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4. Präsidentialismus und Medienkontrolle

 

a) Präsidentenfernsehen und Restaurationsbestrebungen

 

Auf das liberale Mediengesetz folgte eine ausgesprochen repressive Medienpolitik der Regierung Gorbačevs. In Anbetracht der Entstehungsgeschichte des Gesetzes kann diese Wendung niemanden in Erstaunen versetzen. Die Leitung des staatlichen Fernsehens wurde im November 1990 L. Kravčenko übertragen, der den ersten Kanal in bedingungsloser Loyalität zum „Präsidentenfernsehen” machte. Ein präsidentielles Dekret verbot die Änderung der gesetzlichen und eigentümerrechtlichen Position der Unterabteilungen des Staatlichen Komitees für Fernsehen und Rundfunk der UdSSR, damit nicht wie auf dem Zeitungsmarkt die Privatisierung um sich griffe.[1] Außerdem verbot das Dekret den Fernsehjournalisten, ihre privaten politischen Überzeugungen zu verbreiten, wodurch das Zensurverbot eindeutig verletzt wurde. Eine Reihe von regierungskritischen Sendungen wurde in der Folge abgesetzt. Schließlich wandelte ein weiteres Dekret vom 9. Februar 1991 das staatliche Fernsehen in die „Allunions-Staatsfernsehen und -rundfunkgesellschaft” um, ein Schritt, der von Kravčenko so kommentiert wurde: „Ich kann nur vom Präsidenten der UdSSR entlassen werden, der mich per Dekret eingesetzt hat.” [2] Die erste Gelegenheit zur Entlassung bot sich bereits am 19. Februar, als das Zentralfernsehen die Erklärung des radikalen Demokraten B. El´cin ausstrahlte, Gorbačev strebe aufgrund seines Charakters zur Verabsolutierung seiner persönlichen Macht. Kravčenko blieb jedoch im Amt.

 

Nach dem militärischen Einsatz sowjetischer Einheiten in Vilnius und Riga im Januar 1991 und der harschen Verurteilung der Nationalitätenpolitik in der Presse forderte Gorbačev den Obersten Sowjet dazu auf, das liberale Mediengesetz außer Kraft zu setzen und wieder die Kontrolle über die Massenmedien zu übernehmen - ein Restaurationsverlangen, dem sich das Parlament erfolgreich widersetzte.[3] „Der Prozess läuft schon”, wie Gorbačev selbst oft zu sagen pflegte, oder anders ausgedrückt: Die Geister, die er rief, wurd´ er nun nicht los.

 

b) Innenpolitische Krise, Machtzerfall und Glaubwürdigkeitsverlust

 

Die Ursache dieser rückwärtsgewandten - oder auch, wie Außenminister Ševardnaze anlässlich seines Rücktritts im Dezember 1990 meinte, auf die Errichtung einer Diktatur zielenden - Politik lag nicht nur darin, dass die Presse außer Kontrolle geraten und einem „Kritizismus- Fieber”[4] verfallen war. Die neue autoritäre Politik Gorbačevs diente auch der persönlichen Machterhaltung. Die Einführung des Präsidialsystems im März 1990 sollte Gorbačev davor bewahren, vom Machtverlust der KPdSU betroffen zu werden.[5] Immerhin hatte die kommunistische Partei zugleich mit der betreffenden Verfassungsänderung ihren Führungsanspruch aufgeben müssen (Art. 6 der Verfassung der UdSSR von 1977). Immer neue und immer extremere politische Strömungen entstanden und verlangten entweder eine entschlossene Fortsetzung der Reformen oder eine wirksame Verteidigung der nationalen Interessen der Sowjetunion. In vielen Fragen konnte es sich der neue Präsident der UdSSR Gorbačev kaum noch leisten, eine vermittelnde Position einzunehmen. Seit die RSFSR mit der Souveränitätserklärung vom 12. Juni 1990 die „Parade der Souveränitäten” der sowjetischen Republiken eröffnet hatte, drohte die UdSSR auseinanderzufallen. Die Unabhängigkeitsbestrebungen des Baltikums hatten eine innen- und außenpolitische Krise heraufbeschworen. Ein Ausweg aus der wirtschaftlichen Krise, der mit Hilfe des 500-Tage-Plans (Šatalin / Jawlinskij), einem gemeinsamen Projekt von Gorbačev und El´cin, im Sommer 1990 noch möglich erschien, wurde im Herbst durch den Rückzieher Gorbačevs versperrt, so dass auch eine Verbesserung der ökonomischen Situation der Sowjetunion nicht abzusehen war.

 

Außerdem hatte man den sowjetischen Kommunismus inzwischen seiner wertvollsten ideologischen Grundlage beraubt. Das gute, gottgleiche Bild Lenins, anfangs noch unantastbar und ebensowenig in Frage zu stellen wie die grundsätzliche Überlegenheit der sozialistischen Ordnung, war durch die zahlreichen Enthüllungen der "Glasnost´" - Zeit schließlich doch noch zerstört worden. Die Sichtung der „weißen Flecken” in der sowjetischen Geschichte wurde seit 1987 zum Lieblingsobjekt der „Glasnost´”- Schriftsteller. Sie hatte mit der öffentlichen Verurteilung der zahlreichen stalinistischen Säuberungen und der Abrechnung mit der Person Stalins begonnen und bewirkte schließlich die offene Auseinandersetzung mit der Person Lenins.[6] Als Lehrmeister Stalins und Gegner der Freiheit, der er nun erschien, war Lenin bald nicht mehr zitierfähig. Aus dem ideologischen Schutzschild Gorbačevs war für die meisten der reforminteressierten Anhänger der „Perestrojka” ein rotes Tuch geworden. Die pragmatische Entideologisierung des Kommunismus durch Gorbačev führte in letzter Konsequenz über die Aufgabe starrer Glaubenssätze hinaus zur Zerstörung der Grundlagen des Systems. So wie die KPdSU ihre absolute Vormachtstellung in der Sowjetunion verlor, büßte Moskau seine uneingeschränkte Zentralgewalt ein, und die Sowjetunion verlor ihre Führungsrolle unter den Ländern des Ostblocks. Im Februar 1991 wurde der Warschauer Pakt aufgelöst. Gorbačev hatte sich vom gemäßigten Reformer zum taktierenden Zentristen und Präsidenten ohne demokratische Machtbasis entwickelt. Er stand in der Innen- und Außenpolitik vor großen Aufgaben, konnte sich aber nicht mehr auf die Gefolgschaft der Partei, der Medien und die Zustimmung der sowjetischen Bevölkerung zu seiner Unionspolitik verlassen.

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[1] Dekret des Präsidenten "Über Demokratisierung und Entwicklung des Fernsehens und Rundfunks in der UdSSR" vom 16. Juli 1990.

[2] E. Mickiewicz (1997), aaO. S. 50.

[3] H. Wendler (1995), aaO. S. 80.

[4] M. Gorbačev (1996), aaO. S. 307.

[5] Der Generalsekretär der KPdSU wurde nicht nur Präsident der Sowjetunion, sondern war zugleich auch Vorsitzender des Obersten Sowjet, Parlamentspräsident des Kongresses der Volksdeputierten und Oberkommandierender der Streitkräfte.

[6] V. Grossman zum Beispiel stellte in seinem Roman "Alles fließt" Lenin mit Stalin gleich und verglich den sowjetischen Kommunismus mit dem deutschen Faschismus. Sein Buch "Leben und Schicksal" stellte Stalin und Hitler als verwandte Geister dar. Suslov hatte dazu noch 1962 gesagt, das Buch könne frühestens in zwei- bis dreihundert Jahren veröffentlicht werden.