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3.4           Freinet: Kontrolle & Feedback

3.4.1       Hintergrund

Vom ersten Weltkrieg stark gezeichnet, lehnt Célestin Freinet (1896-1966) als Pazifist eine Erziehung ab, die Kinder für Kriege verwendbar mache (Wichmann 1992, 6). Die herkömmlichen Schulen würden Kinder mit ihren scholastischen Verfahrensweisen zu unkritischen Menschen erziehen, deren Eigeninitiative lähmen und dressierte Kinder hervorbringen (Freinet 1997, 136).

Im engen Austausch mit führenden Reformpädagogen und Reformpädagoginnen wie Adolphe Ferrière, Ovide Décroly, John Dewey, Maria Montessori, Helen Parkhurst, Hermann Lietz und Peter Petersen (Dietrich 1995, 13) entwickeln er sowie seine Frau und Kollegin Elise Freinet eine praxisbezogene Pädagogik, die besonders sozial benachteiligte Kinder (von Arbeitslosen, Migranten, Flüchtlingen und Arbeitern) zu einer kritischen Sichtweise befähigen und ihnen die Kontrolle über ihr Leben ermöglichen soll. Als Volksschullehrer und Reformer beginnt er, den Schulalltag „von der Wurzel aus“ (Freinet 1998c, 495 f.) zu reformieren.

1925 unternimmt er eine gewerkschaftlich organisierte Lehrerreise in die Sowjetunion. „Tief beeindruckt“ setzt er sich weiter für die Befreiung der Arbeiterklasse ein, fühlt sich den gesellschaftlich Benachteiligten verpflichtet. Er engagiert sich als „entschlossener Pazifist und Sozialist“ in der Kommunistischen Partei Frankreichs und in der Gewerkschaft. Das kritische „Erkennen und Durchschauen der (politischen) Wirklichkeit war jedoch noch immer Freinets zentrales pädagogisches Interesse“ (Dietrich 1995, 18). Aus diesem Grunde muss er 1932 aus dem öffentlichen Schuldienst ausscheiden. 1934 gründet er eine Privatschule, wo er seine Ideen verwirklicht. Elternlos gewordene jüdische Kinder aus Deutschland und spanische Kinder, die vom Bürgerkrieg betroffen sind, nimmt er auf. Da er sich gegen den Faschismus ausspricht, wird er anderthalb Jahre interniert. Nach dem zweiten Weltkrieg versucht Freinet seine Pädagogik in der Öffentlichkeit weniger politisch ausgeprägt zu gestalten.

 

3.4.2       Erziehungsziel

Wie andere Reformpädagogen kritisierte Freinet die herkömmliche „traurige und langweilige Schule“, die scholastische Verfahrensweise, die zur Verdummung führe und die Eigeninitiative der Kinder lähme und nicht auf das Leben vorbereite (vgl. Wichmann 1992, 6). Kinder sollen ihre Persönlichkeit „in einem größtmöglichen Maße“ entfalten (Freinet 1998c, 492), sich gemäß ihrer „Entwicklungslinie“ (Freinet 1997, 136) in ihrem eigenen Rhythmus entwickeln und „große Bedürfnisse des Lebens“ befriedigen können (Freinet 1998b, 389). Sie sollen sich nicht „verleiten lassen zu willkürlich aufgezwungenen Tätigkeiten“ (Freinet 1998b, 375), sondern ihre individuelle „Lebensformel“ leben. Dieser Ansatz beabsichtigt keine Erziehung zu egozentrischen Individualisten, sondern Kinder sollen „einmal als Erwachsener ohne interessenbestimmte Verlogenheit mit zur Verwirklichung einer harmonischen und ausgeglichenen Gesellschaft beitragen“ (Freinet 1998c, 492). Dabei verhindert er allerdings die Überbetonung einer Pädagogik vom Kinde aus: „Im Gegensatz zu gewissen Theoretikern einer modernen Erziehung denken wir nicht daran, die Kinder ausschließlich nach ihren eigenen Neigungen und ihrer persönlichen Phantasie arbeiten zu lassen, Dies hieße, sie über das wirkliche Leben zu täuschen und würde sie früher oder später mit den Forderungen, die die Umwelt und die Gemeinschaft an sie stellen, in Konflikt bringen“( Freinet 1998, 549 f.). Sein Ziel ist also, die Entwicklung zu einer authentischen Persönlichkeit so weit wie möglich zu fördern, jedoch im Rahmen einer Gemeinschaft.

Um dieses langfristige Erziehungsziel einer authentischen und gesellschaftlich interessierten Persönlichkeit zu erreichen, nutzt Freinet in seiner pädagogischen Praxis „die außerordentliche Fruchtbarkeit“ der „schöpferischen Kraft“. Schöpferisch tätig sein bedeutet in Freinets Worten „natürliche Hingabe“, „lebendiges Sprudeln“, „Lebensfreude“ oder „Begeisterung der ganzen Person“. Schöpferisches Tun sei die „Fackel des Lebens“. Er wolle Kindern ermöglichen, sich „außerhalb der ausgetretenen Pfade“ zu bewegen, sich dabei auch „an Dornen zu verletzen“, „an Felsen anzuklammern“, aber dadurch die Freude zu haben, „die weiten Horizonte voller Licht“ zu erblicken (Freinet 1998a, 115). Er wolle nicht wie die herkömmlichen Schulen die Kinder „auf die kahle Straße“ führen, „auf der es für sie kein anderes Problem gibt, als passiv dem ausgerollten roten Band bis ins Unendliche zu folgen“ (Freinet 1998a, 115).

Mit der Fähigkeit zur schöpferischen Kraft, die „vergessen, verkannt und unterschätzt“ werde (Freinet 1998b, 380), möchte er (wie Montessori) in der Gesellschaft „eine ganz neue Lebensweise [...] in Gang setzen“ (Freinet 1998b, 383).

 

3.4.3       Feedback und Kontrolle

Die Freinet-Methoden ermöglichen aus der Sicht der flow-Theorie besonders Feedback und Kontrolle. Kontrolle und Feedback werden hier zusammen betrachtet, da sie unmittelbar miteinander in Beziehung stehen: Feedback ist nützlich zum Erwerb von Kontrollerfahrungen (vgl. C 1993, 83), Kontrollerfahrungen befähigen umgekehrt dazu, Rückmeldungen für das eigene Handeln konkret einordnen zu können.

Die Schüler sollen - wie eben beschrieben - nicht passiv Wissen aufnehmen, sie sollen selbst die Welt aus ihrem Blickwinkel entdecken und sich in ihr zurechtfinden. Mittels pädagogisch ermöglichten Feedbacks und Kontrollerfahrungen wird die dem Menschen innewohnende „Neugierde“ sowie ihr „Tätigkeitsdrang“ aufrechterhalten, und man könne davon ausgehen, daß der „Unterricht eine Spur hinterläßt“ (Freinet 1997, 38).

Freinet unterscheidet hier schon pädagogisch Auswirkungen von Zuständen, die heute in der Psychologie als Handlungs- und Lageorientierung beschrieben werden (z.B. Kuhl 1984/1985 in Heckhausen 1998, Beckmann 1999). Lageorientierung (beharrliches Grübeln über Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft) kann zum Beispiel durch das Erleben von Unkontrollierbarkeit oder Inkongruenzen entstehen. Auch eine Erziehung zu wenig Eigeninitiative (viel Kontrolle, Überfürsorge) oder die Unterdrückung zur Entwicklung eines starken Selbst fördert die Tendenz, sich eher lageorientiert zu verhalten. (Beckmann 1999, 172 f.). Adlai-Gail weist auf das Phänomen der Hilflosigkeit hin[1], wenn Menschen Situationen als nicht kontrollierbar oder beeinflußbar ansehen (Adlai-Gail 1994, 116 ff.). Handlungsorientiert sind dagegen Menschen, die darauf drängen, ihre Absichten in Handlungen umsetzen. Dieser Kontrollzustand wird erlernt durch „konkrete spezifische Zielsetzungen verbunden mit Rückmeldungen“ (Beckmann 1999, 172).

Freinets Ansatz wird also besonders unter dem Gesichtspunkt von Kontrolle und Feedback betrachtet, da er pädagogischen Wert auf psychologisch bedeutsame Kontrollerfahrungen, Rückmeldungen und kongruentes Erleben legt, damit Menschen beispielsweise nicht für Kriege verwendbar seien. Sie sollen handlungs- und entscheidungsfähig werden. Freinet hat schon vor gut 60 Jahren das pädagogisch umgesetzt, was die Psychologie heute an Erkenntnissen über Kontrollmodi und psychische Gesundheit besitzt; zum Beispiel, dass bei lageorientierten Personen ein Leistungsabfall nicht auf Motivationsmangel zurückzuführen ist, sondern darauf, dass sie ihre störenden Gedanken nicht ausschalten können (Heckhausen 1989, 201). Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass störende Gedanken Ablenkungen erhöhen und die Konzentration auf ein Ziel erschweren.

Um die Neugierde und die Begeisterung für eine Sache zu protegieren und Schüler handlungsfähig zu machen, verfolgt Freinet drei Grundsätze: Die Freinet-Pädagogik ...

·       ... besteht nicht aus festen Regeln, sondern ist eine Geisteshaltung;

·       ... vertritt das Lernprinzip des „tastenden Versuchens“;

·       ... baut auf den lebensnahen „natürlichen Methoden“ auf.

Diese drei Punkte bilden eine zentrale Grundlage, auf welcher Schülerinnen Feedback erhalten und Kontrolle bekommen können. Im Folgenden werden diese Punkte deshalb etwas genauer besprochen.

 

Geisteshaltung

Freinet betont, dass seine Pädagogik eine Geisteshaltung sei, kein starrer Regelkatalog. Der Erfolg von pädagogischen Techniken etwa sei abhängig von den Schülern und Lehrerinnen und ihren jeweiligen Interessen: „Vor allem sollten wir uns davor hüten, wie Sektierer aufzutreten. Wir haben niemals eine Regel der Freinet-Pädagogik verordnet. Wir bringen nur ein Bündel erfolgreicher Experimente ein. Wir sagen nicht einmal, daß Sie sie so, wie sie jetzt vorliegen, in Ihrer Klasse anwenden sollen. Sie stützen sich vielmehr auf die gelungenen Experimente, um Ihre eigenen Brücken zu schlagen, die Sie vielleicht als einzige überqueren können, weil jede Klasse immer einzig in ihrer Art bleibt, so wie jede Erzieherpersönlichkeit immer in ihrem Charakter einzigartig bleibt“ (Freinet 1997, 140). Wenn Kinder also ihre individuelle „Lebensformel“ entwickeln sollen, müssen Pädagoginnen auch individuell auf sie eingehen können. Ein starrer Katalog dagegen würde Kinder dazu erziehen, abseits ihrer „Linie des Lebens“ zu handeln. Mit dieser Einstellung bereitet Freinet den Boden für die Entwicklung von authentischen Persönlichkeiten.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Keine Rezepte für flow

Csikszentmihalyi hütet sich wie Freinet davor, allgemeine Rezepte zu geben, wie Menschen mehr flow erleben können. Denn jeder Mensch nimmt Situationen unterschiedlich wahr: als gut oder schlecht, erfreulich oder beängstigend, motivierend oder nicht motivierend. Csikszentmihalyi will nur Prinzipien verdeutlichen und Anregungen geben. Menschen würden sonst „nur Verschreibungen anderer folgen“ (Csikszentmihalyi, in: 360°. Geo-Reportage 1999). Dies ist aber gerade nicht der Sinn des flow-Konzepts.

Freinet und Csikszentmihalyi sehen ihre Ansätze als hilfreiche Unterstützung für die Förderung des schöpferischen Tuns, sie wollen beide aus ihren Erkenntnissen „praktische Empfehlungen ableiten“ (Csikszentmihalyi 1997, 488), die als Anregungen für andere Menschen dienen sollen, damit sie – wie Freinet es ausdrückt – „ihre eigenen Brücken [..] schlagen“. Zum einen gilt dies für Pädagogen, die Schüler nicht starr auf einzelne Wege zwingen sollen, zum andern gilt dies auch für das Erlernen von flow allgemein, Menschen müssen selbst ausprobieren (siehe Kasten unten) und herausfinden, was sie von vorgeschlagenen Möglichkeiten auf ihr Leben übertragen können und wollen, um mehr flow zu erleben.

Auf der Ebene der flow auslösenden Bedingungen der flow-Theorie gibt es also keine allgemein gültigen (pädagogischen) Rezepte, die unweigerlich flow auslösen. Freinets Haltung ist eine der flow-Theorie äquivalente Einstellung, die schneller flow-Erlebnisse ermöglicht als das Anwenden starrer Methoden und folglich sukzessive die Entwicklung einer Teleonomie des Selbst unterstützt.

 

Tastendes Versuchen

Das zweite wichtige Grundprinzip unter dem Blickwinkel von Feedback und Kontrolle ist das „tastende Versuchen“, das Experimentieren mit und Untersuchen von unbekannten Dingen. Es ist das tastende Versuchen, welches Menschen dazu befähigt, Feedback zu erkennen und Kontrollerfahrungen zu machen. Auf diese Weise können Freinets Schüler das entwickeln, was dem Grundschullehrer wichtig ist: Initiative und Kritikfähigkeit. Dies erreichen sie jedoch kaum, wenn sie aufbereitetes Wissen systematisch in didaktisch leicht verdaulichen Häppchen zu sich nehmen. Diese wiederum ermuntern auch nicht zur Experimentierfreude, ermöglichen deshalb nicht so viele tiefer gehende Kontrollerfahrungen als Erkenntnisse, die durch das unsystematische Herantasten gewonnen werden. „In den alltäglichen Handlungen, die wir verrichten, leben wir alle weiter nach natürlichen Grundsätzen, die auf dem tastenden Versuchen und nicht auf wissenschaftlichen Vorgängen beruhen. Die Wissenschaft spielt keine Rolle bei der Art und Weise, auf welche wir gelernt haben [...] zu gehen, uns auszudrücken, die Natur um uns herum zu betrachten, [...] zu arbeiten, zu graben, zu kochen oder zu angeln. [...] Unsere Psychologie des versuchsweisen Herantastens ist [...] ganz einfach die Norm des Lebens“ (Freinet 1997, 138 f.). Die herkömmlichen Lehrmethoden bezeichnet er als „Dressur“, die „bisweilen ein wissenschaftliches Aussehen“ annehme, „das schwer täuschen kann und uns auf falsche Fährten führt“ (Freinet 1997, 136). Freinet macht plakativ und emotional gefärbt an einem Beispiel deutlich, wie „wissenschaftliches“ Herangehen an neue Themen oder die Anwendung „scholastischer Verfahren“ aussehen können und stellt diesem Vorgehen die natürliche Herangehensweise, das „tastende Versuchen“ in Lernsituationen, gegenüber.

„Seien wir ehrlich: Wenn man ausschließlich den Pädagogen die Aufgabe überließe, den Kindern den Umgang mit dem Fahrrad beizubringen, hätten wir nicht viele Radfahrer. Bevor man auf das Fahrrad steigt, müßte man es tatsächlich kennen, das ist doch grundlegend nicht wahr: Die Teile, aus denen es besteht, ausführlich beschreiben und zahlreiche Übungen zu den Gesetzen der Mechanik, der Kraftübertragung und des Gleichgewichts mit Erfolg absolviert haben. Danach, aber erst danach wäre es dem Kind gestattet, auf das Fahrrad zu steigen. Nein bleib ganz ruhig! Man würde es nicht unüberlegt auf eine schwierige Strecke schicken, wo es vielleicht Passanten verletzen könnte. Die Pädagogen hätten gute Übungsfahrräder bereitgestellt, die auf Klötzen aufgebockt im Leerlauf betrieben würden, und auf denen das Kind gefahrlos lernen würde, wie man auf dem Sattel sitzt und in die Pedale tritt. Glücklicherweise machen die Kinder die allzu vorsichtigen und methodischen Vorhaben der Pädagogen im Voraus zunichte. Sie entdecken einen alten Drahtesel ohne Reifen und Bremsen auf einem Speicher, und heimlich lernen sie in wenigen Augenblicken, wie man auf das Fahrrad steigt, ganz so wie übrigens alle Kinder lernen: Ohne irgendwelches Wissen um die Regeln und Gesetze schnappen sie sich die Maschine, suchen sich eine abschüssige Straße... und landen in einer Böschung. Sie beginnen hartnäckig von neuem und können in Rekordzeit radfahren. Die Übung macht den Rest. Wenn sie dann – um besser zu fahren – einen Reifen reparieren, eine Speiche zurechtbiegen oder die Kette neu einsetzen müssen, wollen sie von den Kameraden, aus Büchern oder von Lehrern das wissen, was ihr ihnen vergebens einzutrichtern versucht habt“ (Freinet 1967, zit. in Fragen und Versuche 1994, 29 f.).

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Ausprobieren

Überträgt man die Bedeutung des tastenden Versuchens für das Lernen oder die Entwicklung der Persönlichkeit auf die flow-Theorie, so formuliert es Csikszentmihalyi (eingeordnet auf der Ebene der Auslösebedingungen) wie folgt: „Ziele [...] schälen sich erst durch Ausprobieren heraus und werden selten eindeutig ausgedrückt“ (Csikszentmihalyi 1993, 83). Durch tastendes Versuchen können Interessen immer weiter eingekreist oder Uninteressantes ausgeklammert werden,b Bis das Selbst seine groben Ziele etabliert hat und das Tun immer zielgerichteter wird.

Autotelische Persönlichkeiten experimentieren beispielsweise mit Ideen, sie gehen spielerisch an Aufgabenstellungen heran (Csikszentmihalyi 1997, 94) und probieren viel aus (Hektner 1996, 169). Das spielerische Ausprobieren ist oft Ausgangspunkt für die weitere Verwirklichung von Ideen (Csikszentmihalyi 1997, 94). Mit der Methode des tastenden Versuchens haben Freinets Schüler und Schülerinnen also die Möglichkeit, Interessen (im flow-Zustand) zu entwickeln und zu vertiefen und somit ihre autotelische Fährte zu finden. Weiter unten wird am Beispiel der Fertigkeitsbescheinigung deutlich, auf welche Weise Freinet dieses Suchen konstruktiv unterstützt.

Das Ausprobieren oder das tastende Versuchen kann auch auf der Ebene des Menschenbildes eingeordnet werden, da Csikszentmihalyi und auch Freinet annehmen, dass der Mensch mit Neugierde und Entscheidungsfreude und dem Wunsch nach innerem Wachstum ausgestattet ist. Das Ausprobieren soll hier jedoch hauptsächlich auf der Ebene der flow auslösenden Bedingungen eingeordnet werden, da Menschen spielerisch Anforderungen erproben können, die Interesse und folglich auch erweiterten flow auslösen können. Dies hat Freinet sehr konkret am Beispiel des Fahrradfahrenlernens verdeutlicht.

 

Natürliche Methoden

Um das eben beschriebene pädagogische Prinzip des tastenden Versuchens praktisch zu ermöglichen, schafft Freinet „natürliche Methoden“. Dies ist das dritte Prinzip der Freinet-Pädagogik, das unter dem Gesichtspunkt von Kontrolle und Feedback von Bedeutung ist. Es basiert wie das tastende Versuchen auf der Geisteshaltung der Pädagogin, eine sinnvolle Lernumgebung zu schaffen zu wollen.

„Natürlich“ bedeute, daß die Kinder im Tun „in unmittelbarem Kontakt mit dem Leben selbst“ (Freinet 1997, 142) stehen. Die „aus Urzeiten überkommenen Tätigkeiten“ (Freinet 1998c, 535) würden durch „elementare Handarbeit“ Erfahrungen aus erster Hand bieten. Das Handeln könne auf der „unverfälschten Wesenheit“ der Kinder aufbauen (Freinet 1998c, 534). Die Schülerinnen untersuchen selbst die Wirklichkeit und gewinnen Erkenntnisse. Dadurch können Kontrollerfahrungen und das Wahrnehmen von Feedback unmittelbar erlebt werden. Sie übernähmen z. B. nicht das Schulbuchwissen aus zweiter Hand.

Zum Beispiel lernen Kinder bei Freinet auf natürliche Weise lesen. Dass was sie bewegt und was sie zu sagen haben, schreiben sie (am Anfang mit Hilfe des Lehrers) auf und drucken ihre Geschichten vor dem Hintergrund persönlicher Erlebnisse. Die natürlichen Methoden trennen die Schüler also nicht von ihrem Leben: Sie „sind nicht immer gezwungen, in gedruckten Buchstaben ausschließlich das zu lesen, was die Erwachsenen dachten, ausdrückten und druckten“ (Freinet 1997, 38). Diese unnatürliche („indoktrinierende“) Form des Lesenlernens sei „die Ursache einer Ichspaltung“ (Freinet 1997, 38). Die natürliche Methode biete demgegenüber einen Rahmen, in dem Kinder ihre individuellen Wahrnehmungen festhalten. Durch diesen unmittelbaren Kontakt mit ihrem Leben lernen sie unter anderem anhand des Lesens, ihre Linie des Lebens zu verfolgen und sich zu einer authentischen Persönlichkeit zu entwickeln. „Die natürlichen Methoden sind die einzigen Methoden, die der Zerstückelung und Verzettelung der wissenschaftlichen Erkenntnisse entgegenwirken“ (Freinet 1997, 141). Freinet meint damit vermutlich nicht die inhaltliche Zerstückelung eines Themas (denn dieses wird ja gerade didaktisch umfassend aufbereitet), sondern die Zerstückelung einer inneren Entwicklung, die nicht einen Weg der sich spontan und aktuell stellenden Fragen gehen kann.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Feedback

„Heute wird Bildung normalerweise in Form abstrakter Informationen vermittelt: Abgesehen von schlechten Noten gibt es keine erkennbaren Risiken und keine Möglichkeiten, direkte Konsequenzen zu erleben. Aber eine schlechte Note sagt einem nur, daß man den Lehrer nicht von seinem Fleiß überzeugt hat; sie sagt nichts darüber aus, ob das, was man erlernt hat, tatsächlich wahr ist. Vor wenigen Generationen wußte ein Mensch, der auf einem Bauernhof aufwuchs, was er lernen mußte und warum er es lernen mußte. Die Informationen waren konkret, vertraut und relevant. Das Wissen war integraler Bestandteil des Lebens“ (Csikszentmihalyi 1995, 354). Csikszentmihalyi und Freinet thematisieren beide die abstrakte und lebensferne Bildung und wenden sich gegen sie, Freinet mit seinem Grundsatz der natürlichen Methode. Unverfälscht möchte er den Schülern das Erkennen der Wirklichkeit ermöglichen. Er fordert wie Csikszentmihalyi eine Erziehung (eingeordnet auf der Ebene flow auslösender Bedingungen), „die den Verstand dazu ausbildet, das System von Ursachen und Wirkungen zu erkennen, in das unser Handeln eingebettet ist “ (Csikszentmihalyi 1995, 355). Dadurch kann ein unmittelbarer Kontakt zum Leben entstehen, einer – wie Freinet es bezeichnet – „Ichspaltung“ kann somit vorgebeugt werden. Freinet bezieht sich dabei auf ein Phänomen, das der von Csikszentmihalyi beschriebenen Teleonomie des Selbst ähnelt: Beide Autoren wollen das authentische Sein ermöglichen. Konkrete Rückmeldungen sind also wichtig. „Man muß wissen, wann man etwas richtig und wann man etwas falsch macht“ (Larson 1991, 176).

Feedback kann auf der flow auslösenden Ebene der flow-Theorie eingeordnet werden, da die Technik der natürlichen Methoden konkretes Feedback ermöglicht und damit das Auslösen von flow-Erlebnissen forciert. Wie eine Rückmeldung im einzelnen aussieht, ist im Zusammenhang mit der Bildung autotelischer Fähigkeiten eher nebensächlich. Wichtig ist vielmehr „die darin enthaltene symbolische Botschaft: daß ich mein Ziel erreicht habe. Dieses Wissen schafft Ordnung im Bewußtsein und stärkt die Struktur des Selbst“ (Csikszentmihalyi 1993, 84) Diese Ordnung wird laut Freinet durch natürliche Methoden mit ihrem konkreten Feedback schneller hervorgerufen als durch abstrakte Tätigkeiten, die wenig Rückmeldung erkennen lassen.[2]

Freinets Pädagogik macht, wie Csikszentmihalyi es ca. 40 Jahre später aus der Sicht der flow-Theorie fordern wird, Ursache und Wirkung beim Lernen transparent. Dies fördert wie oben angesprochen das von Freinet pädagogisch gewollte Phänomen der Handlungsorientierung und vermeidet lageorientiertes Verhalten. Das heißt, nicht nur die Situationen in der Freinet-Schule erhalten dadurch eine flow förderliche Eigenschaft, sondern die Schüler können die erlernte Handlungsfähigkeit in der Zukunft nutzen und sind somit fähig, sich z.B. eher in flow-Situationen zu versetzen als Menschen, die lageorientiert über etwas nachgrübeln.

 

Die Prinzipien des tastenden Versuchens und die natürlichen Methoden dienen als Grundlage für eine Pädagogik, die schöpferisches Tun ermöglicht. Auf diesen Prinzipien bauen nun einzelne Techniken der Freinet-Pädagogik auf, die Kontrolle und Feedback als zentrale Kriterien beinhalten. Sie gliedern sich in drei Bereiche: Tätigkeit, Leistung und Gemeinschaft.

 

Tätigkeit

In diesem Abschnitt soll an den Beispielen der Arbeitskarteien und der Schuldruckerei gezeigt werden, wie Schülerinnen Kontrolle und Feedback während ihrer Tätigkeiten erfahren können.

Die Arbeitskarteien: Verschiedenfarbige, postkartengroße Karten behandeln den gesamten vorgeschriebenen Grundlehrstoff der Schulfächer. Von diesen Karten gibt es fünf verschiedene Arten. Mit diesen Kartenarten durchlaufen die Schülerinnen in ihrem Lernprozeß fünf Stufen, die sich von Informationen hinsichtlich eines Themas über das Üben und Anwenden schließlich bis zum Überprüfen des Könnens erstrecken. Die Schülerinnen bekommen durch die Karten Feedback und ein Gefühl von Kontrolle, inwieweit sie mit dem Lernen vorankommen und wie sicher sie ihr Aufgabengebiet beherrschen.[3] „Diese Karteikästen mit Selbstkorrektur sind eine der Meisterleistungen der Freinet-Techniken. [...] Ihre Originalität beruht darauf, daß jedes Kind nach seinem eigenen Rhythmus arbeiten kann, ohne durch das Niveau seiner Mitschüler überrannt oder gebremst zu werden“ (Jörg, zit. in: Freinet 1981, 118).

Alle Karten sind nach Fächern, Schulstufen und Schwierigkeitsgraden abgestuft gekennzeichnet und aufeinander abgestimmt, sodass sich die Kinder selbständig von einfachen zu komplizierteren Informations- und Aufgabenkarten vorarbeiten und die Ergebnisse selbst kontrollieren können. Auf den Karten finden sich auch Hinweise darauf, wo die Schüler weiterführende Informationen zu einem Thema finden können.

Die Arbeitskarteien sind also ein Beispiel dafür wie die Schüler in kleinen Schritten Feedback über ihr Vorankommen erhalten und somit ein Gefühl von Kontrolle während ihrer Tätigkeiten erreichen und aufrecht erhalten können. Die Karten dienen als Technik, durch die sich Schüler selber während des Arbeitens korrigieren können. Auf diese Weise erarbeiten sie sich ihr jeweiliges Ziel.

Weitere Beispiele für Kontrollerfahrungen und Rückmeldungen vor dem Hintergrund der natürlichen Methoden und des tastenden Versuchens stellen die unterschiedlichen Tätigkeiten im Rahmen der Schuldruckerei dar:

Ein erstes Feedback erhält ein Kind, wenn die Klasse unter vielen anderen Texten seinen Text zum Druck auswählt. Die erste Kontrollerfahrung macht das Kind bei der Korrektur seines Textes: Es achtet beim Redigieren und gemeinsamen Niederschreiben darauf, ob der Text noch seinen Gedanken und seinem Erleben entspricht. Darauf legt Freinet viel Wert, denn wenn durch die Korrektur des schriftlichen Ausdrucks ein Gedankengang geändert wird, interessiert sich das Kind „mit seinem ganzen Wesen nicht mehr für den erarbeiteten Text“ (Freinet 1997, 41). Dadurch würde man dem Kind seine Wahrnehmungen verdrehen und die Entwicklung von Authentizität unterbinden.

Nach dem Redigieren folgt der Druckprozess. Dort finden fachliche Rückmelde- und Kontrollschleifen statt: „Jeder Schriftsetzer liest das Ganze, dann buchstabiert er seine Reihe, ohne die kleinen Zwischenräume zu vergessen, die die Wörter voneinander trennen. [...] Sie setzen die Lettern selbst in den Setzrahmen und verwandeln so mechanisch und materiell den handgeschriebenen Text in den Drucksatz. Es ist unnötig, die Kinder zu überwachen. Alle helfen sich gegenseitig so gut sie können, um eine fehlerfreie Reihe zu setzen“ (Freinet 1997, 42). Kontrollerfahrungen und Rückmeldungen entstehen, weil die Kinder miteinander Buchstabe für Buchstabe zusammensetzen, es bilden sich Wörter, Sätze und schließlich der ganze Text.

Neben dem eigentlichen Setzen sind für das Drucken weitere Arbeiten zu erledigen: „Einfärben, Auflegen des Blattes, Druck, Ordnen der bedruckten Blätter. Das stellt eine neue sauber aufgetragene, ernsthafte manuelle Arbeit mit einem genau bestimmten Ziel dar“ (Freinet 1997, 43). All diese Arbeiten vermitteln genaue Rückmeldung, wie weit es noch bis zu dem fertigen Druckergebnis ist. Diese einzelnen Arbeitsschritte geben den Schülern das Gefühl, die Entstehung des Druckes unter Kontrolle zu haben. Zum Drucken gehören auch die Pflege der Schriftzeichen und deren Einordnung in den Setzkasten nach dem Druck. Dies sind alles Tätigkeiten, die unmittelbares Feedback gewähren und zudem Kontrolle ermöglichen.

Einige Klassen führen einen „interschulischen Briefwechsel“ mit Klassen aus anderen Teilen des Landes durch. So verfolgen die Kinder beispielsweise gegenseitig die Erlebnisse der anderen am Meer oder in den Bergen. Diese Klassenkorrespondenz bewirkt eine Menge Feedback auf die Erlebnisse und Gedanken in den gemeinsam ausgewählten und gedruckten Texte. Vor allem ermöglichen die Reaktionen der Partnerklasse Kontrollerfahrungen zum einen über die Fähigkeiten des eigenen Ausdrucks (ob die Texte auch tatsächlich von anderen so verstanden werden, wie sie gemeint sind), zum anderen über die Bedeutung der beschriebenen Erlebnisse, wenn sie von einer anderen Klasse anerkannt werden. Vielleicht stellen die anderen Kinder Fragen oder berichten von ähnlichen Wahrnehmungen. Solche Kontrollerfahrungen sieht Freinet als pädagogisch wertvoll an, weil die ausgedrückte Wahrnehmung auf Interesse stößt und sich die Schüler auf diese Weise authentisch und mit Vertrauen in sich Selbst entwickeln können.

Die Kinder haben beim Schreiben, Drucken und Setzen nicht nur Kontrolle über die Tätigkeiten, sondern sie üben auch Kontrolle über den Inhalt aus, an dem sie lesen lernen. Sie lesen ihre eigenen Texte, lernen Wörter und Ausdrücke, die ihrem Erleben entsprechen: „Indem das Kind setzt, schafft es ein wenig Leben und, vor allem, einen Teil seines eigenen Lebens“ Dieser Text ist sein „ganzes Werk“, das „es begierig liest“ (Freinet 1997, 45). Das Arbeiten in der Schuldruckerei ermöglicht also Feedback und Kontrolle sowohl auf der Ebene der Tätigkeit als auch auf der inhaltlichen Ebene. Freinet betont, dass diese Kontrollerfahrungen keine „äußerliche, sondern eine innere Angelegenheit“ seien (Freinet 1998b, 389). Damit macht er die Qualität dieser Erfahrungen deutlich: Es geht nicht um die Förderung der Kontrolle um einer Kontrolle wegen, sondern um das Gelingen einer Entwicklung im Sinne einer persönlichen „Lebensformel“.

Die Freinet-Techniken der Schuldruckerei und der Arbeitskarteien sind also zwei Beispiele, die demonstrieren, wie die Kinder Kontrolle und Feedback durch Tätigkeiten bekommen. Das fördert vor dem Hintergrund der natürlichen Methoden und des tastenden Versuchens das schöpferische Tun sowie die Entstehung einer „Entwicklungslinie“.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Kontrolle

Freinet ermöglicht viele Kontrollerfahrungen, nicht nur aufgrund seiner pädagogischen Grundhaltung des tastenden Versuchens und der natürlichen Methode, sondern konkret mittels seiner pädagogischen Techniken (z. B. Arbeitskarteien, Druckerei). Diese lassen sich in der flow-Theorie auf der Ebene der flow-Auslöser einordnen. Die Kinder können den Inhalt ihres Bewusstseins in ihrem Rhythmus bestimmen, sodass sich grundsätzlich Gefühle von Hilflosigkeit zu einem Gefühl von Kontrolle wandeln (Csikszentmihalyi 1993, 99). Ein Mangel an Kontrolle dagegen kann Antiflow bewirken (Allison und Duncan 1991, 148, 157). So erlebten nicht autotelische Jugendliche in bestimmten herausfordernden Situationen Hilflosigkeit, da sie die Anforderungen einer Situation nicht unter Kontrolle hatten (Adlai-Gail 1994, 116 ff.). Gerade diesem Gefühl des Ausgeliefertseins möchte Freinet begegnen, indem er seine Pädagogik Kontrollerfahrungen ermöglicht. Weil die Schüler Gefühle von Kontrolle erleben, können die Schüler dadurch leichter in einen flow-Zustand gelangen als Schüler die keine Kontrolle über ihr Tun empfinden.

Das Gefühl von Kontrolle hat im flow aus zwei Seiten: Zum einen hat man in einer „künstlich eingegrenzten Realität einer flow-Episode“ (Csikszentmihalyi 1985, 71) das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben, „Herr der Lage“ zu sein, was das Handeln betrifft; auf der anderen Seite muss man aber auch auf Kontrolle über andere Dinge verzichten, um sich überhaupt auf den gerade aktuellen Ausschnitt der Welt konzentrieren zu können (Csikszentmihalyi 1997, 501). Dieser Verzicht bedeutet, daß der „chaotische Normalzustand des Denkens“ (Csikszentmihalyi 1997, 609) aktiv aufgegeben wird. Kontrolle empfinden bedeutet also, die Kontrolle über den Inhalt der Aufmerksamkeit zu haben. Dieser Zustand kann für die Entwicklung der Persönlichkeit „kaum überschätzt werden“ (Csikszentmihalyi 1985, 221).[4] Kontrollerfahrungen sind also wichtig, weil sie die Qualität des Erlebens erhöhen und zu einem erfüllten Leben beitragen (Csikszentmihalyi 1995, 52), zu der Entwicklung einer „Linie des Lebens“

Freinet hat die Bedeutung von Kontrollerfahrung erkannt. Da er diese auf mehren Ebenen möglich macht, fördert er zum einen die Persönlichkeitsentwicklung, zum anderen ermöglicht er durch diese flow auslösende Bedingung einen Zugang zu flow. Damit fördert er das situative Erreichen des flow-Zustandes während einer Tätigkeit sowie die längerfristige Entwicklung einer Teleonomie des Selbst oder autotelischer Fähigkeiten.

 

Leistung

Schülerinnen in Freinet-Klassen haben nicht nur die Kontrolle über den Verlauf ihrer Tätigkeiten, sondern erhalten auch regelmäßig Rückmeldungen über ihre Leistungen und üben Kontrolle über ihre Fähigkeiten aus. „Neue Arbeitsmittel und neue Arbeitstechniken verlangen auch die Anwendung neuer Möglichkeiten der Leistungskontrolle“ (Freinet 1998c, 580). Gerade wenn Kinder unterschiedliche Vorgehensweisen haben und Leistungen nicht objektiv miteinander verglichen werden können, „will das Kind und der Mensch allgemein, daß seine Leistung gemessen und bewertet wird und seine Fortschritte so genau wie möglich festgestellt werden“ (Freinet 1998c, 581). Die Kontrolle darf sich laut Freinet nicht „nur auf das rein formal erzielte Ergebnis beziehen“, sondern „muß auch die Qualität der Arbeit und die geleistete Anstrengung berücksichtigen“ (Freinet 1998c, 581). Denn „immer, wenn der Schüler sein wirklich Bestes geleistet hat, verdient er auch die beste Note, gleich, wie das Resultat aussieht“ (Freinet 1998c, 581). So können beispielsweise zwei verschiedene Aufsätze nicht objektiv miteinander verglichen werden, weil sie „zwei Arten von Höchstleistungen“ darstellen. Man kann also keine allgemein gültigen Maßstäbe für die Leistungen der Schülerinnen bestimmen.

Im Folgenden werden aus den Freinet-Techniken unter dem Gesichtspunkt von Leistung zwei Beispiele vorgestellt, die den Schülerinnen Kontrolle und Feedback ermöglichen: der Wochenarbeitsplan und die Fertigkeitsbescheinigung.

Der Wochenarbeitsplan[5] gibt eine Rückmeldung darüber, ob eine Schülerin die wöchentlichen Arbeiten, die sie sich vorgenommen hat, erledigt oder nicht. Qua Plan schafft sie sich jede Woche „Plattformen“, mit denen sie Schritt für Schritt den vorgeschriebenen Lehrstoff erarbeitet. Der Arbeitsplan erfüllt für sie somit zwei Funktionen: Zum einen ermöglicht er Kontrollerfahrungen über Leistungen (das habe ich geschafft); zum anderen dient er als Kontrollinstanz (was muss ich noch tun?).

Der Arbeitsplan ermöglicht nicht nur eine quantitative Prüfung des wöchentlichen Arbeitspensums, sondern prüft mit der so genannten Leistungskurve auch die Qualität der Arbeit für die jeweilige Woche. Hier werden neben den einzelnen Fächern zum Beispiel auch Fleiß, Aufmerksamkeit und Gemeinschaftsgeist (innerhalb des Klassenverbandes) beurteilt. „Vergleicht das Kind seine Leistungskurve mit der zuletzt erhaltenen, so kann es sich schon Vorsätze für die kommende Arbeitswoche fassen. [...] Ganz von selbst vergleichen die Kinder ihre Leistungskurven. Der Lehrer kann ihnen angeben, wie eine mustergültige Kurve verlaufen sollte. Mehr braucht er nicht zu tun“ (Freinet, 1998c, 582). Die Leistungskurve bietet also eine Rückmeldung über die wöchentlich erbrachte Leistung und ermöglicht auch den Kindern die Kontrolle über die Entwicklung ihrer Fähigkeiten.

Fertigkeitsbescheinigungen stellen neben dem Wochenarbeitsplan eine weitere pädagogische Technik dar, mittels derer Schülerinnen ihre Leistung kontrollieren können. „Jeder kann und muß eine gewisse Meisterschaft in den manuellen und intellektuellen Tätigkeiten seiner Wahl erlangen. Jeder findet somit auf seine Art und nach seinen Fähigkeiten einen befriedigenden Erfolg. Dies entspricht vollkommen der Psyche des Kindes und den vielfältigen Möglichkeiten, die das gesellschaftliche Leben heute bietet“ (Freinet 1998c, 583) Diese Kontrollerfahrungen sind im Gegensatz zum Wochenarbeitsplan längerfristig angelegt. Anhand der Fertigkeitsbescheinigungen wird am Ende eines Jahres überprüft, inwieweit Schüler die „verschiedenen lebensnahen und lebenswichtigen Tätigkeiten“ (Freinet 1998c, 583) beherrschen, wie etwa Schriftsteller, Lektor, Historiker, Geograph, Landwirtschaftsingenieur, Insektensammler, Obstpflücker, Jäger, Entdecker, Viehzüchter oder Koch. Eine Woche im Monat sind die Schülerinnen jeweils in einem „Beruf“ tätig. Dabei betont Freinet die Bedeutung von Kontrolle bei langfristigen Tätigkeiten: „Je komplexer und wichtiger die Arbeit ist, je länger der Weg bis zum Ziel, um so mehr empfindet das Kind das Bedürfnis, sich zwischen den einzelnen Arbeitsetappen gewisse Plattformen einzurichten“ (Freinet 1998c, 581).

Kontrolle und Rückmeldungen bekommen die Schülerinnen in ihrem „Beruf“, weil sie ein Verzeichnis einsehen können, das Leistungsanforderungen für einzelne Fertigkeiten beschreibt (Freinet 1998c, 583). Diese aufgelisteten Anforderungen ermöglichen zum einen kleine Arbeitsschritte und somit kurzfristige Kontrollerfahrungen; zum anderen erhalten die Kinder eine „große“ Rückmeldung über die gesamte erbrachte Leistung. Diese erfolgt mit der Verleihung der Fertigkeitsbescheinigung am Ende eines Schuljahres. Die Kinder lernen also über einen langen Zeitraum, sich selbst regelmäßig Rückmeldungen zu holen (z. B. aus dem Verzeichnis) sowie ihre Fähigkeiten und ihr Vorankommen Schritt für Schritt zu kontrollieren.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Ungewissheit und Leistung

Die Fertigkeitsbescheinigung ist eine Methode, durch die sich Schüler eine lange Zeit mit einem Thema auseinandersetzen müssen, ohne Anfangs genau zu wissen, auf welchem Niveau sie am Ende des Jahres stehen werden. Ordnet man diese Form von Herausforderung auf der Ebene der flow-Auslöser in der flow-Theorie ein, so kann man diese pädagogische Technik unter dem Aspekt langer Phasen der Ungewissheit betrachten: Wenn Handelnde von außen keine Rückmeldung bekommen, wie etwa Künstler oder Wissenschaftler, so müssen sie sich auf irgendeine Weise selbst Feedback geben, um weiter motiviert an der Tätigkeit arbeiten zu können. Eine Möglichkeit, wie man sich selbst in einer solchen Situation eine Rückmeldung geben kann, besteht in der Verinnerlichung des Beurteilungsmaßstabes (Csikszentmihalyi 1997, 170).

Freinet hat mittels einer Liste von Leistungsanforderungen so einen Beurteilungsmaßstab geschaffen. So wird es möglich, dass sich Schüler selbst über einen längeren Zeitraum Feedback geben und sehen können, wie hoch einzelne Anforderungen sind, was sie also tun müssen, um bestimmte Beurteilungen zu bekommen. Damit fördert er zweierlei: Erstens die unmittelbar nützliche Fähigkeit der Schüler, sich selbst Feedback für das Erreichen ihrer Zwischenziele sowie ihres Gesamtzieles zu holen und zweitens kann dadurch ein Gefühl von Kontrolle über die erbrachten oder zu erbringenden Leistungen des langfristigen Ziels generiert werden. Mit dieser Einrichtung der selbständigen Leistungskontrolle bietet er den Schülern eine Grundlage für erweiterte flow-Erlebnisse. Flow kann in diesem Zusammenhang ausgelöst werden, weil sie sich fachliche „Plattformen“ schaffen, aber auch, weil sie die Kontrolle über Anforderungen haben, denn sie können selbst bestimmen, wie hoch sie ihr Ziel stecken. Hier deutet sich an, dass das flow auslösende Moment der Kontrolle in der Freinet-Pädagogik unmittelbar mit weiteren Bedingungen verknüpft sein kann, die ebenfalls flow auslösende Wirkung haben. Kontrolle, Feedback, dosierte Herausforderungen und Ziele sind hier beispielsweise eng miteinander verknüpft (vgl. am Ende des Kapitels den Abschnitt über weitere flow förderliche Bedingungen). Das erhöht den Zugang zu flow-Erlebnissen.

Gemeinschaft

Neben der Leistungs- und Tätigkeitskontrolle werden in der Freinet-Pädagogik auf einer dritten Ebene Kontrollerfahrungen durch den Klassenverband ermöglicht. Die Schüler arbeiten miteinander, sie gestalten auch das Leben in der Schule. Der Gemeinschaftsaspekt darf bei Freinet nicht vergessen werden, da er die Persönlichkeitsentwicklung „im Rahmen der Bedürfnisse der Gemeinschaft“ fördert (Freinet 1998, 537).

Die Klassenversammlung – als Forum für die Mitbestimmung und Mitverantwortung der Schüler – ist eine Instanz, die die Schülerinnen motiviert, den Schulalltag mit zu organisieren. Die Aufgaben werden „zu einer ganz persönlichen Angelegenheit eines jeden Kindes. Die Schule wird seine Schule, und das ist tatsächlich schon ein erster entscheidender Erfolg“ (Freinet 1998c, 547). Das Kind identifiziert sich also mit der Schule. Es kann mitbestimmen. Die Klassenversammlung beinhaltet im Rahmen einer Gemeinschaft mehrere Aspekte, die Kontrolle ermöglichen und Feedback geben: (1) Der so Rechenschaftsbericht macht transparent, was in der letzten Woche beschlossen und umgesetzt worden ist. Diese Rückmeldung fasst die wichtigsten Dinge zusammen und ermöglicht ein Gefühl, Kontrolle über das Geschehen in der Klasse zu haben und diese Kontrolle mit persönlichem Engagement auszuüben. Es wird beispielsweise beschlossen, wer bestimmte Spielsachen einkauft oder wer ein Weihnachtsspiel organisiert. (2) Auf der Tagesordnung steht auch die Diskussion darüber, welche Lehrmittel benötigt werden und womit sich die Kinder im Unterricht beschäftigen wollen. Die Kinder haben hier ein großes Mitspracherecht und organisieren gemeinsam ihre Interessen (Eine Häsin kaufen? Oder lieber Schallplatten zu bestimmten Themen?). Durch dieses Mitspracherecht können die Schüler ein Gefühl von Kontrolle über das Geschehen entwickeln. (3) Um die Vorhaben umzusetzen, gibt der Kassenwart den Kassenbestand an. Die Lage der Finanzen wird besprochen. Dies dient als Rückmeldung, inwieweit die Wünsche der Schülerinnen realistisch sind und erfüllt werden können. (4) Auf der Wandzeitung schließlich tragen die Schüler im Laufe der Woche unter den Rubriken „Ich kritisiere – Ich beglückwünsche – Ich möchte gern – Ich habe verwirklicht“ (Freinet 1997, 109) ihre „Beschwerden“ oder Sonstiges ein. Durch dieses Arbeitsmittel erhält und gibt jeder einzelne Feedback. Es dient dem „Pulsschlag der schulischen Gemeinschaft“ (ebd.). „Selbst die Furchtsamsten werden durch diese familiäre Atmosphäre der Selbstkritik ermuntert, ihre Meinung zu sagen“ (Freinet 1998c, 546). Die Kinder zeigen „in dieser Art der Selbstkritik eine erstaunliche Loyalität und einen beachtlichen Mut. Rücksichtnahme aus Kameradschaft spielt nur eine geringe Rolle. Man darf sich kritisieren und bleibt doch gut Freund, wenn man loyal ehrlich und gut ist“ (Freinet 1998c, 546).

Die Kinder können sich mit dem Leben in der Schule identifizieren, weil sie auf verschiedenen Ebenen (Finanzen, fachliche Interessen, soziales Miteinander) Kontrollerfahrungen machen und regelmäßig Feedback erhalten. Das System von Feedback und Kontrolle im Rahmen der Klassenversammlung stellt nicht nur einen pädagogischen Trick für eine beginnende erzieherische Situation dar, sondern kann sich langfristig aufrechterhalten: Jedes einzelne Kind trägt dazu bei, dass sich das Schulleben als Gemeinschaft harmonisch entwickeln kann. Somit lernen die Kinder durch Kontrollerfahrungen und dadurch dass sie Feedback erhalten, im gemeinsamen Miteinander authentisch zu handeln (Beckmann 1999) und ihre eigene „Linie des Lebens“ zu vertreten.

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Glücklicher mit anderen

Ein Beispiel für flow in der Gruppe beschreibt Sato (1991). Japanische Motorradbanden erleben während ihrer Rennen auf Straßen einen „kollektiven Rausch“. Ein Bandenmitglied: „Es hat irgendwie damit zu tun, daß wir uns alle ‘im Gleichklang fühlen’ ... Am Beginn des Rennens sind wir noch nicht vollkommen in Harmonie. Aber wenn das Rennen sich gut entwickelt, dann fühlen wir füreinander. […] Wenn unsere Gedanken eins werden. In einem solchen Moment ist das eine wahre Lust“ (zit. in Sato 1991, 134).

Überträgt man diese Beschreibung auf die Situation in der Freinet-Schule, so finden genauso wie in der Motorradbande gruppendynamische Interaktionen statt. Bei einer Klassenversammlung arbeiten die Schüler gemeinsam an einem Ziel: Wenn die Organisation des Schulalltags gut läuft, dann kann sich die Klasse „im Gleichklang“ fühlen. Es kann sich während einer Klassenversammlung ein Harmoniegefühl entwickeln. Die Bedeutung des Zusammenseins mit anderen beschreibt Csikszentmihalyi (1999, 109): „Im allgemeinen sind Menschen sehr viel glücklicher und motivierter, wenn sie mit Freunden zusammen sind, und zwar ganz unabhängig davon, was sie tun.“ Wenn also der Klassenverband freundschaftlich zusammenarbeitet, die Kinder trotz gegenseitiger Kritik „gut Freund“ bleiben, so kann sich allein dadurch, dass die Schüler in Gemeinschaft handeln, ein Gefühl von Glück oder auch flow einstellen.

Da die Schülerinnen in Gemeinschaft ihr Lernen organisieren, gibt die Freinet-Pädagogik aus der sozialen Interaktion heraus grundsätzlich Anlass, motiviert und möglicherweise im Zustand von flow in einem Gleichklang zu arbeiten. Dieses Handeln in der Gemeinschaft kann auf der flow auslösenden Ebene der flow-Theorie eingeordnet werden.

 

3.4.4       Auswirkungen von evozierten Kontrollerfahrungen und Feedback

Freinets Pädagogik wirkt auf zwei Ebenen: auf der individuellen und der gesellschaftlichen. Auf ersterer beschreibt Freinet einen positiven Kreislauf, den des schöpferischen Tuns. Schöpferisch tätig sein bedeute, „große Bedürfnisse des Lebens“ (Freinet 1998b, 389) zu befriedigen. Daraus resultiere ein „Zustand des Wohlbefindens“, der sich zur transzendenten Erfahrung ausdehnen könne, der „bis in den höchsten Bereich unseres Seins reicht und nur zu vergleichen ist mit dem Eindruck, den wir gelegentlich haben, daß wir einer höheren Ordnung folgen, deren übermenschliche Macht uns erleuchtet“ (Freinet 1998, 389). Dieser Zustand des (transzendenten) Wohlbefindens wiederum führe zu „tiefer Ausgeglichenheit und Harmonie, Kraft und Vertrauen für das Leben und führt den Menschen zu einem beharrlichen Aufstieg bis zu den Gipfeln“ (Freinet 1998b, 389). Dieser Kreislauf sei möglich, weil er einem „psychische[n] Bedürfnis“ entspreche, sich „selbst zu übertreffen“ (Freinet 1997, 115). Er „stellt die geheimnisvollen Verbindungen wieder her, die der Irrtum unterbrochen hatte“ (Freinet 1998b, 390).

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Teleonomie des Selbst[6]

Mit diesem Kreislauf der individuellen Entwicklung beschreibt Freinet die Teleonomie des Selbst: Die „psychischen Bedürfnisse“ und der „beharrliche Aufstieg“ sind äquivalent zum menschlichen Streben nach Komplexität (Csikszentmihalyi 1995, 260). Sie können mit einer Teleonomie des Selbst ihre Potenziale voll ausschöpfen und „große Bedürfnisse des Lebens“ verwirklichen, da sich eine innere Zielhierarchie entwickelt hat, die die Schüler zu „tiefer Ausgeglichenheit und Harmonie“ führt. Das heißt aus der Sicht der flow-Theorie, die Schülerinnen handeln in einem Zustand psychischer Ordnung.

Diese Folgen der Freinet-Pädagogik können zum einen auf der Ebene der flow-Auslöser eingeordnet werden, weil die Teleonomie des Selbst eine innere Instanz ist, die für flow verantwortlich ist und somit flow auslösende Funktion hat (Csikszentmihalyi 199a; 37). Auf diese Weise können die „geheimnisvollen Verbindungen“ wiederhergestellt werden: Die Schüler finden sich in der Lage, eine innere Zielhierarchie aufzubauen; die Teleonomie des Selbst entsteht und festigt sich. Auf der anderen Seite lassen sich die Auswirkungen der Freinet-Erziehung auch auf der Zustandsebene einordnen, da Freinet einen Zustand des Wohlbefindens beschreibt, der dem des flow-Erlebens und seinen Auswirkungen sehr ähnlich ist: Er verwendet Beschreibungen wie „höchste Bereiche des Seins“, „tiefe Ausgeglichenheit und Harmonie“, „Kraft und Vertrauen für das Leben“. Seine Schilderungen lassen darauf schließen, dass die Kinder und Jugendlichen ihre Teleonomie des Selbst entwickeln können. Wenn dies der Fall ist, erleben sie vermutlich relativ viel flow.

 

Die zweite Wirkung der Freinet-Pädagogik zeigt sich auf der gesellschaftlichen Ebene: Allmählich setze sich durch die „außerordentliche Fruchtbarkeit“ der „schöpferischen Kraft“ eine „neue Lebensweise in Gang“: Dabei geht es Freinet nicht darum, den Schülern als Teil der Gesellschaft eine neue Lebensweise überzustülpen, sondern er sieht, dass Veränderungen langsam geschehen und vor allem, dass sie von unten kommen müssen. „Es geht nicht im geringsten darum, alle Spuren der Vergangenheit wütend zu vernichten. [...] Diese Anpassung muß im Zeichen der im Dienst des Lebens stehenden Harmonie und Ausgeglichenheit vollzogen werden. [...] Es wird eine Bildung sein, die nicht von oben herunter befohlen wird, ganz gleich, wie auch immer die Anschauung und der gute Wille der befehlenden Macht beschaffen sein mögen. Sie wird sich aus dem wirklichen Leben entwickeln“ (Freinet 1998c, 495 f.). Die Veränderungen erfolgen also einerseits durch Lehrerinnen, die seine Ideen umsetzen[7], sowie andererseits durch Schülerinnen selbst, die die neue Lebensweise durch ihre Erfahrungen (mit dem flow-Phänomen) leben lernen. Somit verändert Freinet die Gesellschaft „von unten her“ gleich zweigleisig.

 

 

Aus der Sicht der flow-Theorie: Erziehung zur guten Gesellschaft

Freinet beschreibt die gesellschaftlichen Auswirkungen seiner Pädagogik wie Csikszentmihalyi: „Neue Lösungen werden am ehesten von der Basis ausgehen, wo die Begeisterung und das Engagement am größten sind“ (Csikszentmihalyi 1995, 367). Freinets Pädagogik begeistert Lehrerinnen und Lehrer. Auf diese Weise können sie als Multiplikatoren an der Basis flow fördern und eine autotelische Lebensweise bei Schülerinnen in Gang setzen. Eine Folge: „Jede Steigerung der Komplexität auf individueller Ebene läßt sich in einen gesellschaftlichen Fortschritt umsetzen und umgekehrt“ (Csikszentmihalyi 1995, 352). Menschen, die über autotelische Fähigkeiten verfügen, tragen also zum gesellschaftlichen Fortschritt einer neuen Lebensweise bei. Umgekehrt fördert eine zunehmend autotelische Gesellschaft ihrerseits die Möglichkeit, flow zu erleben und Menschen zu autotelischen Personen zu erziehen. Dadurch kann in einer Gesellschaft eine autotelische Atmosphäre entstehen, die Freinet als „ganz neue Lebensweise“ bezeichnet. Sie hat nicht nur positive Auswirkungen für einzelne Menschen, die einen besseren Zugang zu flow bekommen können, sondern flow „ist vielleicht das beste Rezept für soziale Ordnung“ (Csikszentmihalyi 1995, 320). Diesen Kreislauf hat Freinet mit seiner Erziehung zu autotelischen Fähigkeiten und seiner pädagogischen Lehrerbewegung initiiert.

Die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Pädagogik können auf der flow auslösenden Ebene der flow-Theorie eingeordnet werden, zum einen durch persönliches Vorleben derjenigen (Schüler), die die von Freinet propagierte Lebensweise infolge Erziehung angenommen haben, zum anderen durch das aktive Verbreiten der Lebensphilosophie durch Lehrer als Multiplikatoren. Die Menschen, die eine seine Lebensweise angenommen haben und sie verbreiten, sind für Freinet eine tragende Basis, auf der er das flow-Phänomen in einer Gesellschaft verbreiten möchte.

 

3.4.5       Weitere flow-Elemente

Bisher ist die Bedeutung von Kontrollerfahrungen und Feedback auf verschiedenen Ebenen der Freinet-Pädagogik aufgezeigt worden, womit die ersten beiden Schritte der hermeneutischen „Horizontverschmelzung“ vollzogen worden sind: Erstens wurde Freinets Pädagogik unter dem Blickwinkel von Kontrolle und Feedback beschrieben, und zweitens wurden die daraus hervorgegangenen charakteristischen Kriterien aus der Sicht unterschiedlicher Ebenen der flow-Theorie interpretiert, um zu zeigen, dass sich viele Aspekte dieses pädagogischen Ansatzes als flow förderlich erweisen. In diesem Abschnitt werden nun weitere Aspekte beschrieben, die mit den Elementen des flow-Phänomens übereinstimmen. So zeige ich mit diesem dritten Schritt des hermeneutischen Vorgehens, dass nicht nur Kontrollerfahrungen und Feedback eine flow auslösende Rolle spielen können, sondern dass es in der Freinet-Pädagogik auch weitere Bedingungen gibt, die flow evozieren können.

Herausforderung. Freinets Pädagogik ermöglicht herausfordernde Situationen, jedoch benutzt er nicht explizit den Begriff „Herausforderung“, sondern er umschreibt die Situationen. Er spricht beispielsweise abstrakt davon, „das Lebenspotenzial für eine Aktivität zu benutzen [...], das den kindlichen Möglichkeiten angepasst ist und eine große Spanne von Reaktionen wie Ermüdung-Erholung; Erregung-Ruhe [...]; Angst-Sicherheit, Risiko und Sieg umfasst“ (Freinet 1997, 115). Die Arbeit solle dem „ständigen Wunsch“ entsprechen „sich selbst zu übertreffen, die anderen zu übertreffen, große oder kleine Siege zu erringen“ (Freinet 1997, 115).

Freinet beschreibt auch konkret den Umgang mit schwierigen Situationen: „Kommen Sie dem Setzer nicht zu Hilfe, um diese für das Kind so schwierige Arbeit im Handumdrehen zu beendigen; es würde Ihre gutgemeinte Absicht als echte Beleidigung auffassen. Es will diese Arbeit selbst tun. Es stimmt seine Kenntnisse und seine Bewegungen, so gut es kann, aufeinander ab. Das wird vielleicht eine halbe Stunde dauern, aber welch ein Gewinn und welch eine Freude! [...] Auf diese Weise werden rasch Lernfortschritte erzielt“ (Freinet 1997, 46). Die Kinder verrichten eine Arbeit, „die ihre Kräfte übersteigt. [...] Wenn es Schwierigkeiten gibt, umso besser, denn unsere Schüler strengen sich gerne an, um das selbstgesteckte Ziel zu erreichen“ (Freinet 1997, 46). Er beschreibt herausfordernde Situationen also indirekt, über emotionale Zustände wie Erregung sowie über den Willen, eine schwierige Situation zu meistern und sich selbst zu übertreffen, um die eigenen Kräfte zu entdecken. Technisch betrachtet ermöglicht er diese Herausforderungen – wie oben beschreiben – durch das tastende Versuchen, Wochenarbeitspläne, Fertigkeitsbescheinigungen und durch das Festhalten der Leistungen im Fortschrittstagebuch.

Herausforderungen werden auch indirekt über seine pädagogische Grundeinstellung deutlich. Die Kinder müssen sich mit den Anforderungen der Realität auseinandersetzen (Freinet 1998, 549 f.), sie können nicht tun und lassen, was sie wollen. Dies fordert die Fähigkeiten der Schüler sicherlich in einigen Situationen heraus.

Neben dem Aspekt von Kontrollerfahrungen und Feedback ermöglicht Freinet also auch Herausforderungen, die flow auslösend wirken können.

Ziel. Freinet ermöglicht eine weiter Komponente, die flow auslösend wirken kann. Die Schüler Arbeiten auf ein Ziel hin:. „Wenn es normale Anstrengung bedeutet, natürlich auf ein Ziel gerichtet, das in der Linie unseres Lebens liegt, dann drückt es nur einen optimalen Prozeß unserer Aktivität aus!“ (Freinet 1998, 345). Hier wird deutlich, dass es nicht nur einfach Ziele sind, die die Schüler verfolgen, sondern dass die Ziele auch eine bestimmte Qualität haben sollen: Sie sollen in der Linie des Lebens liegen, sich also einfügen in den Strom der Handlungen, die ein Selbst formen. Hier beschreibt Freinet das gleiche Phänomen wie Csikszentmihalyi bei den Handlungen autotelischer Personen: Je weiter die Teleonomie des Selbst entwickelt ist, desto konkreter hat sich die Zielhierarchie einer Person herauskristallisiert. Damit sich umgekehrt ein authentisches Selbst herausbilden kann, ist es sinnvoll, dass Ziele des Handelnden in einer Linie liegen. Diese pädagogische Komponente kann also neben dem Aspekt von Feedback und Kontrolle auch flow förderlich wirken.

Konzentration. „Die Konzentration ist eines der wichtigsten Prinzipien unserer neuen Erziehung und eines der wirkungsvollsten“ (Freinet 1998, 345).[8] Freinet fordert „Aufmerksamkeit von besonderer Qualität, die nicht mehr von einer anormalen und erschöpfenden Konzentration herrührt, sondern von der Harmonie eines gut geordneten Mechanismus selbst, den ein kräftiger Motor antreibt“ (Freinet 1998b, 390).

Hier beschreibt Freinet das Phänomen, wie Csikszentmihalyi die Bildung der Teleonomie des Selbst sieht: Durch die Teleonomie des Selbst wird eine Aufmerksamkeit möglich, die nicht mit einer erschöpfenden Konzentration zusammenhängt, sondern die als Motor intrinsisch motiviert die Teleonomie des Selbst und die psychische Ordnung eines Handelnden stärkt.

Freinet erläutert also, dass Konzentration bedeutsam ist und auch, welche Qualität sie aus pädagogischer Sicht haben sollte. Man kann deshalb davon ausgehen, dass es die Freinet-Pädagogik den Schülern ermöglicht, sich während der Arbeit zu konzentrieren. Dadurch eröffnet er einen weiteren Zugang zu flow.

Struktur. Struktur ermöglicht das Freinet-Konzept auf zweierlei Weise: Zum einen fördert es durch die Zielsetzung und Realitätsanforderungen eine organisatorische Struktur des Arbeitens. Dies wird etwa durch das Erarbeiten von Zielen bei Arbeitsplänen und Fertigkeitsbescheinigungen möglich, wie auch durch regelmäßige Klassenversammlungen, die den Schulalltag organisieren.

Neben dieser äußerlichen Arbeitsstruktur fordert Freinet „ein Höchstmaß an Ordnung und Disziplin“, jedoch nicht im formalen Sinne von „brav, gehorsam, ruhig“ (1997, 67), sondern er spricht von verwurzelter Ordnung und Disziplin (Freinet 1997, 105), die aus der Sache selbst erwächst. So wird es den Kindern ermöglicht, ihre eigene Arbeitsstruktur zu entwickeln und herauszufinden, auf welchen Wegen sie am besten ihre Ziele erreichen. Freinet spricht mit der verwurzelten Ordnung und Disziplin das an, was Csikszentmihalyi als Zustand der psychischen Ordnung infolge von flow-Erlebnissen auf der kurzfristigen Situationsebene und langfristig als Bildung einer Teleonomie des Selbst beschreibt.

Diese Ordnung will Freinet pädagogisch durch die Selbstkontrollmöglichkeiten forcieren, beispielsweise mit Arbeitskarteien, Schuldruckerei oder Leistungskurven. So können intrinsisch motivierte innere Disziplin und Ordnung entstehen. Dieses disziplinierte Arbeiten wird durch unter anderem durch erfahrene, bewegliche und beherzte Lehrer möglich. Die Freinet-Konzeption ermöglicht also strukturiertes Arbeiten: So unterstützen etwa die Wochenarbeitspläne den äußerlich geregelten Rahmen des Handelns, woraus sich dann meist eine intrinsisch motivierte innere Ordnung und Disziplin entwickeln kann. Damit erfüllt die Freinet-Pädagogik eine weitere flow förderliche Bedingung.

Freiheit. Freiheit ist ein wichtiger Punkt in der Freinet-Pädagogik. Doch Freinet betrachtet Freiheit nicht als „totale Freiheit des Kindes. [...] Weder in der Schule noch in der Gesellschaft gibt es die Freiheit an sich. Man hat die Freiheit zu arbeiten, die Freiheit sich zu bewegen, zu sprechen oder zu schreiben. [...] Die Realisierung eines Maximums an Freiheit der Arbeit, der Bewegung und des Ausdrucks setzt daher ein Maximum an technischer Organisation voraus, ohne die der Begriff der Freiheit nur ein Köder wäre“ (Freinet 1997, 112 f.).

Freiheit ist bei Freinet also ein relativer Begriff. Absolute Freiheit gibt es aus seiner Sicht nicht. Daher kann man die Freiheit in Freinets Pädagogik, wie etwa die freie Wahl von Arbeitsschwerpunkten, freies Experimentieren und den freien Ausdruck in einen strukturierten Rahmen (Maximum an technischer Organisation) eingebettet sehen. Damit entspricht der Begriff der Freiheit dem von Csikszentmihalyi, der Grenzen als notwendig ansieht, da sonst die Konzentration abnimmt, es schwerer wird, in einen flow-Zustand zu gelangen, und ein Gefühl der Beliebigkeit eintreten könne (C 1993, 294).

In so einem strukturierten Rahmen kann der freie Ausdruck etwa die Kreativität des Kindes wie auch seine Aktivität fördern (Freinet 1997, 28) Wichtig ist Freinet die Freiheit im Rahmen der natürlichen Methoden, damit die Kinder sich auf eigenen Forschungswegen ihren Zielen nähern können. Nur so können sie sich zu authentischen Personen entwickeln und erfahren keine „Ichspaltung“ (Freinet 1997, 38). In der Freinet-Pädagogik wird also ein weiteres Kriterium umgesetzt, das flow-förderlichen Charakter haben kann.

Im Zusammenhang mit dem Thema Freiheit setzen in der pädagogischen Praxis allerdings Schwierigkeiten ein: Wenn innerhalb der Arbeitsblöcke offene Situationen entstehen, führt dies im Unterricht immer wieder zu Konflikten oder sogar chaotischen Situationen. Viele der heutigen Schüler fühlen sich „überfordert und verängstigt, wenn sie keine Struktur entwickelt haben, wenn sie nicht wissen, wie Rücksichtnahme und Eigeninteresse im Gleichgewicht gehalten werden können, kurz: Wenn es ihnen an sozialer Kompetenz mangelt. Hauptsächlich aus diesem Grund vermeiden viele Lehrpersonen offene Situationen und praktizieren deshalb auch keine Freinet-Pädagogik“ (Rügsegger 2000, 19). Mit dem Thema Freiheit muss man wahrscheinlich dosiert umgehen, und darauf achten, dass Schüler diesbezügliche Fähigkeiten herausbilden, damit sie nicht überfordert werden, sondern Herausforderungen wahrnehmen können.

Selbstvergessenheit. Der Zustand der Selbstvergessenheit während einer flow-Episode kann sich bis zum einem Gefühl von Transzendenz entwickeln (Plöhn 1998, 5). Freinet beschreibt diese Form der Selbstvergessenheit: Ein „Zustand des Wohlbefindens“ kann bis in den „höchsten [..] Bereich unseres Seins“ (Freinet 1998b, 389) reichen, wie eine „höhere Ordnung“, eine „übermenschlichen Macht“, die „uns erleuchtet“ (Freinet 1998b, 389). Diese geradezu religiös klingende Formulierung über die Qualität von weltlichen Erlebnissen kann mit dem Phänomen verglichen werden, das die flow-Forschung als eine intensive Form von Selbstvergessenheit, als Transzendenz beschreibt: das Gefühl völligen Einsseins mit dem Tun und der jeweiligen Umgebung. Freinet verwendet auch andere Ausdrücke für diese Erlebenszustand: „natürliche Hingabe“ oder „Rausch des Triumphes“. Diese Beschreibungen deuten darauf hin, dass auch hier die Freinet-Pädagogik das flow-Phänomen hervorrufen kann.

Veränderte Zeitwahrnehmung. Über die Zeit schreibt Freinet: „Man behauptet, daß acht Stunden überall acht Stunden seien. Auf der Uhr vielleicht. Für meine psychologische Wirklichkeit ist der Maßstab aber offensichtlich falsch“ (Freinet 1998, 129). Er vergleicht hier die objektive Zeiterfassung mit der subjektiven Wahrnehmung. Die psychologische Wirklichkeit könnte danach subjektiv eine verkürzte Zeit darstellen, wenn eine Tätigkeit Freude macht, sie kann sich aber auch zäh in die Länge ziehen, wenn eine Situation als langweilig oder Angst auslösend erlebt wird. Die von Freinet veränderte Zeitwahrnehmung beschreibt ein weiteres Element seiner Pädagogik, das auf das flow-Phänomen schließen lässt.

Zusammenfassung der flow-förderlichen Bedingungen: Aus der Sicht flow auslösender Bedingungen ist das Hauptkennzeichen der Freinet-Pädagogik das Ermöglichen von Kontrollerfahrungen und Feedback. Diese beiden Aspekte sind zentral, da Freinet initiativefreudige und kritische Menschen hervorbringen will. Des Weiteren ermöglicht er zusätzliche Bedingungen, die den Zugang zu flow-Erlebnissen ermöglichen: Herausforderungen, Ziele, klare Strukturen, Konzentration sowie Freiheit. Selbstvergessenheit und veränderte Zeitwahrnehmung sind Charakteristiken von flow. Die folgende Tabelle zeigt zusammenfassend, welche Aussagen von Freinet bestimmten flow-Elementen zugeordnet werden können (wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich die Quellenangaben auf Freinet).

1.    Kontrolle

   &

2.    Feedback

„Tastendes Versuchen“ und „natürliche Methoden“ wirken der „Zerstückelung und Verzettelung“ entgegen (1997, 141), wodurch das Handeln auf einer „unverfälschten Wesenheit“ aufbauen kann (1998c, 534)

3.    Herausforderungen

„Lebenspotential für eine Aktivität nutzen“, der „ständige[[9]] Wunsch, sich selbst zu übertreffen“ (1997, 115); „unsere Schüler strengen sich gerne an, um das selbstgesteckte Ziel zu erreichen“ (1997, 46)

4.    Zielvorgaben

Auf ein Ziel hinarbeiten, „das in der Linie unseres Lebens liegt“ (1998, 345)

5.    Struktur

Durch Wochenarbeitspläne, Fertigkeitsbescheinigungen. „Höchstmaß an Ordnung und Disziplin“ (1997, 67), die aus der Sache selbst erwächst

6.    Konzentration

„Die Konzentration ist eines der wichtigsten Prinzipien unserer neuen Erziehung und eines der wirkungsvollsten“ (1998, 345)

7.    Freiheit

„Man hat die Freiheit zu arbeiten, die Freiheit, sich zu bewegen [...]. Die Realisierung eines Maximums an Freiheit der Arbeit [...] setzt daher ein Maximum an technischer Organisation voraus, ohne die der Begriff Freiheit nur ein Köder wäre“ (1997, 112 f.)

8.    Selbstvergessenheit

     (als Charakteristikum von flow)

Wohlbefinden „bis in den „höchsten Bereich unseres Seins“ (1998b, 389), eine „übermenschlichen Macht“, die „uns erleuchtet“ (1998b, 389), „natürliche Hingabe“ , Rausch des Triumphes“

9.    veränderte Zeitwahrnehmung

(als Charakteristikum von flow)

„Man behauptet, daß acht Stunden überall acht Stunden seien. Auf der Uhr vielleicht. Für meine psychologische Wirklichkeit ist der Maßstab aber offensichtlich falsch“ (1998, 129)

Tabelle 3.3.1. Flow-Elemente in der Freinet-Pädagogik

 

Aus der Sicht der flow-Theorie kann man bei Freinet sieben Merkmale wiederfinden, die mit den Elementen des flow-Zustandes übereinstimmen, und zwei die das flow-Erleben charakterisieren. Jedes Element kann vor dem Hintergrund der Kausalitätsfeststellung von Csikszentmihalyi (Csikszentmihalyi 1993, 287) flow auslösende Funktion haben, den Zugang zu einem flow-Erlebnis ermöglichen und dann alle weiteren Elemente nach sich ziehen. Dies gelingt in flow förderlichen pädagogischen Situationen besonders gut. Da jedoch das Vorhandensein eines Elements allein noch kein flow-Erlebnis als Erlebensform ausmacht, sind vermutlich auch die anderen Bedingungen wichtig, damit der flow-Zustand eintreten kann. Freinets Pädagogik ermöglicht nicht nur Kontrollerfahrungen und Feedback, sondern auch die anderen Elemente, die flow auslösen können. Den Elementen Selbstvergessenheit und veränderte Zeitwahrnehmung kommt keine flow auslösende Bedeutung zu, sondern sie können Hinweise auf das Erleben von flow sein.

Ein Beispiel für das Zusammenwirken der beschriebenen Elemente könnte wie folgt aussehen: Ziele, beispielsweise festgelegt durch die Wochenarbeitspläne oder Fertigkeitsbescheinigungen, fordern die Schüler heraus, „sich selbst zu übertreffen“. Arbeitskarteien und Anforderungsverzeichnisse ermöglichen strukturiertes Arbeiten. Mit diesen Techniken sowie mit der natürlichen Methode haben die Kinder Gelegenheit, sich ganz auf ihre lebensnahe Tätigkeit zu konzentrieren. Die Kinder und Jugendlichen arbeiten dabei in Freiheit. Da sie die Ziele auf ihre Weise erarbeiten, nehmen sie Feedback wahr, wie schnell sie sich ihrem Ziel nähern, und mit dem Voranschreiten der Tätigkeit können sie Kontrolle erleben. Da Freinet die scholastische Verfahrensweise ablehnt, haben die Schüler die Möglichkeit, in ihrem Tun selbstvergessen aufzugehen. Dabei hat Freinet bei den Schülern vermutlich veränderte Zeitwahrnehmung feststellen können. Dies ist ein Beispiel, wie die beschriebenen Elemente in der Freinet-Pädagogik zusammenhängen und so möglicherweise das flow-Phänomen ausgelöst haben können. Kontrollerfahrungen und Feedback kommen in der Freinet-Pädagogik eine zentrale Bedeutung zu. Anhand der Elemente die für flow charakteristisch sind und die gleichzeitig flow auslösen können, kann geschlossen werden, dass dieses Phänomen bei Freinets Schülern vermehrt ausgelöst wurde. Dies wird durch seine Aussage unterstrichen, dass er die schöpferische Kraft pädagogisch als „vergessen, verkannt und unterschätzt“ (1998b, 383) sieht. Er scheint also viel Wert auf diese Form des Erlebens zu legen, die Ähnlichkeiten zum flow-Phänomen aufweist. Wie viel flow diese pädagogische Konzeption heute tatsächlich im Vergleich zu konventionellen Schulen ermöglicht, müsste weiterführend empirisch untersucht werden.

 

3.4.6       Bedeutung für die Erziehung

Dieser Abschnitt soll aufzeigen, dass Freinet allein durch das Evozieren von flow die Kinder erzogen hat. Es wird hier nicht der Stellenwert von flow in der Freinet-Pädagogik betrachtet, welche Bedeutung diese Form des Erlebens bei Freinet insgesamt hat, sondern hier wird aufgezeigt, dass das flow-Phänomen durch bestimmte günstige flow-förderliche Bedingungen vermutlich ausgelöst worden ist. Auch wenn flow in der Freinet-Pädagogik ein beiläufiges Phänomen sein sollte, so kann die Freinet-Pädagogik nur allein dadurch, dass sie es vermutlich ausgelöst hat (und heute noch auslöst), die Kinder ein Stück weit erziehen.

Es werden nun vier zentrale Aspekte beleuchtet, die das grundlegende Wesen von Erziehung darstellen (vgl. Einleitung) und die durch das Evozieren von flow realisiert werden. Mit diesem vierten Schritt des hermeneutischen Vorgehens soll die erzieherische Relevanz des flow-Phänomens in der Freinet-Pädagogik aufgezeigt werden. Während das vorliegende Kapitel analysiert hat, welche einzelnen Bedingungen flow förderlich sind, zeigt dieser Abschnitt die Bedeutung von flow-Erlebnissen für die Erziehung auf. Möglicherweise tragen die Auswirkungen von flow auch zu der internationalen Etablierung, Aktualität und dem Erfolg der Freinet-Pädagogik bei.[10]

1. Das Erziehungsziel: „Körperlich gesund, geistig klar und seelisch ruhig“ definiert Lauff (1999) das zentrale Ziel von Erziehung. Csikszentmihalyi beschreibt diesen Zustand als autotelische Fähigkeiten. Mit dieser Form menschlichen Seins stimmt Freinet in seinem Erziehungsziel übereinnämlich, dass die Kinder „Lebensfreude“ und „schöpferische Kraft“ beibehalten, sich ausgeglichen fühlen, sich in einem größtmöglichen Maße entfalten, ihre individuelle „Lebensformel“ entwickeln und sich nicht „verleiten lassen zu willkürlichen aufgezwungenen Tätigkeiten“. Mit diesem Ziel kann er Kinder zu autotelischen Persönlichkeiten erziehen. Seine pädagogischen Vorstellungen stimmen mit denen von Lauff und von Csikszentmihalyi überein.

Freinets Erziehungsziel ist auf drei Ebenen der flow-Theorie greifbar: (1) Auf der Ebene des Menschenbildes nimmt er an, dass Menschen ihre Potenziale entfalten sowie ihre eigene Lebensformel und Lebensfreude entwickeln können. (2) In seinen Beschreibungen über des transzendenten Tuns und der Möglichkeit einer veränderten Wahrnehmung der Zeit beschreibt er damit zwei charakteristische Kriterien, die Menschen im flow-Zustand wahrnehmen. (3) Schließlich erzieht Freinet auch auf der flow auslösenden Ebene, da er pädagogische Bedingungen wie Kontrollerfahrungen und Möglichkeiten zum Feedback beschreibt, die das flow-Phänomen auslösen können. Das Erziehungsziel der „individuellen Lebensformel“ oder des autotelischen Seins kann somit also auf drei Ebenen erreicht werden.

2. Die stellvertretende Verantwortung. Freinet übernimmt die stellvertretende Verantwortung für die Entwicklung der Kinder zu initiativefreudigen Menschen. Die Freinet-Pädagogik hilft ihnen, Kontrolle über ihr Leben zu empfinden und mit Anforderungen selbstbestimmt und handlungsorientiert umzugehen. Auf diese Weise können sie ihre individuelle „Lebensformel“ verwirklichen und „große Bedürfnisse des Lebens“ realisieren. Freinet übernimmt also die stellvertretende Verantwortung dafür, dass Kinder ihre Teleonomie des Selbst und folglich auch sich zu autotelischen Persönlichkeiten entwickeln können. Seine Motivation, auch gesellschaftlich „eine ganz neue Lebensweise [...] in Gang zu setzen“ und das lebenslange Konzeptionieren einer lebendigen Schule zeigen, dass er sich für verbesserte Lernmöglichkeiten verantwortlich fühlt, durch die sich die Kinder zu authentischen Personen entwickeln können.

Die stellvertretende Verantwortung von Freinet kann in der flow-Theorie auf der Ebene der flow auslösenden Bedingungen eingeordnet werden: Er schafft Voraussetzungen, die die Schüler befähigen, ihre Interessen zu verfolgen. Diese Tätigkeiten werden vermutlich zu einem großen Teil im flow erlebt (vgl. Schiefele 1992, 7).

3. Die Werdenskraft. Kinder können ihre Werdenskraft in einer Freinet-Schule durch die „außerordentliche Fruchtbarkeit“ der schöpferischen Kraft verwirklichen. Freinet sieht in ihr eine hohe pädagogisch fördernswerte Bedeutung, ordnet sie jedoch allgemein als „vergessen, verkannt und unterschätzt“ ein. Die Werdenskraft umschreibt Freinet mit „Lebensformel“, „Fackel des Lebens“, „Begeisterung der ganzen Person“. Damit erfüllt Freinet ein drittes Kriterium aus der Sicht einer Erziehung durch flow. Die Werdenskraft wird besonders auf der Ebene der flow-Auslöser bei Freinet deutlich, da er Methoden aufeinander abstimmt, die flow oder schöpferische Kraft auslösen können und die Werdenskraft der Schüler ankurbeln.

Man muss hier allerdings anmerken, dass sich die heutigen Kinder und Jugendlichen von den Kindern zu Freinets Zeiten unterscheiden, nicht zuletzt durch den starken Einflussder Medien. Die meisten wachsen in einer „Konsumwelt mit Unterhaltungsgeräten“ (Rügsegger 2000, 17) auf und lernen immer weniger, sich eigene Gedanken zu machen, die Welt auf ihre Weise zu erobern (Rügsegger 2000, 17). Es stellt sich in der heutigen Praxis beispielsweise auch die Frage, wie die schöpferische Kraft der Kinder hervorgeholt werden kann, wenn „mehrseitige ‘freie Texte’ [...] nichts anders sind als schlechte Nacherzählungen von Fernsehfilmen“ (Rügsegger 2000, 18). Eine weitere Schwierigkeit bei der Umsetzung der Freinet-Pädagogik in einer zunehmend von den Medien bestimmten Welt scheint zu sein, dass die Kinder wenig Geduld für das Erreichen eines Ziels aufbringen. Nach dem ersten Misserfolg wird die Arbeit oft schon hingeschmissen (Rügsegger 2000, 17). Die ursprüngliche pädagogische Konzeption Freinets muss sicherlich an die heutige Zeit angepasst werden, ohne dass dabei beispielsweise der Grundsatz der Lebensnähe, der „unmittelbarem Kontakt mit dem Leben selbst“ (Freinet 1997, 142), vernachlässigt wird. Dann kann die Werdenskraft der Kinder und Jugendlichen gefördert werden.

4. Die Entwicklungs- und Lebenshilfe. Alles Vorangegangene lässt bereits darauf schließen, dass Freinet Entwicklungs- und Lebenshilfe leistet, denn sein Ziel ist es, Kinder zu kritischen Menschen zu erziehen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Sie sollen ihre eigene Lebensformel finden, die sie befähigt, über das zu entscheiden, was sie wollen oder nicht wollen. Er will sie zu initiativebereiten Menschen erziehen, die sich beispielsweise nicht für etwas Grausames wie einen Krieg verwenden lassen. Dies möchte er durch die aktive Auseinandersetzung mit dem Leben selbst erreichen. Deshalb ermöglicht er durch konkrete lebensnahe Tätigkeiten und Gruppenarbeit u.a. Kontrollerfahrungen, damit die Kinder aktiv ihr Leben in einer Gemeinschaft gestalten lernen und nicht nur „passiv“ das tun, was andere für richtig halten. Mit der Lebenshilfe setzt Freinet ein viertes Kriterium einer Erziehung durch flow um.

Es kann festgehalten werden, dass Freinet mit seiner Pädagogik grundlegende Bedingungen erfüllt, die durch das Auslösen von flow erzieherisch wirksam sind. Die Freinet-Pädagogik scheint also allein durch das Auslösen des flow-Phänomens erzieherisch wirksam zu sein. Vor diesem Hintergrund kann man seine Aussage verstehen, dass er eine „ganz neue Lebensweise [...] in Gang setzen“ möchte (Freinet 1998b, 383) und zu einer „harmonischen und ausgeglichenen Gesellschaft beitragen“ will (Freinet 1998c, 492).

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[1] Das Phänomen der „erlernten Hilflosigkeit“ ist ausführlich beschrieben von Seligmann (1979).

[2] Aus der Sicht der flow-Theorie ist es heute im Vergleich zu früher schwieriger, unmittelbare Kontrolle über die Konsequenzen des erlernten Wissens zu haben, weil die Schülerinnen 1.) „eine Menge theoretischer Kenntnisse erwerben, [...] meist ohne zu verstehen, welchem Zweck dieses Wissen dient“ (Csikszentmihalyi 1995, 254); weil 2.) fast jedes Wissensgebiet dargeboten wird, „als ob es unabhängig von allen anderen Fachrichtungen existierte“ (Csikszentmihalyi 1995, 355 f.); und weil 3.) Schüler heute kaum lernen, wie sie das Wissen einzelner Sachgebiete miteinander verknüpfen sollen (Csikszentmihalyi 1995, 354).

[3] Die Kinder können sich allein oder mit mehreren Mitschülern die Karten vornehmen und durcharbeiten.

[4] Ein Gefühl von Kontrolle kann auch eine Gefahr beinhalten: „Wenn man zu abhängig von der Fähigkeit zur Kontrolle und der angenehmen Aktivität wird, kann man nichts anderem mehr Aufmerksamkeit schenken und verliert letztendlich jegliche Kontrolle: die Freiheit, den Inhalt seines eigenen Bewußtseins zu bestimmen“ (Csikszentmihalyi 1993, 91). Das kontrollierte Tun im flow-Zustand hat demnach zwei Seiten: Die eine Seite bringt Ordnung ins Bewusstsein und löst Wohlbefinden aus; die andere Seite kann zur Sucht führen und das Leben von einer Tätigkeit abhängig machen (Csikszentmihalyi 1999, 86). Vgl. auch im Schlusskapitel den Abschnitt über die Gefahren durch flow.

[5] Freinet empfiehlt die Arbeit mit den Wochenarbeitsplänen ab der fünften Klasse. Die Schülerinnen erarbeiten den gesamten Lehrstoff für alle Fächer und alle Klassen. Der Arbeitsplan „verlangt guten Willen, eine ungewöhnliche Hingabe und Durchhaltevermögen, weil die Arbeit nicht belohnt wird, es sei denn durch Eintragung in die Leistungstabelle“ (Freinet, 1997 106).

[6] Vgl. auch Auswirkungen bei Montessori und Makarenko in den jeweiligen Kapiteln.

[7] 1924 gründet Freinet mit anderen Lehrern zusammen eine „Arbeitsgruppe der modernen Schule“ (Cooperative de l’Ecole Laic, C.E.L.). Die Mitgliederzahl belief sich 1986 auf ca. 30.000. 1957 Gründung der internationalen Lehrerbewegung F.I.M.E.M.: Fédération Internationale des Membres de l’Ecole Moderne. Die Pädagogik Kooperative Bremen e.V. ist die Zentrale der Freinet-Bewegung in Deutschland, die auch die Freinet-Zeitschrift „Fragen und Versuche“ herausgibt (Dietrich 1995).

[8] Hier macht sich möglicherweise sein Kontakt zu Montessori bemerkbar.

[9] Im Original: „dem ständigen ...“

[10] Die Freinet-Kooperative e.V. in Bremen ist der Bundesverband der Freinet-PädagogInnen in Deutschland. Sie hat eine Liste mit internationalen Adressen, organisiert Fortbildungen und auch internationale Symposien.