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2. Grundrechte als staatlich gewährte, positive Mitgestaltungsrechte

Als Staatsdoktrin der Sowjetunion gründete sich der Marxismus - Leninismus nicht nur auf die theoretischen Erkenntnisse von Karl Marx und Friedrich Engels, sondern er bestand auch aus den Postulaten, die Lenin zur Umsetzung der marxistischen Ideen in die revolutionäre Praxis aufstellte,[1] sowie aus den Beiträgen Stalins und seiner Nachfolger. Bereits 1924 präzisierte Stalin, dass der Leninismus "der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution sei". Als sich diese Definition durchzusetzen begann, wurde das sowjetische Modell des Sozialismus für international verbindlich erklärt. In der Folge bemühte man sich darum, den Marxismus - Leninismus als einheitliches System darzustellen, das den planmäßigen Aufbau des Sozialismus unter der Führung der KPdSU vorsah. Diesem Staatsziel der UdSSR wurden die Rechte des einzelnen und überhaupt alle Aspekte der gesellschaftlichen Entwicklung kategorisch untergeordnet. Der Vorrang des Staates gegenüber dem Recht konnte umso leichter behauptet werden, als zugleich die offizielle Meinung verbreitet wurde, in der Sowjetunion seien die Menschenrechte am besten verwirklicht worden, da es in der sozialistischen Ordnung keine wirtschaftliche Ausbeutung des Menschen durch den Menschen mehr geben könne.

 

Für den Kampf der Arbeiter und Bauern gegen die Bevormundung und Ausbeutung durch die Bourgeoisie bzw. die herrschende Klasse der Kapitalisten griffen die Revolutionäre auf den historischen Materialismus von Karl Marx zurück. Nach Ansicht der Kommunisten musste sich die Gesellschaft Rußlands nach dem allgemeinen Gesetz, das Marx beschrieben hatte, entsprechend ihren ökonomischen und sozialen Bedingungen ständig fortentwickeln. Die marxistische Weltanschauung gründete sich auf die feste Überzeugung, dass jede Gesellschaftswissenschaft grundsätzlich von der Untersuchung der Produktionsbedingungen ausgehen müsse, dass also die ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft entscheidend für ihre politische Entwicklung seien. K. Popper beschrieb diese Theorie so:

 

"Die materiellen Produktionsbedingungen wachsen und reifen, bis sie beginnen, den sozialen und gesetzlichen Beziehungen zu widersprechen, indem sie aus ihnen wie aus zu klein gewordenen Kleidern herauswachsen und sie schließlich zerreißen. `Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein´, schreibt Marx. `Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. (...) Neue, höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoße der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.´ Angesichts dieser Feststellung ist es, wie mir scheint, unmöglich, die russische Revolution mit der von Marx vorausgesagten sozialen Revolution zu identifizieren; sie hat mit ihr wirklich nicht die geringste Ähnlichkeit." [2]

 

Ob die russische Revolution nun infolge der veränderten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zwangsläufig stattfinden musste (die von O. Figes in seinem Buch "Die Tragödie eines Volkes" geschilderte hartnäckige Antiquiertheit des russischen Zarenreiches legt es nahe),[3] oder ob sie eher das Ergebnis einer Reihe von Zufällen war, die mit der von deutscher Seite unterstützten Zugfahrt Lenins nach Petrograd begann[4] und dann mit dem wachsenden Kriegsglück der Bolschewiken ihren Fortgang nahm, ist schwierig zu beurteilen. Jedenfalls hatte das Selbstverständnis der russischen Revolutionäre, echte Marxisten zu sein, zur Konsequenz, dass die Basis-Überbau-Lehre über die Abhängigkeit der rechtlichen und politischen Ordnung von den gesellschaftlichen Produktions­verhältnissen sowie das Argument des Klassenkampfes zu den wichtigsten Prinzipien für die rechtliche Ausgestaltung des sowjetischen Systems wurden.

 

Die klassenkämpferische Dynamik des Marxismus-Leninismus, die sich in der Mobilisierung der Massen und der gewaltsamen Aneignung der Produktionsmittel entfaltete, bestimmte über den zeitlich engeren Rahmen der Oktoberrevolution hinaus die Grundaussage jeder sowjetischen Verfassung. Danach kommt den Gesellschaftsinteressen, nachdem sich die Arbeiter und Bauern als herrschende Klasse etablieren konnten, grundsätzlich der Vorrang vor Privatinteressen zu.[5] Durch die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und die Verpflichtung des Staates, den Sozialismus zu entwickeln, garantiert die sozialistische Ordnung den russischen Bürgern wirksamer als jede andere Staatsordnung, nicht mehr in ihren Einzelrechten verletzt oder ausgebeutet zu werden. Gesellschaftliche und individuelle Interessen fallen nach diesem Ansatz zusammen. Die neue Situation des Bürgers, dem allein schon die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse von Verfassungs wegen die größtmögliche politische Mitbestimmung sichert, erfordert somit eher den Schutz der Gemeinschaft als die Privilegierung des einzelnen.

 

Nach dieser Betrachtungsweise müssen Mitgestaltungsrechte der Bürger zwangsläufig eine größere Rolle spielen als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe. Zugunsten der ungehinderten Persönlich­keitsentfaltung des Bürgers und zum Nachteil des individuellen Rechtsschutzes ist eine untrennbare Einheit anzunehmen zwischen persönlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Grundrechten. Statt des Gesetzesvorbehalts, der zur Rechtfertigung jedes Grundrechtseingriffes eine gesetzliche Ermächtigung voraussetzt, muss der Gemeinschafts­vorbehalt gelten, der die Interessen der Gesellschaft und des Staates sicherstellt. Hierbei stört es nicht, dass die gesellschaftlichen und staatlichen Anliegen des Sozialismus sehr unbestimmte und dehnbare Rechtsbegriffe sind, denn es existieren auch keine überstaatlichen, natürlichen Menschenrechte, für deren zulässige Einschränkung es zeitlos gültige objektive Maßstäbe geben könnte. Alles entwickelt sich nach den Gesetzen des historischen Materialis­mus. Gerade für das positivistische Recht der kommunistischen Staaten galt der Grundsatz "alles fließt". Die sowjetische Rechtswissenschaft besaß auch in den siebziger Jahren noch keine geschlossene Grundrechtskonzeption.[6]

 

Als führende gesellschaftliche Kraft war die KPdSU dazu berufen, die sich verändernden gesellschaftlichen Bedürfnisse wissenschaftlich zu erforschen und Lösungswege für die Probleme zu finden, die das sowjetische System auf dem Weg zum Sozialismus antreffen würde. Vorherrschend blieb daher die Auffassung, dass die Grundrechte vom Staat gewährt werden: "Der Sowjetstaat teilt dem Bürger die Rechte in dem Maße zu, wie dies zur Verwirklichung seiner persönlichen Interessen erforderlich ist (...)." [7] Allenfalls konnte man sich - mit dem Blick auf die marxistische Basis-Überbau-Lehre - zu dem Eingeständnis durchringen, dass die Grundrechte als Ausdruck der materiellen Produktionsbedingungen gewissermaßen ein Produkt der Wirklichkeit sind.[8] Auch bei diesem Ansatz hielt man aber daran fest, dass die menschlichen Bedürfnisse zu ihrer Transformation in geltendes Recht der formalen staatlichen Anerkennung bedürfen, dass es mithin keine "unantastbaren Rechte" des Staatsbürgers geben könne.

 

In den siebziger Jahren konnte schließlich doch ein "Vordringen quasinaturrechtlicher Auf­fassungen" beobachtet werden. Zumindest ein Teil der Rechtswissenschaftler der UdSSR erkannte die Grundrechte theoretisch als subjektive Rechte an.[9] Diese im Vergleich zur schnellen Ratifikation der KSZE - Schlussakte von Helsinki (1975) sehr zögerliche Anerkennung betraf aber in erster Linie die Persönlichkeitsrechte, während die sozial-ökonomischen und politischen Rechte des Bürgers nach wie vor als staatlich gewährte oder anerkannte Kollektivrechte galten. Insbesondere das Recht der Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit wurde als Recht mit ausgesprochenem Klassencharakter angesehen. Der Sinn der Gewährung von Grundrechten wurde nicht in der Billigung privater Interessen und deren Verfolgung gesehen, sondern darin, die staatlichen Organe und öffentlichen Einrichtungen zu einem positiven, gesellschaftskonformen Verhalten zu bewegen. In jedem Fall sollte die erzieherische Wirkung der Grundrechte bedeutender sein als die freiheitssichernde. Hiervon zeugen sowohl die Stalinverfassung von 1936 als auch die Verfassung der UdSSR von 1977.

 

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[1] Vgl. Lenins Ausspruch "Sozialismus bedeutet die Diktatur des Proletariats plus Elektrifizierung des ganzen Landes" - ein Beweis seines pragmatischen und voluntaristischen Denkens.

[2] K. Popper (1945 / 1992), Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen, S. 128 / 129.

[3] Vgl. O. Figes (1998), Die Tragödie eines Volkes, Teil 1, Kapitel 1 - 3.

[4] Vgl. S. Haffner (1989), Der Teufelspakt, S. 7 und 19.

[5] Vgl. H. von Mangoldt (1988), Die kommunistische Konzeption der Bürgerrechte und die Menschenrechte des Völkerrechts, in: Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Paktes, S. 34 (43).

[6] Vgl. O. Luchterhandt (1977), Entwicklung und Schwerpunkte der sowjetischen Grundrechtsdiskussion, S. 29.

[7] Sabikenov, zitiert aus: O. Luchterhandt (1977), aaO. S. 37.

[8] Vgl. G. Brunner (1982), Neuere Entwicklungen in der sowjetischen Konzeption der Menschenrechte, in: Grundrechte und Rechtssicherheit im sowjetischen Macht­bereich, S. 17:  Selbst dieser Ansatz konnte nicht als Ausgangspunkt einer kritischen Überprüfung des staatlichen Überbaus genutzt werden, da hierbei die Grenzen des politisch Zulässigen schnell erreicht worden wären.

[9] O. Luchterhandt (1977), aaO. S. 53 / 54.