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6. Ausweitung der staatlichen Kontrolle über die Massenmedien

 

a) Gesetz "Über die Massenmedien"

b) Wirtschaftsreform , Wirtschaftskrise und Machtkampf mit dem Parlament

c) Nachrichtenagentur ITAR-TASS und  "Föderales Informationszentrum"

d) Auflösung des Parlaments und Errichtung neuer Kontrollinstanzen

e) Gerichtliche Kammer für informationelle Streitigkeiten

 

6. Ausweitung der staatlichen Kontrolle über die Massenmedien

 

a) Gesetz "Über die Massenmedien"

 

Am 1. Februar 1992 trat in Rußland als Nachfolger des Gesetzes der UdSSR „Über die Presse und andere Mittel der Masseninformation” das Gesetz „Über die Massenmedien” in Kraft. Nach der Ansicht M. Fedotovs war diese „republikanische Variante” um einiges radikaler als ihr Vorgänger.[1] Insbesondere konnten Lücken und Unklarheiten beseitigt sowie wichtige Präzisie­run­gen vorgenommen werden (Art. 1, Inhalt des Freiheitsrechts, Art. 3 Abs.1, Definition der Zensur). Änderungsvorschläge des Obersten Sowjets wurden wieder fallengelassen, nachdem Präsident El´cin sie als „antidemokratische Korrekturen” bezeichnet und im Falle ihrer Annahme mit seinem Veto gedroht hatte.[2] Inhaltlich geht das neue Gesetz jedoch nicht viel über das vorherige hinaus. Es enthält Vorschriften über die Gründung und Registrierung, den Status des Gründers, Herausgebers und der Redaktion, die Errichtung einer föderalen Fernseh- und Rundfunkkommission, das Recht auf Zugang zur Information, die Rechte und Pflichten des Journalisten, insbesondere dessen Akkreditierung bei staatlichen Stellen, sowie einige knappe Regelungen für den Fall der Verletzung seiner Vorschriften (Einzelheiten hierzu im vierten Kapitel).

 

b) Wirtschaftsreform , Wirtschaftskrise und Machtkampf mit dem Parlament

 

Im Jahr 1992 folgte diesem Gesetz kein abermaliger Aufschwung, sondern eine finanzielle Krise der Massenmedien.[3] Die einschneidende Wirtschaftsreform E. Gajdars bedeutete für zahlreiche Neugründungen das rasche Ende ihrer Existenz. Die Massenmedien bekamen die Auswirkungen der Preisfreigabe unverzüglich zu spüren. Die Papierherstellung, die Druckereien, das Transportwesen und die Sendeanlagen des Fernsehens waren zum größten Teil unter staatlicher Verwaltung geblieben. Sie setzten die Preise spürbar herauf. Als einzige Anbieter besaßen die Post und die Bahn Monopolstellungen; sie diktierten Preissteigerungen.[4] Infolge der Inflation sanken außerdem die Realeinkommen der Bevölkerung. Die Abonnentenzahlen neun führender Tageszeitungen gingen von Januar 1992 bis Januar 1993 auf durchschnittlich 40% des Ausgangswertes zurück, bei sechs Wochenzeitungen auf knapp 30%.[5] Bis 1994 verringerten sich die Auflagenzahlen zentraler Tageszeitungen so stark,[6] dass das Fernsehen in vielen Landesteilen zur einzigen überregionalen Nachrichtenquelle überhaupt wurde.[7] 

 

Da die Wirtschaftsreform statt sichtbarer Resultate im ganzen Land drastische Produktionseinbrüche bewirkte, verschärfte sich auch die Opposition im russischen Parlament. Seit der Mitte des Jahres 1992 entwickelte sich ein innenpolitischer, von persönlichen Feindschaften begleiteter Machtkampf zwischen B. El´cin und R. Chazbulatov, dem Vorsitzenden des Obersten Sowjets der RF.[8] Der Gesetzgebungsprozess wurde hierdurch weitgehend lahmgelegt. Beide Seiten trachteten danach, die Massenmedien unter ihre Kontrolle zu bringen. Wie bereits erwähnt, versuchte Chazbulatov im Juli 1992 vergeblich, die Tageszeitung „Izvestija”, die sich im August 1990 durch Neuregistrierung von staatlicher Vormundschaft befreit hatte, wieder der Kontrolle des Parlaments zu unterstellen.

 

c) Nachrichtenagentur ITAR-TASS und  "Föderales Informationszentrum"

 

Im Vergleich mit den eher zufälligen, unsystematischen Attacken des Obersten Sowjets nahm sich die Medienpolitik der Präsidialadministration El´cins jedoch wie eine langfristig angelegte Strategie zur Kontrolle der Massenmedien aus. Bereits im Januar 1992 hatte El´cin per Dekret die staatliche Nachrichtenagentur TASS reorganisiert und in ITAR-TASS (Informations-Telegrafenagentur Rußlands - TASS) umbenannt. Im Juli 1992 folgte die Umwandlung der früheren APN „Novosti” zur Aktiengesellschaft RIA "Novosti" (Rußländische Informationsagentur), die sich im staatlichen Besitz befindet. Auf dem Feld der inländischen Nachrichtenbeschaffung entstand so ein staatliches Nachrichtenmonopol, dem unabhängige Nachrichtenagenturen wie INTERFAX[9] und POSTFACTUM sowohl in materieller als auch in personeller Hinsicht immer noch weit unterlegen waren.[10]

 

Im Dezember 1992 ließ El´cin nicht anstelle, sondern neben dem Ministerium für Presse und Information das „Föderale Informationszentrum” (FIZ) errichten, dem die staatliche „TV- und Rundfunkgesellschaft Ostankino”[11] sowie das Pressezentrum der russischen Regierung direkt unterstellt wurden. Vorderste Aufgabe dieses von manchen so genannten „Wahrheits­ministeriums”[12] sollte die Sicherstellung genauer und wahrheitsgemäßer Information über den Gang der regierungsgelenkten Reformen sein. Die Volksdeputierten der RF verfügten auf der Neunten (außerordentlichen) Sitzung die Aufhebung der Präsidialdekrete, die das FIZ und den Föderalen Fernsehdienst "Rossija" betrafen.[13] Im Mai 1993 gab das Verfassungsgericht dem Parlament Recht, da weder die Verfassung der RF noch die föderalen Gesetze dem Präsidenten der RF entsprechende Vollmachten zur Gründung dieser Institutionen gegeben hatten.[14] Das FIZ wurde dennoch nicht aufgelöst, denn die Seite des Präsidenten betrachtete das Verfassungsgericht der RF inzwischen als parteiisch. Die Bemühungen des Vorsitzenden Richters V. Zorkin, im Konflikt zwischen dem Präsidenten und dem Obersten Sowjet zu vermitteln, wurden nicht nur mit Dankbarkeit aufgenommen. Das Verfassungsgericht der RF hatte sich zunehmend politisieren lassen. Indessen betrieb auch der Leiter des FIZ, M. Poltoranin, keine ausgewogene, unparteiische Medienpolitik. Er tat sich seinerseits als Vertreter der Interessen des Präsidenten hervor. Er beging Eigenmächtigkeiten und Einschüchterungen gegenüber Presseorganen wie „Stolica” oder „Nezavisimaja gazeta”.[15] Im August 1993 betrieb und erreichte er die Abdankung des Informations- und Presseministers M. Fedotov. Schließlich plante er sogar, das FIZ mit dem Recht der Gesetzesinitiative auszustatten.[16]

 

Eine solche Idee war keineswegs ungewöhnlich, da die staatlichen Exekutivorgane in Rußland schon immer eine herausragende Rolle gespielt haben. Der Exekutive kommt in der russischen Politik gegenüber der Gesetzgebung und der Rechtsprechung ein vergleichsweise hoher Stellenwert zu. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Gewaltenteilung wird nicht immer strikt befolgt. Die Ursache hierfür liegt nicht nur in der sowjetischen Vergangenheit, sondern auch in den besonderen Umständen der Transformationsphase. Die russische Gesellschaft steht nach dem Zusammenbruch des einheitlichen sozialistischen Parteienstaats vor der Aufgabe, sich zugleich eine neue rechtliche, politische und wirtschaftliche Ordnung geben zu müssen. Der Handlungsbedarf ist groß, die politische Kompromissbereitschaft der im Parlament vertretenen Interessengruppen aber vielfach gering. Oft hat der Präsident allein entschieden. Insgesamt übersteigt die Anzahl der präsidentiellen Dekrete die der Gesetze bei weitem („Ukaskratie”).[17] Dennoch konnten nicht alle drängenden Probleme rechtzeitig und in der logischen Reihenfolge gelöst werden. Das zeigte sich z.B. im Verlauf der Privatisierung, insbesondere der Massenprivatisierung der Staatsbetriebe,[18] anhand der weiterhin unentschiedenen Frage des Eigentums an Grund und Boden[19] sowie bei den zahlreichen - und bisher erfolglosen - Bemühungen, ein Gesetz „Über Fernsehen und Rundfunk” zu verabschieden.[20] Gesetzgebungslücken auf der einen Seite und der Ausbau eines starken präsidentiellen Systems auf der anderen Seite haben die Entwicklung der Massenmedien in der RF entscheidend geprägt.

 

d) Auflösung des Parlaments und Errichtung neuer Kontrollinstanzen

 

Nach dem Referendum vom 25. April 1993, in dem die Mehrheit der Bevölkerung dem Präsidenten der RF B. El´cin das Vertrauen aussprach und dessen Wirtschafts- und Sozialpolitik billigte,[21] bedeutete die Annahme der Verfassung durch die Volksabstimmung vom 12. Dezember 1993 den zweiten großen Sieg für den Präsidenten und die endgültige Beendigung des Machtkampfes mit dem Obersten Sowjet der RF. Im April votierten 58,8 % der Abstimmenden für den Präsidenten, und im Dezember befürworteten 58,43 % der Abstimmenden[22] den neuen Verfassungstext, der von den im Sommer breiter diskutierten Entwürfen nochmals wesentlich abwich. Beide Abstimmungsergebnisse waren für sich genommen erstaunlich, denn zum einen hatte man im Frühjahr 1992 drastische Produktionseinbrüche und eine hohe Inflation erlebt, und zum anderen war die unangekündigte Auflösung des Parlamentes durch das präsidentielle Dekret Nr. 1400 "Über die etappenweise Verfassungsreform in der RF" vom 21. September 1993 illegal. Die Beendigung der Vollmachten der Volksdeputierten per Präsidialdekret und die eigenmächtige Anberaumung von Neuwahlen zur Staatsduma waren als verfassungswidriger Staatsstreich zu werten.[23] Hierbei konnte es nur noch um die Frage gehen, ob für diesen zukunftsweisenden Schritt wenigstens legitime Gründe zugunsten des Präsidenten anzuerkennen waren.

 

Der Präsident selbst berief sich - neben dem positiven Ergebnis des April-Referendums - darauf, dass das Volk ihn im Juni 1991 zum Präsidenten der RSFSR gewählt hatte, die Volksdeputierten hingegen zum großen Teil aufgrund der Parteilisten der sowjetischen KPdSU bestimmt worden waren.[24] Die demokratische Legitimation streite also eindeutig für ihn, den Präsidenten. Dieses Argument ist jedoch nicht sehr überzeugend, denn nach dem Zerfall der UdSSR hätte es nahegelegen, im Jahr 1992 sowohl das Parlament als auch den Präsidenten der RF neu zu wählen.[25] Das Aprilreferendum war außerdem noch vor dem entscheidenden Zusammenstoß zwischen B. El´cin und dem Obersten Sowjet durchgeführt worden, also lange vor dem Sturm auf das Weiße Haus, in dem sich zuletzt noch der harte Kern der Gefolgschaft von R. Chazbulatov und A. Ruckoj verschanzt hatte.

 

T. Schweisfurth nannte das Dekret Nr. 1400 "auf der Beurteilungsbasis einer Grundentscheidung für die Demokratie, sei es nun eine präsidentielle oder parlamentarische" legitim und rechtfertigte den "coup d´Etat" insbesondere mit dem Hinweis auf die sofortige Festsetzung eines "exakten, relativ naheliegenden" Termins für die Neuwahl des Parlaments.[26] Es stellt sich dann jedoch sogleich die weitere Frage, weshalb B. El´cin nicht für den 12. Dezember 1993 ebenso die Präsidentschaftswahl anberaumte. Hierauf gibt die folgende Überlegung B. El´cins eine Antwort:

 

"Bei so entwickelten Machtstrukturen, bei einer so großen Zahl von Staatsbeamten und Institutionen, bei einem so zivilisierten und gebildeten Volk wie den Russen kann Anarchie nur damit erklärt werden, dass irgendeine disziplinierende Kraft fehlt. Deshalb läuft die ganze Maschine nicht. Alles muss sich schließlich einem fest umrissenen Prinzip, einem Gesetz und einem Ziel unterordnen. Anders gesagt: Einer im Land muss über allem stehen. Darum geht es. Natürlich sind mit der Einführung des Präsidentenamtes in Rußland nicht alle Probleme sofort gelöst. Aber der Staat muss gelenkt und geleitet werden. Das scheint mir so offenkundig, dass ich gar nicht verstehen kann, weshalb dieses Problem so vielen Politikern Kopfzerbrechen bereitet. Vor allem geht es doch darum, dass der Staat seinen Zweck erfüllt und seinen Bürgern ein gesichertes Leben ermöglicht."[27]

 

Aus der Apologie B. El´cins können wichtige Rückschlüsse gezogen werden: Demokratischen Institu­tionen wie der Staatsduma, dem Verfassungsgericht oder unabhängigen Massenmedien kommt nach dem Selbstverständnis des russischen Präsidenten ein weitaus geringerer Stellenwert zu als dem "fest umrissenen Prinzip, Gesetz und Ziel", das die Aufrechterhaltung der einigenden Macht Rußlands verbürgt. Und die Macht verkörpert der Präsident. Die Massenmedien können diesem Ansatz entsprechend nicht die Rolle einer "vierten Gewalt" im Staate übernehmen, und es kann für sie auch keine Stellung mit Sonderrechten geben. Sie bedürfen der Schutzgarantie des Präsidenten.

 

Nach der gewaltsamen Räumung des Weißen Hauses[28] und der Verhängung des Ausnahme­zustandes über Moskau ließ El´cin wiederum - wie schon in den Tagen des August-Putsches von 1991 - das Erscheinen einer Reihe von Zeitungen vorübergehend aussetzen, kurzfristig die Vorzensur einführen und schließlich die Herausgabe einiger Zeitungen völlig untersagen.[29] Die Chefredakteure der Zeitungen „Pravda” und „Sovetskaja Rossija” wurden ihrer Posten enthoben.[30] Die Härte dieser Maßnahmen bewies, dass es sich bei diesem letzten entscheidenden Zusammenstoß des Präsidenten mit dem Obersten Sowjet um eine politische Umwälzung handelte. Das Ziel seiner Medienpolitik war dabei nicht nur die wirkungsvolle Bekämpfung der radikalen Anhänger von R. Chazbulatov und A. Ruzkoj und die Vorbereitung der Annahme einer neuen Präsidialverfassung. Das Presseministerium unter der Leitung von V. Šumejko schien bei dieser Gelegenheit mit der oppositionellen Presse überhaupt aufräumen zu wollen.[31] Selbst wenn man annimmt, dass die Schüsse auf das Weiße Haus das letzte Mittel waren, um einer kommunistisch-nationalistischen Diktatur des Obersten Sowjets vorzubeugen, die den demokratischen Prozess in Rußland um Jahre aufgehalten hätte,[32] bleibt festzuhalten, dass die Wahrung demokratischer Prinzipien nicht das vorrangige Interesse ihres Handelns gewesen ist. Die folgenden medienpolitischen Maßnahmen der Präsidialregierung B. El´cins trugen nochmals zu einer Ausweitung der staatlichen Kontrolle über die Massenmedien bei.

 

Das FIZ wurde in „Föderaler Dienst Rußlands für Fernsehen und Rundfunk” (FSTR) umbenannt und übernahm die Ausarbeitung der staatlichen Politik im Bereich des Fernsehens, die Verwaltung der finanziellen Mittel sowie die Aufgaben der Registrierung und Lizenzierung staatlicher und nichtstaatlicher Fernseh- und Rundfunkgesellschaften.[33] Das Ministerium für Presse und Information wurde aufgelöst und durch das neugeschaffene Pressekomitee der RF (Goskompečat´ RF) ersetzt, das die Registrierung der Printmedien durchführte, über die Einhaltung der Mediengesetzgebung wachte und die staatliche Unterstützung der Zeitungen kontrollierte. Im Januar 1994 wurde zudem aufgrund präsidentiellen Dekrets die „Gerichtliche Kammer für informationelle[34] Streitigkeiten beim Präsiden­ten der RF” geschaffen,[35] eine außergerichtliche Schlichtungskommission, die sowohl die Freiheit der Massenmedien schützen als auch auf die Verfehlungen von Journalisten und Redaktionen aufmerksam machen soll. Bemerkenswert ist, dass alle diese Organe und Einrichtungen durch präsidentielles Dekret gebildet wurden und weiterhin auf diesen Rechtsgrundlagen beruhen, ohne dass ihre Tätigkeit später durch ein föderales Gesetz geregelt worden wäre. Seit der Auflösung des Parlaments im Oktober 1993 lag die Aufsicht über die Massenmedien nahezu vollständig in der Hand der Exekutive. Weder irgendwelchen unabhängigen öffentlichen oder gesellschaftlichen Einrichtungen noch der Legislative wurde bei der Entwicklung der staatlichen Medienpolitik ein besonderes Mitspracherecht eingeräumt. Auf die Gerichtliche Kammer für informationelle Streitigkeiten ist näher einzugehen, denn diese Institution veranschaulicht die Vor- und Nachteile der staatlichen, vom Präsidenten der RF angeführten Medienpolitik.

 

e) Gerichtliche Kammer für informationelle Streitigkeiten

 

Das präsidentielle Dekret vom 31. Januar 1994 Nr. 228 bestätigte die neue Vorschrift über die "Gerichtliche Kammer für informationelle Streitigkeiten beim Präsidenten der RF" (SPIS), auf deren Grundlage diese Institution ihre Tätigkeit aufnahm. Die Kammer stellt ein staatliches Organ beim Präsidenten der RF dar; sie ist jedoch kein Teil der Präsidialadministration. Nach den Worten V. Monachovs, eines Mitgliedes dieser Kammer, ist sie ein "Organ spezieller Jurisdiktion, das sich nicht in das Gerichtssystem der RF einfügt und dessen hauptsächliche Aufgabe es ist, den Präsidenten Rußlands bei der effektiven Verwirklichung seiner verfassungsmäßigen Vollmachten eines Garanten der Rechte, Freiheiten und gesetzlichen Interessen der verschiedenen beteiligten Subjekte im Bereich der Masseninformation zu unterstützen." [36]

 

Gegen die Einordnung der "Gerichtlichen Kammer..." als Organ spezieller Jurisdiktion bestehen Bedenken. Erstens ist fraglich, ob die Verfassung den Präsidenten der RF tatsächlich dazu ermächtigt, ein gerichtsähnliches Organ außerhalb des bestehenden Gerichtssystems zu schaffen. Zu den Funktionen, die sich aus der Stellung des Präsidenten der RF als Garant der Verfassung und der Grundrechte ergeben (vgl. Art. 80 Punkt 2 Verf RF), zählen zum Beispiel das Recht, Gesetzesentwürfe ins Parlament einzubringen, bei der Verabschiedung von Gesetzen durch die Bundesversammlung das Veto einzulegen oder das Verfassungsgericht anzurufen. Trotz der insoweit klaren Verfassungsbestimmungen werden die Vollmachten des Präsidenten, die sich aus seiner Stellung als Staatsoberhaupt und Garant der Verfassung ergeben, bisweilen sehr weit ausgelegt.[37]

 

Zweitens ergeben sich bei der Zuordnung der Kammer zur Rechtsprechung Abgrenzungs­schwierigkeiten. Denn ihr kommt nicht die alleinige Aufgabe zu, Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, sondern sie soll auch aktiv Gesetzesverletzungen und Ethikverstöße im Bereich der Massenmedien anprangern. Sie ist daher weniger eine gerichtsähnliche Institution, als vielmehr ein Aufsichts- und Kontrollorgan, das zur Unterstützung staatlicher Medienpolitik selbständig tätig werden und bestimmte Fälle an die Registrierungs- und Lizenzierungsbehörden oder auch an die Staatsan­walt­schaft weiterleiten kann. In der betreffenden Vorschrift heißt es deshalb zur Abgrenzung ihres Zuständigkeitsbereichs: "Die Gerichtliche Kammer entscheidet Streitigkeiten und andere Angelegenheiten, die im Bereich der Tätigkeit der Massenmedien entstehen, es sei denn, sie sind von Gesetzes wegen der Jurisdiktion der Gerichte der RF unterstellt." (Punkt 8, Übers. d. Verf.).[38] Noch klarer bestimmt es die Verfassung: "Die Rechtsprechung in der RF wird ausschließlich durch die Gerichte ausgeübt." (Art. 118 Punkt 1 Verf RF). "Das Gerichtssystem der RF wird aufgrund der Verfassung der RF eingerichtet und durch föderale Verfassungsgesetze geregelt. Die Schaffung außerordentlicher Gerichte ist unzulässig." (Art. 118 Punkt 3 Verf RF).

 

Die eigentlichen Aufgaben der Gerichtlichen Kammer lassen sich anhand ihrer Kompetenzen deutlicher erkennen (Punkt 9 der Vorschrift): Gegenstand von Entscheidungen und Stellung­nahmen der Gerichtlichen Kammer sind Beeinträchtigungen der Freiheit der Masseninformation wie zum Beispiel Verletzungen der Rechte der Redaktionen und Journalisten auf freien Zugang zur Information, die Richtigstellung von Informationen, die in den Massenmedien unzutreffend mitgeteilt wurden und öffentliche Interessen berühren, die Wahrung der Objektivität und Glaubwürdigkeit bei Mitteilungen, die auf ungeprüften oder falschen Informationen beruhen, die Verteidigung des Prinzips der Gleichberechtigung im Bereich der Massenmedien, der Schutz der Kinder und der Jugend, die Einhaltung des Prinzips des politischen Pluralismus (Art. 13 Verf RF, siehe drittes Kapitel, 2.) sowie Fragen der gerechten Verteilung von Sendezeiten in Fernsehen und Rundfunk für die Fraktionen der Bundesversammlung.

 

Die sieben Mitglieder der Gerichtlichen Kammer sind zum Teil Juristen, zum Teil Journalisten. Sie entscheiden selbst über die Aufnahme des Verfahrens (Punkt 8 der Vorschrift). Sie entscheiden selbständig und ohne Einmischung von außen (Punkt 3) in der Sache, und ihre Entscheidungen sind endgültig (Punkt 10). Die wichtigsten ihrer Entscheidungen sind in der amtlichen "Rossijskaja gazeta" zu veröffentlichen. Rechtskräftig sind diese Entscheidungen jedoch nicht; die Gerichtliche Kammer ersetzt kein Gerichtsverfahren. Jeder hat das Recht auf den gesetzlichen Richter und kann auch nach einer Entscheidung der Kammer nicht daran gehindert werden, in derselben Sache vor Gericht zu ziehen (vgl. Art. 46 Punkt 1 Verf RF: "Jedem wird der gerichtliche Schutz seiner Rechte und Freiheiten garantiert." ).

 

Es stellt sich daher die Frage nach dem Sinn einer solchen Einrichtung. Ihre Nachteile liegen auf der Hand. Einerseits kann die Kammer die Gerichte nur begrenzt entlasten, andererseits nimmt sie der Judikative, wenn sie in größerem Umfange Rechtsfragen entscheidet, Möglichkeiten zur richterlichen Rechtsfortbildung, zur Entwicklung einer ständigen Rechtsprechung und zur Bildung von Ansehen und Vertrauen bei den Massenmedien und der Bevölkerung. Sie verdankt ihre Entstehung einem präsidentiellen Dekret und entbehrt bisher der gesetzlichen Grundlage. Sie verfügt über kein eigenes Budget, so dass ihr auch die Selbständigkeit fehlt, die zur erfolgreichen Verfolgung ihrer Zwecke notwendig wäre. Ihre Veröffentlichungen in der "Rossijskaja gazeta" sind in letzter Zeit immer seltener geworden; nur noch die allerwichtigsten Entscheidungen werden mitgeteilt.

 

Vorteile ergeben sich dagegen mehr im politischen Bereich: Ein auch in Eigeninitiative agierendes und auf gesellschaftliche und politische Fehlentwicklungen rasch reagierendes staatliches Organ vermag das Bewusstsein der Öffentlichkeit unter Umständen effektiver zu formen als die Gerichte. Es gilt, die Bürger mit den Grundrechten der Verfassung bekannt zu machen. Das Instrumentarium, das der Gerichtlichen Kammer zu diesem Zweck zur Verfügung steht, ist vielfältig: Sie kann Streit zwischen Privaten schlichten, staatliche Organe und Beamte zu einem bestimmten Handeln verpflichten bzw. darauf dringen, dass sie für Verstöße zur Verantwortung gezogen werden, die schriftliche Verwarnung einer Redaktion bewirken, mit der die Einstellung oder vorübergehende Aussetzung des Massenmediums nach Art. 16 des Gesetzes "Über die Massenmedien" angedroht wird,[39] dem einzelnen Journalisten einen strengen Verweis hinsichtlich der Verletzung ethischer Grundsätze erteilen und schließlich auch bei der Staatsanwaltschaft den Missbrauch der Freiheit der Masseninformation zur Begehung von Straftaten anzeigen (vgl. Punkte 10 - 14 der Vorschrift).       

 

Nach der Ansicht von V. Monachov ist die Gerichtliche Kammer für informationelle Streitigkeiten "ungeachtet aller möglichen kritischen Anmerkungen" dringend notwendig, um auf die raschen Veränderungen einwirken zu können, die auf dem Weg Rußlands vom sowjetischen System zur offenen Informationsgesellschaft auftreten. Er beschreibt die Kammer als ein "Organ schneller, aber gerechter ethisch-rechtlicher Reaktion auf die entsprechenden Bedürfnisse der informationellen Entwicklung von Staat und Gesellschaft" und zugleich als "hochprofessionellen Organisator zur Suche eines lebendigen, dynamischen Gleichgewichts, einer Balance zwischen der Selbstregulierung der journalistischen Tätigkeit und den notwendigen sowie hinreichenden Maßnahmen ihrer staatlichen Regulierung."[40] Dennoch erwachsen der Gerichtlichen Kammer aus ihrer Stellung "beim Präsidenten der RF" einige Probleme. Nicht nur die faktische Konkurrenz zur ordentlichen Rechtsprechung stört. Insofern sie über ethische Fragen der Journalistik entscheidet, müsste sie eigentlich einem gewählten Presse- oder Medienrat Platz machen. Allein die Tatsache, dass die journalistischen Interessenverbände bislang keine vergleichbare Institution hervorgebracht hatten, rechtfertigte die Existenz einer präsidentiellen Einrichtung. Nachdem aber zum Beispiel im April 1999 die "Charta der Fernseh- und Radiosender" unterzeichnet wurde, die die Gründung eines "Öffentlichen Rundfunkrates" vorsieht, wird zumindest für diesen Regelungsbereich die Zuständigkeit der Gerichtlichen Kammer entfallen (vgl. sechstes Kapitel 6. c). Die Herausbildung stärkerer Interessenvertretungen der rußländischen Medien insgesamt, also auch der Presse, könnte schließlich dazu führen, dass in ethischen Fragen dem Prinzip der Selbstregulierung überhaupt der Vorzug gegeben wird.

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[1] M. Fedotov (1996), aaO. S. 193.

[2] M. Fedotov (1996), aaO. S. 194.

[3] Vgl. H. Trepper (1993), Massenmedien in Rußland (Januar 1992 - April 1993), S. 4-7.

[4] P. Hübner (1995), Der Zerfall des „einheitlichen Informationsraums” in Rußland und der ehemaligen Sowjetunion, Teil I: Die Presselandschaft, S. 17 - 22.

[5] P. Hübner (1993), Die Massenmedien in den post-kommunistischen Staaten, in: Aufbruch im Osten Europas, S. 71.

[6] Vgl. P. Hübner (1995), Der  Zerfall des "einheitlichen Informationsraums", S. 12: Tabelle mit den Auflagenzahlen 13 zentraler Zeitungen, Stand 1.8.94.

[7] Sojuz Žurnalistov Rossii (1997), Doklad o kritičeskom sostajanii rossijskich sredstv massovoj informacii, S. 3: In Sibirien, Primor´e und einigen anderen Regionen kam 1997 auf tausend Einwohner ein Exemplar einer überregionalen Zeitung.

[8] Der Oberste Sowjet berief sich auf Art. 104 der Verfassung der RSFSR von 1978, in dem der Kongreß der Volksdeputierten nach wie vor als höchstes Organ der Staatsgewalt bezeichnet wurde.

[9] Nach der Ansicht von A. Kačkaeva (1998), Rossijskie imperii SMI, in: urnalist Juni 1998, S. 22, unterlag auch INTERFAX staatlichem Einfluß, nachdem M. Komissar, einer der Gründer, zum stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration wurde.

[10] Vgl. T. Rantanen / E. Vartanova (1995), News Agencies in Post-Communist Russia, S. 207 (218).

[11] Im November 1992 war bereits die politisch begründete Ablösung des Ostankino-Leiters J. Jakovlev durch den zuverlässigeren V. Bragin erfolgt.

[12] S. von Steinsdorff (1994), aaO. S. 290.

[13] Ukas Prezidenta RF No. 1256 "O Federal´noj teleradioveščatel´noj službe Rossija" vom 17. Oktober 1992; Ukas Prezidenta RF No. 1647 "O Federal´nom informacionnom centre Rossii" vom 25. Dezember 1992.

[14] Konstitucionnyj Sud RF, Delo o proverke konstitucionnosti postanovlenija S´ezda narodnych deputatov RF ot 29. marta 1993 goda "O merach po obespečeniju svobody slova na gosudarstvennom teleradioveščanii i v službach informacii", Postanovlenie N 11-P ot 27. maja 1993 goda.

[15] Vgl. P. Hübner (1994), Medienpolitik in Rußland nach dem Oktober 1993, S. 19 - 23. Der Chefredakteur  der „NG”, V. Tretjakov, schrieb Ende 1993, daß es im letzten Jahr des kommunistischen Regimes um vieles leichter gewesen sei, zu existieren, zu überleben und frei zu schreiben, da man die „NG” im Jahr 1993 gezielt bekämpft habe (S. 23).

[16] V. Kostikov (1997), Roman s prezidentom, S. 77.

[17] M. Mommsen (1996), Wohin treibt Rußland?, S. 238 / 239.

[18] Vgl. die Darstellungen von F. Evers (1996), Rußlands Umweg um die Marktwirtschaft; A. Rüesch (1996), Staatsbetrieb, Wirtschaftsreform, Kampf der Interessen; S. Kordasch (1997), Privatisierung in Rußland - Eine Gesellschaft auf der Suche nach effizienteren eigentumsrechtlichen Strukturen.

[19] Kapitel 17 des Bürgerlichen Gesetzbuches der RF wird erst mit der Verabschiedung des neuen Bodengesetzbuchs in Kraft treten, vgl. O. Sadikov, otv. red. (1997), Kommentarij k Graždanskomu kodeksu RF, časti pervoj, Kap. 17, S. 497 ff.

[20] Vgl. M. Fedotov (1996), aaO. S. 208 / 209. - Den neuen ersten Entwurf dieses Gesetzesprojektes hat die Staatsduma in erster Lesung am 3. September 1997 angenommen; die zweite Lesung am 13. Januar 1999 endete damit, die Betrachtung des Projektes auf eine spätere Plenarsitzung zu verschieben. Siehe fünftes Kapitel.

[21] Vgl. den verfassungspolitischen Überblick über das Jahr 1993 bei K. von Beyme (1994), Systemwechsel in Osteuropa, S. 238 ff. (insbes. 246 ff.).

[22] Die Wahlbeteiligung soll entgegen ersten amtlichen Angaben nicht bei 54,8% gelegen haben, sondern um einiges geringer gewesen sein: L. Trautmann (1995), Rußland zwischen Diktatur und Demokratie, S. 89: 50,14% ; D. Sager (1998), Betrogenes Rußland, Jelzins gescheiterte Demokratie, S. 69: 46,1%; Ebenso R. B. Ahdieh, Russia´s Constitutional Revolution: Legal Consciousness and the Transition to Democracy, S. 73: 46%.

[23] Vgl. T. Schweisfurth (1994), Die Verfassung Rußlands vom 12. Dezember 1993 - Entstehungsgeschichte und Grundzüge, EuGRZ 94, 473 (479-81). Vgl. auch die Beschreibung der Vorgänge bei R. B. Ahdieh (1997), aaO. S. 62 ff: "Adoption of the draft at all costs".

[24] Vgl. B. El´cin (1993), Auf des Messers Schneide, S. 13.

[25] F. Burlackij (1997), Glotok svobody, S. 263.

[26] T. Schweisfurth (1994), EuGRZ 94, 473 (480).

[27] B. El´cin (1993), Auf des Messers Schneide, S. 14.

[28] Vgl. F. Burlackij (1997), Glotok svobody, S. 271: Die zur Aufklärung der chaotischen Ereignisse vom 3. / 4. Oktober 1993 gebildete parlamentarische Untersuchungskommission wurde aufgelöst und stellte nach der Freilassung der festgenommenen Parlamentarier aus dem Gefängnis ihre Untersuchungen ganz ein.

[29] Vgl. P. Hübner (1994), Medienpolitik in Rußland nach dem Oktober 1993, S. 23: Die russische Regierung setzte sich sogleich mit der Verordnung Nr. 963 vom 23. September 1993 selbst zum Begründer der Zeitung „Rossijskaja gazeta”, dem bisherigen Organ des Obersten Sowjets der RF, ein und bestimmte einen neuen Chefredakteur.

[30] Vgl. P. Hübner (1994), aaO. S. 6 - 11.

[31] P. Hübner (1994), aaO. S. 13.

[32] Vgl. V. Kostikov (1997), Roman s prezidentom, S. 261.

[33] Vgl. Präsidentielles Dekret Nr. 2255 vom 22. Dezember 1993 "Über die Vervollkommnung der staatlichen Leitung auf dem Gebiet der Massenmedien". - Der FSTR nimmt bis zum heutigen Tag die Aufgaben (insbes. Lizensierung) der unabhängigen Fernseh- und Rundfunkkommission wahr, deren Errichtung das Gesetz „Über die Massenmedien” vorsieht. Die Rundfunkkommission, die in Übereinstimmung mit der Verordnung Nr. 1359 vom 07.12.1994 "Über die Lizensierung des Fernseh- und Rundfunks und der Tätigkeit des Nachrichtenwesens auf dem Gebiet des Fernsehens und Rundfunks in der RF" vom FSTR und dem Staatlichen Komitee für Kommunikationsmittel (Goskomsvjazi) gebildet wird, spricht lediglich im Falle von Lizenzstreitigkeiten Empfehlungen aus. Siehe viertes Kapitel, 4.

[34] Für das russische Adjektiv "informacionnyj" gibt es keine entsprechende Übersetzung ins Deutsche, daher wurde das Wort "informationell" gewählt.

[35] Dekret Nr. 2335 vom 31.12.93. Dieser Gerichtshof ist aus dem speziellen schiedsgerichtlichen Tribunal (Tretejskij informacionnij sud) hervorgegangen, das bei den Wahlkampagnen im November / Dezember 1993 die Einhaltung der Fairneß bezügl. Sendezeiten, Zugang zu den Massenmedien überwachen sollte.

[36] V. Monachov (1996), Opyt Sudebnoj palaty po informacionnym sporam i problemy soveršenstvovanija zakonodatel´stva o SMI, in: Meždunarodnyj seminar "Koncepcija zakonodatel´stva o SMI dlja posttotalitarnych gosudarstv" (Übers. d. Verf.).

[37] Vgl. Entscheidung des Verfassungsgerichts der RF vom 31. Juli 1995 betreffend die konstitutionellen Vollmachten des Präsidenten zur Verhängung des Ausnahmezustandes auf dem Territorium der Republik Tschetschenien.

[38] Die Vorschrift ist veröffentlicht in: Centr "Pravo i sredstva massovoj informacii", Sudebnaja palata po informacionnym sporam pri Prezidente RF. 1996-97. Rešenija, rekomendacii, ekspertnye zaklučenija (Text im Anhang).

[39] Vgl. Text des Art. 16 im vierten Kapitel, 9. c).

[40] V. Monachov (1996), aaO. (Übers. d. Verf.)