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5. Schlussbetrachtung: Vergleich mit der zweiten Lesung des Fernsehgesetzes

 

Die zweite Lesung des Gesetzes "Über Fernsehen und Rundfunk" am 13. Januar 1999 lässt sich in vieler Hinsicht mit der zweiten Lesung des Änderungsentwurfs zum Gesetz "Über die Massenmedien" vergleichen. Beide Versuche endeten damit, dass man von einer Abstimmung über das Projekt vorläufig absah. Beim Gesetz "Über die Massenmedien" wurde die logische Abstimmungsreihenfolge verletzt, was zu dem unvorhergesehenen Ergebnis führte, dass letztendlich keine der Fraktionen das Gesetz in dieser Form befürworten wollte. Beim Gesetz "Über Fernsehen und Rundfunk" fiel auf, dass einige zuvor vereinbarte Textkorrekturen plötzlich fehlten, und man warf dem vortragenden Komitee außerdem die Verletzung des Reglements der Staatsduma vor. Diese eher technischen Schwierigkeiten stellten jedoch nicht die einzigen Abstimmungshindernisse dar. Beide Sitzungen offenbarten, dass trotz der langen Anlaufzeit und der ausführlichen Verhandlung der Gesetzesprojekte beträchtliche Meinungs­verschiedenheiten zwischen den Fraktionen der Staatsduma fortbestanden und vor allem die Gegensätze zum Präsidenten und zur Regierung der RF kaum überbrückbar waren. Beim Gesetz "Über die Massenmedien" waren es in erster Linie die erwähnten Bestimmungen zur Begrenzung der Konzentration der Massenmedien, die den Weg zur Verabschiedung des Änderungsgesetzes versperrten. Beim Gesetz "Über Fernsehen und Rundfunk" war es die nicht minder grundsätzliche Frage der Einrichtung der föderalen Rundfunkkommission.

 

Das Gesetz "Über die Massenmedien" sieht vor, dass eine unabhängige Kommission bestehend aus den Vertretern der Regierung, des Parlaments und der Gesellschaft die staatliche Politik auf dem Gebiet des Fernsehens und Rundfunks ausarbeitet (Art. 30) und die Lizenzen vergibt (Art. 31). Die Lizenzierung nimmt jedoch seit Jahren ein föderaler Dienst (FSTR) vor, welcher allein der Exekutive unterstellt und verantwortlich ist; außerdem erfolgt auch die Ernennung und Entlassung der Generaldirektoren staatlicher Fernsehgesellschaften nur mit der Zustimmung des Präsidenten der RF. Der Wunsch der Beteiligung der Legislative an der staatlichen Medienpolitik widerspricht also dem status quo des derzeitigen politischen Systems. Unter der Federführung des Abgeordneten V. E. Coj (Fraktion "Rußländische Regionen") bemühte sich das zuständige Komitee der Staatsduma für Informationspolitik und Fernmeldewesen daher um einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen. Schließlich meinte man ihn mit dem "Kollegium Spezialbevollmächtigter" gefunden zu haben, einem zu gleichen Anteilen aus Vertretern der Exekutive und der Legislative gebildeten Aufsichtsrat (Art. 21 des Entwurfs vom Dezember 1998). Dieses Kollegium würde jedoch nur über begrenzte Vollmachten verfügen. Es wäre zuständig für die Ernennung des Generaldirektors und die Bestätigung des Jahresabschlusses der staatlichen Gesellschaft sowie die "Entwicklung" und die "Konzeption des Senders". Im übrigen soll es sich nicht in die Tätigkeit des staatlichen Senders einmischen dürfen. Insbesondere bleibt die Ausarbeitung staatlicher Politik auf dem Gebiet der Lizenzvergabe durch die Exekutive hiervon unberührt. Für die Lizenzerteilung soll weiterhin ein besonderes "Lizenzierungsorgan" zuständig sein (Art. 28).

 

V. E. Coj bezeichnete diesen Kompromissvorschlag als "ersten Schritt auf dem Weg zur Errichtung eines Rundfunkregimes in Rußland, bei dem der staatliche Rundfunk nicht zu einem Institut der Staatsgewalt, sondern zu einem Institut der Gesellschaft wird". Dem widersprach S. P. Gorjačeva von der Fraktion der KPRF sehr entschieden. Coj habe das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und im übrigen eine grobe Verletzung des Reglements der Staatsduma begangen. Art. 120 des Reglements besage, dass nach der ersten Lesung nurmehr Korrekturen in Form von Veränderungen und Ergänzungen an einzelnen Artikeln vorgenommen werden. Er hingegen habe das ganze vierte Kapitel des ersten Entwurfs gestrichen und durch völlig neue Bestimmungen ersetzt.[1] Die frühere Konzeption, über die man sich als Grundlage der weiteren Ausarbeitung geeinigt hatte, sei nicht mehr wiederzuerkennen. Sie beantrage daher, wie es auch in Art. 123 des Reglements vorgesehen sei, die neuen Korrekturen abzulehnen und das Gesetzesprojekt insgesamt zur Überarbeitung an das Komitee zurückzugeben.[2] In Anbetracht der Tatsache, dass im betreffenden Komitee auch Abgeordnete der Fraktion der KPRF saßen und an der Ausarbeitung des Gesetzesprojekts beteiligt waren, kam diese Wendung überraschend. V. E. Coj brachte seine Verwunderung hierüber zum Ausdruck: " (...) Schon den zweiten Tag rede ich mit Gabidullin, er sagte mir, dass die Fraktion der Kommunisten dieses Gesetz unterstützt, und nun kommt alles ganz anders. Ich wäre heute nicht ans Rednerpult getreten, hätte es diese Gespräche nicht gegeben. (...) ". Daraufhin Gabidullin: "Hierzu möchte ich sagen: Darüber, ob die Fraktion das Gesetzesprojekt unterstützt oder nicht unterstützt, habe ich niemandem etwas gesagt. Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, die Entscheidung der Fraktion bekanntzugeben, bevor sie gefallen ist."[3]

 

Hier zeigte sich der schon oft bemängelte Fehler im System der Staatsduma, der Voraussagen über Abstimmungsergebnisse schwierig macht. Nach der Konzeption der Verfassung sollen aus jeder Fraktion Abgeordnete in die Komitees entsandt werden, die sich mit der Ausarbeitung der Gesetzentwürfe beschäftigen, so dass jedes Komitee gleichsam als Mini-Duma die Staatsduma insgesamt widerspiegelt. Die Zersplitterung der Staatsduma in Fraktionen, Parteien und von einzelnen Persönlichkeiten gelenkte Gruppen führt jedoch zur Bildung einer Vielzahl von Komitees mit sich überschneidenden Zuständig­keiten, in denen oft einzelne Fraktionen den Ton angeben und eine oder auch zwei Fraktionen überhaupt nicht vertreten sind. Hinzu kommt, dass es zwischen der legislativen Arbeit der Komitees und der politischen Tätigkeit der Fraktionen keine organisatorische Verbindung gibt. Komitees und Fraktionen arbeiten unabhängig voneinander, ohne dass Mechanismen zur Koordinierung eingreifen. Die Abgeordneten fühlen sich als Mitglieder der Komitees nicht unbedingt ihrer Fraktion zugehörig und wechseln mitunter zwischen den Fronten. Insbesondere bei der Verabschiedung des Haushaltes produzierte diese zweigleisige Struktur immer wieder ein Chaos.[4]

 

Die Ursache für die vielen Misserfolge der Gesetzgebungstätigkeit der Staatsduma liegt aber nicht nur im System, sondern auch im grundsätzlichen. Dieses gilt insbesondere für die Mediengesetzgebung. In zentralen Fragen der Informations- und Medienpolitik gehen die Meinungen auseinander. Die Weigerung der Exekutive, die Vertreter der Bundesversammlung an der Leitung der staatlichen Massenmedien und der Ausarbeitung staatlicher Medienpolitik wenigstens zu beteiligen, ist ebenso hartnäckig wie das Beharren der kommunistischen und nationalistischen Fraktionen der Staatsduma auf einer mehr oder weniger autoritären Staatsaufsicht über die Massenmedien.

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[1] Vgl. Kapitel IV des ersten Entwurfs: "Organe staatlicher und gesellschaftlicher Regulierung auf dem Gebiet des Fernsehens und Rundfunks", angenommen in erster Lesung am 3. September 1997.

[2] Vgl. Sitzungsprotokoll vom 13. Januar 1999: http://www.duma.gov.ru/infocom, download 1.7.99, unter: Gesetzesprojekte.

[3] Sitzungsprotokoll vom 13. Januar 1999, aaO (Übers. d. Verf.).

[4] J. M. Ostrow (1998), Procedural Breakdown and Deadlock in the Russian State Duma: The Problems of an Unlinked Dual-channel Institutional Design, in: Europe-Asia Studies Vol. 50, No. 5, S. 793 (805). Vgl. auch S. von Steinsdorff (1999), Kalkulierter Konflikt und begrenzte Kooperation - Zum Verhältnis von Präsident, Regierung und Parlament in Rußland, in: Osteuropa 1 / 99, S. 16 (19 ff.): "Inszenierte Konflikte als Grundmuster russischer Politik". Von Steinsdorff stellt die zahlreichen Konflikte als "leicht durchschaubaren Theaterdonner" dar, dessen eigentlicher Zweck es ist, die chronische Krise des russischen Staats­wesens in den Augen der Bevölkerung der jeweils anderen Seite anzulasten.