VII. Überblick über ausgewählte Einschätzungen der Pressefreiheit in der RF Die
Defizite der Mediengesetzgebung wirken im Vergleich zu den praktischen
Problemen, mit denen der rußländische Journalismus zu kämpfen hat,
beinahe wie nebensächlich. Die allgemeine Produktionskrise und die
Arbeitslosigkeit, die Bankenkrise und die Inflation führten zu
wirtschaftlicher Abhängigkeit vieler Massenmedien von Fremdfirmen und
der Notwendigkeit staatlicher Unterstützung. Politische Patronage,
Einschüchterungen durch staatliche Stellen, pressefeindliche
Schadensersatzprozesse sowie anonyme Drohungen, die sich gegen besonders
investigativ recherchierende Journalisten richten, sind allgegenwärtig
und lassen sich nicht ohne besondere Kraftanstrengungen beseitigen oder
zurückdrängen. Die Möglichkeiten freier, unbeeinflusster
Berichterstattung scheinen sich in den letzten Jahren seit dem
Inkrafttreten der Verfassung von 1993 erheblich verringert zu haben. Der
bekannte Menschenrechtler S. Kovalëv konstatierte, dass die rußländischen
Massenmedien unter diesen Umständen frei, aber nicht unabhängig sind.[1]
Der folgende, chronologisch geordnete Überblick über vier westliche und vier russische Stellungnahmen zur Pressefreiheit verdeutlicht das Ausmaß der genannten Probleme und lässt eine gewisse Tendenz erkennen. Der Einfluss privater Sponsoren auf die Redaktionen ist insgesamt größer geworden. Unter den zur Zeit herrschenden Bedingungen anhaltender wirtschaftlicher Krise und ständiger Politisierung der Massenmedien wird das privatwirtschaftliche Engagement nicht nur als Befreiung vom bislang übermächtigen Staat gefeiert und als Überlebenshilfe begrüßt, sondern auch als Bedrohung der Pressefreiheit empfunden. Da die acht Einschätzungen der Pressefreiheit für sich sprechen, werden sie lediglich zusammenfassend dargestellt und nicht im einzelnen erklärt, sondern erst am Schluss des Kapitels kommentiert.
1.
Im Westen veröffentlichte Einschätzungen a) Dauerhafter Pluralismus der Meinungen (von Steinsdorff) Silvia
von Steinsdorff kommt in ihrer Untersuchung "Rußland auf dem
Weg zur Meinungsfreiheit: Die Pluralisierung der russischen Presse
zwischen 1985 und 1993" zu dem Fazit, dass sich die
Meinungsfreiheit in Rußland einen dauerhaften Platz erobert habe. Der
Pluralismus der Meinungen und die ungehinderte Artikulation aller
gesellschaftlich relevanten Standpunkte in der Öffentlichkeit lassen
sich nach ihrer Einschätzung ohne massive und dauerhafte
Gewaltanwendung nicht mehr einschränken.[2]
Die russische Presse habe die Transformation vom Propagandainstrument
der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zur demokratischen
Institution vergleichsweise gut bewältigt und zähle deshalb zu den
wichtigsten Säulen der zu errichtenden demokratischen Gesellschaft.
Dieses garantiere in erster Linie das Gesetz "Über die
Massenmedien", das im Februar 1992 das sowjetische Pressegesetz ablöste.[3]
Zu
diesem Gesetz nimmt von Steinsdorff wie folgt Stellung: Die
"Freiheit der Journalisten von ihren Chefs", die mittels Gewährung
einer unabhängigen Rechtsposition der Redaktionen gegenüber ihren Gründern
erreicht werden sollte, sowie die - zumindest damals noch - geäußerte
Zuversicht J. Zasurskijs, die russischen Journalisten könnten mit der
Hilfe des Gesetzes einen Sonderweg gehen und bräuchten sich nicht
"wie bei der Bildzeitung des Springerkonzerns" dem
Verlegerwillen unterzuordnen,[4]
sind realitätsfern und auf eine idealisierte Vorstellung von der
Pressefreiheit zurückzuführen. Einerseits weist das Pressegesetz
hinsichtlich der ökonomischen Bedingungen, die zur Sicherung der
Pressefreiheit erforderlich sind, beträchtliche Regelungsdefizite auf.
Andererseits ist "die Vorstellung seines `geistigen Vaters´
Michail Fedotov, mit detaillierten Regelungen zur inneren Pressefreiheit
könne die Gültigkeit der Volksweisheit: `Wer zahlt, bestimmt die Musik´
aufgehoben werden", als naiv zu bezeichnen und als Ausdruck der
Angst vor einer Kommerzialisierung der sowjetischen Presse nach dem
Vorbild westlicher Medien zu werten.[5]
Das Bestreben der Autoren des Pressegesetzes erscheint vor dem
Hintergrund der jahrzehntelangen ideologischen Verdammung des
Privateigentums in der Sowjetunion verständlich, aber angesichts der
wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes auf dem Weg zur
Marktwirtschaft ist es kaum durchzusetzen.[6]
Nach von Steinsdorff stellen die existenzbedrohenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Presse und die damit verbundenen neuen Abhängigkeiten die schwerwiegendste Bedrohung der Pressefreiheit in Rußland dar. Die dramatisch gefallenen Abonnentenzahlen spiegeln jedoch nicht nur die wirtschaftliche Notlage der Bevölkerung wider, sondern sind auch darauf zurückzuführen, dass das Vertrauen der Leser in die Printmedien zurückgegangen ist und die Zeitung als Informationsquelle an Bedeutung verloren hat.[7] Nach ihrer Ansicht kommt den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Presse vor allem deshalb besondere politische Brisanz zu, weil sie sofort zum Ruf nach staatlicher Unterstützung führen.[8] M. Fedotov habe wiederholt darauf hingewiesen, dass ein umfassendes staatliches Subventionssystem selbst dann die Pressefreiheit langfristig beeinträchtigt, wenn keine politischen Sympathien oder Antipathien die Vergabepraxis bestimmen.[9] Die geringeren Auflagen und die kritischere Einstellung der Leser können aber auch als Zeichen der Normalisierung angesehen werden, die nach der überproportional wichtigen Rolle der Medien während der Perestrojka zu erwarten gewesen ist. Nach der Frontberichterstattung der Perestrojka-Presse, die von der Suche nach der Wahrheit und Gerechtigkeit geprägt gewesen ist, setzt sich nunmehr langsam das Verständnis für den Pluralismus der Meinungen und Werte sowie für die Relativität jedes politischen Standpunktes durch.[10] [1]
Zitiert von: U.S. Department of State (1999), Russia Country Report
on Human Rights Practices for 1998, Section 2 Respect for Civil
Liberties, Including: a. Freedom of Speech and Press. - Dieser Länderbericht
bietet jährlich einen guten Überblick über die aktuellen
Entwicklungen, die die Menschenrechte in Rußland beeinträchtigen können.
[2]
S. v. Steinsdorff (94), Rußland auf dem Weg zur Meinungsfreiheit,
S. 301. [3]
S. von Steinsdorff, aaO., S. 287. [4]
S. von Steinsdorff, aaO., S. 252. [5]
S. von Steinsdorff, aaO., S. 279. [6]
S. von Steinsdorff, aaO., S. 252. [7]
S. von Steinsdorff, aaO., S. 295. [8]
S. von Steinsdorff, aaO., S. 292. [9]
S. von Steinsdorff, aaO., S. 295. [10]
S. von Steinsdorff, aaO., S. 300.
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