Home ] Kapitel 1 ] Kapitel 2 ] Kapitel 3 ] Kapitel 4 ] Kapitel 5 ] Kapitel 6 ] Kapitel 7 ] Kapitel 8 ] Schluss ] Nachwort ] Appendix ]


 

6. Gesetzesprojekt "Über den höchsten Rat für den Schutz der Sittlichkeit des Fernsehens und des Rundfunks"[1]

 

Am 10. März 1999 verabschiedete die Staatsduma das seit längerer Zeit geplante Gesetz über die Einsetzung eines aus 12 Mitgliedern zusammengesetzten Kontrollgremiums. Obgleich bereits eingangs im Gesetzestext darauf hingewiesen wird, dass dieser Höchste Rat für den Schutz der Sittlichkeit nicht dazu berechtigt sein soll, die Vor- oder Präventivzensur auszuüben (Art. 3 Punkt 1), haben die Vertreter der Medien gegen seine gesetzliche Einrichtung lautstark protestiert.[2] Sie erblicken hierin eine die Pressefreiheit beeinträchtigende Institution, wenn nicht gar die Wiedereinführung der Zensur. Dem Gesetz wurden daher schon im voraus keine Chancen für das Inkrafttreten eingeräumt, und tatsächlich legte der Präsident der RF B. El´cin, der schon des öfteren als Schutzgarant der Pressefreiheit aufgetreten ist, sogleich nach der Verabschiedung sein Veto ein. Angesichts der großen Stimmenmehrheit, mit der das Gesetz sowohl die Staatsduma als auch den Föderationsrat passiert hatte, erschien die Überwindung des Vetos durch eine nochmalige Abstimmung nicht ausgeschlossen. Sie scheiterte jedoch am 21. April 1999 mit einer klaren Niederlage.[3] Bevor auf die Kritik des Gesetzes eingegangen wird, sollen seine wichtigsten Regelungen vorgestellt werden.

 

a) Regelungsgehalt des Gesetzesprojekts

 

Der Höchste Rat zum Schutz der Sittlichkeit soll ständig tagen und sich aus 12 Mitgliedern zusammensetzen, die keiner anderen bezahlten Tätigkeit nachgehen, ausgenommen lehrende, wissenschaftliche oder künstlerische Berufe. Ihre Unabhängigkeit soll durch die gleichen materiellen Garantien gesichert werden, die auch Staatsbeamten gewährt werden (Art. 5 Punkt 3). Für seine Tätigkeit erhält der Rat Mittel aus dem Haushalt der RF und bestimmt selbst über seine Finanzen (Art. 6). Präsident, Regierung, Staatsduma und Föderationsrat ernennen jeweils drei Mitglieder für die Dauer von sechs Jahren (Art. 4 Punkt 1). Die Ernennung der Mitglieder ist unwiderruflich, denn ihre Vollmachten enden nur auf eigenen Wunsch, durch strafgerichtliches Urteil, durch gerichtliche Entziehung oder Einschränkung der Geschäftsfähigkeit sowie im Todesfalle (Art. 5 Punkt 2). Der Rat wählt in geheimer Abstimmung mit der Mehrheit seiner Stimmen einen Vorsitzenden, der im Falle der Stimmengleichheit bei allen Entscheidungen des Rates die ausschlaggebende Stimme hat.[4] Sowohl bei der Wahl des Vorsitzenden als auch bei den sonstigen Entscheidungen des Rates genügt zur gültigen Abstimmung die Anwesenheit von sieben Mitgliedern, d. h. notfalls können Beschlüsse mit einer Mehrheit von vier Stimmen gefasst werden (Art. 4 Punkte 1 und 2).

 

Die Überwachungstätigkeit des Rates besteht darin, mit der Hilfe seines Apparates den Inhalt der gesendeten Radio- und Fernsehprogramme daraufhin zu überprüfen, ob er zugunsten des Schutzes der Sittlichkeit, kultureller Werte, der Familie, der Mutterschaft, der Vaterschaft und der Kinder oder aber zur Stärkung der Liebe und Verehrung des Vaterlandes oder des Glaubens an das Gute und die Gerechtigkeit einschreiten muss (vgl. Art. 3 Punkt 2). Insbesondere darf der Rat die Vertreter der Massenmedien vorladen, um sich über ihre Tätigkeit zu informieren. Zu Beweiszwecken darf der Rat von den Sendern die Aufbewahrung von Kopien fordern. Im Verdachtsfalle haben die Sender die betreffenden Kopien innerhalb von zehn Tagen beim Rat abzuliefern (Art. 7 Punkt 2). Hinreichend für ein diesbezügliches Tätigwerden des Rates ist jede Anzeige (Art. 4 Punkt 3 Satz 2). Verpflichtend für ein Tätigwerden sind hingegen nicht nur die Anzeigen von Staatsorganen, sondern auch die Anzeigen einzelner Abgeordneter oder die Aufforderung eines Mitgliedes des Höchsten Rats für den Schutz der Sittlichkeit (Art. 4 Punkt 3 Satz 1).

 

Weitere Voraussetzung dafür, dass der Rat den Inhalt einer Sendung überprüft, ist lediglich die Mitteilung in der Anzeige, dass ein bestimmter Sender die Gebote der Sittlichkeit verletzt hat und dass seit der Ausstrahlung des Programms nicht mehr als 20 Tage vergangen sind (Art. 4 Punkt 3 Satz 3). Der Rat trifft seine Entscheidung über die sittliche und kulturelle Güte des Programms sodann anhand der Beurteilungskriterien, die in Art. 3 Punkt 3 des Gesetzes aufgeführt sind. Da sich diese Begriffe nur zum Teil in anderen föderalen Gesetzen wiederfinden und auch durch das vorliegende Gesetz nicht eigens definiert werden, werden sie hier im Zusammenhang wiedergegeben:

 

"Zum Zwecke des Schutzes der Sittlichkeit spricht der Rat gegen die Sender Verwarnungen aus und ergreift auch die weiteren in diesem Gesetz vorgesehenen Maßnahmen, falls sie Fernseh- oder Radioprogramme gleich welcher Übertragungstechnik verbreitet haben, deren Inhalte oder Ziele gerichtet sind:

 

  •  auf den Aufruf zur Ausführung von Straftaten oder die Erweckung des Bewusstseins der Straflosigkeit solcher Taten bei den Zuschauern und Zuhörern

  •  auf die Bedrohung der Sicherheit einer einzelnen Person oder des Staates insgesamt

  •  auf das Propagieren oder Aufstacheln sozialen, rassenbezogenen, nationalen oder religiösen Hasses, der Feindschaft oder des entsprechenden Überlegenheitsgefühls

  •  auf die Kriegspropaganda oder das Propagieren von Grausamkeit und Gewalt

  •  auf die Zufügung von Schaden für die physische oder psychische Gesundheit eines Bürgers, für die verstandesmäßige und sittliche Entwicklung der Kinder und der Jugend oder aber auf Entstehung der Möglichkeit zur Zufügung eines solchen Schadens

  •  auf die Herabsetzung der Würde der Person

  •  auf die Verletzung allgemein anerkannter Normen der russischen Sprache als der Staatssprache der Rußländischen Föderation

  •  auf die Verletzung allgemein anerkannter Normen der Humanität und Moral, der historischen Grundlagen der Familie (Übers. d. Verf.)."

 

Lediglich für den Begriff der Sittlichkeit, den Oberbegriff dieser Kriterien, gibt es eine gesetzliche Definition. Sie wird bezeichnet als "System der ethischen Normen und Verhaltensregeln, die sich in der Gesellschaft auf der Grundlage traditioneller geistiger und kultureller Werte und Vorstellungen über die Güte, die Ehre, die Würde, die Pflicht, das Gewissen und die Gerechtigkeit  herausgebildet haben (Art. 2). Einzelne Kriterien wie zum Beispiel die Zufügung von Schaden für die physische oder psychische Gesundheit einer Person, die Herabsetzung ihrer Würde oder die nicht auf den einzelnen bezogene Verletzung allgemein anerkannter Normen der Humanität und Moral bedürfen daher, soweit sie über die Verantwortlichkeit nach dem Strafgesetzbuch der RF hinausgehen, der begrifflichen Klärung. Die genauere Bestimmung der Reichweite und Strenge der anzuwendenden Maßstäbe überlässt das Gesetz jedoch den Mitgliedern des Rates. Befindet der Rat mit der Mehrheit der Stimmen der bei der Abstimmung anwesenden Mitglieder, dass die Anzeige gerechtfertigt ist und der betreffende Sender die in Art. 3 Punkt 3 genannten Kriterien nicht eingehalten hat, so kann er nach einmaliger Verwarnung sofort folgende Maßnahmen treffen (Art. 7 Punkt 4):

 

  •  Die Auferlegung einer Geldbuße, die sich je nach der Reichweite des Senders zwischen 10 und 50.000 gesetzlichen Mindestlöhnen bewegt

  •  Die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens zur Entziehung der Sendelizenz aufgrund der Verletzung der Lizenzbedingungen durch den Sender

  •  Die Aufforderung an das zuständige Organ oder die zuständige Stelle, den Leiter des betreffenden Senders abzusetzen.

 

Die Verwarnung an sich ist nicht gerichtlich anfechtbar; erst gegen eine vom Rat verhängte Maßnahme ist innerhalb eines Monats die gerichtliche Klage zulässig (Art. 7 Punkt 7). Die Geldbuße ist nach dem Wortlaut des Art. 8 bei jedem Verstoß gegen die guten Sitten fällig. Nicht ausgeschlossen erscheint, dass der Rat kumulativ die Geldbuße verhängt, die Lizenzentziehung betreibt und die Absetzung des Generaldirektors verlangt. Um einen Sittlichkeitsverstoß zu vermeiden und den Folgen der administrativen Verantwortlichkeit und der weiteren dem Rat zur Verfügung stehenden Einflussnahme zu entgehen, dürfen die Sender die geplanten Programme und zukünftig auszustrahlenden Filme beim Rat einreichen. Sie erhalten dann innerhalb eines Monats eine Unbedenklichkeitsbescheinigung, mit der die grundsätzliche Übereinstimmung der vorbereiteten Sendungen mit den Anforderungen dieses Gesetzes gutachtlich versichert wird (Art. 7 Punkt 2). Als weiteres Druckmittel steht dem Rat darüber hinaus im Rahmen der Empfehlungen, die er hinsichtlich der Ausarbeitung der staatlichen Politik in den Bereichen Rundfunk und Fernsehen gibt, auch die Befugnis zu, der Regierung Vorschläge hinsichtlich der Gewährung und Verteilung staatlicher Vergünstigungen und Privilegien an die Massenmedien zu machen (Art. 7 Punkt 3). Schließlich will der Rat  jedes Jahr denjenigen Sendern Ehrenurkunden ausstellen, die zur Stärkung und Befestigung der Sittlichkeit, der Vaterlandsliebe und des Glaubens an die Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit beitragen (Art. 3 Punkt 4).

 

b) Kritik des Gesetzesprojekts

 

Mit dem Ende der Sowjetunion verschwand nicht nur die Zensur der Kommunistischen Partei, sondern es verblassten auch die alten Wertvorstellungen, die den "real existierenden Sozialismus" als eine reine, mit allen Tugenden gesegnete Gesellschaftsordnung propagierten. Jahrzehntelang hatten die Bilder von Arbeitslosen, Straßenbettlern, Drogenabhängigen und Prostituierten als Wahrzeichen des Kapitalismus gegolten. Sie wurden fast nur im Zusammenhang mit der Auslandsberichterstattung gezeigt. Als der Westen dann mit moderner Reklame und den üblichen Darstellungen von Verbrechen, Sex und Gewalt in den russischen Massenmedien Einzug hielt, war ein großer Teil der Bevölkerung, vor allem die ältere Generation, sichtlich schockiert und sehnte sich nach der vergangenen sozialistischen Medienharmonie.[5] Den neuen Stil der russischen Massenmedien beklagen also nicht nur die Abgeordneten der Staatsduma. Viele Bürger sprechen von einem Sittlichkeitsverfall und sind davon überzeugt, dass etwas geschehen muss, um dem Treiben Einhalt zu gebieten. Das Argument der Gegner des Gesetzesprojekts, der Höchste Rat zum Schutz der Sittlichkeit sei allein deshalb schon überflüssig, weil es gegen Pornographie, Ehrverletzungen und verbotene Gewaltdarstellungen bereits eine ausreichende gesetzliche Handhabe gebe, wird also kaum jemanden überzeugen, dem an der Verbesserung der Qualität der Fernseh- und Radiosendungen gelegen ist. Einer der Urheber des Gesetzesprojektes, der bekannte Schauspieler und stellvertretende Leiter des Staatsdumakomitees für Kultur N. Gubenko (KPRF), hat zur Rechtfertigung seines Vorhabens auf die Medienräte in Großbritannien, den USA und Italien hingewiesen.[6] Auch das Argument, die Bildung des Höchsten Rates zum Schutz der Sittlichkeit sowie die Einrichtung des dazugehörigen Apparates und regionaler Vertretungen sei im Föderalen Haushalt 1999 nicht vorgesehen, scheint angesichts des von vielen angenommenen Handlungsbedarfs eine Ausrede zu sein. Schließlich sollen vom Rat beträchtliche Geldbußen verhängt werden dürfen, die sämtlich dem föderalen Budget bzw. den regionalen Haushalten zugute kommen. Selbst der Vorwurf, die Position des Rates bleibe im System der Organe der Staatsgewalt unbestimmt und verstoße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung, findet wenig Zustimmung. Gerade im Bereich der Inhaltskontrolle wäre eine allein von der Exekutive geführte Staatsaufsicht unter dem Gesichtspunkt der Staatsfreiheit der Massenmedien bedenklich. Beispiele für Institutionen, die gewissermaßen außerhalb des Verfassungssystems der Staatsorgane stehen, gibt es außerdem genug. Die "Kammer für informationelle Streitigkeiten beim Präsidenten der RF" gehört weder der Judikative an, noch ist sie den Weisungen des Präsidenten oder der Regierung der RF unterworfen. Der Sicherheitsrat des Präsidenten der RF, in dem zeitweise auch die Vorsitzenden der beiden parlamentarischen Kammern saßen, lässt sich ebenfalls schwer zuordnen. Nach seinem Selbstverständnis ist der Sicherheitsrat jedenfalls kein lediglich beratendes Gremium. Ein unabhängiger, von Exekutive und Legislative zu gleichen Teilen ernannter Kontrollrat für den Schutz der Sittlichkeit wäre also keine Einrichtung, die man allein aufgrund ihrer Systemwidrigkeit ablehnen würde.

 

Der Inhalt der Regelungen über den Sittenrat weckt jedoch eine Reihe rechtlicher Bedenken. Zunächst ist hervorzuheben, dass die Vollmachten und Sanktionsmöglichkeiten des Rates einen Kontrollmechanismus darstellen, der die direkte Einwirkung und den unmittelbaren Druck auf die Medien gestattet, seien es staatliche oder private Fernseh- und Rundfunkgesellschaften. Zum Zwecke der Maximierung der Eingriffswirkung nehmen die Autoren des Gesetzesprojektes - bewusst oder unbewusst - einige Unstimmigkeiten mit der bestehenden Rechtsordnung in Kauf.

 

Die Vorschrift über die administrative Verantwortlichkeit des Senders verweist hinsichtlich der Geldbußen und ihrer Eintreibung auf das Gesetzbuch über administrative Rechtsverletzungen (Kodeks ob administrativnych pravonarušenijach, KoAP). Die dort genannte Obergrenze der Geldbußen wird jedoch weit überschritten, und es wird die Regel vernachlässigt, dass allein natürliche Personen und Amtsträger als Subjekte administrativer Verantwortlichkeit in Frage kommen. Der Rat soll die Geldbuße dem Sender auferlegen, d.h. einer juristischen Person. Das Gesetz "Über die Massenmedien" bestimmt dagegen, dass allein der jeweilige Chefredakteur für den Inhalt eines Massenmediums verantwortlich ist (Art. 19 Abs. 5). Schließlich erlaubt das Gesetzesprojekt dem Rat, auf die gerichtliche Annullierung der Sendelizenz hinzuwirken und dabei den FSTR zu übergehen, der die Lizenzen vergibt und über die Einhaltung der Gesetze und der Lizenzbedingungen wacht. Hier scheint die Annahme berechtigt, die Staatsduma wolle sich zum Ausgleich für die fehlende parlamentarische Kontrolle über den FSTR ein eigenes Kontrollorgan schaffen.[7] Es setzt sich der bereits erwähnte Machtkampf zwischen dem Parlament und der Seite des Präsidenten fort, bei dem beide Seiten konträre Kontrollorgane errichten und sich gegenseitig nicht anerkennen.

 

Der zweite Haupteinwand gegen den Gesetzentwurf liegt auf der Hand. Die unbestimmten Rechtsbegriffe, die zur Begründung eines Verstoßes gegen die Sittlichkeit dienen (Art. 3 Punkt 3), stellen jeden, der sie auf den Einzelfall anwenden möchte, vor schwierige Wertungs- und Auslegungsprobleme. Dass neben definierbaren juristischen Kriterien auch unklare moralische Begriffe wie die "Verletzung allgemein anerkannter Normen der Humanität und Moral, der historischen Grundlagen der Familie" verwendet werden sollen, um die administrative Verantwortlichkeit des Senders zu begründen, überfordert sogar den Richter. Der Gebrauch solcher Begriffe durch ein außergerichtliches, mit derart weitreichenden Befugnissen ausgestattetes Kontrollorgan stellt ohne jeden Zweifel ein großes Wagnis dar.

 

Der Gesetzentwurf enthält gleichwohl keine wie auch immer gearteten Vorkehrungen gegen den Missbrauch seiner Regelungen. Weder die verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates zu ideologischer Neutralität (Art. 13 Verf RF) noch die Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 28 Verf RF) oder die Freiheit des literarischen und künstlerischen Schaffens (Art. 44 Verf RF) haben in ihm Ausdruck gefunden. Die subjektiven Ansichten der zwölf Ratsmitglieder, die für sechs Jahre im Amt bleiben und niemandem außer sich selbst verantwortlich sind, haben vielmehr durch die Abstimmungsordnung, die auf eine schnelle Beschlussfassung hin angelegt ist, alle Möglichkeiten, sich über die Wertvorstellungen politischer, religiöser oder ethnischer Minderheiten hinwegzusetzen. Angesichts der politischen Gespaltenheit der russischen Gesellschaft und ihrer multinationalen Zusammensetzung würde ein solcher Kontrollrat zwangsläufig zum Austragungsort politischer Streitigkeiten oder aber - bei entsprechender Zusammensetzung - zum Instrument politischer Bevormundung.[8] Der gesellschaftlichen Aufgabe, die Qualität der Sendungen des Fernsehens und Rundfunks zu verbessern, wäre damit nicht gedient. Das Angebot von Unbedenk­lich­keitsbescheinigungen über geplante Sendungen stellt im übrigen einen Umgehungsversuch des verfassungsrechtlichen Verbots der Präventivzensur dar und erinnert an die früheren Bemühungen der GUOT, die Arbeit der sowjetischen Zensurbehörde "Glavlit" fortzusetzen. Welchen Aktualitätswert können Programme noch haben, die mindestens einen Monat vor ihrer Ausstrahlung zur gutachtlichen Überprüfung dem Höchsten Rat für den Schutz der Sittlichkeit vorgelegt worden sind? Die ablehnenden Reaktionen auf das Gesetzesprojekt sind dementsprechend eindeutig und scharf ausgefallen.

 

E. Jur´ev spottete: "Nach den erfolglosen Versuchen, das Fernsehen mit der Hilfe von schrecklichen Parlamentsbeschlüssen, besonderen Aufsichtsräten und regelmäßigen Vorladungen der Fernsehchefs bei der Staatsduma wieder zu den Grundlagen des Moralkodex des kommunistischen Aufbaus zurückzubringen, haben sich die hochsittlichen Parlamentarier nunmehr dazu entschieden, diese nicht leicht zu bewältigende Aufgabe einem besonderen Staatsorgan anzuvertrauen."[9] - O. Dobrodeev, der Generaldirektor von NTV, wertete das Gesetzesprojekt als Versuch, unter dem Vorwand der Verteidigung der guten Sitten bei den elektronischen Massenmedien einen kräftigen Hebel anzusetzen, um sich im Jahr der Parlamentswahlen politischen Einfluss zu sichern.[10] Auch das Zentrum "Recht und Massenmedien" äußerte die Meinung, es sei den Autoren des Projektes nicht darum gegangen, zugunsten von Sittlichkeit und Moral einen brauchbaren Gesetzentwurf zustande zu bringen. Die lange Vorlaufzeit des Projektes und die große Zahl der Verbesserungsvorschläge, die nicht berücksichtigt wurden, spreche für sich.[11] Der Leiter der Abteilung des Präsidenten der RF für Gesellschaft und Kultur, D. Molčanov, nannte das Gesetzesprojekt "absolut verfassungswidrig" und machte geltend, dass bei ORT und VGTRK entsprechende Kontrollräte bereits existieren, deren Entscheidungen allerdings lediglich den Charakter von Empfehlungen haben.[12] Die staatsrechtliche Abteilung des Präsidenten der RF bezeichnete die Heranziehung unbestimmter ethischer und sittlicher Normen zur Begründung rechtlicher Verantwortlichkeit als unannehmbar. Der Gesetzentwurf widerspräche sowohl den Grundlagen des verfassungsmäßigen Aufbaus der RF als auch einer Reihe von föderalen Gesetzen. Und A. Kotenkov, der Vertreter des Präsidenten der RF in der Staatsduma, betonte gegenüber den Abgeordneten, man müsse die vorhandenen Gesetze nur anwenden, vor allem die Gesetzgebung zur Kontrolle und zur Einschränkung erotischer und pornographischer Produktionen.[13] Dieser Rat war gut gemeint, aber er nahm vorweg, was noch nicht geklärt war: Die Staatsduma verabschiedete das föderale Gesetz "Über den staatlichen Schutz der Sittlichkeit und Gesundheit der Bürger und die Verstärkung der Kontrolle des Absatzes von Produktionen erotischen Charakters" [14] am 7. April vergebens, denn der Präsident der RF legte am 11. Mai 1999 hiergegen sein Veto ein. Das Projekt wollte die Lizenzierung vorschreiben und zeitliche Beschränkungen einführen (1:00 Uhr - 4:00 Uhr) .

 

c) Charta der Fernseh- und Radiosender

 

Auf Initiative des FSTR einigten sich schließlich "nach neun Monaten angestrengter Abstimmungstätigkeit" die Vertreter der führenden Fernsehprogramme am 28. April 1999 auf eine "Charta der Fernseh- und Radiosender", die ihre Unterzeichner zur Einhaltung bestimmter moralischer Grundsätze verpflichtet und die Gründung eines "Gesellschaftlichen Rundfunkrates" vorsieht: "Die hiermit die Charta unterstützenden Fernseh- und Rundfunkgesellschaften sind der Auffassung, dass unter den gegebenen Umständen, da ständig die unterschiedlichsten Forderungen laut werden, die sich an die Adresse der Massenmedien richten, und da versucht wird, die Freiheit des Wortes einzuschränken, insbesondere auf gesetzgeberischem Wege, die Charta der Fernsehsender die Bereitschaft des Fernsehens und Rundfunks demonstrieren soll, die Probleme selbständig zu lösen, die mit den sittlichen und künstlerischen Grundsätzen der Arbeit der Massenmedien verbunden sind (Übers. d. Verf.)."[15]

 

Die Charta stellt klar, dass nicht erst die Gesetze, sondern bereits die journalistische Ethik der Tätigkeit der Massenmedien Regeln vorgibt und feste Grenzen setzt. Sie enthält darüber hinaus wichtige Definitionen und moderne presserechtliche Prinzipien, unter anderem auch solche, die in anderen Ländern im Wege richterlicher Rechtsfortbildung aufgestellt worden sind und dort unmittelbare Rechtsgeltung besitzen. Der Grundsatz der Wahrhaftigkeit der Information wird verstärkt durch besondere Anforderungen an die publizistische Sorgfaltspflicht. Zwischen Tatsachen und Meinungen ist genau zu unterscheiden und eine Gleichsetzung zu vermeiden. Die Berichtigung von Fehlern und Ungenauigkeiten soll unverzüglich erfolgen und so mitgeteilt werden, dass sie von allen zur Kenntnis genommen werden kann. In allen Fällen sollen die Kritik und die Antwort hierauf im Zusammenhang und in ebenbürtiger Form wiedergegeben werden (Prinzip der Waffengleichheit). Zum "Schutz der Rechte und gesetzlichen Interessen der Bürger und Organisationen, der gesellschaftlichen Gesundheit und Sittlichkeit" sind die Unterzeichner der Charta gehalten, persönlichkeitsverletzende oder gewaltverherrlichende Darstellungen zu unterlassen. Insbesondere enthält der Text genaue und überprüfbare Definitionen der Privatsphäre (častnaja žizn´) und der maßlosen Grausamkeit und Gewalt (črezmernaja žestokost´ i nasilija). Für die Verletzung der Privatsphäre werden zusätzlich viele Fallgruppen aufgeführt. Heimlich angefertigte Aufnahmen dürfen z.B auch nicht von Dritten entgegengenommen und verwertet werden, vor allem nicht solche, die ohne gerichtlichen Beschluss in die Privatsphäre des einzelnen eingreifen.

 

Ausdrücklich wird auch Politikern und hohen Beamten der Schutz ihrer Privatsphäre zugesichert, wobei jedoch besonders darauf hingewiesen wird, dass auch hier Ausnahmen zulässig sind, die "zum Schutz öffentlicher Interessen oder der Rechte und Freiheiten Dritter" notwendig sind. Ebenso wie die Privatsphäre wird auch das öffentliche Interesse genau und überprüfbar definiert. Hierunter fallen die Notwendigkeit des Schutzes der Grundlagen der Verfassung der RF, die Abwendung von Gefahr für die staatliche Sicherheit, die Aufdeckung von Verbrechen, der Schutz der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung und die Benachrichtigung der Öffentlichkeit darüber, durch Handlungen, Dokumente oder Mitteilungen eines Individuums oder einer Organisation in einem Irrtum befangen zu sein. Die Charta führt damit die Notwendigkeit ein, im Einzelfall zwischen dem privaten und dem öffentlichen Interesse abzuwägen, sie erlegt also in Übereinstimmung mit dem liberalen Gesetz "Über die Massenmedien" in erster Linie den Redakteuren selbst die Verantwortung für die von ihnen mitgeteilten Informationen auf.

 

Schließlich verpflichtet die Charta ihre Unterzeichner zum Gebrauch einer korrekten Sprache und führt einige Handlungen der Massenmedien auf, die "mit den Normen zivilisierter Journalistik unvereinbar" sind, wie zum Beispiel das Führen einer Informationskampagne zum Zwecke der Diskreditierung einer Person aus wirtschaftlichen Motiven, das Erlangen von Informationen durch Drohung, Täuschung oder Bestechung, das Ausnutzen des Vertrauens oder der emotionalen Stimmung eines Gesprächspartners, der die Folgen seiner Aussagen nicht übersieht usw. Die Charta enthält also eine ganze Reihe von ethischen und rechtlichen Grundsätzen und hebt sich positiv von den Gesetzesentwürfen der Staatsduma ab.

 

d) Schlussfolgerung: Gesetzesentwurf im Dienste der Politik 

 

Die rechtliche und medienpolitische Kritik am Gesetz "Über den höchsten Rat für den Schutz der Sittlichkeit ..."  war so verheerend, dass man sich fragen muss, ob die Staatsduma gewisse Gesetzes­entwürfe schon in dem Bewusstsein ausarbeitet und verabschiedet, ein Inkrafttreten sei sowieso ausgeschlossen, oder ob die Deputierten der Staatsduma inzwischen ihre Gesetze als wirkungsvolle und angemessene Oppositionsarbeit zur bestehenden Rechts- und Staatsordnung Rußlands begreifen. Am besten klingt der Erklärungsversuch von S. Ševerdjaev, das Gesetz entspringe hauptsächlich der mangelhaften rechtlichen Grundlage der Tätigkeit des FSTR.[16] In erster Linie ist der Vorschlag zur Schaffung des neuen Kontrollorgans jedoch auf die feste Absicht der KPRF zurückzuführen, das Fernsehen stärker inhaltlich zu kontrollieren. Die vorgesehenen umfangreichen Vollmachten des Rates, die die Kompetenzen vergleichbarer Institutionen anderer Länder weit überschreiten, erinnern an die frühere sowjetkommunistische Praxis der vorrangigen, alle weiteren staatlichen Aufsichtsorgane in den Schatten stellenden Parteikontrolle der Massenmedien. Andererseits ist zuzugeben, dass die Verpflichtung der elektronischen Massenmedien auf gewisse ethische und rechtliche Grundsätze dringend notwendig war, und es ist zu fragen, weshalb es denn erst im Jahre 1999 zu einer Charta über die Einhaltung wichtiger Mindestanforderungen gekommen ist. Es bedurfte anscheinend erst heftiger Angriffe auf die Massenmedien von Seiten der Staatsduma und der - auch durch die wirtschaftliche Krise im August 1998 bedingten - Bildung und Stärkung gesamtnationaler Interessenverbände wie der "Nationalen Assoziation der Fernsehsender" (NAT) und der "Rußländischen Assoziation des Regionalen Fernsehens" (RART), die übrigens zu den Mitunterzeichnern der Charta gehören, um einen ersten gemeinsamen Ansatz zur Anerkennung ethischer Mindeststandards zu finden. 

[nächste Seite]



[1] Veröffentlicht in: ZiP 55 (März ´99), V Fokuse.

[2] Vgl. z.B. D. Potapov, Deputaty nazvali cenzuru nravstvennost´ju, Kommersant Daily vom 11.03.99, der die ablehnenden Bemerkungen der Generaldirektoren von ORT, RTR, NTV und des Präsidenten von TV-6 zitiert.

[3] Vgl. A. Richter, Kolonka redaktora, in: ZiP 55 (März 1999): In der Staatsduma stimmten 266 Deputierte (von 226 erforderlichen) für die Verabschiedung, dagegen stimmten lediglich 20. Am 17. März stimmten 115 Mitglieder des Föderationsrats (bei 90 notwendigen Stimmen) für die Billigung dieses Gesetzes, und nur 7 lehnten es ab. Am 31. März 1999 legte der Präsident der RF sein Veto gegen das Gesetz ein. Zur Überwindung des Vetos war allerdings eine Mehrheit von 300 Stimmen der Deputierten der Staatsduma notwendig. Am 21. April stimmten nur noch 235 Dumaabgeordnete für das Gesetz.

[4] Für den Fall, daß keiner der für den Vorsitz vorgeschlagenen Kandidaten die erforderliche Stimmemmehrheit erhält oder bei Stimmengleichheit sieht das Gesetz keine zusätzlichen Regelungen vor.

[5] Höhepunkte des neuen Fernsehens waren unzensierte Nachrichtensendungen während des Tschetschenienkonflikts, die Fernsehserie St. Barbara, Werbung mit erotischen Bildern und nicht zuletzt die "500 Sekunden" des A. Nevzorov, der sich immer bemühte, frische Bilder von Unfällen oder neue Aufnahmen von schlafenden oder handgreiflich werdenden Staatsduma-Deputierten zu zeigen.

[6] Zitiert von V. Pozner, Sovet da cenzura, Vremja MN, 11. März 1999.

[7] S. Ševerdjaev, Vysšij sovet: sinica uže v rukach?, in: ZiP 55 (März ´99).

[8] Vgl. INTERFAKS, 17. März 1999, in: in: ZiP 55 (März 1999): Der Leiter des Staatsdumakomitees für Kultur, S. Govoruchin, nannte als herausragende Beispiele für unsittliche Verhaltensweisen der Journalisten, daß sich die Massenmedien während des Tschetschenienkonflikts unter der Fahne des Feindes gesammelt hätten und daß die Massenmedien während des Präsidentschaftswahlkampfes von 1996 die schwere Krankheit des B. El´cin verschwiegen hätten. 

[9] E. Jur´ev, Ljubov k partii - eto erotika ili pornografija?, Segodnja, 11.3.1999 (Übers. d. Verf.).

[10] Zitiert von D. Potapov, Deputaty nazvali cenzuru nravstvennost´ju, Kommersant Daily, 11.03.99.

[11] Zentrum "Recht und Massenmedien", "Lozung `Vsja vlast´ sovetam ... po nravstvennosti´ ne prošel", in: ZiP 55 (März ´99).

[12] INTERFAKS, 23. März 1999, in: ZiP 55 (März ´99). - Vgl. Post-Soviet Media Law & Policy Newsletter, Issue 50 (Nov. ´98), unter: "Russia": Das erste Treffen eines entsprechenden, lediglich Empfehlungen aussprechenden Kontrollrats fand am 16. Oktober 1998 bei RTR statt. Der Rat bestand aus sieben Mitgliedern; neben Vertretern des Präsidenten, der Regierung und des Parlaments wurden auch Fachleute gesellschaftlichen Ranges eingeladen.

[13] RIA "Novosti", 21. April 1999, unter: Internews (http://www.internews.ru/), Eednevnye novosti: Mass-media.

[14] ZiP 45 (April 1998), Proekt Federal´nyj zakon "O gosudarstvennoj zaščite nravstvennosti i zdorov´ja graždan i ob usilenii kontrolja za oborotom produkcii seksual´nogo charaktera".

[15] Einleitung der "Chartija teleradioveščatelej" vom 28.4.99, unterschrieben von den Vorsitzenden und Generaldirektoren von ORT, VGTRK, NTV, TV-6, TV-Centr, REN-TV, 31 kanal, TNT-teleset´, STS, NAT, RART. Die Charta ist veröffentlicht unter: http://www.tvradio.ru/news.html, download 20.6.99.

[16] S. Ševerdjaev, "Vysšij sovet: sinica uže v rukach?" in: ZiP 55 (März ´99).