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b) Vorübergehendes Machtvakuum (Wendler)

 

Hauke Wendler äußerte sich am Schluss seiner Arbeit "Rußlands Presse zwischen Abhängigkeit und Zensur: Die Rolle der Printmedien im Prozess des politischen Systemwandels 1990 bis 1993" weniger zuversichtlich und stellte es ausdrücklich in Frage, dass der Pluralismus der Meinungen und die ungehinderte Artikulation aller gesellschaftlich relevanten Standpunkte in der Öffentlichkeit tatsächlich gesichert ist. Nach Wendler sind bei der Fortschreibung des Medienrechts seit 1990 zwar herausragende Erfolge erzielt worden. Die Ansätze einer normativ-rechtlichen Demokratisierung hatten jedoch auf die Praxis des russischen Journalismus einen begrenzten Einfluss, wie sich spätestens seit der Jahreswende 1991/92 zeigte. Die gesellschaftlichen und politischen, vor allem aber die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Verankerung einer substantiellen Pressefreiheit in Rußland scheinen nach wie vor nicht gegeben zu sein.[1] Das Gesetz "Über die Massenmedien" von 1992 enthält nach seiner Auffassung keine zukunftsweisenden, verbindlichen Forderungen, die geeignet sind, die Entwicklung pluralistischer, staatsunabhängiger Medienstrukturen langfristig zu gewährleisten. Die Tatsache, dass die Liberalisierung des russischen Medienrechts vom Gesetzgeber nicht geradliniger vorangetrieben wurde, sei neben der mangelnden Stabilität und Rechtsstaatlichkeit von Politik und Gesellschaft vor allem auf das Fehlen einer grundsätzlich überarbeiteten Verfassung der RF zurückzuführen.[2]

 

Den Auslöser für die liberale Medienpolitik, die in der Verabschiedung des sowjetischen Pressegesetzes von 1990 kulminierte, sieht Wendler weniger im öffentlichen Reformdruck als vielmehr im Machtvakuum, das mit der zunehmenden Auseinandersetzung innerhalb der politischen Elite der Sowjetunion entstand. Seine Untersuchung von Motivation, Legitimation und Interessen der medienpolitischen Akteure habe gezeigt, dass sowohl bei der KPdSU-Führung um Gorbatschow als auch bei den sogenannten demokratischen Kräften um Jelzin starke Tendenzen zu einer restriktiven, autoritären Medienpolitik bestehen. Aus dem tiefgreifenden Wandel im politischen Kräfteverhältnis seit Ende August 1991 habe sich nicht die erhoffte soziale und politische Demokratisierung entwickelt. Stattdessen habe sich die russische Staatsführung zunächst auf die Konsolidierung ihrer Herrschaft mittels einer zunehmend restriktiven Medienpolitik beschränkt, die bis Ende 1992 zur weitreichenden Deliberalisierung des russischen Pressewesens führte. Diese "Maßnahmen zur erneuten Gleichschaltung der Medienberichterstattung" seien seit Mitte 1992 durch die politische Konfrontation des russischen Präsidenten Boris Jelzin mit dem mehrheitlich konservativ ausgerichteten Parlament zusätzlich verschärft worden.[3]

 

Nach Wendlers Darstellung verstand sich die Presse ihrerseits - mit Ausnahme einiger weniger liberaler Zeitungen und Zeitschriften - weiterhin als aktiv in die politische Auseinandersetzung eingreifende Kraft, der vor allem die Propagierung ihrer jeweiligen ideologischen Zielsetzungen obliegt. Zugleich schien es so zu sein, als habe zumindest ein Teil der partei- und staatsunabhängigen Presse die restriktive Medienpolitik Jelzins billigend akzeptiert, ausgehend von der Überzeugung, dass die Transformation des sowjetischen Systems nur von einer einflussreichen, übermächtigen Exekutive durchzusetzen ist.[4] Die Liberalisierung der russischen Presse begreift Wendler somit primär als Folge zeitweiliger Herrschaftsinstabilität. Ein "weitreichender sozialer und politischer Modernisierungsprozess" ist seiner Ansicht nach nicht in Sicht, denn ein "tiefgreifender Wandel in der politischen Kultur der Mehrheit der Bevölkerung" ist mittelfristig kaum vorstellbar. Ihm scheint die Folge der zentralistisch-autoritären Herrschaftsform des Sowjetsozialismus, nämlich das Erbe der sozialen Demobilisierung, einer der wesentlichen Faktoren zu sein, die dem Aufbau einer substantiellen Demokratie in der RF entgegenstehen. Gefahren für die Demokratisierung sieht Wendler schließlich auch in der zunehmenden Verbreitung nationalistischer und reaktionär-restaurativer Ideen, einer Entwicklung, der kaum entgegenzusteuern ist, da die Bürger der RF das Vertrauen in die Medien "mittlerweile fast vollständig verloren" haben.[5]

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[1] H. Wendler (1995), Rußlands Presse zwischen Abhängigkeit und Zensur,

S. 129.

[2] H. Wendler, aaO., S. 99.

[3] H. Wendler, aaO., S. 130 / 131.

[4] H. Wendler, aaO., S. 131.

[5] H. Wendler, aaO., S. 132.