Maria Montessori (1870 - 1952) wird schon als Erstklässlerin als optimistisch, willensstark, diszipliniert, entschlossen und von hohem Selbstvertrauen beschrieben (vgl. Missmahl-Maurer 1994, 20). Unter großen Schwierigkeiten setzt sie sich beharrlich und zielstrebig gegen Konventionen durch (sie entscheidet sich z.B. gegen den Willen ihres Vaters für ein technisches Gymnasium und wird später die erste Medizinstudentin und Ärztin Italiens). Sie lässt sich durch nichts von ihrem inneren Drang, von ihren Überzeugungen ablenken, sondern konzentriert sich auf das, was ihr persönlich wichtig ist. Dies ist möglicherweise ein Grund ihres überzeugten Einsatzes für die freie Entfaltung menschlicher Potenziale.
Als Assistenzärztin an der psychiatrischen Universitäts-Klinik in
Rom sieht Montessori Kinder leblos auf Bänken liegen. Die Kinder spielen mit
Brotbrocken, bevor sie diese essen. Montessori bemerkt, dass diese Kinder
geistig ausgehungert sind. Sie sieht, dass Kinder zur Gesundung nicht nur
medizinisch, sondern auch psychologisch
versorgt werden müssten. Diese Beobachtung ist ein zentraler Anstoß für
Montessori, sich als Ärztin mit der psychischen Entwicklung von Kindern
auseinander zu setzen.
In diesem Zusammenhang sieht Montessori den Menschen als Werk der
Natur und nimmt an, dass jeder Mensch mit einem „Bauplan der Seele“
ausgestattet sei, das heißt, er habe all die Anlagen in sich, derer er zur
Menschwerdung bedarf. Diese Anlagen
„berufen“ ihn, sich voll zu entfalten. Als eigener „Baumeister“
(Montessori 41972, 13 ff.) könne jeder Mensch seine „ungeheuren
Möglichkeiten“ (Montessori 41972, 15) nutzen, um sich „aus sich
selbst“ (Montessori 41972, 67) eine individuelle „Persönlichkeit“
aufzubauen (Montessori 1973, 73). Die Persönlichkeit entwickle sich in einer
„permanenten Steigerung, die von selbst stattfindet“ (Montessori 41976,
90). Diese Entwicklung sei ein „menschliches Vergnügen“[1]
(Montessori 41976, 205) und habe „einen Sinn in sich selber“
(Montessori 1995, 27).
Das Kind werde also mit Potenzialen geboren, und es sei seine
Berufung, sie in Freude selbst zu verwirklichen und damit seine Persönlichkeit
herauszubilden.[2] Die Freude
an der Entwicklung der Potenziale finde in einem positiven Kreislauf statt, der
sich selbst verfestige.
Aus
der Sicht der flow-Theorie:
Teleonomie des Selbst
Betrachtet man Montessoris Menschenbild aus der
Sicht der flow-Theorie, so findet man
dort auf der Ebene des Menschenbildes den Begriff der Teleonomie des Selbst.
Diese Teleonomie des Selbst ist dafür zuständig, dass Personen ihre Potenziale
nach einer inneren Zielhierarchie entfalten, nach dem Prinzip: „Du sollst mehr
werden als du bist“ (Csikszentmihalyi 1995, 373).
Die Zielhierarchie entwickelt sich, wenn ein
Kleinkind beginnt, seine Aufmerksamkeit zu steuern. Dann reift das Selbst
heran, etabliert sich zunehmend (Csikszentmihalyi 1991a, 33) und „entwickelt
seine eigene Zielhierarchie, die schließlich das Selbst ausmacht“
(Csikszentmihalyi 1991a, 35). Dieses Hauptziel des Selbst, diese Zielhierarchie
mittels des flow-Zustandes
aufrechtzuerhalten (Csikszentmihalyi 1991a, 37), äußert sich in einem
Kreislauf: Erschaffenes formt das Selbst, dadurch wird die Aufmerksamkeit auf
bestimmte Dinge gelenkt, und das Selbst fokussiert seinerseits seine
Aufmerksamkeit wiederum zielgerichteter. Auf diese Weise erschafft sich jeder
Mensch sein Selbst (Csikszentmihalyi 1993, 55).
Montessori sieht genauso wie Csikszentmihalyi
den Menschen mit einer inhärenten Entwicklungsmotivation ausgestattet. Sie
haben beide die humanistisch geprägte Annahme, dass Menschen „aus sich heraus“
komplexer werden können und wollen. Montessori hat bei „ihren“ Kindern
beobachtet, dass dies ein „menschliches Vergnügen“ sei. Genau diesen Aspekt beinhaltet
auch die Teleonomie des Selbst: Da sie im flow-Zustand
die meiste Übereinstimung mit „der eigenen Zielstruktur hat“, ist der
erfreuliche flow-Zustand ihr
Hauptziel (Csikszentmihalyi 1991, 35). Montessoris Menschenbild über die
inhärente und freudige Entwicklungsmotivation und der Nähe zur Teleonomie des
Selbst bietet eine humanistische Grundlage für die Ermöglichung von flow-Erlebnissen.
Montessoris Bild über die menschliche Entwicklung enthält einen
weiteren Aspekt: Das Kind entwickle seine volle Persönlichkeit nur dann, wenn
es ihm gelinge, sich von der Hilfe des Erwachsenen unabhängig zu machen
(Montessori 1973, 52). Andere, d.h. Eltern, Erzieher, Lehrer haben die Aufgabe,
dem Kind zu zeigen, wie es sich entwickeln kann: „Lehre mich allein zu handeln!
Das Kind verteidigt sich gegen die Hilfe des Erwachsenen, wenn dieser versucht
an seine Stelle zu treten“. (Montessori 1973, 51). Das Kind will und soll also
allein handeln können. Keiner soll ihm Erkenntnisse vorwegnehmen, keiner soll
ihm den Weg dorthin vorsagen. Der Prozess geschehe „unabhängig vom Einfluss der
anderen Wesen“ (Montessori 1973, 51).
Das heißt, das „Telos des Menschen“ (Böhm 31985, 112) soll von
anderen unbeeinträchtigt zur vollen Entfaltung kommen.
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Autonomie/ Innere Freiheit
Der
Entwicklungsprozess verläuft nach Montessori in einem hohen Maße autonom
und selbstbestimmt. Außenstehende
können und dürfen dabei nur behilflich sein. Hektner (1996) hat diesen „Spagat“
der Persönlichkeitsentwicklung zwischen Autonomie und sozialer Eingebundenheit
aus der Sicht der flow-Theorie
betrachtet: Jeder Jugendliche habe die Fähigkeit, sich zu einer autotelischen
Persönlichkeit zu entwickeln. Doch müssten Jugendliche erkennen, dass sie
jeweils die Hauptrolle in ihrer eigenen Entwicklung spielen (Hektner 1996,
166).[3]
Für Eltern, Schulen usw. bedeutet dies, einen Weg zwischen Behüten und
Loslassen zu finden, damit Kinder und Jugendliche langfristig intrinsische
Motivation bei ihrer Entwicklung empfinden. Ein Beispiel für die Praxis
beschreibt Rathunde (1991, 354): Wahlmöglichkeiten seien nützlich, damit Kinder
Entscheidungen selbstbestimmt fällen können.
Montessori hat einen
Weg zwischen sozialer Eingebundenheit und Autonomie gefunden. „Lehr mich allein
zu handeln“ ist ihr Leitsatz: Erzieher sind wichtig, damit sie die Entwicklung
der Kinder optimal unterstützen können. Sie ziehen sich zurück, wenn das Kind
unabhängig von anderen konzentriert im Tun aufgeht (Montessori 1999, 47). Die
autonome Phase ist also das konzentrierte Tun, während der soziale Kontakt
stattfindet, um Kindern zum konzentrierten Tun zu verhelfen. Damit möchte
Montessori Kinder zu unabhängigen Menschen erziehen, die ihre eigene Teleonomie
des Selbst leben.
Hier zeigt sich also
eine Übereinstimmung von Montessoris und Csikszentmihalyis Menschenbild
hinsichtlich des autonomen, selbstbestimmten Charakter menschlicher
Entwicklungsprozesse. Die Übereinstimmung mit der flow-Forschung unterstreicht die Bedeutung ihres Menschenbildes aus
motivationaler Sicht, umgekehrt erfährt die flow-Theorie
hier eine anwendbare Erweiterung durch eine lang erprobte pädagogische Praxis.
Für das Evozieren von flow bedeutet
dies, dass Montessori mit ihrer Ansicht über den Menschen Basisvorrausetzungen
schafft, die flow fördern.
Das Ziel der Erziehung ist eine normale Entwicklung zu einem
normalen Kind. Montessori nennt den Prozess „Normalisation“ oder „Normalisierung“[4].
Das heißt, das Kind sei immer „organisch verknüpft mit den Uranfängen seines
eigenen Lebens“ (Montessori 1995, 34). Es verfolge also einen roten Faden, dem
gemäß es seine Persönlichkeit aufbaue. Diesen Faden nicht zu zerstören sei das
Ziel der Erziehung, damit das Kind in seinem Entwicklungsprozess sein „inneres
Gleichgewicht in Harmonie“ (Montessori 1995, 43) erhalte. Die Entwicklung zur
Normalität „ist eine große innere Energie“ (Montessori 1994, 123). Deswegen
könne sich die Persönlichkeit auch „mit der geringsten Anstrengung und so
vollständig wie möglich entwickeln“ (Montessori 41976, 160).
Die Folgen: „besondere Züge“. „Im Bewusstsein ihrer eigenen Kraft“
werden Kinder „Herr über ihr eigenes Tun“ (1994, 14). „Es ist, also ob für die
Kräfte, die in ihrer Seele ruhten, ein Weg frei geworden wäre“ (1992, 44). Es
seien „arbeitsame und ruhige, disziplinierte“ Kinder, „voll von Liebe und
Interesse“ (Montessori 1934/1985, 31), „erfrischt und ausgeruht“, voll
„Lebenskraft“ (Montessori 101978, 166) und „innerer Festigkeit“
(Montessori 1995, 21). Sie haben einen „Gesichtsausdruck“ voller „Freude“
(Montessori 101978, 166).
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Autotelische Persönlichkeit
Aus der Sicht der flow-Theorie (Ebene Menschenbild)
sind die positiven Auswirkungen der Normalität bei Montessori
vergleichbar mit Eigenschaften einer autotelischen Persönlichkeit: Arbeitsam
und voll Lebenskraft sind autotelische Persönlichkeiten, weil sie sich immer
wieder neue Herausforderungen suchen (Csikszentmihalyi 1991a, 44). Sie arbeiten
erfüllt von Liebe und Leidenschaft (Csikszentmihalyi 1997, 110) und sind
diszipliniert (Csikszentmihalyi 1997, 94), sie sind ruhig, weil sie durch flow ihre psychische Ordnung
aufrechterhalten (vgl. Einleitung). Dadurch sind sie auch erfrischt und
ausgeruht (Csikszentmihalyi 1997, 89). Autotelische Personen zeichnen sich
durch eine innere Festigkeit aus, da sie die Teleonomie ihres Selbst leben und
sich nicht durch äußere Dinge aus der Bahn werfen lassen. Sie sind also: „Herr
über ihr eigenes Tun“.
Diese übereinstimmenden Inhalte der Begriffe
Normalisation und autotelische Persönlichkeit legen den Schluss nahe, dass es
sich hier um dasselbe Phänomen handelt: lebendige, motivierte und wache
Menschen, die viel flow erleben. Da
Montessori dieses Menschenbild als Erziehungsziel ausweist, deutet viel darauf
hin, dass sie Vorrausetzungen für flow-Erlebnisse
zu schaffen scheint.
„Als
ich meine ersten Versuche [...] mit kleinen Kindern [...] durchführte, beobachtete
ich eine etwa dreijähriges Mädchen, das tief versunken war in der Beschäftigung
mit einem Einsatzzylinderblock, aus dem es die kleinen Holzzylinder herauszog
und wieder an die Stelle steckte. Der Ausdruck des Mädchens zeugte von so
intensiver Aufmerksamkeit, dass er für mich eine außerordentliche Offenbarung
war [...]. Zu Anfang beobachtete ich die Kleine, ohne sie zu stören, und begann
zu zählen, wie oft sie die Übung wiederholte, aber dann, als ich sah, daß sie
sehr lange damit fortfuhr, nahm ich das Stühlchen, auf dem sie saß, und stellte
Stühlchen und Mädchen auf den Tisch; die Kleine sammelte schnell ihr Steckspiel
auf, stellte den Holzblock auf die Armlehnen des kleinen Sessels, legte sich
die Zylinder in den Schoß und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Da forderte ich alle
Kinder auf zu singen; sie sangen, aber das Mädchen fuhr unbeirrt fort, seine
Übungen zu wiederholen, auch nachdem das kurze Lied beendet war. Ich hatte 44
Übungen gezählt, und als es endlich aufhörte, tat es dies unabhängig von den Anreizen
der Umgebung, die es hätten stören können; und das Mädchen schaute zufrieden um
sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf“ (Montessori 1976, 69f).
Diese Situation ist für Montessori ein „unvergesslicher Eindruck“
und die „Entdeckung“ der Konzentration als pädagogisch bedeutsames Phänomen:
„Das ist offenbar der Schlüssel der ganzen Pädagogik: diese kostbaren
Augenblicke der Konzentration zu erkennen“ (Montessori 1995, 23), da dieser
Schlüssel „die Lösung des ganzen Erziehungsproblems ermöglicht“ (Montessori
1995, 22).[5]
Von diesem Zeitpunkt an war es ihr Streben, Gegenstände zu entwickeln, die
konzentriertes Arbeiten ermöglichten, und sie begann damit, ihre Methode
aufzubauen (ebd.). Die Fähigkeit zur Konzentration oder die „Polarisation der
Aufmerksamkeit“ ist ihrer Aussage zufolge ein zentrales Kriterium der
Montessori-Pädagogik (vgl. auch Ludwig 1999, 13), nach Montessoris eigener
Einschätzung vielleicht sogar der zentrale
Maßstab (vgl. Renner 31985, 128; Hane 1994, 13; Informationsblatt
der Montessori-Gesellschaft o. J.).
Um zu näher zu zeigen, dass Konzentration einen besonderen
Stellenwert in der Montessori-Pädagogik hat, betrachte ich Montessoris Aussagen
aus dem Blickwinkel der Konzentration. Diesen Stellenwert möchte ich
hervorheben, um für das Auslösen von flow
an einem Praxisbeispiel zu zeigen, wie flow-Erlebnisse
pädagogisch durch die Betonung von Konzentration ermöglicht werden können.
Montessori spricht von diesem Phänomen auf mehreren Ebenen: (1) auf der
konzeptionellen Ebene, wie eben beschrieben, indem sie die Konzentration als
Schlüssel des Erziehungsproblems sieht. (2) Sie spricht von Konzentration im
Zusammenhang mit dem Erziehungsziel, (3) sie stellt konzentriertes Tun
inhaltlichen Auseinandersetzungen gegenüber, (4) sie entwickelt Leitlinien für
die praktische erzieherische Arbeit und (5) ordnet dem Phänomen der Konzentration weitere Charakteristika ihrer
Pädagogik zu. Diese Punkte werden im folgenden vorgestellt. Vorweg ist noch
festzuhalten, dass Konzentration bei Montessori zweierlei bedeutet: zum einen
verwendet sie den Begriff als Zustand des vertieften Tuns, zum anderen spricht
sie von Konzentration als Voraussetzung für die Vertiefung. Es ist nicht immer
klar, wann der Zustand und wann eine Voraussetzung für vertieftes Tun beschrieben
wird. Es verschmilzt miteinander, denn Konzentration ist bei Montessori Prozess
(Entwicklung zur Normalität) und Zustand (situatives Tun) zugleich.
Ein Argument für die zentrale Bedeutung der Konzentration findet
sich im Zusammenhang mit dem Erziehungsziel: Menschen können sich allein durch
Konzentration zu „normalen“ Menschen entwickeln weil „die Seele im Inneren auf
einen Anreiz reagiert und dabei verweilt“ (Montessori 41976, 89).
Anders ausgedrückt: „Die Normalisierung kommt von der ‘Konzentration’ auf eine
Arbeit.“ (Montessori 41972, 184) Die Fähigkeit zur Konzentration sei
bedeutend für die menschliche Entwicklung, weil sich erst durch Konzentration
die inhärente Persönlichkeit voll zur Normalität entwickeln könne. Montessori
beruft sich dabei auf William James: Wenn man die ständig vagabundierende
Aufmerksamkeit zurückrufen könnte, wäre das „die Erziehung par excellence“ (Montessori 41976, 147) Da
die Konzentration die normale Entwicklung steuert, sei sie demzufolge ein
wichtiger „Teil des Lebens“ (Montessori 1994, 118). Sie erwachse deshalb auch
zu einer wichtigen pädagogischen Frage, da Unkonzentriertheit psychische
Abweichungen zur Folge habe.
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Bedeutung von Konzentration
Ein Blick in die flow-Forschung verrät dasselbe über die
Bedeutung der Konzentration für die menschliche Entwicklung: Menschen, die sich
nicht konzentrieren können, lassen sich schnell von zufälligen Reizen einfangen
und geben sich oft auch weniger Mühe, Aufmerksamkeit zu investieren
(Csikszentmihalyi 1993, 277). Folglich investieren unkonzentrierte Menschen
weniger Aufmerksamkeit und suchen weniger zielgerichtet nach sich sukzessiv
aufbauenden Herausforderungen. So kann leicht ein Kreislauf der Passivität und
Langeweile beginnen. Menschen, die dagegen die Fähigkeit haben, sich zu
konzentrieren oder „Vertiefung beizubehalten“, können ihre Aufmerksamkeit
bewusst steuern und infolgedessen autotelische Fähigkeiten entwickeln (vgl.
Csikszentmihalyi 1993, 278) und den Aufbau ihrer Persönlichkeit steuern (s.o.).
Genau dies hat Montessori zum Ziel, wenn sie schreibt, dass Konzentration
einwichtiger Teil des Lebens wird, da sie die gesunde Entwicklung ermögliche.
Untersuchungen zeigen
die Bedeutung von Konzentration als flow
auslösendes Moment: So wird Konzentration z.B. als Hauptauslöser von flow (Massimini, Csikszentmihalyi &
Delle Fave 1991, 97) oder als zweitwichtigste Startbedingung[6] (Massimini, Csikszentmihalyi & Delle Fave
1991, 86) genannt. Jackson und Csikszentmihalyi (2000, 117 ff.) zeigen die
Bedeutung von Konzentrationsübungen für das Auslösen von flow.
Neben der auslösenden
Funktion ist Konzentration auch ausschlaggebend für den flow-Zustand: Unwillkürliche Konzentration sei das Hauptmerkmal des
flow-Zustandes, beschreiben Probanden
(Rheinberg 1995, 108). Auch Jackson und Csikszentmihalyi (2000, 115)
resümieren, dass Konzentration das sicherste Anzeichen für einen flow-Zustand sei. Schiefele (1996)
betont, dass die Aufmerksamkeit bzw. Konzentration bei der Operationalisierung
von flow eine wichtige Rolle spielt
(ebd., 225) und sie als relevanter flow-Faktor
lohnenswerte Untersuchungen ermögliche (ebd., 237). Unklar ist jedoch die
Wechselbeziehung zwischen flow und Konzentration:
ob Konzentration (neurophysiologisch betrachtet) flow bewirkt oder ob flow
die Konzentrationsfähigkeit fördert (Csikszentmihalyi 1993, 123).
Festhalten kann man
mit Csikszentmihalyi: „Vertiefung wird durch die Fähigkeit zur Konzentration
enorm erleichtert“ (Csikszentmihalyi 1993, 277) und löst zu einem großen Teil flow-Erlebnisse aus (Csikszentmihalyi
1993, 123).[7] Csikszentmihalyis und Montessoris
Menschenbilder stimmen an diesem Punkt überein: Sollen sich Menschen zu
psychisch gesunden, autotelischen oder normalen Persönlichkeiten entwickeln,
ist es wichtig, dass sie sich aktiv auf etwas konzentrieren. Die Bedeutung der
Konzentration wird durch erste Untersuchungsergebnisse gestützt. Da Montessori
in ihrer Arbeit mit Kindern die Fähigkeit zur Konzentration fördert, erhöht sie
die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder in einen Zustand von flow eintreten können.
Ein zweiter Hinweis deutet auf die Bedeutung der Konzentration in
der Montessori-Pädagogik hin. Montessori misst dem konzentrativen Tun mehr Gewicht
für die Entwicklung bei als die Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten. Ihr
kommt es nicht darauf an, ob ein Kind mit bestimmten Materialen in einer
bestimmten Weise „richtig“ arbeitet. Auf die Konzentration kommt es ihr an. Die
Materialien seien nur das Mittel, damit Kinder die Möglichkeit haben, sich in
eine Arbeit zu vertiefen. „Wichtig ist nicht der äußere Gegenstand, sondern die
Tatsache, dass die Seele im Inneren auf einen Anreiz reagiert und dabei
verweilt“ (Montessori 1976, 89). Es ist also nicht wichtig, „dass das Kind mit
dem Material richtig umgeht, sondern dass das Material die Aufmerksamkeit des
Kindes auf sich gezogen hat“ (Montessori 1994, 123). Die Dimension dieser
Aussage wird stringent auf erziehungsphilosophischer Ebene weitergeführt: In
der Montessori-Pädagogik haben Erzieherinnen „zwei Aufgaben: die Kinder zur
Konzentration zu führen und danach ihnen in der Entwicklung zu helfen“
(Montessori 131995, 24).
Hier zeigt sich also auf der Ebene des praktischen Erziehungskonzepts, dass
zuerst die Konzentrationsfähigkeit und -möglichkeit Beachtung finden, dann erst
kommen Inhaltsfragen. Die Konzentration hat bei Montessori also einen zentralen
Stellenwert in Erziehungsprozessen: Sie bestimmt den Prozess der Normalisation
und ist im pädagogischen Alltag maßgeblicher als bestimmte inhaltliche
Fragestellungen. Doch sie stellt nicht das „Ergebnis einer Erziehungsmethode“
dar (Montessori 1994, 118), denn in dem Fall würde Konzentration eine bloße
erzieherische Disziplinarübung bedeuten. Konzentration ist verwurzelter, sie
ist „eine allgemeine Eigenschaft der menschlichen Seele“ (Montessori 1995, 22),
die Begleitung des normalen Seins.
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Verinnerlichung von flow-Strukturen
Die relativ geringe
Bedeutung von Inhalten im Verglich zu strukturellen Eigenschaften findet sich
auch in der flow-Theorie (Ebene der
Auslöser) im Zusammenhang mit der Frage über den Transfer wieder. „Die meisten
[der Befragten, Anm. I.P.] sind allerdings der Meinung, dass der richtige Weg
nicht in der Intensivierung dieser Aktivität liegt, sondern in der Verinnerlichung der strukturellen
Eigenschaften, welche dieses Erleben hervorbringen. Dieses Erleben kann für
beliebig andere Situationen verallgemeinert
werden, in denen sich das Individuum findet oder einrichtet“
(Csikszentmihalyi 1985, 132).[8]
Sollen Menschen also oft flow erleben
können, ist es nützlicher, die Struktur
des qualitativen Erlebens zu verinnerlichen, als eine Tätigkeit inhaltlich so
oft wie möglich zu wiederholen. Montessori betont wie Csikszentmihalyi die
Wichtigkeit der formalen Struktur der Erlebensqualität, damit vertieftes Tun
erlernt und in beliebig anderen Situationen angewendet werden kann. „Wichtig
ist nicht der äußere Gegenstand“ oder die inhaltliche „Intensivierung der
Aktivität“, weil es die Struktur des flow-Zustandes ist, die verinnerlicht
werden soll. Dann tritt Transfer auf oder Lernerfolge stellen sich ein, und
konzentriertes Tun bzw. flow kann
erzieherisch wirksam werden. Durch welche Tätigkeit die flow-Struktur dann im einzelnen erworben wird, spielt eine
sekundäre Rolle.
Salopp ausgedrückt
trifft Montessori aus der Sicht flow
auslösender Bedingungen den Nagel auf den Kopf, wenn sie die Bedeutung der
Konzentration als formale Fähigkeit hervorhebt und Inhaltsfragen an zweite
Stelle stellt. Auf diese Weise unterstützt sie die Möglichkeit, dass sich
Kinder quasi auf einer Metaebene in die Struktur von flow eingewöhnen und damit
ihre Fähigkeit zum konzentrierten Tun sowie ihre autotelische Entwicklung voranbringen.
Folglich können sie unabhängig von dem Inhalt einer Tätigkeit flow erleben. Eine Verinnerlichung der
Strukturen ermöglicht langfristig flow-Erlebnisse.
Die Zuordnung anderer pädagogischer Merkmale zur
Konzentration betont ebenfalls den Stellenwert der Konzentration in der
Montessori-Pädagogik. Ein paar Beispiele: (1) Seit Montessoris Entdeckung der
Konzentration war es ihr Streben, Materialien
zu entwickeln, die konzentriertes Tun ermöglichen (Montessori 1995, 22). (2)
Die Umgebung wird entsprechend
vorbereitet: „Zu diesem Zweck müssen sich Motive in der Umgebung befinden, die
geeignet sind, diese Aufmerksamkeit wachzurufen“ (Montessori 1972, 184). (3)
Die Erzieher werden darauf geschult,
auf diese „kostbaren Augenblicke“ zu achten und Kinder nicht in ihrem Tun zu
unterbrechen (Montessori 131995, 24). (4) Regelmäßige Stille- und Sinnesübungen (Montessori 1999, 100 ff.) sind auf die Verbesserung
der Konzentrationsfähigkeit ausgerichtet (Helming 141992, 59) und
(5) eine innere Disziplin ist das
Ergebnis des konzentrierten Tuns (Montessori 1999, 118). Zentrale Begriffe der
Montessori-Pädagogik hängen also mit dem Phänomen der Konzentration zusammen.
So steht konzentriertes Tun nicht für sich als „bezugsloses“ Merkmal im
Montessori-Konzept, das irgendwann Erwähnung findet, sondern die Konzentration
ist stimmig in andere erzieherische Merkmale eingebettet.
Aus
der Sicht der flow-Theorie:
Konzentration als Ziel und Mittel für flow
Konzentration hat bei Montessori also einen
pädagogisch konzeptionellen zentralen Stellenwert. Das bedeutet für eine
Betrachtungsweise aus der Sicht der flow
auslösender Bedingungen: Da Montessori grundsätzlich von der Möglichkeit und
Fähigkeit zur Konzentration ausgeht, legt sie erstens einen fundamentalen
Grundstein, der eine Eintrittswahrscheinlichkeit für flow-Erlebnisse erhöht. Zweitens betrachtet Montessori
Konzentration nicht als irgendeinen pädagogischen Baustein, sondern baut darauf
ihre Pädagogik auf verschiedenen Ebenen auf, wie z.B. die Materialien oder die
praktischen Erzieherprinzipien.
Folglich erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass konzentriertes
Tun möglich wird und Kinder zusätzlich über die konzeptionelle „Hilfe“ in einen
flow-Zustand kommen (wobei dann
weitere flow-Merkmale, wie etwa
Herausforderungen oder Kontrollerfahrungen, den flow-Zustand mit aufbauen, dazu genauer am Ende des Kapitels).
Bei Montessori verkörpert das Element der
Konzentration also einmal einen pädagogisch wertvollen Erlebenszustand, der gefördert
werden soll (Erziehungsziel). Andererseits dient Konzentration auch als flow-fördernde Leitlinie, da andere
Aspekte ihrer Pädagogik darauf ausgerichtet sind (Erziehungsmittel). Festhalten
möchte ich: Diese kompakte, zweiseitige Herangehensweise über ein bestimmtes
Kriterium erhöht die Chance, dass flow
ausgelöst werden kann.
Was versteht Montessori nun im einzelnen unter dem Zustand
„Konzentration“ oder „Polarisation der Aufmerksamkeit“? Sie umschreibt diesen situativen
Zustand als „Zustand der völligen Sammlung“ (Montessori 1995, 21), „Versenken
der Seele“ (Montessori 1995, 22), „Feuer des Interesses“ (Montessori 1998, 113)
oder: „Es schien, als hätte sich in einer gesättigten Lösung ein
Kristallisationspunkt gebildet, um den sich dann die gesamte chaotische und
unbeständige Masse zur Bildung eines wunderbaren Kristalls vereinte.“
(Montessori 41976, 70)[9].
Montessori veranschaulicht nicht nur den Erlebenszustand, zugleich
differenziert sie Konzentration als einen Erlebenszustand. Sie sei (1) eine
„psychische Reaktion“ (Montessori 41976, 75), weil das Kind auf
einen Anreiz reagiere, der mit seinen inneren Zielen harmoniert. Konzentration
sei (2) auch zu verstehen als „geistiges Phänomen, das das ganze Bewusstsein des
Erwachsenen mit einbeziehen kann“ (Montessori 1995, 18). Die Konzentration
stellt also auch eine kognitive Leistung dar, weil Ablenkendes nicht beachtet
wird. Der Zustand der Konzentration beinhaltet also eine emotionale wie auch
eine kognitive Leistung.
Aus der Sicht der Flow-Theorie:
Psyche und Kognition
Montessori beschreibt sehr bildlich einen
Erlebenszustand, der auch auf die Beschreibung des flow-Zustandes passen würde. In der flow-Theorie werden beispielsweise auf der Zustandsebene Ausdrücke
benutzt wie Selbstvergessenheit, Verschmelzen mit Handlung und Bewusstein,
psychische Ordnung, konzentriertes Aufgehen im Tun. Obwohl es in der Sprache
der flow-Theorie etwas weniger
bildlich zugeht als bei Montessori, scheinen doch beide das gleiche Phänomen
auszudrücken.
Betrachtet man Montessoris Differenzierung des
konzentrativen Erlebens aus der Sicht der flow-Theorie
bzw. des flow-Zustandes, so zeigen
sich Übereinstimmungen mit einem flow-Erlebnis.
Ein flow-Erlebnis kann (1) als psychische
Reaktion des Selbst verstanden werden, da das Selbst die Tendenz hat, Ziele zu
verfolgen. Dies äußert sich z.B. darin, dass eine Person Interesse an einem
Gegenstand entwickelt.[10]
Flow ist (2) aber auch eine kognitive
Leistung, da Menschen im flow-Zustand
ihre Aufmerksamkeit auf eine Sache lenken, irrelevante Reize ausblenden, diese
im flow-Zustand parallel als solche
definiert haben, um sie gleichzeitig ignorieren zu können (vgl.
Csikszentmihalyi 1991, 30 ff.).
Diese beiden voneinander abhängigen[11]
Momente des flow-Zustandes hat
Montessori erkannt. Sie beschreibt nicht nur den Erlebenszustand an sich,
sondern gibt der Qualität des Erlebens mit emotionaler und kognitiver
Betrachtung psychologische Tiefe. Diese differenzierte Übereinstimmung mit dem flow-Zustand legt den Schluss nahe, dass
Montessori dem flow-Phänomen
erzieherische Bedeutung zuspricht.
Während bisher die Bedeutung und der Begriff von Konzentration in der
Montessori-Pädagogik vorgestellt wurde, folgt nun ein genauerer Blick auf den
Verlauf des konzentrierten Zustandes. Montessori beschreibt konzentriertes Tun
nicht als einen homogenen Block von Aufmerksamkeit, sondern sie betrachtet
versunkenes Handeln als „Entwicklung der inneren Aktivitäten“ und stellt es in
vier Phasen dar:
1. die
Phase der Einübung;
2. die
große Arbeit;
3. das
innere Beenden der großen Arbeit,
4. die
Phase der Ruhe und Entdeckung.
Diese Phasen sind im Folgenden ein zentraler Hinweis auf das Vorhandensein
des flow-Phänomens: Montessori
ermöglicht mit ihrer Pädagogik nicht Konzentration, sondern sie schildert, wie
konzentriertes Tun beginnt und endet. Mit diesem mikroskopischen Blick
beschreibt Montessori auf der Mikroebene einer konzentrierten Phase das, was
bei der Entwicklung von flow-Aktivitäten
auf der Makroebene passiert. Allerdings ist die Entwicklung auf der Makroebene
in der flow-Forschung nicht explizit
in diesen Phasen beschrieben worden (diese Parallele ziehe ich aus meinem
Vorverständnis über flow). Die von
Montessori beschreibenen Phasen sind aus der Sicht der flow-Theorie ein Beispiel dafür, dass sich das flow-Konzept durch einen Blick in die pädagogische Vergangenheit
weiterentwickeln kann.
Montessori spricht drei Dinge in dieser
kurzen vorbereitenden Phase an: die Entscheidung, das Ich und die Müdigkeit.
Sie hängen miteinander zusammen. Das Kind müsse sich entscheiden, womit es
arbeiten oder spielen möchte. Zum Beispiel: „’Die Staubtücher haben hübsche
Farbe [sic.], die Besen sind bunt bemalt, und die kleinen Bürsten sind ebenso
anziehend wie die kleinen runden oder rechteckigen Seifenstückchen. Es ist, als
ob sie dem Kind zurufen würden: Komm rühr mich an, benütze mich’“ (Montessori
zit. in Holstiege 1997, 99 f.). Das Kind muss in der Phase der Einübung also
auswählen, worauf es seine Aufmerksamkeit richten möchte.
Denn
„wenn wir keine ‘klaren Vorstellungen’ der Dinge haben, kann unsere Arbeit sehr
schwierig werden“ (Montessori 41976, 171). Um eine Klarheit zu bekommen,
muss man sich also entscheiden. Dies fällt bei Montessori unter die Phase der
Einübung, weil das Kind „nach der tiefsten Befriedigung seines Interesses“
(Montessori 41976, 96 f.) suche, das heißt, es sucht nach einer
Übereinstimmung des „Ichs“[12]
mit einer jeweiligen Tätigkeit. Die Qualität des Erlebens in dieser ersten
Phase des konzentrierten Tuns bedeute „eine wahre Anstrengung“, weil „diese
Angst“ da sei, „einen ‘Fehler zu begehen’“. Deshalb löse sie auch „scheinbare
Müdigkeit“ aus (Montessori 41976, 171 f.). Entscheidungen sind also
nicht immer leicht und können ermüden, weil sie zum Aufbau einer authentischen
Persönlichkeit mit dem „Ich“ übereinstimmen sollen.
Aus
der Sicht der flow-Theorie:
Entscheidungen[13]
Aus der Sicht flow auslösender Bedingungen schaffen Entscheidungen Klarheit. Montessori beschreibt hier eine
Situation, die Csikszentmihalyi wie folgt zusammenfasst: „Wenn man wachsen und
sein Leben genießen will, muss man eine höhere Ordnung aus der Entropie
schaffen“ (Csikszentmihalyi 1993, 227, das heißt, man muss sich intensiv
bemühen, um das „verflochtene Netz widersprüchlicher Ziele [zu] entwirren und
das eine auszuwählen, was unseren Handlungen Sinn verleiht“ (Csikszentmihalyi
1993, 295). Das Kind hat bei Montessori am Anfang die Qual der Wahl. Es muss
das Netz der Attraktionen entwirren und für sich herausfinden, was Sinn macht.
Hier kommt nun die Teleonomie des Selbst (das „Ich“) mit ins Spiel: Das
Schwierige und darum Ermüdende scheint zu sein, eine Entscheidung zu fällen,
die der Zielhierarchie des Selbst gerecht wird. Die Entscheidung soll also
„wirklich“ Sinn machen und „tiefste Befriedigung“ des Interesses zulassen. Da
der „Normalzustand des Geistes chaotisch“ ist, ist es mit Mühe verbunden
herauszufinden, welche Tätigkeiten mit der Teleonomie des Selbst (des „Ichs“)
übereinstimmen (Csikszentmihalyi 1993, 161) und folglich Sinn für einen
„Entscheider“ machen. Deshalb kann dieser Prozess ermüdend wirken.
Montessori
beschreibt hier ein Grundprinzip für die Förderung von flow durch Entscheidungen: Eine persönlich als richtig empfundene
Entscheidung reduziert das Gefühl der psychischen Unordnung. Weil das
Ausgesuchte stimmig ist mit dem, was als Persönlichkeit schon vorhanden ist,
kann sich die Teleonomie des Selbst realisieren. Somit erhöht sich die
Wahrscheinlichkeit für das Eintreten in den flow-Zustand
(Csikszentmihalyi 1985, 121). Montessori hat also, wie die flow-Forschung, Entscheidungen als flow-förderlich erkannt. Aus diesem Grund erleichtert die Montessori-Pädagogik
mit ihrer vorbereiteten Umgebung Entscheidungen (Montessori 41976,
315). Das erhöht bei Montessori das „Repertoire“ flow auslösender Bedingungen.
Die
zweite Phase: die große Arbeit
Die Phase der großen Arbeit dauert, so Montessori, im Vergleich zu
der einübenden viel länger. Das Kind hat sich für „eine neue und schwierige
Beschäftigung“ (Montessori 41976, 97) entschieden und „richtet seine
ganze Aufmerksamkeit auf sie, vertieft sich und gibt sich mit ganzer Seele der
Arbeit hin. Es löst sich für eine geraume Zeit gleichsam von seiner Umgebung
los“ (Montessori, zit. in: Holstiege 1997, 100).
Auf diese Phase kommt es Montessori aus erzieherischer Sicht an:
Das Kind befinde sich nun in einem Stadium der Entdeckung, der „’Assimilation’
oder der ‘inneren Reifung’“. Es entdecke seine Potenziale und entwickle nun
aktiv seine Persönlichkeit: „Das Kind studiert sich selbst in seinen eigenen
Werken“ (Montessori 41976, 102 f.). Aufgrund der erfreulichen
inhärenten Wachstumsmotivation sind normale Kinder motiviert, immer wieder in
so einen Zustand der großen Arbeit zu gelangen.
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Intensiver flow
Aus der Sicht der flow-Theorie befindet sich diese
Beschreibung der großen Arbeit auf der Ebene des flow-Zustandes und der Ebene der Voraussetzung. Montessori
beschreibt einen Zustand des konzentrierten Tuns (sich mit ganzer Seele tief
hingeben), den die flow-Forschung
„intensiven“ oder „tiefen flow“ nennt
(Csikszentmihalyi 1985, 119 ff.). Intensiver flow beinhaltet besonders stark das Gefühl von Transzendenz: Der
Mensch verschmilzt mit der Umgebung, löst sich von irdischen Problemen und
fühlt sich sehr klar.[14]
Tiefer flow tritt seltener auf
(Csikszentmihalyi 1985, 123) als das „normale“ flow-Erlebnis, und zwar vorwiegend dann, wenn ein Mensch ein
„gewisses Maß an Erfahrung, Fertigkeit und physischer Verfassung erreicht“ hat
(Csikszentmihalyi 1985, 121).[15]
Anders ausgedrückt: Tiefer flow tritt
vorwiegend dann auf, wenn sich Menschen permanent neue Herausforderungen suchen
und ihre Fähigkeiten differenzieren. Dadurch werden Wachstum und Entdeckung
gefördert (Csikszentmihalyi 1993, 108), Menschen entwickeln sich also besonders
durch eine Folge solcher intensiven (erweiterten) flow-Erlebnisse zu autotelischen Persönlichkeiten (Csikszentmihalyi
1997). Die Phase der großen Arbeit ist auf der Erlebensebene äquivalent zu
intensiven flow-Erlebnissen. Sie wird
bei Montessori durch eine neue Anforderung ausgelöst.
Hier kommt jetzt die
Betrachtung eines flow auslösenden
Aspektes hinzu: Anlaß der großen Arbeit ist „eine neue und schwierige
Beschäftigung“, eine Herausforderung also. Die flow-Forschung stellt Herausforderung als eine zentrale Bedingung
für das Auslösen von flow dar.[16]
Montessori und Csikszentmihalyi unterstreichen beide die Bedeutung erhöhter
Anforderungen als Voraussetzung für das Aufgehen im Tun. Mit dieser
Übereinstimmung über die Vorrausetzung für intensiven flow weist die Montessori-Pädagogik eine weitere flow-förderliche Bedingung auf.
An dieser Stelle wird
noch einmal deutlich, welches Gewicht konzentriertes Tun bzw. das flow-Phänomen in der
Montessori-Pädagogik hat: Es ist der pädagogisch gewollte Zustand. Damit kann
auch die Frage beantwortet werden, ob Montessori das flow-Phänomen aus erzieherischer Sicht überhaupt wollte: Ja, sie
bezeichnet das konzentrierte Tun als einen „der konstanten Aspekte des Vorgangs
der ‘inneren Bildung’“ (Montessori 41976, 71). Der Stellenwert von
Konzentration ist also zentral in ihrer Pädagogik. Somit kann davon ausgegangen
werden, dass Montessori flow mit
ihrer Pädagogik fördern wollte und ihr dies vermutlich auch gelungen ist.
Wahrscheinlich evoziert dieser Ansatz heute noch flow (vgl. Fischer 1999b). Inwieweit bei Montessori weitere flow-Elemente neben der Konzentration
vorhanden sind, die das flow-Phänomen
auslösen können, wird weiter unten aufgeführt.
Die
dritte Phase: Das innere Beenden der großen Arbeit
Die Konzentration auf eine Sache währt Montessori zufolge so
lange, bis „die größte Anstrengung sich spontan erschöpft hat“ (Montessori 41976,
102). Das Kind erlebt eine Art „psychische Sättigung“ (Karsten 1928), die das
konzentrierte Tun abschließe: Das Kind „hörte auf, als innerlich etwas beendet
war [ .]. Etwas hatte sich innerlich ereignet, was von großer Bedeutung war“
(Montessori 1994, 121).
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Ein Entwicklungsschritt des Selbst
Auf der Ebene der Auslösebedingungen beschreibt
Csikszentmihalyi unter anderem ein Modell der dialektischen Spannung zwischen
Differenzierung und Integration, um zu zeigen, wie das Selbst stufenweise
wächst und zugleich immer wieder etwas innerlich beendet. Integration bedeutet
mit externen Dingen eine Verbindung einzugehen, wie etwa andere Gedanken
aufzunehmen. Diese differenzieren dann — optimalerweise als eine
Herausforderung — die Fähigkeiten. Dadurch reift das Selbst (Csikszentmihalyi
1993, 289 ff.). Ein Prozess der Differenzierung ist beendet, wenn das
Fähigkeitsniveau gestiegen ist. Dies ist nach Montessori von großer Bedeutung,
weil das Selbst ein Stück gewachsen ist. Das Wachstum mündet in einen spontanen
Handlungsstopp, eine psychische Sättigung (Karsten 1928, 188). Jetzt müssen
neue Anforderungen integriert werden, damit der flow-Zustand aufrechterhalten werden kann. Die psychische Sättigung
tritt wiederum dann ein, wenn etwas innerlich beendet ist und Menschen nicht
weiter vorankommen (Karsten 1928, 179). Montessori zeigt hier auf also zwei
Ebenen, wie das psychische Wachstum oder die Normalisation schrittweise
funktioniert: Das Selbst oder „Ich“ (Ebene 1 — Menschenbild) hat sich zu einem
bestimmten Grad differenziert und äußert dies als Erlebenszustand (Ebene 2 — flow-Zustand), indem es innerlich etwas
beendet.
Montessori formuliert etwas, das in der flow-Forschung noch nicht genauer beachtet
worden ist: das Ende eines flow-Erlebnisses.
Es heißt zwar, dass flow situativ
ist, aber wann der situative Zeitpunkt vorbei ist oder wie genau ein Prozess
der Beendigung abläuft, ist nicht näher untersucht. Vielleicht ist es zur
derzeitigen Forschungslage auch noch nicht dringend genug, da der Schwerpunkt
darauf liegt, überhaupt genauer zu verstehen, was flow-förderlich und -hinderlich wirken kann. Hier kann der
reformpädagogische Ansatz von Montessori der jüngeren flow-Theorie möglicherweise einen wichtigen — vor allem
praxiserfahrenen — Hinweis liefern, nämlich dass ein innerliches Abschließen
wichtig ist, damit sich Kinder zur psychisch gesunden, autotelischen Personen
entwickeln (vgl. Holstiege 1987, 70).
Montessori hebt die Bedeutung eines innerlichen Abschließen[17]
für eine gesunde Entwicklung hervor. Dadurch können sich Kinder immer wieder
mit einem freien Kopf neuen Herausforderungen stellen. Damit wird die
Wahrscheinlichkeit für das Eintreten in den flow-Zustand
erhöht.
Die
vierte Phase: Ruhe und Entdeckung
Der Zyklus des konzentrierten Tuns ist mit einem spontanen
Abschluss noch nicht beendet. Er klingt, so Montessori, mit der vierten Phase aus: Es folgt eine
„Pause mit ihren Zeichen von Erleichterung und Ausgeglichenheit“ (Montessori 41976,
102). Die Konzentration ende „mit Zeichen der Freude“. Diese Phase bedeutet
auch ein „Vergleichsstadium“ (Montessori 41976 102), in dem die
eigene Arbeit anderen gegenübergestellt werden kann. Hier wird das eigene
Schaffen also quasi von einer Vogelperspektive noch einmal entdeckt, indem es
ins Verhältnis zu anderen Arbeiten gesetzt wird.
Montessori betont die „‘Vollendung’ eines vollen Zyklus“, weil
sich das Kind nicht nur zu einer inneren Konzentration hingezogen fühlt,
sondern für immer die Haltung des Denkens und sein inneres Gleichgewicht
behält. „damit wird es zu einer Persönlichkeit und hat eine höhere Stufe
erreicht“ das Kind wird somit „Herr seiner selbst“.(Montessori 41976,
103). Die Phasen der Konzentration sind also ein geschlossener Kreislauf, und
alle Phasen müssen durchlaufen werden, damit das Kind normal wird (vgl.
Holstiege 1986, 70).
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Freude und Entspannung
Aus der Sicht von flow beschreibt Montessori die
unmittelbaren Folgen eines flow-Zustandes.
Nach einem flow-Erlebnis gehen
Menschen zufrieden aus einer Situation hervor, sie freuen sich über ihr getanes
Werk (Csikszentmihalyi 1993, 70 f.).
Um die Fähigkeit zum flow langfristig aufrecht zu erhalten
ist Entspannung wichtig, da durch Reflexion und Entspannung z.B. eine
„Bestandsaufnahme“ erfolgen kann, die den Weg zur autotelischen Persönlichkeit
glättet (vgl. Csikszentmihalyi 1997, 503 ff.).
Anders ausgedrückt: Da das Handeln im flow-Zustand
auf hohem Fähigkeitsniveau angesiedelt ist und Menschen viel leisten
(Csikszentmihalyi 1993, 106), leben autotelische Menschen in einem „Rhythmus
von Aktivität und anschließender Entspannung“ (Csikszentmihalyi 1997, 90).[18]
In den Pausen laden sie ihre „Batterie“ wieder auf (Csikszentmihalyi 1997, 503
f.).[19]
Auf diese Weise behalten sie langfristig ihre Motivation und Frische
(Csikszentmihalyi 1997, 89) und scheinen auch nicht auszubrennen (LeFevre 1991,
325).
Das Thema Entspannung
steht in der flow-Forschung nicht in
einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem flow-Zyklus.
Aus der differenzierten Schilderung der Reformpädagogin kann die flow-Forschung lernen: Möglicherweise
gehört zu einem flow-Erlebnis eine
Art Halo-Effekt (Phasen: Entscheidung, innerliches Beenden und Ausklang), wenn flow pädagogisch gewinnbringend
eingesetzt werden will. Denkbar ist, dass erst dieser Halo-Effekt der drei
Phasen erweiterten flow und
autotelisches Wachstum ermöglicht oder die erzieherische Qualität von flow-Erlebnissen „garantiert“: Eine
Entscheidung ermöglicht ein Gefühl von psychischer Ordnung; eine innerliche
Beendigung macht den Kopf frei für die Auseinandersetzung mit neuen
Anforderungen und Ausklang und Entspannung füllen die „Batterien“ wieder auf.
Auf einzelne
Kennzeichen, die Montessori als zusammenhängenden Zyklus beschreibt, hat Csikszentmihalyi
bereits hingewiesen.[20]
Möglicherweise sind aus erzieherischer Sicht jedoch alle drei Aspekte zusammengenommen wichtig, damit sich
Menschen durch das Erleben des gesamten Zyklus zu autotelischen
Persönlichkeiten entwickeln und diese Form des Seins auch aufrechterhalten
können.[21]
Montessori jedenfalls legt viel Wert auf die Vollendung eines Zyklus. Damit
schafft sie optimale Bedingungen für eine innere Klarheit, die zu Wachstum
durch erweiterte flow-Erlebnisse
bereit ist.
Wie eingangs beschrieben hat Montessori das Ziel, dass sich Kinder
durch konzentriertes Tun zu „normalen“ Menschen entwickeln. Die sich festigende
Normalität verbessere bei den Kindern nicht nur die Fähigkeit zur
Konzentration, sondern wirke sich auch auf die Charakterzüge aus (Montessori
1992, 44): „Besondere Unarten“ oder unnormale „Charakterzüge verschwanden
allesamt, ohne dass man sich mit dem einen oder anderen direkt befasst hätte“
(Montessori 31985, 33).[22]
Es entstehe das allgemeine Gefühl von „Ordnung“ (Montessori 1992, 44).
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Generalisierungseffekt[23]
Montessori beschreibt eine Auswirkung des
konzentrierten Tuns, die LeFevre Generalisierungseffekt nennt: Es ist zu „vermuten,
dass es einen Generalisierungseffekt der flow-Erfahrung
auf das übrige Leben gibt“ (LeFevre 1991, 323). Das heißt, wenn Menschen in
einer Aktivität flow erleben, fühlen
sie sich auch in anderen Bereichen ihres Lebens außerhalb von flow-Zuständen „glücklicher, heiterer,
freundlicher und umgänglicher“ (Massimini & Carli 1991, 311). Montessori
hat ebenso wie LeFevre erkannt, dass konzentriertes Tun oder der flow-Zustand auf andere Situationen
ausstrahlt: „Besondere Unarten“ verschwinden. Mit dieser Auswirkung zeigt sich,
dass das Erziehungsziel erreicht wird, denn wenn „unnormale“
Charaktereigenschaften verschwinden, ist dies ein Zeichen dafür, dass die
Kinder auf einem Weg der Normalität und einer gesunden Entwicklung sind. Mit
dieser Auswirkung des konzentrierten Tuns lässt sich inhaltlich an das eingangs
beschriebene Erziehungsziel der Montessori-Pädagogik anknüpfen: Die
Auswirkungen des konzentrierten Tuns bzw. flow
gelangen mit der Normalität in Einklang. Da konzentriertes Tun auf andere
Bereiche des Lebens ausstrahlt und folglich Normalität bewirkt, kann man
annehmen, dass Montessori flow
ausgelöst hat. Denn das flow-Phänomen
wird im Rahmen ihrer Pädagogik erzieherisch wirksam.
Eine weitere wichtige Folge des konzentrierten Tuns, die unmittelbar
mit dem Verschwinden der Unarten verbunden ist und sich eben schon angedeutet
hat, ist das Gefühl innerer Ordnung: „Das Prinzip der Ordnung“ muss „offenbar“
von der „geheimnisvollen und verborgenen Quelle“ (Montessori 1992, 44) des
konzentrierten Tuns hervorgehen. „Alles Unorganisierte und Unbeständige
[scheint sich] im Bewusstsein des Kindes zu einer inneren Schöpfung zu
organisieren“ (Montessori 1976, 70). Eine seelische Ordnung ist also Konsequenz
des konzentrierten Tuns. Diese innerlich empfundene Ordnung sei
charakteristisch für normale Kinder. Ein erstes „äußeres Zeichen“ für eine sich
innerlich formende Ordnung sei z.B. Disziplin (Montessori 41976,
87).
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Psychische Ordnung
Das Empfinden psychischer Ordnung zeigt sich auf
drei Ebenen der flow-Theorie: (1) Sie
ist Begleiterscheinung autotelischen Erlebens: Im flow selbst fühlen sich Menschen ruhig, klar und glauben Kontrolle
über die Situation zu haben. (2) Eine innere Ordnung resultiert aus flow-Erlebnissen: Menschen fühlen sich
innerlich ruhig und zufrieden. (3) Psychische Ordnung kennzeichnet autotelische
Personen: Sie sind z.B. ausgeglichener, zielstrebiger und besitzen mehr
Selbstvertrauen als andere (vgl. Einleitung). Bei einem Prozess der zunehmenden
inneren Ordnung sind diese drei Ebenen miteinander verzahnt: Ordnung empfinden
Menschen während und nach einer flow-Situation,
während sie gleichzeitig ihre innere autotelische Struktur festigen. Diese
Verzahnung und einen daraus resultierenden Kreislauf scheint Montessori bei
ihren Kindern in Gang gesetzt zu haben: Sie arbeiten konzentriert und gehen ein
Stück „normaler“ aus diesen Situationen hervor.
Die psychische Ordnung als zweite Auswirkung des
konzentrierten Tuns belegt ebenfalls wie der Generalisierungseffekt den Prozess
der Normalisation durch die Montessori-Pädagogik. Es schließt sich der Bogen
der Erziehung also noch ein Stück weiter zu einer in sich stimmigen Pädagogik:
Nachdem die Unarten verschwinden, ermöglicht dieses Harmoniegefühl einen schnelleren
und gezielteren Zugang zu flow. Das
wiederum stabilisiert die Entwicklung zur Normalisation bzw. zur autotelischen
Persönlichkeit. Mit diesem positiven Kreislauf (vgl. Montessori 41976,
103) hat Montessori das flow-Phänomen
womöglich ausgelöst und eine Spirale autotelischen Seins in Gang gesetzt.
Eine dritte Auswirkung des konzentrierten Tuns knüpft inhaltlich
an das hier eingangs beschriebene Erziehungsziel Normalisation an: Montessori
zeigt, dass das Kind seine Persönlichkeit als eigener Baumeister permanent und
konsequent weiter aufbaut: Das Kind „verlangt nach den Dingen nur noch in dem
Ausmaß, wie sie dieser inneren Entwicklung, die es nun fühlt und versteht,
dienlich sind“ (Montessori 31985, 39). Es such sich also nur die
Situationen, die den Aufbau der Persönlichkeit ermöglichen. Auf diesem Wege zu
seiner Persönlichkeit erreiche es jedesmal eine „höhere Stufe“ (Montessori 41976,
103). Das Kind fühle, dass es „zu leben beginnt“.[24]
Aus der Sicht der flow-Theorie:
Teleonomie des Selbst
Diese Auswirkung beschreibt das, was im
Menschenbild der flow-Theorie als
Teleonomie des Selbst bezeichnet wird. Montessori und Csikszentmihalyi
beschreiben beide, dass es eine innere Prioritätensetzung gibt, die die
Entwicklung der Persönlichkeit bzw. das autotelische Wachstum steuert. Diese
Konsequenz des konzentrierten Tuns knüpft als eine dritte Auswirkung ebenfalls
an das Erziehungsziel an. Damit schließe ich die Betrachtungen über den in sich
stimmigen Zusammenhang von Auswirkungen des konzentrierten Tuns bzw. flow mit dem Erziehungsziel der
Normalisation: (1) ein Generalisierungseffekt hilft Unarten zu nivellieren und
psychische Ordnung aufzubauen, (2) ein Gefühl psychischer Ordnung ermöglicht
dem inneren „Baumeister“ oder der Teleonomie des Selbst, gezielter ans Werk zu
gehen. (3) Dies wiederum intensiviert die innere Ordnung und führt das Selbst
zu einem nächsten Entwicklungsschritt. Somit kann sich autotelisches Wachstum
oder die Normalisierung festigen. Das Ziel der Erziehung wird sukzessive
erreicht. Ein Prozess dieser Art setzt erweiterte flow-Erlebnisse voraus und ermöglicht diese auch wieder. Das flow-Phänomen hat bei Montessori also
einen bedeutsamen Stellenwert.
Montessori zeigt auch, was passiert, wenn ein Kind nicht konzentriert
arbeiten kann: Wenn es seine Potenziale nicht entfalten kann, weil sein
„inneres Wachstum erstickt worden ist“ (Montessori 1995, 43), entwickle es sich
zu einem unnormalen oder anormalen Kind, das sich „zwischen den Dingen in einem
niederen chaotischen Zustand“ verlieren würde (Montessori 1995, 18), weil es
nicht „mit den Uranfängen seines eigenen Lebens“ (Montessori 1995, 43)
verbunden ist. Als Folge solch psychischer Unordnung vermöge das Kind nicht,
seine ihm innewohnende Anlage zu entwickeln, sondern könne nur „in Spaltung“
„kümmerliche Wege“ gehen. „Seine Persönlichkeit ist zerrissen“ (Montessori
1995, 43). Im Alltag äußere sich dies z.B. als „Launenhaftigkeit“, „Angst“,
„Nörgelei“, „Flatterhaftigkeit“, oder „Schüchternheit“. Jedoch sei die Lage
eines unnormalen Kindes aus pädagogischer Sicht nicht hoffnungslos, denn „jedes
noch so fehlgeleitete Individuum besitzt die Tendenz, zur Normalität
zurückzukehren“ (Montessori 1994, 119).[25]
Diese Betrachtungsweise komplettiert die Bedeutung des konzentrierten Tuns,
weil sie umgekehrt zeigt, dass das Fehlen von Konzentration auch nicht zur Normalisation führt. Das
heißt, um einen erzieherischen Effekt zu erreichen, ist konzentriertes Tun
wichtig.
Aus
der Sicht der flow-Theorie: flow-Entzug
Montessori beschreibt hier einen Zustand, der an
den des flow-Entzuges erinnert.
Probanden, die versucht haben flow
für 48 Stunden zu vermeiden, beschrieben Auswirkungen, die den
Eigentümlichkeiten der unnormalen Kindern ähneln: Unkonzentriertheit, körperliche
Beschwerden wie Kopfschmerzen, Nervosität. Sie fühlen sich gehemmter und
schwächer (Csikszentmihalyi 1985, 191). Beobachtungen von Montessori und
Csikszentmihalyi stimmen also auch auf der Ebene der flow-Deprivation überein.
Vergleicht man die längerfristigen Auswirkungen
von flow-Entzug bei Csikszentmihalyi
und Montessori, so lassen sich ebenfalls Übereinstimmungen erkennen. Montessori
bezeichnet unnormale Kinder als zerrissene Persönlichkeiten, die nicht mit sich
selbst in Kontakt stehen. Csikszentmihalyi schlussfolgert aus den Ergebnissen
über flow-Entzug, dass „ein
Zusammenhang zwischen dem Fehlen von flow
und schweren Lebenskrisen bestehen“ könnte (Csikszentmihalyi 1985, 192).
Montessori sowie Csikszentmihalyi beschreiben also beide Psychopathologien bei
fehlenden Möglichkeiten, sich in etwas zu vertiefen: innere Zerrissenheit und
Lebenskrisen. Auf der Ebene des flow-Zustandes
wird deutlich, dass das Fehlen von flow
kaum zur Bildung von autotelischen Fähigkeiten führt. Die übereinstimmenden Beobachtungen
sind ein Anhaltspunkt mehr, dass Montessori eine flow-nahe Pädagogik konzipiert hat.
Bisher ist die Bedeutung der Konzentration und des konzentrierten Tuns
und die damit verbundenen pädagogischen Kriterien der Montessori-Pädagogik
beschrieben worden. Damit sind die ersten zwei hermeneutischen Schritte der
„Horizontverschmelzung“ dargestellt: (1) Die Montessori-Pädagogik wurde aus der
Perspektive der Konzentration beschrieben, weil das Phänomen des konzentrierten
Tuns mit einem Kriterium der flow-Theorie
übereinstimmt und deshalb flow
auslösende Wirkung haben kann. (2) Die einzelnen charakteristischen Kriterien
der Montessori-Pädagogik wurden aus der Sicht der flow-Theorie dargestellt und erklärt, um zu zeigen, dass sich viele
Kennzeichen der Montessori-Pädagogik flow-förderlich
zeigen.
In diesem Abschnitt werden weitere Aspekte der
Montessori-Pädagogik beschrieben, die mit Elementen des flow-Zustandes übereinstimmen. Mit diesem dritten Schritt des
hermeneutischen Vorgehens wird gezeigt, dass nicht nur die Konzentration eine flow-förderliche Wirkung zu haben
scheint, sondern dass es auch weitere flow
begünstigende Elemente in der Montessori-Pädagogik gibt, die mit den
Elementen des flow-Erlebens
übereinstimmen. Denn je mehr Übereinstimmung es mit den flow-Elementen gibt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass
das flow-Phänomen in
Montessori-Einrichtungen damals tatsächlich evoziert wurde. Im Folgenden wird
vorgestellt, welche weiteren flow-förderlichen
Elemente Montessori beschreibt.
Hier soll noch einmal auf das Vorgehen hingewiesen werden. In den
Texten von Montessori ist in erster Linie nicht nach bestimmten Wörtern gesucht
worden, die mit Begriffen der flow-Theorie
übereinstimmen. Die Sprache von Montessori ist „übersetzt“ und mit Phänomenen
verglichen worden, die flow ähneln,
das bedeutet dass „implizite Textstellen“ auf flow-Kompatibilität untersucht und darstellt werden. Ein Beispiel:
Das Bild „Erwachen aus einem erholsamen Schlaf“ wird als veränderte
Zeitwahrnehmung gedeutet. Montessori spricht nicht direkt von einem veränderten
Zeitgefühl, jedoch lässt dieses Bild einen Rückschluss auf veränderte
Zeitwahrnehmung zu, da die Zeit im Schlaf genauso schnell zu vergehen scheint
wie im flow. Ihre sprachlichen Bilder
werden also aufgrund meines Verständnisses ihrer Konzeption und der flow-Theorie ausgelegt (vgl. dazu
genauer Kapitel 2).
Herausforderung:
Montessoris Konzept fördert das Meistern von Herausforderungen. Ihr
Menschenbild gibt dazu den ersten Hinweis, sie geht davon aus, dass jeder
Mensch seine Potenziale in „einer permanenten Steigerung“ voll entfaltet. Um
also seine Persönlichkeit zu entwickeln, müssen sich Menschen ständig selbst
herausfordern. Auf Herausforderungen ausgelegt ist zweitens auch eine Maxime
der Erziehertätigkeit: Die Pädagogen und Erzieher sollen den Kindern bei ihrer
Entwicklung helfen (Montessori 1999, 47). Das heißt, sie antizipieren
Entwicklungsschritte der Kinder und schaffen z.B. eine „vorbereitete Umgebung“,
die zum Handeln herausfordert. Auf diese Weise helfen sie dem Kind, immer
wieder neue Aufgaben zu bewältigen (Montessori 41976, 120 ff.).[26]
Das von ihr konzipierte pädagogische Material ist ein dritter Hinweis auf Herausforderungen
in der Montessori-Pädagogik: Es ermöglicht den Fähigkeitserwerb „stufenweise“
(Montessori 41976, 78). Auf einer vierten Ebene schließlich, auf der
Tätigkeitsebene des Kindes selbst, beschreibt Montessori direkt den
herausfordernden Charakter von Situationen: Kinder suchen sich „eine neue und
schwierige Beschäftigung“ aus (Montessori 1976, 97), um in einen Zustand des
konzentrierten Tuns zu gelangen. Montessori ermöglicht in ihrer Pädagogik also
Herausforderungen, da ihre Erziehungsphilosophie grundsätzlich auf Wachstum
ausrichtet ist und sie darauf entsprechende Erziehungsprinzipien aufbaut.
Herausforderungen sind neben der Konzentration also eine weitere Vorrausetzung
in der Montessori-Pädagogik, die grundsätzlich flow-Erlebnisse auslösen können.
Ziele:
Montessori setzt Kindern keine Ziele, weder durch das pädagogische Material
(Montessori 131995, 32) noch in einer Aufgabenstellung.[27]
Das Kind hat den ganzen Tag „freie Wahl“, da es „von starken inneren Motiven
geleitet wird“ (Montessori 131995, 33). Dies unterscheide sich von
der Arbeitsweise der Erwachsenen, diese arbeiten zielstrebig und schnell, was
das Kind jedoch nicht täte. Dem Kind ist alles „nur Mittel zur Bildung der
Persönlichkeit“ (Montessori 131995, 32). Deshalb überlässt
Montessori „es der Umgebung, das Kind in seiner Arbeit zu leiten“ (Montessori 131995,
34) denn „allein die Befriedigung des inneren Bedürfnisses setzt der Tätigkeit
ein Ende“ (Montessori 131995, 33).
Hier beginnt sich eine Differenzierung von Zielen abzuzeichnen,
und zwar gibt Montessori keine extrinsisch orientierten Ziele vor, die das
Handeln auf ein bestimmtes Ergebnis hinsteuern, sondern sie ermöglicht
intrinsisch motivierende Ziele (Montessori 41976, 146). Diese Art
von Ziel hat den Vorteil, dass sich die Kinder ganz auf die Bildung ihrer
Persönlichkeit konzentrieren können und auch Kontrolle über ihr Tun bekommen.
Dagegen würden extrinsisch orientierte Ziele, die ein Ergebnis verlangen,
womöglich darauf hinauslaufen, dass sich die Kinder untereinander vergleichen,
wer „besser“ ist. Die Aufmerksamkeit würde möglicherweise nicht mehr voll auf
das Tun gerichtet sein, sondern würde ablenken (vgl. Jackson &
Csikszentmihalyi 2000, 88 f.). Montessori begründet, warum sie keine
extrinsischen Ziele setzt: „Ein Kind, das sich in der richtigen Umgebung
ungestört entwickelt, kommt ganz von selbst zu seiner Zeit dazu, zielbewusst zu
arbeiten“ (Montessori 131995, 32)[28].
Auch hier liegt die Begründung in ihrem Menschenbild. Sie geht von
einer starken inneren Triebkraft aus, die es quasi überflüssig macht, Kindern
extrinsische Ziele zu setzen, weil sich mit zunehmender Entwicklung zur
Normalität intrinsisch bedeutende Ziele einstellen. Zu diesen Ergebnissen kommt
unter anderem auch die flow-Forschung
und beschreibt dies mit den Begriffen autotelische Persönlichkeit und
Teleonomie des Selbst: Intrinsisch motivierende Ziele bauen den Menschen in
seiner Persönlichkeit auf. Daraus
entwickle sich eine innere Zielhierarchie und aus dieser entstehe dann eine
Zielstrebigkeit. Es mündet in einen sich gegenseitig verstärkenden Kreislauf.[29]
Zusammenfassend kann man also festhalten, dass Montessori keine
extrinsisch orientierten Ziele setzt, sondern Wert auf intrinsische Motivation
legt. Diese hat für das pädagogische Auslösen von flow möglicherweise eine höhere Bedeutung als extrinsisch
motivierende Ziele, da intrinsisch motivierende Ziele „näher am Selbst dran
sind“ und somit vielleicht als realistischer gelten (Jackson &
Csikszentmihalyi 2000, 91). Andererseits können auch extrinsisch orientierte
Ziele eine große Herausforderung sein, wenn sie mit intrinsischen
übereinstimmen. Montessori hat intrinsisch motivierenden Zielen den Vorrang
gegeben, vermutlich weil diese mit „der tiefsten Befriedigung [...des
kindlichen] Interesses“ (Montessori 41976, 96 f.) eher
übereinstimmen als extrinsische Ziele. Darum ermöglichen sie auch Normalisation
„mit der geringsten Anstrengung und so vollständig wie möglich“ (Montessori 41976,
160). Intrinsisch motivierende Ziele sind also eine weitere flow-förderliche Voraussetzung neben der
Konzentration.
Struktur: Montessori
bietet den Kindern Struktur. Nicht in dem Sinne, wie Struktur vielleicht als
didaktisch begründeter Stundenplan bekannt ist oder als Disziplin in Form von
Gehorsam Lehrern und ihren „Befehlen“ gegenüber („sitz still“, „rede nicht“,
usw.). Ihre Struktur lehnt sich an die Möglichkeit an, sich innerlich
weiterzuentwickeln. Beispielsweise strukturiert sie (1) die Umgebung, damit die
Kinder nicht abgelenkt werden, sie gibt (2) Handlungsanregungen für Erzieher
oder (3) ritualisiert bestimmte Übungen. (4) Sie regelt den Tagesablauf und die
dazugehörigen Aufgaben. Dazu etwas genauer.
(1) Die vorbereitete Umgebung motiviert Kinder zu arbeiten. Diese
Umgebung zeigt sich in einer charakteristischen Ordnung (Helming 141992,
32), sie ist eine klar gegliederte Umgebung, die anregend wirkt und
Orientierung gibt (Holstiege 1987, 88). Diese gepflegte Umgebung ermöglicht
„psychische Hygiene“ (Montessori 41976, 136 f.) durch große Räume
und schlichtes Mobiliar. Inhaltlich muss sich die Umgebung nach dem
Entwicklungsstand der Kinder richten, das heißt zum Beispiel, dass nicht
benötigtes Material magaziniert wird, da überfüllte Räume Kinder ablenken und
die Konzentration auf einen Gegenstand erschwere. Zudem muss die Umgebung
herausfordernde Dinge beinhalten, damit Lernprozesse weiterlaufen. Dies nennt
Montessori didaktisches Prinzip der „‘Umgebung von ‘progressiven Interessen’ “
(Holstiege 1987, 89). Die Umgebung sollte es ermöglichen, mindestens einmal am
Tag einen Konzentrationszyklus zu durchlaufen und sich in eine Arbeit zu
vertiefen, damit sich Kinder durch konzentriertes Tun beständig
weiterentwickeln (Holstiege 1987, 89).
(2) Neben der strukturierten Umgebung gibt Montessori z.B. den
Erziehern Anregung für den Umgang mit Kindern (Montessori 1998, 148) und
Anleitungen zum psychologischen Beobachten (Montessori 1976, 118). Damit sollen
Erzieher es den Kindern ermöglichen, ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln.
(3) Montessori richtet regelmäßige Sinnes- und Stilleübungen ein
und bereitet diese gemeinsam mit den Kindern ritualisiert vor (Montessori 1998,
84 f.). Eine weitere Struktur gibt Montessori, indem sie dem Bedürfnis der
Kinder nach Wiederholung Raum gibt (Holstiege 1987, 65) und Übungen im
Einzelfall für die Kinder abstuft (Montessori 1998, 117).
(4) Auch der Tagesablauf ist in einem Kinderhaus strukturiert:
eine Frühstückspause findet z.B. gegen
10 Uhr statt, jedoch nicht um genau 10
Uhr. Die Pause beginnt wie von alleine: Einzelne Kinder fangen an die Tische zu
decken, nach und nach kommen andere Kinder hinzu, die ihre Arbeit beendet haben
(Helming 1992, 32). Auch für das Mittagessen gibt es klare Regeln: die Kinder
decken auf, füllen sich gegenseitig nach und räumen wieder ab (Montessori 1998,
116).
Die Struktur in der Montessori-Pädagogik zeichnet sich also
dadurch aus, dass sie sich an die Prinzipien der Potenzialentwicklung anlehnt.
Die Struktur tritt nicht als „preußischer Taktgeber“ zutage, der Handlungen
abzirkelt oder technisiert. Die Struktur beachtet individuelle Rhythmen. Damit
erfüllt sie ein weiteres Kriterium neben der Konzentration, das für das
Evozieren von flow günstig ist.
Kontrolle und Feedback:
Montessori war es wichtig, dass das Arbeits- oder Entwicklungsmaterial, sowie
Stille- und Sinnesübungen (vgl. Montessori 1999, 79 ff.) Kontrollerfahrungen
ermöglichen, damit das Kind „seinen Forschungstrieb befriedigen und Kenntnisse
erwerben“ und somit „gemäß seiner Natur arbeiten“ könne (Montessori 131995,
35). Dies solle stufenweise stattfinden (Montessori 41976, 78). Auf
diese Weise würden die Kinder Interesse an einem Gegenstand aufbauen und durch
Feedback und Kontrolle die Richtung der Aktivität lenken (Montessori 41976,
76). Kinder können somit grundsätzlich ihre Fehler selbst finden und korrigieren.
Montessori sieht in der Erfahrung von Kontrolle und Feedback einen
„Selbsterziehungsprozess“ (Montessori 41976, 76), der Kinder zur
Normalität führe.[30]
Montessori unterscheidet zwischen einer mechanischen und einer
psychologischen Kontrollerfahrung. Der Einsatzzylinderblock etwa ermöglicht zu
Beginn „eine sehr mechanische Kontrolle“: Die verschieden großen Zylinder
werden so lange richtig einsortiert, bis alle an ihren Platz passen. In einer
zweiten Stufe wird dann die Fehlerkontrolle psychologisch. Das Kind hat sich im
Laufe seiner Übungen an die „mechanischen“ Größenunterschiede der Zylinder
gewöhnt und sieht den Fehler vor dem Einsetzen der Zylinder selbst, weil Farben
und Formen psychologische Unterschiede hervorheben. Somit kann das Interesse an
einer Aktivität infolge mechanischer, dann psychologischer Fehlerkontrolle über
einen längeren Zeitraum erhalten bleiben.
Die Motivation, die für ein Kind hinter solchem interessiertem
Problemlösen steht, sei „neue Einsichten zu gewinnen, nämlich: die Größenunterschiede
der Zylinder zu erkennen, die es vorher nicht wahrnahm“ (Montessori 41976,
77). Um diese Erkenntnisse zu ermöglichen, ohne dass ein Erzieher in einen
Entwicklungsprozess unterbrechend eingreifen müsste, hat die Fehlerkontrolle
einen wichtigen Stellenwert (sie spielt auch bei der Auswahl der pädagogischen
Materialien eine Rolle). Die Fehlerkontrolle soll auch „das Zusammenwirken
höherer Aktivitäten wachrufen“ (Montessori 41976, 77), wie etwa
durch die Möglichkeit, Dinge zu vergleichen (Montessori 41976, 77).
Das heißt, das Material mit seiner Fehlerkontrolle motiviert mit seinem
„Feedback“ dazu, weitere Erkenntnisse gewinnen zu wollen. Sie hat also
Auslösefunktion für konzentriertes Arbeiten bzw. flow. Die Bedeutung der Fehlerkontrolle zeigt, dass Montessoris
Pädagogik ein weiteres flow-förderliches
Merkmal umzusetzen scheint.
Freiheit:
Damit sich Kinder zu normalen Kindern entwickeln können, sie also ihre
„schöpferische Kraft“ (Montessori 1994, 119) „gemäß dem Drang der Natur“
(Montessori 1994, 123) frei entfalten können, ist Freiheit wichtig. „Wenn wir
von freien Kindern sprechen, denken wir an diese Kraft, die zum rechten Aufbau
der Kinder frei sein muss, diesem Zweck müssen wir helfen“ (Montessori 1998;
1999, 45). Das Thema Freiheit knüpft bei Montessori an ihr Menschenbild an.
Freiheit bedeutet bei Montessori nicht „‘Vernachlässigung’“ (Montessori 41976,
19) oder dass Kinder tun und lassen können, was sie wollen.[31]
Freiheit bedeutet vielmehr, dass die Kinder lernen, unabhängig zu handeln. Und
dieses Handeln stellt Montessori in einem Rahmen: Erstens soll man „spontaner
Entwicklung Freiheit lassen“ (Montessori 131995, 20) und zweitens einem Freiraum Grenzen
setzen (Steenberg 1997, 83; Montessori 1998, 47). Sie betont, dass die Annahme
eines unbegrenzten Raumes nicht sinnvoll ist, weil „man sich nur innerhalb
bestimmter Grenzen realisieren kann“ (Montessori, zit. in Holstiege 1987, 16).[32]
So soll die Freiheit mit ihren Grenzen folglich „das richtige Maß zwischen
Übertreibung und Mangel an Raum und an Dingen“ ermöglichen (Montessori, zit. in
Holstiege 1987, 17).
Montessori betrachtet die Freiheit nicht nur aus der Sicht der
Pädagogen — was diese tun müssen, damit sich Kinder frei entfalten können — sie
betrachtet es auch aus der Sicht der Kinder selbst. Freiheit müssen die Kinder
als Teil ihrer sich normal entwickelnden Persönlichkeit aktiv selbst mit
aufbauen (vgl. Holstiege 1987, 15). Sie müssen lernen, die Verantwortung für
ihr Handeln zu übernehmen. Es geht also darum, als Erzieher ein gewisses Maß an
Freiheit zu geben, aber auch als Kind zu lernen, mit Freiheit und Grenzen
umzugehen. Montessori ermöglicht also Freiheit, in der Kinder ihre Fähigkeiten
und Interessen in einem Rahmen entfalten können. Freiheit in Grenzen ist eine
Voraussetzung, die einen Zugang zu flow
ermöglicht (vgl Rathunde 1991, 354).
Selbstvergessenheit
kann man bei Montessori wiederfinden als „Versenken der
Seele“ (Montessori 1995, 22). Diesen Ausdruck gebraucht sie im Zusammenhang mit
dem tief konzentrierten Tun. Das konzentrierte Kind ist dermaßen in eine
Tätigkeit versunken, dass es sich in diesem Momenten selbst vergisst und später
aus diesem nichtreflexiven Zustand wie „aus einem erholsamen Schlaf“ (siehe
unten) erwacht. Montessori beschreibt das Phänomen der Selbstvergessenheit also
bildlich: Die Seele versinkt während des Tuns in einen schlafartigen, also eine
Art intuitiven oder unbewussten Zustand, in dem das Kind von der Umwelt
abgeschieden handelt und bestimmte Dinge ausblendet: Das Kind nimmt nur das
wahr, was für das Tun relevant ist. Die Selbstvergessenheit wird in dem oft von
Montessori angeführten Beispiel deutlich, in dem ein Kind in sein Steckspiel
vertieft ist und sich nicht ablenken oder unterbrechen lässt (siehe oben).
Selbstvergessenheit als Auswirkung der Montessori-Pädagogik stimmt mit einem
weiteren flow-Element überein.
Veränderte
Zeitwahrnehmung. In Montessoris bildhafter Beschreibung
hört sich die veränderte Zeitwahrnehmung wie folgt an: Das Kind „löst sich für
eine geraume Zeit von seiner Umgebung los“ (Montessori, zit. in Holstiege 1997,
100) und „schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen
Schlaf“ (Montessori 131995, 18). Das Kind handelt also eine geraume
unbeobachtete Zeit, wie im Schlaf zeitlich von der Umgebung abgeschieden.
Montessoris Sprache zeigt, wie dicht Selbstvergessenheit und veränderte
Zeitwahrnehmung bei Montessori zusammenliegen. Der Schlaf kann einmal als
veränderte Zeitwahrnehmung interpretiert werden, aber auch, um einen
veränderten Bewusstseinszustand darzustellen. Auch dieses flow-Element kann bei Montessori wiedergefunden werden und weist
auf ein flow-Phänomen hin.
Zusammenfassung der flow-förderlichen Bedingungen:
Aus der Sicht von flow auslösenden
Bedingungen ist ein Hauptkennzeichen der Montessori-Pädagogik die Ermöglichung
von Konzentration. Des Weiteren ermöglicht sie Herausforderungen, intrinsisch
motivierende Ziele, klare Strukturen, Kontrolle und Feedback sowie Freiheit zur
Entwicklung von Potenzialen. Selbstvergessenheit und veränderte Zeitwahrnehmung
beschreibt Montessori übereinstimmend mit flow-Elementen.
Die folgende Tabelle[33]
zeigt zusammenfassend, welche Aussagen von Montessori bestimmten flow-Elementen zugeordnet werden können
(wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich die Quellenangeben auf die Autorin
Montessori):
1. Konzentration |
„Das ist offenbar der Schlüssel der ganzen Pädagogik: Diese
kostbaren Augenblicke der Konzentration zu erkennen“ (131995, 22);
„intensive Aufmerksamkeit“ (41976, 69);[34]
„dass die Seele im Inneren auf einen Anreiz reagiert und dabei verweilt“ (41976,
89). |
2. Herausforderungen |
Freie Entfaltung der Potenziale durch „eine neue und schwierige
Beschäftigung“ (41976, 97). |
3. Zielvorgaben |
Intrinsisch motivierende: „Allein die Befriedigung des inneren
Bedürfnisses setzt der Tätigkeit ein Ende“ (131995, 33). Sie setzt
keine extrinsisch motivierenden Zielvorgaben. |
4. Struktur |
Z.B. natürliche Ordnung der vorbereiteten Umgebung für die
„psychische Hygiene“ (41976, 136); Rituale bei Stilleübungen; „Anleitung zu psychologischen
Beobachtungen“ (41976, 118). |
5. Kontrolle & 6. Feedback |
Fehlerkontrolle: „Forschungstrieb befriedigen“, „Einsichten
gewinnen“ (131995, 35). |
7. Freiheit |
„Spontaner Entwicklung Freiheit lassen“ (13 1995,
20). Man kann „sich nur innerhalb bestimmter Grenzen realisieren“ (zit. in
Holstiege 1987, 16); „Herr über eigenes Tun“ (1994, 14). |
8. Selbstvergessenheit
(als Charakteristikum
von flow) |
„Versenken der Seele“ (131995, 22). |
9. veränderte Zeitwahrnehmung (als Charakteristikum von flow) |
Das Kind „löst sich für eine geraume Zeit von seiner Umgebung
los“ (zit. in Holstiege 1997, 100); „das Mädchen schaute zufrieden um sich, als
erwachte es aus einem erholsamen Schlaf“ (131995, 18). |
Tabelle 3.3.1. Flow-Elemente in der Montessori-Pädagogik [35]
Aus der Sicht der flow-Theorie
kann man in Montessoris Pädagogik also neun Merkmale wiederfinden, die mit den
Elementen des flow-Zustandes
übereinstimmen. Jedes Element kann vor dem Hintergrund der
Kausalitätsfeststellung von Csikszentmihalyi (Csikszentmihalyi 1993, 278) den
Eintritt in einen flow-Zustand
ermöglichen und zieht alle anderen Elemente nach sich, wenn das flow-Erlebnis dann einsetzt. Da jedoch
allein eine Möglichkeit zur Konzentration noch kein flow auslösen muss, sind auch die anderen Bedingungen wichtig,
damit sich die flow-Erfahrung
entwickeln kann. Montessoris pädagogischer Ansatz ermöglicht nicht nur
Konzentration, sondern auch weitere Bedingungen, die sich zusammen zu einer flow-Erfahrung entwickeln können. Dabei
sind die Elemente „Selbstvergessenheit“ und „veränderte Zeitwahrnehmung“ nicht
als flow auslösende Elemente zu
betrachten, sondern sie charakterisieren den flow-Zustand bzw. das konzentrierte Tun. Sie fungieren also nicht
als potentieller flow-Auslöser,
sondern dienen quasi als zusätzliche „Beweise“ für das Auftreten des flow-Zustandes
Ein Beispiel für das Zusammenwirken dieser Elemente: Kinder sollen
— so das Erziehungsziel von Montessori — in den Zustand des konzentrativen
Tuns kommen, weil sie sich so zu einer psychisch gesunden Persönlichkeit
entwickeln können. Da dieses versunkene Tun für die Kinder erfreulich ist,
suchen sie sich, animiert durch die auffordernde Umgebung und das pädagogische
Material, ihren Fähigkeiten entsprechend „eine schwierige Aufgabe“, das heißt
eine Herausforderung bzw. intrinsisch motivierende Ziele. Damit
das Tun aufrechterhalten bleibt, gibt das Material „stufenweise“ Rückmeldungen
über das Fortkommen der Handlung, die Kinder bekommen somit Kontrolle
über ihr Tun, da sie Fehler sehen und sie korrigieren können. Die Tätigkeit
wird in einem selbstvergessenen, „zeitlosen“ Zustand so lange
aufrechterhalten, bis es zu einem innerlichen Abschluss kommt. Dieser
individuelle Entwicklungsprozess (der in einem Konzentrationszyklus stufenweise
durchlaufen wird) wird durch die konzeptionelle Struktur der
Erziehungsmethode ermöglicht (bestimmte Vorbereitung der Umgebung, Auswahl des
Materials sowie bestimmte regelmäßige Übungen). Diese Struktur lässt den
Kindern Freiheit für ihre Entwicklung, setzt aber auch Grenzen. Diese
Betrachtungsweise (aus dem Blickwinkel von Konzentration) zeigt, wie flow-förderliche Elemente bei Montessori
zusammenhängen können, so dass sie sich gegenseitig zu einer flow-Erfahrung ergänzen. Anders
ausgedrückt: Konzentration kann als ein zentraler Ausgangspunkt für flow in der Montessori-Pädagogik gelten,
der dann auch umgehend die anderen Elemente nach sich ziehen kann.
Betrachtet man nun die Anzahl der flow-förderlichen Elemente bei Montessori, so erfüllt ihre
Pädagogik sieben von sieben Kriterien[36],
die flow auslösende Wirkung haben
können und die bei ihr konzeptionell eng miteinander in Verbindung stehen.
Daraus schließe ich, dass Montessori zum einen ein Phänomen auslösen wollte, das dem flow-Phänomen gleicht, zweitens das ihre Pädagogik offenbar das flow-Phänomen ausgelöst hat und drittens
ihre Pädagogik vermutlich heute noch flow
auslöst (vgl. Fischer 1999b).
Hier möchte ich mit dem vierten hermeneutischen Schritt meines Vorgehens
zeigen, dass Montessori allein durch das Evozieren von flow Kinder erzieht, auch wenn flow
in ihrer Pädagogik ein beiläufiges Phänomen sein sollte (Ich habe das flow-Phänomen nicht ins Verhältnis zu
anderen Aspekten ihrer Pädagogik gesetzt, das heißt, ich habe keinen einen
absoluten Stellenwert des flow-Phänomens
in der Montessori-Pädagogik herausgearbeitet, sondern lediglich aufgezeigt,
dass sie dieses Phänomen wahrscheinlich ausgelöst hat). Dass die Montessori-Pädagogik generell positive Erziehungserfolge
aufweist, zeigt ihre Aktualität, die weite Verbreitung ihres pädagogischen
Ansatzes und die Diskussion dieses Ansatzes in der Fachliteratur (Böhm 1985;
Helming 1992; Holstiege 1987, 1997; Ludwig 1999; z.B. Montessori 1998). Im
folgenden beleuchte ich vier zentrale Aspekte von Erziehung (vgl. Einleitung),
die durch das Evozieren von flow
realisiert werden. Damit kann zum Schluss die Relevanz des flow-Phänomens in Montessoris Pädagogik angedeutet werden. Dieser
vierte Schritt des methodischen Vorgehens soll also zeigen, dass das Erzeugen
von flow bei Montessori pädagogisch
sinnvoll ist.
1. Das Erziehungsziel.
„Körperlich gesund, geistig klar und seelisch ruhig“ (Lauff 1999) sind
autotelische Menschen. Montessori verfolgt dieses Erziehungsziel und nennt es
Normalisation. Im Wesentlichen fördert sie die Normalisation durch die
„kostbaren Augenblicke der Konzentration“, die „offenbar der Schlüssel der
ganzen Pädagogik“ sind (Montessori 1995, 23). Montessori beschreibt dies zum
einen als einen situativen Zustand des Erlebens, was dem flow-Phänomen äquivalent ist, zum andern auch als eine flow-förderliche Voraussetzung, um
wieder konzentriert arbeiten zu können (unter anderem kreiert sie erzieherische
Situationen entsprechend). Es ist in ihrer Konzeption ein sich selbst
festigender Prozess, der sich auch generalisierend positiv auf andere
Eigenschaften auswirkt und schließlich zur Normalisation führt. Das
Erziehungsziel von Montessori stimmt dabei mit dem von Lauff (1999) definierten
Aspekt von Erziehung (siehe Kapitel eins) und Csikszentmihalyis autotelischem
Idealmenschen (Csikszentmihalyi 1985, 233) überein: Kinder sind unter anderem
voll von „Lebenskraft“, leben eine innere „Harmonie“ und sind nicht
„flatterhaft“ (vgl. Montessori 1995, 34).
Das Erziehungsziel der Normalisation ist auf drei Ebenen der flow-Theorie greifbar: (1) auf der Ebene
des Menschenbildes, weil die Pädagogin die humanistische Annahme hat, dass
Menschen ihre Anlagen voll entfalten und sich normal entwickeln. (2)
Normalisation wirkt auch erzieherisch auf der Ebene des flow-Zustandes, da das Phänomen des konzentrierten Tuns mit dem flow-Phänomen nahezu identisch ist. Und
(3) erzieht Montessori auf der Ebene der flow-förderlichen
Bedingungen, da sie eine konzentrationsfördernde „vorbereitete Umgebung“ für
die Möglichkeit zur Vertiefung bereitstellt. Das Erziehungsziel wird also aus
der Sicht der flow-Theorie auf drei
Ebenen gleichzeitig erreicht. Diese Verflochtenheit gibt Montessoris Ansatz
Tiefe und macht ihre Konzeption in sich schlüssig und folglich erzieherisch
wirksam.
2. Die
„stellvertretende Verantwortung“ (Lauff 1999).
Montessori übernimmt die stellvertretende Verantwortung dafür, dass Kinder ihr
Wachstum und ihre Entwicklung verwirklichen können: Die Kinder sollen sich bei
Montessori als „eigener Baumeister“ selbst entwickeln. „Hilf mir, allein zu
handeln“ ist das zentrale Prinzip ihrer Pädagogik. Die Erwachsenen haben die
Aufgabe, eine normale Entwicklung der Kinder im konzentrativen Tun zu
ermöglichen (s.o.). In der Sprache der flow-Theorie
fördert sie die Entwicklung einer Teleonomie des Selbst, damit sich Kinder zu
einer autotelischen Persönlichkeit entfalten. Sie zeigt sich also
verantwortlich für das Wachstum der Kinder. Dieser Aspekt von Erziehung
begründet sich im Wesentlichen im Menschenbild, denn Montessori nimmt an, dass
Kinder in einem Rahmen, für den sie sich als Pädagogin verantwortlich zeigt,
ihre natürlichen Anlagen entfalten.
Hier setzt ein Kritikpunkt an der Montessori-Pädagogik an:
Montessori beachte den Menschen im Zusammenhang mit der Normalisierung per definitionem zu wenig als soziales
Wesen mit „dialogisch-personalen Momenten“ (Böhm 1994, 479), da das
Erziehungsziel durch selbsttätige Auseinandersetzung mit Materialien erfolge
und nicht durch soziale Kontakte definiert werde (Hoverath 1992, 17). Die
Erzieher sollen sich zurückhalten, wenn es um die Beziehung des Kindes zur
Umwelt geht. Eine empirische Studie unterstützt die zwar Aussage, dass sozialer
Interaktion in Montessori-Einrichtungen eine hohe Bedeutung zukommt: Kinder
bekommen z.B. ihre Lernkontrolle zu 25,3% über den Lehrer, zu 42,2% durch
andere Kinder und zu 32,6% über das Material (Fischer 1999a). Doch
berücksichtige Montessori dies zu wenig im Prozess
der normalen Entwicklung.[37]
Betrachtet man diesen Kritikpunkt aus der Sicht von flow und der stellvertretenden
Verantwortung als Erziehungsmerkmal, so ist eine Vernachlässigung der sozialen
Komponente in gewisser Hinsicht sogar wichtig, da Menschen (aus der Sicht des
Menschenbildes der flow-Theorie) idealerweise
lernen sollten, sich für das eigene autotelische Erleben stark zu machen. Sie
sollten sich nicht von anderen abhängig machen,
indem sie z.B. etwas tun, nur um von anderen anerkannt zu werden. Solch auf
Dauer extrinsisch orientiertes Verhalten verhindere autotelisches Wachstum
(Csikszentmihalyi 1997, 108, 509). Montessoris Ansatz ist für die Förderung von
flow also positiv, weil es die
intrinsische Motivation in den Vordergrund stellt. Insofern erfüllt Montessoris
Pädagogik auch aus einer diesbezüglich kritischen Sicht heraus das flow-förderliche, erzieherische
Kriterium der stellvertretenden Verantwortung.
3. Die Werdenskraft.
Die Kinder können ihre „Werdenskraft“ (Lauff 1999), ihre „ungeheuren
Möglichkeiten“ verwirklichen. Das Kind wird dazu angeleitet, sich nur noch mit
Dingen zu beschäftigen, die „dieser inneren Entwicklung, die es nun fühlt und
versteht, dienlich sind“ (Montessori 31985, 39). So können Kinder
ihrem inneren Drang nach Komplexität verfolgen und ihre Persönlichkeit entwickeln.
Die Förderung der Werdenskraft bei Montessori stimmt mit dem überein, was
Csikszentmihalyi als Teleonomie des Selbst bezeichnet, eine Instanz im
menschlichen Bewusstsein, die Ziele innerlich nach Prioritäten hierarchisiert
und somit einen inneren Leitfaden hat, wie sich Potenziale am besten entwickeln
können. Montessoris Ansatz erfüllt also auch ein drittes Kriterium aus der
Sicht einer „Erziehung durch flow“.
Die Werdenskraft kann bei Montessori besonders auf der Ebene des flow-Zustandes eingeordnet werden, da
Menschen im Zustand von flow
„werden“.
Kritiker sprechen davon, dass Montessori nicht das selbständige
Wachstum ermöglicht, sondern Kinder durch die vorbereitete Umgebung entmündigt,
da Erzieher z.B. entscheiden, welches Arbeitsmaterial verfügbar sein soll,
welches magaziniert wird (vgl. Hoverath, 1992, 17). Diese Kritik bezieht sich
auf eine inhaltliche Ebene: Kinder, so uist die Argumentation, könnten sich
nicht frei entfalten, weil sie sich nicht etwas aus einer gegenständlichen
Vielfalt aussuchen könnten, womit sie arbeiten wollten. Jedoch kommt es
Montessori weniger auf den Inhalt an (s.o.), sondern auf die Möglichkeit, sich
konzentriert mit etwas auseinandersetzen zu können und somit die Struktur des
Erlebens für die Entwicklung zu verinnerlichen. Dafür sind Inhalte weniger
wichtig. Betrachtet man die Kritik an Montessoris vorbereiteter Umgebung aus
der Sicht der flow-Theorie, so kann
der Aspekt der Entmündigung nicht unterstützt
werden, denn Montessori ermöglicht mit ausgewähltem Material die Entwicklung
autotelischer Fähigkeiten und fördert somit die Werdenskraft.
4. Die Entwicklungs-
und Lebenshilfe. Montessori leistet „Entwicklungs- und
Lebenshilfe“[38] (vgl. Hane
1994, 9 f.), ein zentrales Anliegen ist, dass sich Kinder selbständig zu unabhängigen,
normalen Menschen entwickeln. Sie versteht Erziehung als Hilfe zur psychischen
Entwicklung (Montessori 131995, 28). Als Mittel fördert sie
konzentriertes Tun bzw. flow-Erlebnisse
und autotelische Fähigkeiten. Erzieherisch unterstützend wirken dabei
beispielsweise die „zwölf Ratschläge für die Lehrerin an einer
Montessori-Schule“ (Hammerer, 1999, 319 f.) oder eine „Anleitung zu
psychologischen Beobachtungen“ (Montessori 1976, 118). Sie geben einen
orientierenden Leitfaden für Erzieher und Lehrer, damit Montessori-Pädagogen
Entwicklungs- und Lebenshilfe leisten und Kinder zu selbstständigen Menschen
erziehen können. Dieser reformpädagogische Ansatz soll Kinder gerade nicht zu
Marionetten formen-. Die Lebenshilfe begründet sich bei Montessori zu einem
wesentlichen Teil in ihrem Menschenbild, da sie Potenziale annimmt, die sich
unter bestimmten Bedingungen entwickeln.
Insgesamt kann man festhalten, dass Montessoris Pädagogik mit den
Bedingungen übereinstimmt, die durch das Auslösen von flow erzieherisch wirksam sind. Die
Montessori-Pädagogik scheint also allein durch das Auslösen von flow schon erzieherisch wirksam zu sein.
Andersherum: Diese Pädagogik ist also geeignet, Menschen zu autotelischen
Persönlichkeiten zu erziehen.
Vermutlich spricht Montessori deshalb von einer „bisher
unbekannte[n], Erziehung [...] neu und wirkungsvoll“. Diese Erziehung „schenkt
der Welt [ .] — wenn Sie erlauben — eine neue Weißheit“ (Montessori 1942, 24).
[1]
Montessori verwendet den Begriff „Vergnügen“ nicht wie Csikszentmihalyi, Hahn
oder Makarenko im Sinne von hedonistischer Genusssucht, sondern das Verstehen
des Freudeprinzips wird zum Vergnügen: „Tatsächlich ist für unsere freien
Kinder jede geistige Errungenschaft eine Quelle der Freude. Das ist inzwischen
das ‘Vergnügen’, von dem sie gepackt sind und das sie jedes andere niedere
Vergnügen verschmähen lässt.“ (Montessori 41976, 205)
[2]
Montessori wendet sich damit gegen die „alte Pädagogik“, die von einer
„rezeptiven Persönlichkeit“ ausging, „die Unterweisungen empfangen und passiv
gebildet werden musste“. Sie steht für die „aktive“ Persönlichkeit (Montessori
41976, 75), die als eigener „Baumeister“ ihr Selbst entwickle.
[3] „Each of these adolescents is developing the consistent patterns of thought and
action that will form the basis for his or her emerging identity.“
[4]
Montessori schreibt, dass „Normalisation“ oder „Normalisierung“ (die Begriffe
verwendet sie synonym) ein „unzureichender Ausdruck“ sei. Denn ein alter Begriff
wird „auf eine neue Idee“ angewendet. Der Ausdruck ist missverständlich, denn
Eigenschaften, die heute als normal bezeichnet werden, wie „Launenhaftigkeit“,
„Angst“, „Nörgelei“, „Flatterhaftigkeit“, „Schüchternheit“ und
„Appetitlosigkeit“, sind aus Montessoris Sicht nicht normal. Normal ist eine
gesunde psychische Entwicklung, die dazu führt, dass ein Kind körperlich,
geistig und psychisch fit ist. Als eigener Baumeister soll es seinen personalen
Selbstaufbau steuern.
[5]
„Die Organisation des psychischen Lebens beginnt mit einem charakteristischen
Phänomen der Aufmerksamkeit“ (Montessori 41976, 69).
[6]
Der größte Auslöser von flow war in
der Untersuchung von Massimini und Delle Fave die Tätigkeit selbst.
[7]
Vgl. auch im Kapitel über Neill den Abschnitt „Keine Konzentration“.
[8]
Hervorhebung im Original.
[9]
Dieses Zitat weist auf das Verhältnis von psychischer Ordnung und Unordnung
hin. An dieser Stelle zeigt sich zum Beispiel das Vorgehen, um das
Konzentrationsphänomen bei Montessori und das flow-Phänomen miteinander vergleichbar zu machen. Da Montessori oft
Bilder benutzt, wie hier „gesättigte Lösung“ und „Kristall“, hätte ich bei
einem Vergleich einzelner Wörter nicht viele Gemeinsamkeiten zwischen flow-Theorie und Montessori-Pädagogik
gefunden. Ich habe also jeweils auf ein dahinterliegendes Phänomen geschaut und
so Vergleiche herstellen können. In diesem Fall lege ich den Zustand der
Konzentration als ein flow-Erlebnis
aus. Montessoris Ziel ist demnach das Ermöglichen von flow-Zuständen. Auf diese Parallele wird weiter unten genauer
eingegangen.
[10]
Schiefele belegt, „dass ein positiver und signifikanter Zusammenhang zwischen
Interesse und flow-Erleben besteht“
(Schiefele 1996, 226).
[11]
„Was wir denken, wird von unseren Gefühlen beeinflusst, und was wir fühlen,
wird von unserem Denken mitbestimmt“ (Larson 1991, 176).
[12]
„Unser gesamtes Leben ist eine ständige Übung in der Entscheidung.“ (Montessori
41976, 172).
[13]
Vgl. auch im Kapitel über Makarenko den Abschnitt „Freude auf Perspektiven initiieren“.
Montessori beschreibt die Qualität des Erlebens bei Entscheidungen, Makarenko
forciert indes Entscheidungen aus methodischer Sicht.
[14]
Intensiver flow (oder auch deep flow) wird oft mit etwas Mystischem
und mit religiösen, visionären oder ekstatischen Zuständen verbunden
(Csikszentmihalyi 1985, 120). Intensiver flow
tritt jedoch bei ganz „weltlichen“ Tätigkeiten auf. Intensiver flow steht aus meiner Sicht nicht in
Zusammenhang mit Esoterik oder parapsychologischen Strömungen.
[15]
Vgl. Interviews aus der Untersuchung mit außergewöhnlichen Persönlichkeiten in
Csikszentmihalyi 1997.
[16]
Was aber noch nicht zufriedenstellend geklärt ist (Rheinberg 1995, 143 f.).
[17]
Darauf weist auch die Forschung über den Zeigarnik-Effekt hin. Der
Zeigarnik-Effekt (Zeigarnik 1927) thematisiert, dass sich Menschen bevorzugt an
Dinge erinnern, die nicht abgeschlossen sind, dies umso stärker, je kürzer vor
ihrem Abschluss eine Handlung unterbrochen wurde (Heckhausen 21989,
147). Das könnte möglicherweise bedeuten, dass viele unerledigte Dinge (bzw.
nicht innerlich beendete Situationen) die Konzentration auf etwas Neues
erschweren.
[18]
Dieser Rhythmus ist nicht genetisch bedingt, sondern entsteht mittels
Ausprobieren und Lernen (Csikszentmihalyi 1997, 90).
[19]
„Nehmen Sie sich Zeit für Reflexion und Entspannung. [...] Aber bedenken Sie,
dass die beste Entspannung keineswegs im Nichtstun besteht“ (Csikszentmihalyi
1997, 503 f.). Entspannung tritt bei
Tätigkeiten ein, die zwar etwas Aufmerksamkeit, aber keine volle Konzentration
erfordern. Kinästhetische Aktivitäten scheinen dabei besonders entspannend zu
wirken (Csikszentmihalyi 1997, 503).
[20]Csikszentmihalyi
1997, 503.
[21]
Für diese drei Voraussetzungen stehen die Zeichen heutzutage nicht gut:
Schnelllebigkeit verhindert möglicherweise die Muße für ein inneres Beenden von
Tätigkeiten und Ruhe für nachwirkenden Pausen; Informationsvielfalt erschwert
Entscheidungen und damit vielleicht auch die Konzentration auf das, was
Menschen wichtig ist.
[22]
Montessori befasst sich mit den Stärken der Menschen (vgl. auch das Kapitel
über die Produktionsschule), und darüber verlieren sich in ihrer
Betrachtungsweise die Schwächen der Menschen (vgl. Csikszentmihalyi 1999, 57
f.).
[23]
Vgl. auch den Kasten in diesem Kapitel im Abschnitt Konzentration über die
Bedeutung einer Verinnerlichung der flow-Struktur
für Transferleistungen.
[24]
Diese Freude am Wachstum wurde oben in diesem Kapitel im Abschnitt „Montessoris
Menschenbild“ betrachtet.
[25]
Ein „fehlgeleitete[s] Individuum“ könnte aus der Sicht der flow-Theorie seine Aufmerksamkeit als „dissipative Struktur“
(Csikszentmihalyi 1993, 264 ff.) nutzen und somit wieder normal werden
(Montessori 1994, 119).
[26]
Vgl. hierzu „Anleitung zu psychologischen Beobachtungen“ (Montessori 41976,
118 f.). Hiermit soll das Kind nach bestimmten Kriterien beobachtet werden,
z.B. ob es das Bedürfnis hat, Fortschritte zu machen und ob es konzentriertes
Arbeiten nach gewaltsamen Ablenkungen wieder aufnimmt.
[27]
Fischer (1999, 80) bezeichnet dagegen die Materialien als zielorientiert, da
„bei jedem Material einer Serie [...] nur eine neue, klar umrissene
Schwierigkeit“ hinzukomme. Diesen Aspekt sehe ich jedoch nicht als ein Ziel,
sondern als Herausforderung an.
[28]Vgl.
den Ansatz von Neill, er hat mit seiner Pädagogik der Freiheit die gleiche
Absicht verfolgt. Da er jedoch anders als Montessori kaum mit flow übereinstimmende Kriterien erfüllt,
erleben „seine“ Kinder vermutlich wenig flow.
[29]
Vgl. Kasten über die Teleonomie des Selbst, in den Abschnitten Menschenbild und
Auswirkungen.
[30]
bei
Montessori unterscheiden sich von denjenigen bei Freinet und in der
Produktionsschule, sie betont einen innerpsychischen Aspekt, während bei den
Arbeitsschulen die Kontrollerfahrungen eher durch äußere Fertigstellungen
erfolgen (Setzen der Buchstaben in der Druckerei, Erreichen des Wochenzieles,
Erstellung eines Produktes). Bei Montessori ist die Kontrollerfahrung also eher
auf das Ich bezogen und weniger von Inhalten abhängig.
Diese
Unterscheidung mag aber auch darauf beruhen, dass Montessori im Vergleich zu
den hier beschriebenen anderen Reformern mit Kindern einer anderen Altersstufe
gearbeitet hat. Montessori beobachtete lange drei- bis sechsjährige Kinder, die
mit einem „absorbierendem Geist“ ihre Welt erobern. Hier sind Feedback und
Kontrollerfahrungen eher eine strukturierende Erfahrung zum Aufbau von
Normalität. Die anderen Konzepte ermöglichen Kontrolle und Feedback auf einem
anderen Fähigkeitsniveau. Dies ist möglicherweise automatisch inhaltsbezogener,
da es um unterrichtsbezogene konkrete Handlungen geht.
[31]
Vgl. dazu das Thema Freiheit bei Neill.
[32]
Eine Grenzziehung macht Neill zum Beispiel nicht und löst vermutlich unter
anderem deshalb vergleichsweise wenig flow
aus.
[33]
Am Ende der Arbeit finden sich diese wie alle weiteren vier Tabellen über die Reformpädagogen
in einer Synopse wieder. Sie macht auf einem Blick ersichtlich, welches
reformpädagogische Konzept welche flow-Kriterien
erfüllt.
[34]
Hier habe ich die grammatikalische Form verändert.
[35]
Die flow-förderlichen Bedingungen
beruhen zu einem großen Teil auf Montessoris Menschenbild. Herausforderungen
sind beispielsweise eine grundlegende Voraussetzung für die Entfaltung von
Potenzialen, das Material bietet eine Fehlerkontrolle für neue Einsichten in
einem Entwicklungsprozess. Ein gewisses Maß an Freiheit ist notwendig, damit
sich die Persönlichkeitsentfaltung in eine „richtige“ Richtung bewegen kann.
Und eine Struktur im Kinderhaus sorgt dafür, dass die Kinder in einem
natürlichen Rhythmus optimal ihre Kräfte zur Eroberung ihrer Potenziale nutzen
können (vgl. dazu die Diskussion am Ende des Kapitels).
[36]
Bei Csikszentmihalyi heißt es zwar, dass alle Elemente als Schlüssel oder
Katalysator für den Eintritt in das flow-Erleben
wirken können, doch möchte ich die Elemente Selbstvergessenheit und veränderte
Zeitwahrnehmung nicht unbedingt dazu zählen, weil sie zwar das flow-Erlebnis charakterisieren, jedoch
vermutlich nicht ohne flow auftreten.
Montessori beschreibt diese flow-Eigenschaften,
was auf das flow-Phänomen hinweist.
Ich möchte diese beiden Aspekte aber nicht als Auslösefunktionen definieren.
[37] Obwohl Montessori die Materialkontrolle in ihrer Pädagogik betont,
sprechen z.B. ihre „Ratschläge für Lehrerinnen“ (Hammerer 1999, 319; Montessori
1999, 148 f.) dafür, dass soziale Interaktion im Entwicklungsprozess eine Rolle spielt.
[38]
Dolch 71965, 54.