Leidenschaft (Csikszentmihalyi 1997, 110) und sind diszipliniert (Csikszentmihalyi 1997, 94), sie sind ruhig, weil sie durch flow ihre psychische Ordnung aufrechterhalten (vgl. Einleitung). Dadurch sind sie auch erfrischt und ausgeruht (Csikszentmihalyi 1997, 89). Autotelische Personen zeichnen sich durch eine innere Festigkeit aus, da sie die Teleonomie ihres Selbst leben und sich nicht durch äußere Dinge aus der Bahn werfen lassen. Sie sind also: „Herr über ihr eigenes Tun“.

Diese übereinstimmenden Inhalte der Begriffe Normalisation und autotelische Persönlichkeit legen den Schluss nahe, dass es sich hier um dasselbe Phänomen handelt: lebendige, motivierte und wache Menschen, die viel flow erleben. Da Montessori dieses Menschenbild als Erziehungsziel ausweist, deutet viel darauf hin, dass sie Vorrausetzungen für flow-Erlebnisse zu schaffen scheint.

 

3.3.4       Konzentration

„Als ich meine ersten Versuche [...] mit kleinen Kindern [...] durchführte, beobachtete ich eine etwa dreijähriges Mädchen, das tief versunken war in der Beschäftigung mit einem Einsatzzylinderblock, aus dem es die kleinen Holzzylinder herauszog und wieder an die Stelle steckte. Der Ausdruck des Mädchens zeugte von so intensiver Aufmerksamkeit, dass er für mich eine außerordentliche Offenbarung war [...]. Zu Anfang beobachtete ich die Kleine, ohne sie zu stören, und begann zu zählen, wie oft sie die Übung wiederholte, aber dann, als ich sah, daß sie sehr lange damit fortfuhr, nahm ich das Stühlchen, auf dem sie saß, und stellte Stühlchen und Mädchen auf den Tisch; die Kleine sammelte schnell ihr Steckspiel auf, stellte den Holzblock auf die Armlehnen des kleinen Sessels, legte sich die Zylinder in den Schoß und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Da forderte ich alle Kinder auf zu singen; sie sangen, aber das Mädchen fuhr unbeirrt fort, seine Übungen zu wiederholen, auch nachdem das kurze Lied beendet war. Ich hatte 44 Übungen gezählt, und als es endlich aufhörte, tat es dies unabhängig von den Anreizen der Umgebung, die es hätten stören können; und das Mädchen schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf“ (Montessori 1976, 69f).

Diese Situation ist für Montessori ein „unvergesslicher Eindruck“ und die „Entdeckung“ der Konzentration als pädagogisch bedeutsames Phänomen: „Das ist offenbar der Schlüssel der ganzen Pädagogik: diese kostbaren Augenblicke der Konzentration zu erkennen“ (Montessori 1995, 23), da dieser Schlüssel „die Lösung des ganzen Erziehungsproblems ermöglicht“ (Montessori 1995, 22).[5] Von diesem Zeitpunkt an war es ihr Streben, Gegenstände zu entwickeln, die konzentriertes Arbeiten ermöglichten, und sie begann damit, ihre Methode aufzubauen (ebd.). Die Fähigkeit zur Konzentration oder die „Polarisation der Aufmerksamkeit“ ist ihrer Aussage zufolge ein zentrales Kriterium der Montessori-Pädagogik (vgl. auch Ludwig 1999, 13), nach Montessoris eigener Einschätzung vielleicht sogar der zentrale Maßstab (vgl. Renner 31985, 128; Hane 1994, 13; Informationsblatt der Montessori-Gesellschaft o. J.).

Um zu näher zu zeigen, dass Konzentration einen besonderen Stellenwert in der Montessori-Pädagogik hat, betrachte ich Montessoris Aussagen aus dem Blickwinkel der Konzentration. Diesen Stellenwert möchte ich hervorheben, um für das Auslösen von flow an einem Praxisbeispiel zu zeigen, wie flow-Erlebnisse pädagogisch durch die Betonung von Konzentration ermöglicht werden können. Montessori spricht von diesem Phänomen auf mehreren Ebenen: (1) auf der konzeptionellen Ebene, wie eben beschrieben, indem sie die Konzentration als Schlüssel des Erziehungsproblems sieht. (2) Sie spricht von Konzentration im Zusammenhang mit dem Erziehungsziel, (3) sie stellt konzentriertes Tun inhaltlichen Auseinandersetzungen gegenüber, (4) sie entwickelt Leitlinien für die praktische erzieherische Arbeit und (5) ordnet  dem Phänomen der Konzentration weitere Charakteristika ihrer Pädagogik zu. Diese Punkte werden im folgenden vorgestellt. Vorweg ist noch festzuhalten, dass Konzentration bei Montessori zweierlei bedeutet: zum einen verwendet sie den Begriff als Zustand des vertieften Tuns, zum anderen spricht sie von Konzentration als Voraussetzung für die Vertiefung. Es ist nicht immer klar, wann der Zustand und wann eine Voraussetzung für vertieftes Tun beschrieben wird. Es verschmilzt miteinander, denn Konzentration ist bei Montessori Prozess (Entwicklung zur Normalität) und Zustand (situatives Tun) zugleich.

Ein Argument für die zentrale Bedeutung der Konzentration findet sich im Zusammenhang mit dem Erziehungsziel: Menschen können sich allein durch Konzentration zu „normalen“ Menschen entwickeln weil „die Seele im Inneren auf einen Anreiz reagiert und dabei verweilt“ (Montessori 41976, 89). Anders ausgedrückt: „Die Normalisierung kommt von der ‘Konzentration’ auf eine Arbeit.“ (Montessori 41972, 184) Die Fähigkeit zur Konzentration sei bedeutend für die menschliche Entwicklung, weil sich erst durch Konzentration die inhärente Persönlichkeit voll zur Normalität entwickeln könne. Montessori beruft sich dabei auf William James: Wenn man die ständig vagabundierende Aufmerksamkeit zurückrufen könnte, wäre das „die Erziehung par excellence“ (Montessori 41976, 147) Da die Konzentration die normale Entwicklung steuert, sei sie demzufolge ein wichtiger „Teil des Lebens“ (Montessori 1994, 118). Sie erwachse deshalb auch zu einer wichtigen pädagogischen Frage, da Unkonzentriertheit psychische Abweichungen zur Folge habe.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Bedeutung von Konzentration

Ein Blick in die flow-Forschung verrät dasselbe über die Bedeutung der Konzentration für die menschliche Entwicklung: Menschen, die sich nicht konzentrieren können, lassen sich schnell von zufälligen Reizen einfangen und geben sich oft auch weniger Mühe, Aufmerksamkeit zu investieren (Csikszentmihalyi 1993, 277). Folglich investieren unkonzentrierte Menschen weniger Aufmerksamkeit und suchen weniger zielgerichtet nach sich sukzessiv aufbauenden Herausforderungen. So kann leicht ein Kreislauf der Passivität und Langeweile beginnen. Menschen, die dagegen die Fähigkeit haben, sich zu konzentrieren oder „Vertiefung beizubehalten“, können ihre Aufmerksamkeit bewusst steuern und infolgedessen autotelische Fähigkeiten entwickeln (vgl. Csikszentmihalyi 1993, 278) und den Aufbau ihrer Persönlichkeit steuern (s.o.). Genau dies hat Montessori zum Ziel, wenn sie schreibt, dass Konzentration einwichtiger Teil des Lebens wird, da sie die gesunde Entwicklung ermögliche.

Untersuchungen zeigen die Bedeutung von Konzentration als flow auslösendes Moment: So wird Konzentration z.B. als Hauptauslöser von flow (Massimini, Csikszentmihalyi & Delle Fave 1991, 97) oder als zweitwichtigste Startbedingung[6]  (Massimini, Csikszentmihalyi & Delle Fave 1991, 86) genannt. Jackson und Csikszentmihalyi (2000, 117 ff.) zeigen die Bedeutung von Konzentrationsübungen für das Auslösen von flow.

Neben der auslösenden Funktion ist Konzentration auch ausschlaggebend für den flow-Zustand: Unwillkürliche Konzentration sei das Hauptmerkmal des flow-Zustandes, beschreiben Probanden (Rheinberg 1995, 108). Auch Jackson und Csikszentmihalyi (2000, 115) resümieren, dass Konzentration das sicherste Anzeichen für einen flow-Zustand sei. Schiefele (1996) betont, dass die Aufmerksamkeit bzw. Konzentration bei der Operationalisierung von flow eine wichtige Rolle spielt (ebd., 225) und sie als relevanter flow-Faktor lohnenswerte Untersuchungen ermögliche (ebd., 237). Unklar ist jedoch die Wechselbeziehung zwischen flow und Konzentration: ob Konzentration (neurophysiologisch betrachtet) flow bewirkt oder ob flow die Konzentrationsfähigkeit fördert (Csikszentmihalyi 1993, 123).

Festhalten kann man mit Csikszentmihalyi: „Vertiefung wird durch die Fähigkeit zur Konzentration enorm erleichtert“ (Csikszentmihalyi 1993, 277) und löst zu einem großen Teil flow-Erlebnisse aus (Csikszentmihalyi 1993, 123).[7] Csikszentmihalyis und Montessoris Menschenbilder stimmen an diesem Punkt überein: Sollen sich Menschen zu psychisch gesunden, autotelischen oder normalen Persönlichkeiten entwickeln, ist es wichtig, dass sie sich aktiv auf etwas konzentrieren. Die Bedeutung der Konzentration wird durch erste Untersuchungsergebnisse gestützt. Da Montessori in ihrer Arbeit mit Kindern die Fähigkeit zur Konzentration fördert, erhöht sie die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder in einen Zustand von flow eintreten können.

 

Ein zweiter Hinweis deutet auf die Bedeutung der Konzentration in der Montessori-Pädagogik hin. Montessori misst dem konzentrativen Tun mehr Gewicht für die Entwicklung bei als die Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten. Ihr kommt es nicht darauf an, ob ein Kind mit bestimmten Materialen in einer bestimmten Weise „richtig“ arbeitet. Auf die Konzentration kommt es ihr an. Die Materialien seien nur das Mittel, damit Kinder die Möglichkeit haben, sich in eine Arbeit zu vertiefen. „Wichtig ist nicht der äußere Gegenstand, sondern die Tatsache, dass die Seele im Inneren auf einen Anreiz reagiert und dabei verweilt“ (Montessori 1976, 89). Es ist also nicht wichtig, „dass das Kind mit dem Material richtig umgeht, sondern dass das Material die Aufmerksamkeit des Kindes auf sich gezogen hat“ (Montessori 1994, 123). Die Dimension dieser Aussage wird stringent auf erziehungsphilosophischer Ebene weitergeführt: In der Montessori-Pädagogik haben Erzieherinnen „zwei Aufgaben: die Kinder zur Konzentration zu führen und danach ihnen in der Entwicklung zu helfen“ (Montessori 131995,  24). Hier zeigt sich also auf der Ebene des praktischen Erziehungskonzepts, dass zuerst die Konzentrationsfähigkeit und -möglichkeit Beachtung finden, dann erst kommen Inhaltsfragen. Die Konzentration hat bei Montessori also einen zentralen Stellenwert in Erziehungsprozessen: Sie bestimmt den Prozess der Normalisation und ist im pädagogischen Alltag maßgeblicher als bestimmte inhaltliche Fragestellungen. Doch sie stellt nicht das „Ergebnis einer Erziehungsmethode“ dar (Montessori 1994, 118), denn in dem Fall würde Konzentration eine bloße erzieherische Disziplinarübung bedeuten. Konzentration ist verwurzelter, sie ist „eine allgemeine Eigenschaft der menschlichen Seele“ (Montessori 1995, 22), die Begleitung des normalen Seins.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Verinnerlichung von flow-Strukturen

Die relativ geringe Bedeutung von Inhalten im Verglich zu strukturellen Eigenschaften findet sich auch in der flow-Theorie (Ebene der Auslöser) im Zusammenhang mit der Frage über den Transfer wieder. „Die meisten [der Befragten, Anm. I.P.] sind allerdings der Meinung, dass der richtige Weg nicht in der Intensivierung dieser Aktivität liegt, sondern in der Verinnerlichung der strukturellen Eigenschaften, welche dieses Erleben hervorbringen. Dieses Erleben kann für beliebig andere Situationen verallgemeinert werden, in denen sich das Individuum findet oder einrichtet“ (Csikszentmihalyi 1985, 132).[8] Sollen Menschen also oft flow erleben können, ist es  nützlicher, die Struktur des qualitativen Erlebens zu verinnerlichen, als eine Tätigkeit inhaltlich so oft wie möglich zu wiederholen. Montessori betont wie Csikszentmihalyi die Wichtigkeit der formalen Struktur der Erlebensqualität, damit vertieftes Tun erlernt und in beliebig anderen Situationen angewendet werden kann. „Wichtig ist nicht der äußere Gegenstand“ oder die inhaltliche „Intensivierung der Aktivität“, weil es die Struktur des flow-Zustandes ist, die verinnerlicht werden soll. Dann tritt Transfer auf oder Lernerfolge stellen sich ein, und konzentriertes Tun bzw. flow kann erzieherisch wirksam werden. Durch welche Tätigkeit die flow-Struktur dann im einzelnen erworben wird, spielt eine sekundäre Rolle.

Salopp ausgedrückt trifft Montessori aus der Sicht flow auslösender Bedingungen den Nagel auf den Kopf, wenn sie die Bedeutung der Konzentration als formale Fähigkeit hervorhebt und Inhaltsfragen an zweite Stelle stellt. Auf diese Weise unterstützt sie die Möglichkeit, dass sich Kinder quasi auf einer Metaebene in die Struktur von flow eingewöhnen und damit ihre Fähigkeit zum konzentrierten Tun sowie ihre autotelische Entwicklung voranbringen. Folglich können sie unabhängig von dem Inhalt einer Tätigkeit flow erleben. Eine Verinnerlichung der Strukturen ermöglicht langfristig flow-Erlebnisse.

 

Die Zuordnung anderer pädagogischer Merkmale zur Konzentration betont ebenfalls den Stellenwert der Konzentration in der Montessori-Pädagogik. Ein paar Beispiele: (1) Seit Montessoris Entdeckung der Konzentration war es ihr Streben, Materialien zu entwickeln, die konzentriertes Tun ermöglichen (Montessori 1995, 22). (2) Die Umgebung wird entsprechend vorbereitet: „Zu diesem Zweck müssen sich Motive in der Umgebung befinden, die geeignet sind, diese Aufmerksamkeit wachzurufen“ (Montessori 1972, 184). (3) Die Erzieher werden darauf geschult, auf diese „kostbaren Augenblicke“ zu achten und Kinder nicht in ihrem Tun zu unterbrechen (Montessori 131995, 24). (4) Regelmäßige Stille- und Sinnesübungen (Montessori 1999, 100 ff.) sind auf die Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit ausgerichtet (Helming 141992, 59) und (5) eine innere Disziplin ist das Ergebnis des konzentrierten Tuns (Montessori 1999, 118). Zentrale Begriffe der Montessori-Pädagogik hängen also mit dem Phänomen der Konzentration zusammen. So steht konzentriertes Tun nicht für sich als „bezugsloses“ Merkmal im Montessori-Konzept, das irgendwann Erwähnung findet, sondern die Konzentration ist stimmig in andere erzieherische Merkmale eingebettet.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Konzentration als Ziel und Mittel für flow

Konzentration hat bei Montessori also einen pädagogisch konzeptionellen zentralen Stellenwert. Das bedeutet für eine Betrachtungsweise aus der Sicht der flow auslösender Bedingungen: Da Montessori grundsätzlich von der Möglichkeit und Fähigkeit zur Konzentration ausgeht, legt sie erstens einen fundamentalen Grundstein, der eine Eintrittswahrscheinlichkeit für flow-Erlebnisse erhöht. Zweitens betrachtet Montessori Konzentration nicht als irgendeinen pädagogischen Baustein, sondern baut darauf ihre Pädagogik auf verschiedenen Ebenen auf, wie z.B. die Materialien oder die praktischen Erzieherprinzipien.  Folglich erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass konzentriertes Tun möglich wird und Kinder zusätzlich über die konzeptionelle „Hilfe“ in einen flow-Zustand kommen (wobei dann weitere flow-Merkmale, wie etwa Herausforderungen oder Kontrollerfahrungen, den flow-Zustand mit aufbauen, dazu genauer am Ende des Kapitels).

Bei Montessori verkörpert das Element der Konzentration also einmal einen pädagogisch wertvollen Erlebenszustand, der gefördert werden soll (Erziehungsziel). Andererseits dient Konzentration auch als flow-fördernde Leitlinie, da andere Aspekte ihrer Pädagogik darauf ausgerichtet sind (Erziehungsmittel). Festhalten möchte ich: Diese kompakte, zweiseitige Herangehensweise über ein bestimmtes Kriterium erhöht die Chance, dass flow ausgelöst werden kann.

 

Was versteht Montessori nun im einzelnen unter dem Zustand „Konzentration“ oder „Polarisation der Aufmerksamkeit“? Sie umschreibt diesen situativen Zustand als „Zustand der völligen Sammlung“ (Montessori 1995, 21), „Versenken der Seele“ (Montessori 1995, 22), „Feuer des Interesses“ (Montessori 1998, 113) oder: „Es schien, als hätte sich in einer gesättigten Lösung ein Kristallisationspunkt gebildet, um den sich dann die gesamte chaotische und unbeständige Masse zur Bildung eines wunderbaren Kristalls vereinte.“ (Montessori 41976, 70)[9].

Montessori veranschaulicht nicht nur den Erlebenszustand, zugleich differenziert sie Konzentration als einen Erlebenszustand. Sie sei (1) eine „psychische Reaktion“ (Montessori 41976, 75), weil das Kind auf einen Anreiz reagiere, der mit seinen inneren Zielen harmoniert. Konzentration sei (2) auch zu verstehen als „geistiges Phänomen, das das ganze Bewusstsein des Erwachsenen mit einbeziehen kann“ (Montessori 1995, 18). Die Konzentration stellt also auch eine kognitive Leistung dar, weil Ablenkendes nicht beachtet wird. Der Zustand der Konzentration beinhaltet also eine emotionale wie auch eine kognitive Leistung.

 

 

 

Aus der Sicht der Flow-Theorie: Psyche und Kognition

Montessori beschreibt sehr bildlich einen Erlebenszustand, der auch auf die Beschreibung des flow-Zustandes passen würde. In der flow-Theorie werden beispielsweise auf der Zustandsebene Ausdrücke benutzt wie Selbstvergessenheit, Verschmelzen mit Handlung und Bewusstein, psychische Ordnung, konzentriertes Aufgehen im Tun. Obwohl es in der Sprache der flow-Theorie etwas weniger bildlich zugeht als bei Montessori, scheinen doch beide das gleiche Phänomen auszudrücken.

Betrachtet man Montessoris Differenzierung des konzentrativen Erlebens aus der Sicht der flow-Theorie bzw. des flow-Zustandes, so zeigen sich Übereinstimmungen mit einem flow-Erlebnis. Ein flow-Erlebnis kann (1) als psychische Reaktion des Selbst verstanden werden, da das Selbst die Tendenz hat, Ziele zu verfolgen. Dies äußert sich z.B. darin, dass eine Person Interesse an einem Gegenstand entwickelt.[10] Flow ist (2) aber auch eine kognitive Leistung, da Menschen im flow-Zustand ihre Aufmerksamkeit auf eine Sache lenken, irrelevante Reize ausblenden, diese im flow-Zustand parallel als solche definiert haben, um sie gleichzeitig ignorieren zu können (vgl. Csikszentmihalyi 1991, 30 ff.).

Diese beiden voneinander abhängigen[11] Momente des flow-Zustandes hat Montessori erkannt. Sie beschreibt nicht nur den Erlebenszustand an sich, sondern gibt der Qualität des Erlebens mit emotionaler und kognitiver Betrachtung psychologische Tiefe. Diese differenzierte Übereinstimmung mit dem flow-Zustand legt den Schluss nahe, dass Montessori dem flow-Phänomen erzieherische Bedeutung zuspricht.

 

3.3.5       Konzentrationszyklus

Während bisher die Bedeutung und der Begriff von Konzentration in der Montessori-Pädagogik vorgestellt wurde, folgt nun ein genauerer Blick auf den Verlauf des konzentrierten Zustandes. Montessori beschreibt konzentriertes Tun nicht als einen homogenen Block von Aufmerksamkeit, sondern sie betrachtet versunkenes Handeln als „Entwicklung der inneren Aktivitäten“ und stellt es in vier Phasen dar:

1.  die Phase der Einübung;

2.  die große Arbeit;

3.  das innere Beenden der großen Arbeit,

4.  die Phase der Ruhe und Entdeckung.

Diese Phasen sind im Folgenden ein zentraler Hinweis auf das Vorhandensein des flow-Phänomens: Montessori ermöglicht mit ihrer Pädagogik nicht Konzentration, sondern sie schildert, wie konzentriertes Tun beginnt und endet. Mit diesem mikroskopischen Blick beschreibt Montessori auf der Mikroebene einer konzentrierten Phase das, was bei der Entwicklung von flow-Aktivitäten auf der Makroebene passiert. Allerdings ist die Entwicklung auf der Makroebene in der flow-Forschung nicht explizit in diesen Phasen beschrieben worden (diese Parallele ziehe ich aus meinem Vorverständnis über flow). Die von Montessori beschreibenen Phasen sind aus der Sicht der flow-Theorie ein Beispiel dafür, dass sich das flow-Konzept durch einen Blick in die pädagogische Vergangenheit weiterentwickeln kann.

 

Die Phase der Einübung

Montessori spricht drei Dinge in dieser kurzen vorbereitenden Phase an: die Entscheidung, das Ich und die Müdigkeit. Sie hängen miteinander zusammen. Das Kind müsse sich entscheiden, womit es arbeiten oder spielen möchte. Zum Beispiel: „’Die Staubtücher haben hübsche Farbe [sic.], die Besen sind bunt bemalt, und die kleinen Bürsten sind ebenso anziehend wie die kleinen runden oder rechteckigen Seifenstückchen. Es ist, als ob sie dem Kind zurufen würden: Komm rühr mich an, benütze mich’“ (Montessori zit. in Holstiege 1997, 99 f.). Das Kind muss in der Phase der Einübung also auswählen, worauf es seine Aufmerksamkeit richten möchte.

Denn „wenn wir keine ‘klaren Vorstellungen’ der Dinge haben, kann unsere Arbeit sehr schwierig werden“ (Montessori 41976, 171). Um eine Klarheit zu bekommen, muss man sich also entscheiden. Dies fällt bei Montessori unter die Phase der Einübung, weil das Kind „nach der tiefsten Befriedigung seines Interesses“ (Montessori 41976, 96 f.) suche, das heißt, es sucht nach einer Übereinstimmung des „Ichs“[12] mit einer jeweiligen Tätigkeit. Die Qualität des Erlebens in dieser ersten Phase des konzentrierten Tuns bedeute „eine wahre Anstrengung“, weil „diese Angst“ da sei, „einen ‘Fehler zu begehen’“. Deshalb löse sie auch „scheinbare Müdigkeit“ aus (Montessori 41976, 171 f.). Entscheidungen sind also nicht immer leicht und können ermüden, weil sie zum Aufbau einer authentischen Persönlichkeit mit dem „Ich“ übereinstimmen sollen.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Entscheidungen[13]

Aus der Sicht flow auslösender Bedingungen schaffen Entscheidungen Klarheit. Montessori beschreibt hier eine Situation, die Csikszentmihalyi wie folgt zusammenfasst: „Wenn man wachsen und sein Leben genießen will, muss man eine höhere Ordnung aus der Entropie schaffen“ (Csikszentmihalyi 1993, 227, das heißt, man muss sich intensiv bemühen, um das „verflochtene Netz widersprüchlicher Ziele [zu] entwirren und das eine auszuwählen, was unseren Handlungen Sinn verleiht“ (Csikszentmihalyi 1993, 295). Das Kind hat bei Montessori am Anfang die Qual der Wahl. Es muss das Netz der Attraktionen entwirren und für sich herausfinden, was Sinn macht. Hier kommt nun die Teleonomie des Selbst (das „Ich“) mit ins Spiel: Das Schwierige und darum Ermüdende scheint zu sein, eine Entscheidung zu fällen, die der Zielhierarchie des Selbst gerecht wird. Die Entscheidung soll also „wirklich“ Sinn machen und „tiefste Befriedigung“ des Interesses zulassen. Da der „Normalzustand des Geistes chaotisch“ ist, ist es mit Mühe verbunden herauszufinden, welche Tätigkeiten mit der Teleonomie des Selbst (des „Ichs“) übereinstimmen (Csikszentmihalyi 1993, 161) und folglich Sinn für einen „Entscheider“ machen. Deshalb kann dieser Prozess ermüdend wirken.

 

Montessori beschreibt hier ein Grundprinzip für die Förderung von flow durch Entscheidungen: Eine persönlich als richtig empfundene Entscheidung reduziert das Gefühl der psychischen Unordnung. Weil das Ausgesuchte stimmig ist mit dem, was als Persönlichkeit schon vorhanden ist, kann sich die Teleonomie des Selbst realisieren. Somit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten in den flow-Zustand (Csikszentmihalyi 1985, 121). Montessori hat also, wie die flow-Forschung, Entscheidungen als flow-förderlich erkannt. Aus diesem Grund erleichtert die Montessori-Pädagogik mit ihrer vorbereiteten Umgebung Entscheidungen (Montessori 41976, 315). Das erhöht bei Montessori das „Repertoire“ flow auslösender Bedingungen.

 

Die zweite Phase: die große Arbeit

Die Phase der großen Arbeit dauert, so Montessori, im Vergleich zu der einübenden viel länger. Das Kind hat sich für „eine neue und schwierige Beschäftigung“ (Montessori 41976, 97) entschieden und „richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf sie, vertieft sich und gibt sich mit ganzer Seele der Arbeit hin. Es löst sich für eine geraume Zeit gleichsam von seiner Umgebung los“ (Montessori, zit. in: Holstiege 1997, 100).

Auf diese Phase kommt es Montessori aus erzieherischer Sicht an: Das Kind befinde sich nun in einem Stadium der Entdeckung, der „’Assimilation’ oder der ‘inneren Reifung’“. Es entdecke seine Potenziale und entwickle nun aktiv seine Persönlichkeit: „Das Kind studiert sich selbst in seinen eigenen Werken“ (Montessori 41976, 102 f.). Aufgrund der erfreulichen inhärenten Wachstumsmotivation sind normale Kinder motiviert, immer wieder in so einen Zustand der großen Arbeit zu gelangen.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Intensiver flow

Aus der Sicht der flow-Theorie befindet sich diese Beschreibung der großen Arbeit auf der Ebene des flow-Zustandes und der Ebene der Voraussetzung. Montessori beschreibt einen Zustand des konzentrierten Tuns (sich mit ganzer Seele tief hingeben), den die flow-Forschung „intensiven“ oder „tiefen flow“ nennt (Csikszentmihalyi 1985, 119 ff.). Intensiver flow beinhaltet besonders stark das Gefühl von Transzendenz: Der Mensch verschmilzt mit der Umgebung, löst sich von irdischen Problemen und fühlt sich sehr klar.[14] Tiefer flow tritt seltener auf (Csikszentmihalyi 1985, 123) als das „normale“ flow-Erlebnis, und zwar vorwiegend dann, wenn ein Mensch ein „gewisses Maß an Erfahrung, Fertigkeit und physischer Verfassung erreicht“ hat (Csikszentmihalyi 1985, 121).[15] Anders ausgedrückt: Tiefer flow tritt vorwiegend dann auf, wenn sich Menschen permanent neue Herausforderungen suchen und ihre Fähigkeiten differenzieren. Dadurch werden Wachstum und Entdeckung gefördert (Csikszentmihalyi 1993, 108), Menschen entwickeln sich also besonders durch eine Folge solcher intensiven (erweiterten) flow-Erlebnisse zu autotelischen Persönlichkeiten (Csikszentmihalyi 1997). Die Phase der großen Arbeit ist auf der Erlebensebene äquivalent zu intensiven flow-Erlebnissen. Sie wird bei Montessori durch eine neue Anforderung ausgelöst.

Hier kommt jetzt die Betrachtung eines flow auslösenden Aspektes hinzu: Anlaß der großen Arbeit ist „eine neue und schwierige Beschäftigung“, eine Herausforderung also. Die flow-Forschung stellt Herausforderung als eine zentrale Bedingung für das Auslösen von flow dar.[16] Montessori und Csikszentmihalyi unterstreichen beide die Bedeutung erhöhter Anforderungen als Voraussetzung für das Aufgehen im Tun. Mit dieser Übereinstimmung über die Vorrausetzung für intensiven flow weist die Montessori-Pädagogik eine weitere flow-förderliche Bedingung auf.

An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, welches Gewicht konzentriertes Tun bzw. das flow-Phänomen in der Montessori-Pädagogik hat: Es ist der pädagogisch gewollte Zustand. Damit kann auch die Frage beantwortet werden, ob Montessori das flow-Phänomen aus erzieherischer Sicht überhaupt wollte: Ja, sie bezeichnet das konzentrierte Tun als einen „der konstanten Aspekte des Vorgangs der ‘inneren Bildung’“ (Montessori 41976, 71). Der Stellenwert von Konzentration ist also zentral in ihrer Pädagogik. Somit kann davon ausgegangen werden, dass Montessori flow mit ihrer Pädagogik fördern wollte und ihr dies vermutlich auch gelungen ist. Wahrscheinlich evoziert dieser Ansatz heute noch flow (vgl. Fischer 1999b). Inwieweit bei Montessori weitere flow-Elemente neben der Konzentration vorhanden sind, die das flow-Phänomen auslösen können, wird weiter unten aufgeführt.

 

Die dritte Phase: Das innere Beenden der großen Arbeit

Die Konzentration auf eine Sache währt Montessori zufolge so lange, bis „die größte Anstrengung sich spontan erschöpft hat“ (Montessori 41976, 102). Das Kind erlebt eine Art „psychische Sättigung“ (Karsten 1928), die das konzentrierte Tun abschließe: Das Kind „hörte auf, als innerlich etwas beendet war [ .]. Etwas hatte sich innerlich ereignet, was von großer Bedeutung war“ (Montessori 1994, 121).

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Ein Entwicklungsschritt des Selbst

Auf der Ebene der Auslösebedingungen beschreibt Csikszentmihalyi unter anderem ein Modell der dialektischen Spannung zwischen Differenzierung und Integration, um zu zeigen, wie das Selbst stufenweise wächst und zugleich immer wieder etwas innerlich beendet. Integration bedeutet mit externen Dingen eine Verbindung einzugehen, wie etwa andere Gedanken aufzunehmen. Diese differenzieren dann — optimalerweise als eine Herausforderung — die Fähigkeiten. Dadurch reift das Selbst (Csikszentmihalyi 1993, 289 ff.). Ein Prozess der Differenzierung ist beendet, wenn das Fähigkeitsniveau gestiegen ist. Dies ist nach Montessori von großer Bedeutung, weil das Selbst ein Stück gewachsen ist. Das Wachstum mündet in einen spontanen Handlungsstopp, eine psychische Sättigung (Karsten 1928, 188). Jetzt müssen neue Anforderungen integriert werden, damit der flow-Zustand aufrechterhalten werden kann. Die psychische Sättigung tritt wiederum dann ein, wenn etwas innerlich beendet ist und Menschen nicht weiter vorankommen (Karsten 1928, 179). Montessori zeigt hier auf also zwei Ebenen, wie das psychische Wachstum oder die Normalisation schrittweise funktioniert: Das Selbst oder „Ich“ (Ebene 1 — Menschenbild) hat sich zu einem bestimmten Grad differenziert und äußert dies als Erlebenszustand (Ebene 2 — flow-Zustand), indem es innerlich etwas beendet.

Montessori formuliert etwas, das in der flow-Forschung noch nicht genauer beachtet worden ist: das Ende eines flow-Erlebnisses. Es heißt zwar, dass flow situativ ist, aber wann der situative Zeitpunkt vorbei ist oder wie genau ein Prozess der Beendigung abläuft, ist nicht näher untersucht. Vielleicht ist es zur derzeitigen Forschungslage auch noch nicht dringend genug, da der Schwerpunkt darauf liegt, überhaupt genauer zu verstehen, was flow-förderlich und -hinderlich wirken kann. Hier kann der reformpädagogische Ansatz von Montessori der jüngeren flow-Theorie möglicherweise einen wichtigen — vor allem praxiserfahrenen — Hinweis liefern, nämlich dass ein innerliches Abschließen wichtig ist, damit sich Kinder zur psychisch gesunden, autotelischen Personen entwickeln (vgl. Holstiege 1987, 70).

 

Montessori hebt die Bedeutung eines innerlichen Abschließen[17] für eine gesunde Entwicklung hervor. Dadurch können sich Kinder immer wieder mit einem freien Kopf neuen Herausforderungen stellen. Damit wird die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten in den flow-Zustand erhöht.

 

Die vierte Phase: Ruhe und Entdeckung

Der Zyklus des konzentrierten Tuns ist mit einem spontanen Abschluss noch nicht beendet. Er klingt, so Montessori,  mit der vierten Phase aus: Es folgt eine „Pause mit ihren Zeichen von Erleichterung und Ausgeglichenheit“ (Montessori 41976, 102). Die Konzentration ende „mit Zeichen der Freude“. Diese Phase bedeutet auch ein „Vergleichsstadium“ (Montessori 41976 102), in dem die eigene Arbeit anderen gegenübergestellt werden kann. Hier wird das eigene Schaffen also quasi von einer Vogelperspektive noch einmal entdeckt, indem es ins Verhältnis zu anderen Arbeiten gesetzt wird.

Montessori betont die „‘Vollendung’ eines vollen Zyklus“, weil sich das Kind nicht nur zu einer inneren Konzentration hingezogen fühlt, sondern für immer die Haltung des Denkens und sein inneres Gleichgewicht behält. „damit wird es zu einer Persönlichkeit und hat eine höhere Stufe erreicht“ das Kind wird somit „Herr seiner selbst“.(Montessori 41976, 103). Die Phasen der Konzentration sind also ein geschlossener Kreislauf, und alle Phasen müssen durchlaufen werden, damit das Kind normal wird (vgl. Holstiege 1986, 70).

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Freude und Entspannung

Aus der Sicht von flow beschreibt Montessori die unmittelbaren Folgen eines flow-Zustandes. Nach einem flow-Erlebnis gehen Menschen zufrieden aus einer Situation hervor, sie freuen sich über ihr getanes Werk (Csikszentmihalyi 1993, 70 f.).

Um die Fähigkeit zum flow langfristig aufrecht zu erhalten ist Entspannung wichtig, da durch Reflexion und Entspannung z.B. eine „Bestandsaufnahme“ erfolgen kann, die den Weg zur autotelischen Persönlichkeit glättet (vgl. Csikszentmihalyi 1997, 503 ff.). Anders ausgedrückt: Da das Handeln im flow-Zustand auf hohem Fähigkeitsniveau angesiedelt ist und Menschen viel leisten (Csikszentmihalyi 1993, 106), leben autotelische Menschen in einem „Rhythmus von Aktivität und anschließender Entspannung“ (Csikszentmihalyi 1997, 90).[18] In den Pausen laden sie ihre „Batterie“ wieder auf (Csikszentmihalyi 1997, 503 f.).[19] Auf diese Weise behalten sie langfristig ihre Motivation und Frische (Csikszentmihalyi 1997, 89) und scheinen auch nicht auszubrennen (LeFevre 1991, 325).

Das Thema Entspannung steht in der flow-Forschung nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem flow-Zyklus. Aus der differenzierten Schilderung der Reformpädagogin kann die flow-Forschung lernen: Möglicherweise gehört zu einem flow-Erlebnis eine Art Halo-Effekt (Phasen: Entscheidung, innerliches Beenden und Ausklang), wenn flow pädagogisch gewinnbringend eingesetzt werden will. Denkbar ist, dass erst dieser Halo-Effekt der drei Phasen erweiterten flow und autotelisches Wachstum ermöglicht oder die erzieherische Qualität von flow-Erlebnissen „garantiert“: Eine Entscheidung ermöglicht ein Gefühl von psychischer Ordnung; eine innerliche Beendigung macht den Kopf frei für die Auseinandersetzung mit neuen Anforderungen und Ausklang und Entspannung füllen die „Batterien“ wieder auf.

Auf einzelne Kennzeichen, die Montessori als zusammenhängenden Zyklus beschreibt, hat Csikszentmihalyi bereits hingewiesen.[20] Möglicherweise sind aus erzieherischer Sicht jedoch alle drei Aspekte zusammengenommen wichtig, damit sich Menschen durch das Erleben des gesamten Zyklus zu autotelischen Persönlichkeiten entwickeln und diese Form des Seins auch aufrechterhalten können.[21] Montessori jedenfalls legt viel Wert auf die Vollendung eines Zyklus. Damit schafft sie optimale Bedingungen für eine innere Klarheit, die zu Wachstum durch erweiterte flow-Erlebnisse bereit ist.

 

3.3.6       Auswirkungen von evozierter Konzentration

Wie eingangs beschrieben hat Montessori das Ziel, dass sich Kinder durch konzentriertes Tun zu „normalen“ Menschen entwickeln. Die sich festigende Normalität verbessere bei den Kindern nicht nur die Fähigkeit zur Konzentration, sondern wirke sich auch auf die Charakterzüge aus (Montessori 1992, 44): „Besondere Unarten“ oder unnormale „Charakterzüge verschwanden allesamt, ohne dass man sich mit dem einen oder anderen direkt befasst hätte“ (Montessori 31985, 33).[22] Es entstehe das allgemeine Gefühl von „Ordnung“ (Montessori 1992, 44).

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Generalisierungseffekt[23]

Montessori beschreibt eine Auswirkung des konzentrierten Tuns, die LeFevre Generalisierungseffekt nennt: Es ist zu „vermuten, dass es einen Generalisierungseffekt der flow-Erfahrung auf das übrige Leben gibt“ (LeFevre 1991, 323). Das heißt, wenn Menschen in einer Aktivität flow erleben, fühlen sie sich auch in anderen Bereichen ihres Lebens außerhalb von flow-Zuständen „glücklicher, heiterer, freundlicher und umgänglicher“ (Massimini & Carli 1991, 311). Montessori hat ebenso wie LeFevre erkannt, dass konzentriertes Tun oder der flow-Zustand auf andere Situationen ausstrahlt: „Besondere Unarten“ verschwinden. Mit dieser Auswirkung zeigt sich, dass das Erziehungsziel erreicht wird, denn wenn „unnormale“ Charaktereigenschaften verschwinden, ist dies ein Zeichen dafür, dass die Kinder auf einem Weg der Normalität und einer gesunden Entwicklung sind. Mit dieser Auswirkung des konzentrierten Tuns lässt sich inhaltlich an das eingangs beschriebene Erziehungsziel der Montessori-Pädagogik anknüpfen: Die Auswirkungen des konzentrierten Tuns bzw. flow gelangen mit der Normalität in Einklang. Da konzentriertes Tun auf andere Bereiche des Lebens ausstrahlt und folglich Normalität bewirkt, kann man annehmen, dass Montessori flow ausgelöst hat. Denn das flow-Phänomen wird im Rahmen ihrer Pädagogik erzieherisch wirksam.

 

Eine weitere wichtige Folge des konzentrierten Tuns, die unmittelbar mit dem Verschwinden der Unarten verbunden ist und sich eben schon angedeutet hat, ist das Gefühl innerer Ordnung: „Das Prinzip der Ordnung“ muss „offenbar“ von der „geheimnisvollen und verborgenen Quelle“ (Montessori 1992, 44) des konzentrierten Tuns hervorgehen. „Alles Unorganisierte und Unbeständige [scheint sich] im Bewusstsein des Kindes zu einer inneren Schöpfung zu organisieren“ (Montessori 1976, 70). Eine seelische Ordnung ist also Konsequenz des konzentrierten Tuns. Diese innerlich empfundene Ordnung sei charakteristisch für normale Kinder. Ein erstes „äußeres Zeichen“ für eine sich innerlich formende Ordnung sei z.B. Disziplin (Montessori 41976, 87).

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Psychische Ordnung

Das Empfinden psychischer Ordnung zeigt sich auf drei Ebenen der flow-Theorie: (1) Sie ist Begleiterscheinung autotelischen Erlebens: Im flow selbst fühlen sich Menschen ruhig, klar und glauben Kontrolle über die Situation zu haben. (2) Eine innere Ordnung resultiert aus flow-Erlebnissen: Menschen fühlen sich innerlich ruhig und zufrieden. (3) Psychische Ordnung kennzeichnet autotelische Personen: Sie sind z.B. ausgeglichener, zielstrebiger und besitzen mehr Selbstvertrauen als andere (vgl. Einleitung). Bei einem Prozess der zunehmenden inneren Ordnung sind diese drei Ebenen miteinander verzahnt: Ordnung empfinden Menschen während und nach einer flow-Situation, während sie gleichzeitig ihre innere autotelische Struktur festigen. Diese Verzahnung und einen daraus resultierenden Kreislauf scheint Montessori bei ihren Kindern in Gang gesetzt zu haben: Sie arbeiten konzentriert und gehen ein Stück „normaler“ aus diesen Situationen hervor.

Die psychische Ordnung als zweite Auswirkung des konzentrierten Tuns belegt ebenfalls wie der Generalisierungseffekt den Prozess der Normalisation durch die Montessori-Pädagogik. Es schließt sich der Bogen der Erziehung also noch ein Stück weiter zu einer in sich stimmigen Pädagogik: Nachdem die Unarten verschwinden, ermöglicht dieses Harmoniegefühl einen schnelleren und gezielteren Zugang zu flow. Das wiederum stabilisiert die Entwicklung zur Normalisation bzw. zur autotelischen Persönlichkeit. Mit diesem positiven Kreislauf (vgl. Montessori 41976, 103) hat Montessori das flow-Phänomen womöglich ausgelöst und eine Spirale autotelischen Seins in Gang gesetzt.

 

Eine dritte Auswirkung des konzentrierten Tuns knüpft inhaltlich an das hier eingangs beschriebene Erziehungsziel Normalisation an: Montessori zeigt, dass das Kind seine Persönlichkeit als eigener Baumeister permanent und konsequent weiter aufbaut: Das Kind „verlangt nach den Dingen nur noch in dem Ausmaß, wie sie dieser inneren Entwicklung, die es nun fühlt und versteht, dienlich sind“ (Montessori 31985, 39). Es such sich also nur die Situationen, die den Aufbau der Persönlichkeit ermöglichen. Auf diesem Wege zu seiner Persönlichkeit erreiche es jedesmal eine „höhere Stufe“ (Montessori 41976, 103). Das Kind fühle, dass es „zu leben beginnt“.[24]

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Teleonomie des Selbst

Diese Auswirkung beschreibt das, was im Menschenbild der flow-Theorie als Teleonomie des Selbst bezeichnet wird. Montessori und Csikszentmihalyi beschreiben beide, dass es eine innere Prioritätensetzung gibt, die die Entwicklung der Persönlichkeit bzw. das autotelische Wachstum steuert. Diese Konsequenz des konzentrierten Tuns knüpft als eine dritte Auswirkung ebenfalls an das Erziehungsziel an. Damit schließe ich die Betrachtungen über den in sich stimmigen Zusammenhang von Auswirkungen des konzentrierten Tuns bzw. flow mit dem Erziehungsziel der Normalisation: (1) ein Generalisierungseffekt hilft Unarten zu nivellieren und psychische Ordnung aufzubauen, (2) ein Gefühl psychischer Ordnung ermöglicht dem inneren „Baumeister“ oder der Teleonomie des Selbst, gezielter ans Werk zu gehen. (3) Dies wiederum intensiviert die innere Ordnung und führt das Selbst zu einem nächsten Entwicklungsschritt. Somit kann sich autotelisches Wachstum oder die Normalisierung festigen. Das Ziel der Erziehung wird sukzessive erreicht. Ein Prozess dieser Art setzt erweiterte flow-Erlebnisse voraus und ermöglicht diese auch wieder. Das flow-Phänomen hat bei Montessori also einen bedeutsamen Stellenwert.

 

Montessori zeigt auch, was passiert, wenn ein Kind nicht konzentriert arbeiten kann: Wenn es seine Potenziale nicht entfalten kann, weil sein „inneres Wachstum erstickt worden ist“ (Montessori 1995, 43), entwickle es sich zu einem unnormalen oder anormalen Kind, das sich „zwischen den Dingen in einem niederen chaotischen Zustand“ verlieren würde (Montessori 1995, 18), weil es nicht „mit den Uranfängen seines eigenen Lebens“ (Montessori 1995, 43) verbunden ist. Als Folge solch psychischer Unordnung vermöge das Kind nicht, seine ihm innewohnende Anlage zu entwickeln, sondern könne nur „in Spaltung“ „kümmerliche Wege“ gehen. „Seine Persönlichkeit ist zerrissen“ (Montessori 1995, 43). Im Alltag äußere sich dies z.B. als „Launenhaftigkeit“, „Angst“, „Nörgelei“, „Flatterhaftigkeit“, oder „Schüchternheit“. Jedoch sei die Lage eines unnormalen Kindes aus pädagogischer Sicht nicht hoffnungslos, denn „jedes noch so fehlgeleitete Individuum besitzt die Tendenz, zur Normalität zurückzukehren“ (Montessori 1994, 119).[25] Diese Betrachtungsweise komplettiert die Bedeutung des konzentrierten Tuns, weil sie umgekehrt zeigt, dass das Fehlen von Konzentration auch nicht zur Normalisation führt. Das heißt, um einen erzieherischen Effekt zu erreichen, ist konzentriertes Tun wichtig.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: flow-Entzug

Montessori beschreibt hier einen Zustand, der an den des flow-Entzuges erinnert. Probanden, die versucht haben flow für 48 Stunden zu vermeiden, beschrieben Auswirkungen, die den Eigentümlichkeiten der unnormalen Kindern ähneln: Unkonzentriertheit, körperliche Beschwerden wie Kopfschmerzen, Nervosität. Sie fühlen sich gehemmter und schwächer (Csikszentmihalyi 1985, 191). Beobachtungen von Montessori und Csikszentmihalyi stimmen also auch auf der Ebene der flow-Deprivation überein.

Vergleicht man die längerfristigen Auswirkungen von flow-Entzug bei Csikszentmihalyi und Montessori, so lassen sich ebenfalls Übereinstimmungen erkennen. Montessori bezeichnet unnormale Kinder als zerrissene Persönlichkeiten, die nicht mit sich selbst in Kontakt stehen. Csikszentmihalyi schlussfolgert aus den Ergebnissen über flow-Entzug, dass „ein Zusammenhang zwischen dem Fehlen von flow und schweren Lebenskrisen bestehen“ könnte (Csikszentmihalyi 1985, 192). Montessori sowie Csikszentmihalyi beschreiben also beide Psychopathologien bei fehlenden Möglichkeiten, sich in etwas zu vertiefen: innere Zerrissenheit und Lebenskrisen. Auf der Ebene des flow-Zustandes wird deutlich, dass das Fehlen von flow kaum zur Bildung von autotelischen Fähigkeiten führt. Die übereinstimmenden Beobachtungen sind ein Anhaltspunkt mehr, dass Montessori eine flow-nahe Pädagogik konzipiert hat.

 

3.3.7       Weitere flow-Elemente

Bisher ist die Bedeutung der Konzentration und des konzentrierten Tuns und die damit verbundenen pädagogischen Kriterien der Montessori-Pädagogik beschrieben worden. Damit sind die ersten zwei hermeneutischen Schritte der „Horizontverschmelzung“ dargestellt: (1) Die Montessori-Pädagogik wurde aus der Perspektive der Konzentration beschrieben, weil das Phänomen des konzentrierten Tuns mit einem Kriterium der flow-Theorie übereinstimmt und deshalb flow auslösende Wirkung haben kann. (2) Die einzelnen charakteristischen Kriterien der Montessori-Pädagogik wurden aus der Sicht der flow-Theorie dargestellt und erklärt, um zu zeigen, dass sich viele Kennzeichen der Montessori-Pädagogik flow-förderlich zeigen.

In diesem Abschnitt werden weitere Aspekte der Montessori-Pädagogik beschrieben, die mit Elementen des flow-Zustandes übereinstimmen. Mit diesem dritten Schritt des hermeneutischen Vorgehens wird gezeigt, dass nicht nur die Konzentration eine flow-förderliche Wirkung zu haben scheint, sondern dass es auch weitere flow begünstigende Elemente in der Montessori-Pädagogik gibt, die mit den Elementen des flow-Erlebens übereinstimmen. Denn je mehr Übereinstimmung es mit den flow-Elementen gibt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das flow-Phänomen in Montessori-Einrichtungen damals tatsächlich evoziert wurde. Im Folgenden wird vorgestellt, welche weiteren flow-förderlichen Elemente Montessori beschreibt.

Hier soll noch einmal auf das Vorgehen hingewiesen werden. In den Texten von Montessori ist in erster Linie nicht nach bestimmten Wörtern gesucht worden, die mit Begriffen der flow-Theorie übereinstimmen. Die Sprache von Montessori ist „übersetzt“ und mit Phänomenen verglichen worden, die flow ähneln, das bedeutet dass „implizite Textstellen“ auf flow-Kompatibilität untersucht und darstellt werden. Ein Beispiel: Das Bild „Erwachen aus einem erholsamen Schlaf“ wird als veränderte Zeitwahrnehmung gedeutet. Montessori spricht nicht direkt von einem veränderten Zeitgefühl, jedoch lässt dieses Bild einen Rückschluss auf veränderte Zeitwahrnehmung zu, da die Zeit im Schlaf genauso schnell zu vergehen scheint wie im flow. Ihre sprachlichen Bilder werden also aufgrund meines Verständnisses ihrer Konzeption und der flow-Theorie ausgelegt (vgl. dazu genauer Kapitel 2).

Herausforderung: Montessoris Konzept fördert das Meistern von Herausforderungen. Ihr Menschenbild gibt dazu den ersten Hinweis, sie geht davon aus, dass jeder Mensch seine Potenziale in „einer permanenten Steigerung“ voll entfaltet. Um also seine Persönlichkeit zu entwickeln, müssen sich Menschen ständig selbst herausfordern. Auf Herausforderungen ausgelegt ist zweitens auch eine Maxime der Erziehertätigkeit: Die Pädagogen und Erzieher sollen den Kindern bei ihrer Entwicklung helfen (Montessori 1999, 47). Das heißt, sie antizipieren Entwicklungsschritte der Kinder und schaffen z.B. eine „vorbereitete Umgebung“, die zum Handeln herausfordert. Auf diese Weise helfen sie dem Kind, immer wieder neue Aufgaben zu bewältigen (Montessori 41976, 120 ff.).[26] Das von ihr konzipierte pädagogische Material ist ein dritter Hinweis auf Herausforderungen in der Montessori-Pädagogik: Es ermöglicht den Fähigkeitserwerb „stufenweise“ (Montessori 41976, 78). Auf einer vierten Ebene schließlich, auf der Tätigkeitsebene des Kindes selbst, beschreibt Montessori direkt den herausfordernden Charakter von Situationen: Kinder suchen sich „eine neue und schwierige Beschäftigung“ aus (Montessori 1976, 97), um in einen Zustand des konzentrierten Tuns zu gelangen. Montessori ermöglicht in ihrer Pädagogik also Herausforderungen, da ihre Erziehungsphilosophie grundsätzlich auf Wachstum ausrichtet ist und sie darauf entsprechende Erziehungsprinzipien aufbaut. Herausforderungen sind neben der Konzentration also eine weitere Vorrausetzung in der Montessori-Pädagogik, die grundsätzlich flow-Erlebnisse auslösen können.

Ziele: Montessori setzt Kindern keine Ziele, weder durch das pädagogische Material (Montessori 131995, 32) noch in einer Aufgabenstellung.[27] Das Kind hat den ganzen Tag „freie Wahl“, da es „von starken inneren Motiven geleitet wird“ (Montessori 131995, 33). Dies unterscheide sich von der Arbeitsweise der Erwachsenen, diese arbeiten zielstrebig und schnell, was das Kind jedoch nicht täte. Dem Kind ist alles „nur Mittel zur Bildung der Persönlichkeit“ (Montessori 131995, 32). Deshalb überlässt Montessori „es der Umgebung, das Kind in seiner Arbeit zu leiten“ (Montessori 131995, 34) denn „allein die Befriedigung des inneren Bedürfnisses setzt der Tätigkeit ein Ende“ (Montessori 131995, 33).

Hier beginnt sich eine Differenzierung von Zielen abzuzeichnen, und zwar gibt Montessori keine extrinsisch orientierten Ziele vor, die das Handeln auf ein bestimmtes Ergebnis hinsteuern, sondern sie ermöglicht intrinsisch motivierende Ziele (Montessori 41976, 146). Diese Art von Ziel hat den Vorteil, dass sich die Kinder ganz auf die Bildung ihrer Persönlichkeit konzentrieren können und auch Kontrolle über ihr Tun bekommen. Dagegen würden extrinsisch orientierte Ziele, die ein Ergebnis verlangen, womöglich darauf hinauslaufen, dass sich die Kinder untereinander vergleichen, wer „besser“ ist. Die Aufmerksamkeit würde möglicherweise nicht mehr voll auf das Tun gerichtet sein, sondern würde ablenken (vgl. Jackson & Csikszentmihalyi 2000, 88 f.). Montessori begründet, warum sie keine extrinsischen Ziele setzt: „Ein Kind, das sich in der richtigen Umgebung ungestört entwickelt, kommt ganz von selbst zu seiner Zeit dazu, zielbewusst zu arbeiten“ (Montessori 131995, 32)[28].

Auch hier liegt die Begründung in ihrem Menschenbild. Sie geht von einer starken inneren Triebkraft aus, die es quasi überflüssig macht, Kindern extrinsische Ziele zu setzen, weil sich mit zunehmender Entwicklung zur Normalität intrinsisch bedeutende Ziele einstellen. Zu diesen Ergebnissen kommt unter anderem auch die flow-Forschung und beschreibt dies mit den Begriffen autotelische Persönlichkeit und Teleonomie des Selbst: Intrinsisch motivierende Ziele bauen den Menschen in seiner Persönlichkeit auf. Daraus entwickle sich eine innere Zielhierarchie und aus dieser entstehe dann eine Zielstrebigkeit. Es mündet in einen sich gegenseitig verstärkenden Kreislauf.[29]

Zusammenfassend kann man also festhalten, dass Montessori keine extrinsisch orientierten Ziele setzt, sondern Wert auf intrinsische Motivation legt. Diese hat für das pädagogische Auslösen von flow möglicherweise eine höhere Bedeutung als extrinsisch motivierende Ziele, da intrinsisch motivierende Ziele „näher am Selbst dran sind“ und somit vielleicht als realistischer gelten (Jackson & Csikszentmihalyi 2000, 91). Andererseits können auch extrinsisch orientierte Ziele eine große Herausforderung sein, wenn sie mit intrinsischen übereinstimmen. Montessori hat intrinsisch motivierenden Zielen den Vorrang gegeben, vermutlich weil diese mit „der tiefsten Befriedigung [...des kindlichen] Interesses“ (Montessori 41976, 96 f.) eher übereinstimmen als extrinsische Ziele. Darum ermöglichen sie auch Normalisation „mit der geringsten Anstrengung und so vollständig wie möglich“ (Montessori 41976, 160). Intrinsisch motivierende Ziele sind also eine weitere flow-förderliche Voraussetzung neben der Konzentration.

Struktur: Montessori bietet den Kindern Struktur. Nicht in dem Sinne, wie Struktur vielleicht als didaktisch begründeter Stundenplan bekannt ist oder als Disziplin in Form von Gehorsam Lehrern und ihren „Befehlen“ gegenüber („sitz still“, „rede nicht“, usw.). Ihre Struktur lehnt sich an die Möglichkeit an, sich innerlich weiterzuentwickeln. Beispielsweise strukturiert sie (1) die Umgebung, damit die Kinder nicht abgelenkt werden, sie gibt (2) Handlungsanregungen für Erzieher oder (3) ritualisiert bestimmte Übungen. (4) Sie regelt den Tagesablauf und die dazugehörigen Aufgaben. Dazu etwas genauer.

(1) Die vorbereitete Umgebung motiviert Kinder zu arbeiten. Diese Umgebung zeigt sich in einer charakteristischen Ordnung (Helming 141992, 32), sie ist eine klar gegliederte Umgebung, die anregend wirkt und Orientierung gibt (Holstiege 1987, 88). Diese gepflegte Umgebung ermöglicht „psychische Hygiene“ (Montessori 41976, 136 f.) durch große Räume und schlichtes Mobiliar. Inhaltlich muss sich die Umgebung nach dem Entwicklungsstand der Kinder richten, das heißt zum Beispiel, dass nicht benötigtes Material magaziniert wird, da überfüllte Räume Kinder ablenken und die Konzentration auf einen Gegenstand erschwere. Zudem muss die Umgebung herausfordernde Dinge beinhalten, damit Lernprozesse weiterlaufen. Dies nennt Montessori didaktisches Prinzip der „‘Umgebung von ‘progressiven Interessen’ “ (Holstiege 1987, 89). Die Umgebung sollte es ermöglichen, mindestens einmal am Tag einen Konzentrationszyklus zu durchlaufen und sich in eine Arbeit zu vertiefen, damit sich Kinder durch konzentriertes Tun beständig weiterentwickeln (Holstiege 1987, 89).

(2) Neben der strukturierten Umgebung gibt Montessori z.B. den Erziehern Anregung für den Umgang mit Kindern (Montessori 1998, 148) und Anleitungen zum psychologischen Beobachten (Montessori 1976, 118). Damit sollen Erzieher es den Kindern ermöglichen, ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln.

(3) Montessori richtet regelmäßige Sinnes- und Stilleübungen ein und bereitet diese gemeinsam mit den Kindern ritualisiert vor (Montessori 1998, 84 f.). Eine weitere Struktur gibt Montessori, indem sie dem Bedürfnis der Kinder nach Wiederholung Raum gibt (Holstiege 1987, 65) und Übungen im Einzelfall für die Kinder abstuft (Montessori 1998, 117).

(4) Auch der Tagesablauf ist in einem Kinderhaus strukturiert: eine Frühstückspause findet z.B. gegen 10 Uhr statt, jedoch nicht um genau 10 Uhr. Die Pause beginnt wie von alleine: Einzelne Kinder fangen an die Tische zu decken, nach und nach kommen andere Kinder hinzu, die ihre Arbeit beendet haben (Helming 1992, 32). Auch für das Mittagessen gibt es klare Regeln: die Kinder decken auf, füllen sich gegenseitig nach und räumen wieder ab (Montessori 1998, 116).

Die Struktur in der Montessori-Pädagogik zeichnet sich also dadurch aus, dass sie sich an die Prinzipien der Potenzialentwicklung anlehnt. Die Struktur tritt nicht als „preußischer Taktgeber“ zutage, der Handlungen abzirkelt oder technisiert. Die Struktur beachtet individuelle Rhythmen. Damit erfüllt sie ein weiteres Kriterium neben der Konzentration, das für das Evozieren von flow günstig ist.

Kontrolle und Feedback: Montessori war es wichtig, dass das Arbeits- oder Entwicklungsmaterial, sowie Stille- und Sinnesübungen (vgl. Montessori 1999, 79 ff.) Kontrollerfahrungen ermöglichen, damit das Kind „seinen Forschungstrieb befriedigen und Kenntnisse erwerben“ und somit „gemäß seiner Natur arbeiten“ könne (Montessori 131995, 35). Dies solle stufenweise stattfinden (Montessori 41976, 78). Auf diese Weise würden die Kinder Interesse an einem Gegenstand aufbauen und durch Feedback und Kontrolle die Richtung der Aktivität lenken (Montessori 41976, 76). Kinder können somit grundsätzlich ihre Fehler selbst finden und korrigieren. Montessori sieht in der Erfahrung von Kontrolle und Feedback einen „Selbsterziehungsprozess“ (Montessori 41976, 76), der Kinder zur Normalität führe.[30]

Montessori unterscheidet zwischen einer mechanischen und einer psychologischen Kontrollerfahrung. Der Einsatzzylinderblock etwa ermöglicht zu Beginn „eine sehr mechanische Kontrolle“: Die verschieden großen Zylinder werden so lange richtig einsortiert, bis alle an ihren Platz passen. In einer zweiten Stufe wird dann die Fehlerkontrolle psychologisch. Das Kind hat sich im Laufe seiner Übungen an die „mechanischen“ Größenunterschiede der Zylinder gewöhnt und sieht den Fehler vor dem Einsetzen der Zylinder selbst, weil Farben und Formen psychologische Unterschiede hervorheben. Somit kann das Interesse an einer Aktivität infolge mechanischer, dann psychologischer Fehlerkontrolle über einen längeren Zeitraum erhalten bleiben.

Die Motivation, die für ein Kind hinter solchem interessiertem Problemlösen steht, sei „neue Einsichten zu gewinnen, nämlich: die Größenunterschiede der Zylinder zu erkennen, die es vorher nicht wahrnahm“ (Montessori 41976, 77). Um diese Erkenntnisse zu ermöglichen, ohne dass ein Erzieher in einen Entwicklungsprozess unterbrechend eingreifen müsste, hat die Fehlerkontrolle einen wichtigen Stellenwert (sie spielt auch bei der Auswahl der pädagogischen Materialien eine Rolle). Die Fehlerkontrolle soll auch „das Zusammenwirken höherer Aktivitäten wachrufen“ (Montessori 41976, 77), wie etwa durch die Möglichkeit, Dinge zu vergleichen (Montessori 41976, 77). Das heißt, das Material mit seiner Fehlerkontrolle motiviert mit seinem „Feedback“ dazu, weitere Erkenntnisse gewinnen zu wollen. Sie hat also Auslösefunktion für konzentriertes Arbeiten bzw. flow. Die Bedeutung der Fehlerkontrolle zeigt, dass Montessoris Pädagogik ein weiteres flow-förderliches Merkmal umzusetzen scheint.

Freiheit: Damit sich Kinder zu normalen Kindern entwickeln können, sie also ihre „schöpferische Kraft“ (Montessori 1994, 119) „gemäß dem Drang der Natur“ (Montessori 1994, 123) frei entfalten können, ist Freiheit wichtig. „Wenn wir von freien Kindern sprechen, denken wir an diese Kraft, die zum rechten Aufbau der Kinder frei sein muss, diesem Zweck müssen wir helfen“ (Montessori 1998; 1999, 45). Das Thema Freiheit knüpft bei Montessori an ihr Menschenbild an. Freiheit bedeutet bei Montessori nicht „‘Vernachlässigung’“ (Montessori 41976, 19) oder dass Kinder tun und lassen können, was sie wollen.[31] Freiheit bedeutet vielmehr, dass die Kinder lernen, unabhängig zu handeln. Und dieses Handeln stellt Montessori in einem Rahmen: Erstens soll man „spontaner Entwicklung Freiheit lassen“ (Montessori 131995,  20) und zweitens einem Freiraum Grenzen setzen (Steenberg 1997, 83; Montessori 1998, 47). Sie betont, dass die Annahme eines unbegrenzten Raumes nicht sinnvoll ist, weil „man sich nur innerhalb bestimmter Grenzen realisieren kann“ (Montessori, zit. in Holstiege 1987, 16).[32] So soll die Freiheit mit ihren Grenzen folglich „das richtige Maß zwischen Übertreibung und Mangel an Raum und an Dingen“ ermöglichen (Montessori, zit. in Holstiege 1987, 17).

Montessori betrachtet die Freiheit nicht nur aus der Sicht der Pädagogen — was diese tun müssen, damit sich Kinder frei entfalten können — sie betrachtet es auch aus der Sicht der Kinder selbst. Freiheit müssen die Kinder als Teil ihrer sich normal entwickelnden Persönlichkeit aktiv selbst mit aufbauen (vgl. Holstiege 1987, 15). Sie müssen lernen, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Es geht also darum, als Erzieher ein gewisses Maß an Freiheit zu geben, aber auch als Kind zu lernen, mit Freiheit und Grenzen umzugehen. Montessori ermöglicht also Freiheit, in der Kinder ihre Fähigkeiten und Interessen in einem Rahmen entfalten können. Freiheit in Grenzen ist eine Voraussetzung, die einen Zugang zu flow ermöglicht (vgl Rathunde 1991, 354).

Selbstvergessenheit kann man bei Montessori wiederfinden als „Versenken der Seele“ (Montessori 1995, 22). Diesen Ausdruck gebraucht sie im Zusammenhang mit dem tief konzentrierten Tun. Das konzentrierte Kind ist dermaßen in eine Tätigkeit versunken, dass es sich in diesem Momenten selbst vergisst und später aus diesem nichtreflexiven Zustand wie „aus einem erholsamen Schlaf“ (siehe unten) erwacht. Montessori beschreibt das Phänomen der Selbstvergessenheit also bildlich: Die Seele versinkt während des Tuns in einen schlafartigen, also eine Art intuitiven oder unbewussten Zustand, in dem das Kind von der Umwelt abgeschieden handelt und bestimmte Dinge ausblendet: Das Kind nimmt nur das wahr, was für das Tun relevant ist. Die Selbstvergessenheit wird in dem oft von Montessori angeführten Beispiel deutlich, in dem ein Kind in sein Steckspiel vertieft ist und sich nicht ablenken oder unterbrechen lässt (siehe oben). Selbstvergessenheit als Auswirkung der Montessori-Pädagogik stimmt mit einem weiteren flow-Element überein.

Veränderte Zeitwahrnehmung. In Montessoris bildhafter Beschreibung hört sich die veränderte Zeitwahrnehmung wie folgt an: Das Kind „löst sich für eine geraume Zeit von seiner Umgebung los“ (Montessori, zit. in Holstiege 1997, 100) und „schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf“ (Montessori 131995, 18). Das Kind handelt also eine geraume unbeobachtete Zeit, wie im Schlaf zeitlich von der Umgebung abgeschieden. Montessoris Sprache zeigt, wie dicht Selbstvergessenheit und veränderte Zeitwahrnehmung bei Montessori zusammenliegen. Der Schlaf kann einmal als veränderte Zeitwahrnehmung interpretiert werden, aber auch, um einen veränderten Bewusstseinszustand darzustellen. Auch dieses flow-Element kann bei Montessori wiedergefunden werden und weist auf ein flow-Phänomen hin.

Zusammenfassung der flow-förderlichen Bedingungen: Aus der Sicht von flow auslösenden Bedingungen ist ein Hauptkennzeichen der Montessori-Pädagogik die Ermöglichung von Konzentration. Des Weiteren ermöglicht sie Herausforderungen, intrinsisch motivierende Ziele, klare Strukturen, Kontrolle und Feedback sowie Freiheit zur Entwicklung von Potenzialen. Selbstvergessenheit und veränderte Zeitwahrnehmung beschreibt Montessori übereinstimmend mit flow-Elementen. Die folgende Tabelle[33] zeigt zusammenfassend, welche Aussagen von Montessori bestimmten flow-Elementen zugeordnet werden können (wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich die Quellenangeben auf die Autorin Montessori):

1.    Konzentration

„Das ist offenbar der Schlüssel der ganzen Pädagogik: Diese kostbaren Augenblicke der Konzentration zu erkennen“ (131995, 22); „intensive Aufmerksamkeit“ (41976, 69);[34] „dass die Seele im Inneren auf einen Anreiz reagiert und dabei verweilt“ (41976, 89).

2.    Herausforderungen

Freie Entfaltung der Potenziale durch „eine neue und schwierige Beschäftigung“ (41976, 97).

3.    Zielvorgaben

Intrinsisch motivierende: „Allein die Befriedigung des inneren Bedürfnisses setzt der Tätigkeit ein Ende“ (131995, 33). Sie setzt keine extrinsisch motivierenden Zielvorgaben.

4.    Struktur

Z.B. natürliche Ordnung der vorbereiteten Umgebung für die „psychische Hygiene“ (41976, 136); Rituale bei Stilleübungen;  „Anleitung zu psychologischen Beobachtungen“ (41976, 118).

5.    Kontrolle

     &

6.    Feedback

Fehlerkontrolle: „Forschungstrieb befriedigen“, „Einsichten gewinnen“ (131995, 35).

7.    Freiheit

„Spontaner Entwicklung Freiheit lassen“ (13 1995, 20). Man kann „sich nur innerhalb bestimmter Grenzen realisieren“ (zit. in Holstiege 1987, 16); „Herr über eigenes Tun“ (1994, 14).

8.    Selbstvergessenheit

    (als Charakteristikum

     von flow)

„Versenken der Seele“ (131995, 22).

9.    veränderte Zeitwahrnehmung

(als Charakteristikum von flow)

Das Kind „löst sich für eine geraume Zeit von seiner Umgebung los“ (zit. in Holstiege 1997, 100); „das Mädchen schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf“ (131995, 18).

Tabelle 3.3.1. Flow-Elemente in der Montessori-Pädagogik [35]

 

Aus der Sicht der flow-Theorie kann man in Montessoris Pädagogik also neun Merkmale wiederfinden, die mit den Elementen des flow-Zustandes übereinstimmen. Jedes Element kann vor dem Hintergrund der Kausalitätsfeststellung von Csikszentmihalyi (Csikszentmihalyi 1993, 278) den Eintritt in einen flow-Zustand ermöglichen und zieht alle anderen Elemente nach sich, wenn das flow-Erlebnis dann einsetzt. Da jedoch allein eine Möglichkeit zur Konzentration noch kein flow auslösen muss, sind auch die anderen Bedingungen wichtig, damit sich die flow-Erfahrung entwickeln kann. Montessoris pädagogischer Ansatz ermöglicht nicht nur Konzentration, sondern auch weitere Bedingungen, die sich zusammen zu einer flow-Erfahrung entwickeln können. Dabei sind die Elemente „Selbstvergessenheit“ und „veränderte Zeitwahrnehmung“ nicht als flow auslösende Elemente zu betrachten, sondern sie charakterisieren den flow-Zustand bzw. das konzentrierte Tun. Sie fungieren also nicht als potentieller flow-Auslöser, sondern dienen quasi als zusätzliche „Beweise“ für das Auftreten des flow-Zustandes

Ein Beispiel für das Zusammenwirken dieser Elemente: Kinder sollen — so das Erziehungsziel von Montessori — in den Zustand des konzentrativen Tuns kommen, weil sie sich so zu einer psychisch gesunden Persönlichkeit entwickeln können. Da dieses versunkene Tun für die Kinder erfreulich ist, suchen sie sich, animiert durch die auffordernde Umgebung und das pädagogische Material, ihren Fähigkeiten entsprechend „eine schwierige Aufgabe“, das heißt eine Herausforderung bzw. intrinsisch motivierende Ziele. Damit das Tun aufrechterhalten bleibt, gibt das Material „stufenweise“ Rückmeldungen über das Fortkommen der Handlung, die Kinder bekommen somit Kontrolle über ihr Tun, da sie Fehler sehen und sie korrigieren können. Die Tätigkeit wird in einem selbstvergessenen, „zeitlosen“ Zustand so lange aufrechterhalten, bis es zu einem innerlichen Abschluss kommt. Dieser individuelle Entwicklungsprozess (der in einem Konzentrationszyklus stufenweise durchlaufen wird) wird durch die konzeptionelle Struktur der Erziehungsmethode ermöglicht (bestimmte Vorbereitung der Umgebung, Auswahl des Materials sowie bestimmte regelmäßige Übungen). Diese Struktur lässt den Kindern Freiheit für ihre Entwicklung, setzt aber auch Grenzen. Diese Betrachtungsweise (aus dem Blickwinkel von Konzentration) zeigt, wie flow-förderliche Elemente bei Montessori zusammenhängen können, so dass sie sich gegenseitig zu einer flow-Erfahrung ergänzen. Anders ausgedrückt: Konzentration kann als ein zentraler Ausgangspunkt für flow in der Montessori-Pädagogik gelten, der dann auch umgehend die anderen Elemente nach sich ziehen kann.

Betrachtet man nun die Anzahl der flow-förderlichen Elemente bei Montessori, so erfüllt ihre Pädagogik sieben von sieben Kriterien[36], die flow auslösende Wirkung haben können und die bei ihr konzeptionell eng miteinander in Verbindung stehen. Daraus schließe ich, dass Montessori zum einen ein Phänomen auslösen wollte, das dem flow-Phänomen gleicht, zweitens das ihre Pädagogik offenbar das flow-Phänomen ausgelöst hat und drittens ihre Pädagogik vermutlich heute noch flow auslöst (vgl. Fischer 1999b).

 

3.3.8       Bedeutung für die Erziehung

Hier möchte ich mit dem vierten hermeneutischen Schritt meines Vorgehens zeigen, dass Montessori allein durch das Evozieren von flow Kinder erzieht, auch wenn flow in ihrer Pädagogik ein beiläufiges Phänomen sein sollte (Ich habe das flow-Phänomen nicht ins Verhältnis zu anderen Aspekten ihrer Pädagogik gesetzt, das heißt, ich habe keinen einen absoluten Stellenwert des flow-Phänomens in der Montessori-Pädagogik herausgearbeitet, sondern lediglich aufgezeigt, dass sie dieses Phänomen wahrscheinlich ausgelöst hat). Dass die Montessori-Pädagogik generell positive Erziehungserfolge aufweist, zeigt ihre Aktualität, die weite Verbreitung ihres pädagogischen Ansatzes und die Diskussion dieses Ansatzes in der Fachliteratur (Böhm 1985; Helming 1992; Holstiege 1987, 1997; Ludwig 1999; z.B. Montessori 1998). Im folgenden beleuchte ich vier zentrale Aspekte von Erziehung (vgl. Einleitung), die durch das Evozieren von flow realisiert werden. Damit kann zum Schluss die Relevanz des flow-Phänomens in Montessoris Pädagogik angedeutet werden. Dieser vierte Schritt des methodischen Vorgehens soll also zeigen, dass das Erzeugen von flow bei Montessori pädagogisch sinnvoll ist.

1. Das Erziehungsziel. „Körperlich gesund, geistig klar und seelisch ruhig“ (Lauff 1999) sind autotelische Menschen. Montessori verfolgt dieses Erziehungsziel und nennt es Normalisation. Im Wesentlichen fördert sie die Normalisation durch die „kostbaren Augenblicke der Konzentration“, die „offenbar der Schlüssel der ganzen Pädagogik“ sind (Montessori 1995, 23). Montessori beschreibt dies zum einen als einen situativen Zustand des Erlebens, was dem flow-Phänomen äquivalent ist, zum andern auch als eine flow-förderliche Voraussetzung, um wieder konzentriert arbeiten zu können (unter anderem kreiert sie erzieherische Situationen entsprechend). Es ist in ihrer Konzeption ein sich selbst festigender Prozess, der sich auch generalisierend positiv auf andere Eigenschaften auswirkt und schließlich zur Normalisation führt. Das Erziehungsziel von Montessori stimmt dabei mit dem von Lauff (1999) definierten Aspekt von Erziehung (siehe Kapitel eins) und Csikszentmihalyis autotelischem Idealmenschen (Csikszentmihalyi 1985, 233) überein: Kinder sind unter anderem voll von „Lebenskraft“, leben eine innere „Harmonie“ und sind nicht „flatterhaft“ (vgl. Montessori 1995, 34).

Das Erziehungsziel der Normalisation ist auf drei Ebenen der flow-Theorie greifbar: (1) auf der Ebene des Menschenbildes, weil die Pädagogin die humanistische Annahme hat, dass Menschen ihre Anlagen voll entfalten und sich normal entwickeln. (2) Normalisation wirkt auch erzieherisch auf der Ebene des flow-Zustandes, da das Phänomen des konzentrierten Tuns mit dem flow-Phänomen nahezu identisch ist. Und (3) erzieht Montessori auf der Ebene der flow-förderlichen Bedingungen, da sie eine konzentrationsfördernde „vorbereitete Umgebung“ für die Möglichkeit zur Vertiefung bereitstellt. Das Erziehungsziel wird also aus der Sicht der flow-Theorie auf drei Ebenen gleichzeitig erreicht. Diese Verflochtenheit gibt Montessoris Ansatz Tiefe und macht ihre Konzeption in sich schlüssig und folglich erzieherisch wirksam.

2. Die „stellvertretende Verantwortung“ (Lauff 1999). Montessori übernimmt die stellvertretende Verantwortung dafür, dass Kinder ihr Wachstum und ihre Entwicklung verwirklichen können: Die Kinder sollen sich bei Montessori als „eigener Baumeister“ selbst entwickeln. „Hilf mir, allein zu handeln“ ist das zentrale Prinzip ihrer Pädagogik. Die Erwachsenen haben die Aufgabe, eine normale Entwicklung der Kinder im konzentrativen Tun zu ermöglichen (s.o.). In der Sprache der flow-Theorie fördert sie die Entwicklung einer Teleonomie des Selbst, damit sich Kinder zu einer autotelischen Persönlichkeit entfalten. Sie zeigt sich also verantwortlich für das Wachstum der Kinder. Dieser Aspekt von Erziehung begründet sich im Wesentlichen im Menschenbild, denn Montessori nimmt an, dass Kinder in einem Rahmen, für den sie sich als Pädagogin verantwortlich zeigt, ihre natürlichen Anlagen entfalten.

Hier setzt ein Kritikpunkt an der Montessori-Pädagogik an: Montessori beachte den Menschen im Zusammenhang mit der Normalisierung per definitionem zu wenig als soziales Wesen mit „dialogisch-personalen Momenten“ (Böhm 1994, 479), da das Erziehungsziel durch selbsttätige Auseinandersetzung mit Materialien erfolge und nicht durch soziale Kontakte definiert werde (Hoverath 1992, 17). Die Erzieher sollen sich zurückhalten, wenn es um die Beziehung des Kindes zur Umwelt geht. Eine empirische Studie unterstützt die zwar Aussage, dass sozialer Interaktion in Montessori-Einrichtungen eine hohe Bedeutung zukommt: Kinder bekommen z.B. ihre Lernkontrolle zu 25,3% über den Lehrer, zu 42,2% durch andere Kinder und zu 32,6% über das Material (Fischer 1999a). Doch berücksichtige Montessori dies zu wenig im Prozess der normalen Entwicklung.[37]

Betrachtet man diesen Kritikpunkt aus der Sicht von flow und der stellvertretenden Verantwortung als Erziehungsmerkmal, so ist eine Vernachlässigung der sozialen Komponente in gewisser Hinsicht sogar wichtig, da Menschen (aus der Sicht des Menschenbildes der flow-Theorie) idealerweise lernen sollten, sich für das eigene autotelische Erleben stark zu machen. Sie sollten sich nicht von anderen abhängig machen, indem sie z.B. etwas tun, nur um von anderen anerkannt zu werden. Solch auf Dauer extrinsisch orientiertes Verhalten verhindere autotelisches Wachstum (Csikszentmihalyi 1997, 108, 509). Montessoris Ansatz ist für die Förderung von flow also positiv, weil es die intrinsische Motivation in den Vordergrund stellt. Insofern erfüllt Montessoris Pädagogik auch aus einer diesbezüglich kritischen Sicht heraus das flow-förderliche, erzieherische Kriterium der stellvertretenden Verantwortung.

3. Die Werdenskraft. Die Kinder können ihre „Werdenskraft“ (Lauff 1999), ihre „ungeheuren Möglichkeiten“ verwirklichen. Das Kind wird dazu angeleitet, sich nur noch mit Dingen zu beschäftigen, die „dieser inneren Entwicklung, die es nun fühlt und versteht, dienlich sind“ (Montessori 31985, 39). So können Kinder ihrem inneren Drang nach Komplexität verfolgen und ihre Persönlichkeit entwickeln. Die Förderung der Werdenskraft bei Montessori stimmt mit dem überein, was Csikszentmihalyi als Teleonomie des Selbst bezeichnet, eine Instanz im menschlichen Bewusstsein, die Ziele innerlich nach Prioritäten hierarchisiert und somit einen inneren Leitfaden hat, wie sich Potenziale am besten entwickeln können. Montessoris Ansatz erfüllt also auch ein drittes Kriterium aus der Sicht einer „Erziehung durch flow“. Die Werdenskraft kann bei Montessori besonders auf der Ebene des flow-Zustandes eingeordnet werden, da Menschen im Zustand von flow „werden“.

Kritiker sprechen davon, dass Montessori nicht das selbständige Wachstum ermöglicht, sondern Kinder durch die vorbereitete Umgebung entmündigt, da Erzieher z.B. entscheiden, welches Arbeitsmaterial verfügbar sein soll, welches magaziniert wird (vgl. Hoverath, 1992, 17). Diese Kritik bezieht sich auf eine inhaltliche Ebene: Kinder, so uist die Argumentation, könnten sich nicht frei entfalten, weil sie sich nicht etwas aus einer gegenständlichen Vielfalt aussuchen könnten, womit sie arbeiten wollten. Jedoch kommt es Montessori weniger auf den Inhalt an (s.o.), sondern auf die Möglichkeit, sich konzentriert mit etwas auseinandersetzen zu können und somit die Struktur des Erlebens für die Entwicklung zu verinnerlichen. Dafür sind Inhalte weniger wichtig. Betrachtet man die Kritik an Montessoris vorbereiteter Umgebung aus der Sicht der flow-Theorie, so kann der Aspekt der Entmündigung nicht unterstützt werden, denn Montessori ermöglicht mit ausgewähltem Material die Entwicklung autotelischer Fähigkeiten und fördert somit die Werdenskraft.

4. Die Entwicklungs- und Lebenshilfe. Montessori leistet „Entwicklungs- und Lebenshilfe“[38] (vgl. Hane 1994, 9 f.), ein zentrales Anliegen ist, dass sich Kinder selbständig zu unabhängigen, normalen Menschen entwickeln. Sie versteht Erziehung als Hilfe zur psychischen Entwicklung (Montessori 131995, 28). Als Mittel fördert sie konzentriertes Tun bzw. flow-Erlebnisse und autotelische Fähigkeiten. Erzieherisch unterstützend wirken dabei beispielsweise die „zwölf Ratschläge für die Lehrerin an einer Montessori-Schule“ (Hammerer, 1999, 319 f.) oder eine „Anleitung zu psychologischen Beobachtungen“ (Montessori 1976, 118). Sie geben einen orientierenden Leitfaden für Erzieher und Lehrer, damit Montessori-Pädagogen Entwicklungs- und Lebenshilfe leisten und Kinder zu selbstständigen Menschen erziehen können. Dieser reformpädagogische Ansatz soll Kinder gerade nicht zu Marionetten formen-. Die Lebenshilfe begründet sich bei Montessori zu einem wesentlichen Teil in ihrem Menschenbild, da sie Potenziale annimmt, die sich unter bestimmten Bedingungen entwickeln.

Insgesamt kann man festhalten, dass Montessoris Pädagogik mit den Bedingungen übereinstimmt, die durch das Auslösen von flow erzieherisch wirksam sind. Die Montessori-Pädagogik scheint also allein durch das Auslösen von flow schon erzieherisch wirksam zu sein. Andersherum: Diese Pädagogik ist also geeignet, Menschen zu autotelischen Persönlichkeiten zu erziehen.

Vermutlich spricht Montessori deshalb von einer „bisher unbekannte[n], Erziehung [...] neu und wirkungsvoll“. Diese Erziehung „schenkt der Welt [ .] — wenn Sie erlauben — eine neue Weißheit“ (Montessori 1942, 24).

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Zum Literaturverzeichnis



[1] Montessori verwendet den Begriff „Vergnügen“ nicht wie Csikszentmihalyi, Hahn oder Makarenko im Sinne von hedonistischer Genusssucht, sondern das Verstehen des Freudeprinzips wird zum Vergnügen: „Tatsächlich ist für unsere freien Kinder jede geistige Errungenschaft eine Quelle der Freude. Das ist inzwischen das ‘Vergnügen’, von dem sie gepackt sind und das sie jedes andere niedere Vergnügen verschmähen lässt.“ (Montessori 41976, 205)

[2] Montessori wendet sich damit gegen die „alte Pädagogik“, die von einer „rezeptiven Persönlichkeit“ ausging, „die Unterweisungen empfangen und passiv gebildet werden musste“. Sie steht für die „aktive“ Persönlichkeit (Montessori 41976, 75), die als eigener „Baumeister“ ihr Selbst entwickle.

[3] „Each of these  adolescents is developing the consistent patterns of thought and action that will form the basis for his or her emerging identity.“

[4] Montessori schreibt, dass „Normalisation“ oder „Normalisierung“ (die Begriffe verwendet sie synonym) ein „unzureichender Ausdruck“ sei. Denn ein alter Begriff wird „auf eine neue Idee“ angewendet. Der Ausdruck ist missverständlich, denn Eigenschaften, die heute als normal bezeichnet werden, wie „Launenhaftigkeit“, „Angst“, „Nörgelei“, „Flatterhaftigkeit“, „Schüchternheit“ und „Appetitlosigkeit“, sind aus Montessoris Sicht nicht normal. Normal ist eine gesunde psychische Entwicklung, die dazu führt, dass ein Kind körperlich, geistig und psychisch fit ist. Als eigener Baumeister soll es seinen personalen Selbstaufbau steuern.

[5] „Die Organisation des psychischen Lebens beginnt mit einem charakteristischen Phänomen der Aufmerksamkeit“ (Montessori 41976, 69).

[6] Der größte Auslöser von flow war in der Untersuchung von Massimini und Delle Fave die Tätigkeit selbst.

[7] Vgl. auch im Kapitel über Neill den Abschnitt „Keine Konzentration“.

[8] Hervorhebung im Original.

[9] Dieses Zitat weist auf das Verhältnis von psychischer Ordnung und Unordnung hin. An dieser Stelle zeigt sich zum Beispiel das Vorgehen, um das Konzentrationsphänomen bei Montessori und das flow-Phänomen miteinander vergleichbar zu machen. Da Montessori oft Bilder benutzt, wie hier „gesättigte Lösung“ und „Kristall“, hätte ich bei einem Vergleich einzelner Wörter nicht viele Gemeinsamkeiten zwischen flow-Theorie und Montessori-Pädagogik gefunden. Ich habe also jeweils auf ein dahinterliegendes Phänomen geschaut und so Vergleiche herstellen können. In diesem Fall lege ich den Zustand der Konzentration als ein flow-Erlebnis aus. Montessoris Ziel ist demnach das Ermöglichen von flow-Zuständen. Auf diese Parallele wird weiter unten genauer eingegangen.

[10] Schiefele belegt, „dass ein positiver und signifikanter Zusammenhang zwischen Interesse und flow-Erleben besteht“ (Schiefele 1996, 226).

[11] „Was wir denken, wird von unseren Gefühlen beeinflusst, und was wir fühlen, wird von unserem Denken mitbestimmt“ (Larson 1991, 176).

[12] „Unser gesamtes Leben ist eine ständige Übung in der Entscheidung.“ (Montessori 41976, 172).

[13] Vgl. auch im Kapitel über Makarenko den Abschnitt „Freude auf Perspektiven initiieren“. Montessori beschreibt die Qualität des Erlebens bei Entscheidungen, Makarenko forciert indes Entscheidungen aus methodischer Sicht.

[14] Intensiver flow (oder auch deep flow) wird oft mit etwas Mystischem und mit religiösen, visionären oder ekstatischen Zuständen verbunden (Csikszentmihalyi 1985, 120). Intensiver flow tritt jedoch bei ganz „weltlichen“ Tätigkeiten auf. Intensiver flow steht aus meiner Sicht nicht in Zusammenhang mit Esoterik oder parapsychologischen Strömungen.

[15] Vgl. Interviews aus der Untersuchung mit außergewöhnlichen Persönlichkeiten in Csikszentmihalyi 1997.

[16] Was aber noch nicht zufriedenstellend geklärt ist (Rheinberg 1995, 143 f.).

[17] Darauf weist auch die Forschung über den Zeigarnik-Effekt hin. Der Zeigarnik-Effekt (Zeigarnik 1927) thematisiert, dass sich Menschen bevorzugt an Dinge erinnern, die nicht abgeschlossen sind, dies umso stärker, je kürzer vor ihrem Abschluss eine Handlung unterbrochen wurde (Heckhausen 21989, 147). Das könnte möglicherweise bedeuten, dass viele unerledigte Dinge (bzw. nicht innerlich beendete Situationen) die Konzentration auf etwas Neues erschweren.

[18] Dieser Rhythmus ist nicht genetisch bedingt, sondern entsteht mittels Ausprobieren und Lernen (Csikszentmihalyi 1997, 90).

[19] „Nehmen Sie sich Zeit für Reflexion und Entspannung. [...] Aber bedenken Sie, dass die beste Entspannung keineswegs im Nichtstun besteht“ (Csikszentmihalyi 1997, 503 f.). Entspannung tritt bei Tätigkeiten ein, die zwar etwas Aufmerksamkeit, aber keine volle Konzentration erfordern. Kinästhetische Aktivitäten scheinen dabei besonders entspannend zu wirken (Csikszentmihalyi 1997, 503).

[20]Csikszentmihalyi 1997, 503.

[21] Für diese drei Voraussetzungen stehen die Zeichen heutzutage nicht gut: Schnelllebigkeit verhindert möglicherweise die Muße für ein inneres Beenden von Tätigkeiten und Ruhe für nachwirkenden Pausen; Informationsvielfalt erschwert Entscheidungen und damit vielleicht auch die Konzentration auf das, was Menschen wichtig ist.

[22] Montessori befasst sich mit den Stärken der Menschen (vgl. auch das Kapitel über die Produktionsschule), und darüber verlieren sich in ihrer Betrachtungsweise die Schwächen der Menschen (vgl. Csikszentmihalyi 1999, 57 f.).

[23] Vgl. auch den Kasten in diesem Kapitel im Abschnitt Konzentration über die Bedeutung einer Verinnerlichung der flow-Struktur für Transferleistungen.

[24] Diese Freude am Wachstum wurde oben in diesem Kapitel im Abschnitt „Montessoris Menschenbild“ betrachtet.

[25] Ein „fehlgeleitete[s] Individuum“ könnte aus der Sicht der flow-Theorie seine Aufmerksamkeit als „dissipative Struktur“ (Csikszentmihalyi 1993, 264 ff.) nutzen und somit wieder normal werden (Montessori 1994, 119).

[26] Vgl. hierzu „Anleitung zu psychologischen Beobachtungen“ (Montessori 41976, 118 f.). Hiermit soll das Kind nach bestimmten Kriterien beobachtet werden, z.B. ob es das Bedürfnis hat, Fortschritte zu machen und ob es konzentriertes Arbeiten nach gewaltsamen Ablenkungen wieder aufnimmt.

[27] Fischer (1999, 80) bezeichnet dagegen die Materialien als zielorientiert, da „bei jedem Material einer Serie [...] nur eine neue, klar umrissene Schwierigkeit“ hinzukomme. Diesen Aspekt sehe ich jedoch nicht als ein Ziel, sondern als Herausforderung an.

[28]Vgl. den Ansatz von Neill, er hat mit seiner Pädagogik der Freiheit die gleiche Absicht verfolgt. Da er jedoch anders als Montessori kaum mit flow übereinstimmende Kriterien erfüllt, erleben „seine“ Kinder vermutlich wenig flow.

[29] Vgl. Kasten über die Teleonomie des Selbst, in den Abschnitten Menschenbild und Auswirkungen.

[30] bei Montessori unterscheiden sich von denjenigen bei Freinet und in der Produktionsschule, sie betont einen innerpsychischen Aspekt, während bei den Arbeitsschulen die Kontrollerfahrungen eher durch äußere Fertigstellungen erfolgen (Setzen der Buchstaben in der Druckerei, Erreichen des Wochenzieles, Erstellung eines Produktes). Bei Montessori ist die Kontrollerfahrung also eher auf das Ich bezogen und weniger von Inhalten abhängig.

Diese Unterscheidung mag aber auch darauf beruhen, dass Montessori im Vergleich zu den hier beschriebenen anderen Reformern mit Kindern einer anderen Altersstufe gearbeitet hat. Montessori beobachtete lange drei- bis sechsjährige Kinder, die mit einem „absorbierendem Geist“ ihre Welt erobern. Hier sind Feedback und Kontrollerfahrungen eher eine strukturierende Erfahrung zum Aufbau von Normalität. Die anderen Konzepte ermöglichen Kontrolle und Feedback auf einem anderen Fähigkeitsniveau. Dies ist möglicherweise automatisch inhaltsbezogener, da es um unterrichtsbezogene konkrete Handlungen geht.

[31] Vgl. dazu das Thema Freiheit bei Neill.

[32] Eine Grenzziehung macht Neill zum Beispiel nicht und löst vermutlich unter anderem deshalb vergleichsweise wenig flow aus.

[33] Am Ende der Arbeit finden sich diese wie alle weiteren vier Tabellen über die Reformpädagogen in einer Synopse wieder. Sie macht auf einem Blick ersichtlich, welches reformpädagogische Konzept welche flow-Kriterien erfüllt.

[34] Hier habe ich die grammatikalische Form verändert.

[35] Die flow-förderlichen Bedingungen beruhen zu einem großen Teil auf Montessoris Menschenbild. Herausforderungen sind beispielsweise eine grundlegende Voraussetzung für die Entfaltung von Potenzialen, das Material bietet eine Fehlerkontrolle für neue Einsichten in einem Entwicklungsprozess. Ein gewisses Maß an Freiheit ist notwendig, damit sich die Persönlichkeitsentfaltung in eine „richtige“ Richtung bewegen kann. Und eine Struktur im Kinderhaus sorgt dafür, dass die Kinder in einem natürlichen Rhythmus optimal ihre Kräfte zur Eroberung ihrer Potenziale nutzen können (vgl. dazu die Diskussion am Ende des Kapitels).

[36] Bei Csikszentmihalyi heißt es zwar, dass alle Elemente als Schlüssel oder Katalysator für den Eintritt in das flow-Erleben wirken können, doch möchte ich die Elemente Selbstvergessenheit und veränderte Zeitwahrnehmung nicht unbedingt dazu zählen, weil sie zwar das flow-Erlebnis charakterisieren, jedoch vermutlich nicht ohne flow auftreten. Montessori beschreibt diese flow-Eigenschaften, was auf das flow-Phänomen hinweist. Ich möchte diese beiden Aspekte aber nicht als Auslösefunktionen definieren.

[37] Obwohl Montessori die Materialkontrolle in ihrer Pädagogik betont, sprechen z.B. ihre „Ratschläge für Lehrerinnen“ (Hammerer 1999, 319; Montessori 1999, 148 f.) dafür, dass soziale Interaktion im Entwicklungsprozess eine Rolle spielt.

[38] Dolch 71965, 54.