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c) Folgen der Bankenkrise 1998 (Nationales Presseinstitut der RF)

 

aa) Erster Bericht

 

Der Geschäftsentwicklungsservice des Rußländischen Nationalen Presseinstituts (NPI) veröffentlichte einen Monat nach dem Beginn der Rubel- und Bankenkrise eine erste Studie über ihre Auswirkungen auf die Massenmedien mit dem Titel: "Regionale Zeitungen und die russische Krise".[1] Grundlage der Studie war eine informelle Umfrage unter privaten regionalen Zeitungen, die das Institut vom 2. bis 9. September durchführte, "um die unmittelbaren Auswirkungen der wirtschaftlichen und politischen Unordnung im Land" einschätzen zu können. Gemeint war die Finanz- und Bankenkrise  des August 1998.

 

Die Regierung der RF hatte am 17. August erklärt, die Verpflichtungen aus ihren kurzfristigen Staatsanleihen (GKO) nicht mehr einhalten zu können. Der Kurs des Rubel sei nicht mehr in dem festgelegten Korridor zwischen 6 und 9,5 Rubel pro Dollar zu halten, und über die Auslandsschulden der kommerziellen Banken werde ein zweimonatiges Moratorium verhängt. Nach den Erschütterungen der Finanzmärkte im März und Mai 1998 bedeutete dieser Schritt den Eintritt in eine politische Krise großen Ausmaßes. Binnen einer Woche dankte die reformorientierte Regierung des Premierministers Sergej Kirienko ab, und als Regierungs­vorsitzender wurde nach längeren Verhandlungen Evgenij Primakov berufen, ein Kompromiss­kandidat, der sich nicht nur der Zustimmung des Präsidenten, sondern auch und vor allem der Unterstützung der Mehrheit der Staatsduma erfreute. Die fortlaufende Verringerung der industriellen Produktion und die starke Inflation machten außerordentliche Regierungsmaßnahmen notwendig, und diese sollten von einer möglichst breiten Basis der politischen Kräfte der RF mitgetragen werden.

 

Die Abwertung des Rubel erreichte während der Zeit der Untersuchung ihren Höhepunkt: Der Rubel-Dollar-Kurs hatte Mitte August noch 6:1 betragen, Anfang September fiel er auf 28:1.[2] Panikkäufe der Bevölkerung und viele sofortige Geschäftszusammenbrüche waren die unmittelbare Folge. Hinzu kam eine länger anhaltende Bankenkrise, denn die Entscheidung der Regierung, ihre Schulden nicht mehr zu bedienen, machte mittelbar auch einige zentrale Großbanken zahlungsunfähig. Viele Anleger konnten ihre Bankguthaben monatelang nicht abheben, und der später angebotene Kurs entwertete ihre Ersparnisse beträchtlich.

 

Die Maßnahmen der Printmedien zur Bewältigung der wirtschaftlichen Krise haben Licht auf ihre finanzielle Situation geworfen. Der Verfall des Rubel entwertete die für die nächste Jahreshälfte bereits erhaltenen Abonnementszahlungen der Leser. Nahezu keine der Zeitungen und Zeitschriften verfügte über ausreichend Liquidität oder hatte genügend Reserven, um auch nur die erste Woche der Krise ohne drakonische Einsparungsmaßnahmen überstehen zu können. Angespartes, soweit es überhaupt vorhanden war, verlor an Wert und wurde nicht selten für laufende Rechnungen verwendet. Frühere Erfahrungen mit den verschiedenen vor Ort ansässigen Kreditinstituten hatten immerhin dazu geführt, dass kaum eine der befragten Zeitungen ihre Geschäftskonten bei den zahlungsunfähigen Banken unterhielt. Die meisten Redaktionen kauften sofort soviel Zeitungspapier wie möglich, was einen schnellen Preisanstieg bewirkte. Zugleich stiegen die Kosten bei den staatlichen Druckereien. Nur zwei der befragten Zeitungen besaßen eigene Druckerpressen. Nahezu alle regionalen Zeitungen sind auf die staatlichen Druckereien und die staatlichen Vertriebssysteme angewiesen, sie können sich also gegen Preiserhöhungen kaum zur Wehr setzen. In vielen Fällen waren die finanziellen Verhältnisse so schlecht, dass sie sogleich nach dem Ausbruch der Krise ihre Auflagen verringerten und die Ausgaben reduzierten oder vorübergehend sogar ganz einstellten. Viele Zeitungen schickten einen Teil der Mitarbeiter in unbezahlten Urlaub. Einige bestellten sogar die nationalen Nachrichtenagenturen ab und schlossen bis auf weiteres ihren Internet-Anschluss.[3] Vor allem aber kam es infolge der allgemeinen wirtschaftlichen Krise zu schweren Einbrüchen auf dem Reklamemarkt. Viele Werbeverträge, die für September und Oktober bereits unterzeichnet waren, wurden wieder rückgängig gemacht. Das NPI kommentiert, dass hier die schicksalhafte Verbindung Rußlands privater regionaler Zeitungen mit dem lokalen Kleinunternehmertum offenbar wurde. Die Herausgeber hatten sich eben erst mit der Idee vertraut gemacht, dass man Zeitungen durch Werbeeinkünfte finanzieren kann. Ein wahrscheinlicher Effekt der Krise werde sein, diesen psychologischen Durchbruch wieder zu gefährden. Die Herausgeber, die in letzter Zeit öfter bei den lokalen Handelskammern als in den verrauchten Räumen des Bürgermeisters geweilt hatten, sahen sich nun wieder dazu veranlasst, auf die alten wahren Methoden zurückzugreifen, d. h. sich staatlicher Hilfe zu versichern.[4]

 

bb) Zweiter Bericht

 

Die vorsichtigen, aber eher pessimistischen Prognosen in Bezug auf die Überlebensfähigkeit der privaten Massenmedien in den Regionen werden später durch das NPI zum Teil wieder relativiert. Der Bericht  "Die Massenmedien in der Periode der Krise (August 1998 - Februar 1999)" beschreibt im Nachhinein die Auswirkungen der Krise auf alle, also auch die zentralen Massenmedien.[5] Das NPI bewertet die Zeit August - September - Anfang Oktober 1998 als Phase der Panik, die unterschiedslos sämtliche Massenmedien befallen hatte und durch die Sperrung vieler Bankkonten und die plötzlichen Ausfälle bei den Einkünften aus Werbung hervorgerufen wurde. In diese Zeit fielen auch die düsteren Vorahnungen und Prognosen über ein massenhaftes Absterben "unabhängiger" Zeitungen, die Verstaatlichung der Massenmedien und die Zurücknahme der Freiheit des Wortes. Als dann Anfang Oktober die Wirtschaft, insbesondere die regionale und lokale Geschäftstätigkeit, langsam wieder auflebte und die Nachfrage nach Anzeigen und Reklamesendungen zunahm, folgte der Aufregung die Phase der mühsamen Adaption an die Zustände der Krise. Die Reaktionen der Massenmedien wurden überlegter, die Hilfsmaßnahmen zielgerichteter. Anfang Dezember war es schon gewiss, dass es nicht zu massenhaften Zusammenbrüchen auf dem Markt gekommen war und dass die Massenmedien ihre Attraktivität für wirtschaftliche und politische Investitionen nicht eingebüßt hatten. Im Gegenteil, der politische Einfluss auf die Massenmedien ist billiger geworden. Das NPI bezeichnet die Zeit Dezember 1998 - Frühjahr 1999 als Ruhe vor dem Sturm, denn mit den neuen, in der Krise entwickelten Strategien und mit den bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sind zukünftig größere Veränderungen möglich. 

 

Die Einleitung des Berichts macht darauf aufmerksam, dass es aufgrund der Unüberschaubarkeit des Marktes der Massenmedien sowie der Undurchsichtigkeit der einzelnen Medienunternehmen, ihrer Beteiligungen und ihrer Einkünfte, schwierig ist, konkrete Aussagen über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise zu machen. Die zentralen Moskauer und viele größere regionale Massenmedien haben ihre Konten zudem nicht selten in Dollar geführt, und sofern diese nicht gesperrt wurden, kam ihnen in der Zeit der Krise die stärker werdende Kaufkraft des Dollars zugute. Und die Situation der Massenmedien in den Regionen ist so unterschiedlich, dass es sich geradezu verbietet, eine Einschätzung über eine nicht vorhandene allgemeine Lage abzugeben. Ärmere Verwaltungsgebiete mit depressiver Ökonomie haben die Augustkrise kaum zu spüren bekommen ("padat´ prosto nekuda"),[6] reichere Gouvernements verzeichneten hingegen große Gewinnausfälle und entwickelten daraufhin die verschiedensten Überlebensstrategien.

 

Insbesondere die fehlende Transparenz des Werbemarktes und wenige verlässliche Informationen über die tatsächlichen Gewinne aus Werbung - vorher ebenso wie nach der Krise - machen eine genauere Beurteilung der Krisenauswirkungen zum problematischen Unterfangen. Einerseits weigerten sich die Massenmedien, die Preislisten für Reklameanzeigen und Werbeminuten nach unten zu korrigieren, andererseits gewährten sie den Reklameagenturen jedoch versteckte Rabatte in Höhe von bis zu 90% und weiteten die heimliche und die schwarze Reklame ungeniert aus. Auch gab es zwar besorgtes Gerede darüber, dass viele Zahlungen von Reklameagenturen bei nunmehr zahlungsunfähigen Banken verloren gegangen seien. Unklar blieb aber, in welchem Umfang es sich dabei um Scheinbankrotte gehandelt hat, mit welchen das Krisenchaos ausgenutzt wurde, um Gelder entweder überhaupt nicht oder aber unbemerkt und an der Steuer vorbei an ihren Bestimmungsort gelangen zu lassen.

 

Sicher vertreten lässt sich lediglich die Aussage, dass das Reklamevolumen in den zentralen Massenmedien im Oktober 1998 verglichen mit dem Oktober 1997 insgesamt um wenigstens 25 - 30 % zurückgegangen ist.[7] Genauere Daten liegen für die zentrale Presse vor. Bei einer Reihe von Zeitungen und Zeitschriften waren die Einnahmeausfälle deutlich höher als der genannte Mittelwert. Obgleich einige Tages- und Wochenzeitungen in den Krisenmonaten im freien Verkauf am Kiosk beträchtlich zulegten, kompensierte der Mehrverkauf nicht die sprunghaft gestiegenen Herstellungskosten, denn die Verkaufspreise konnten nicht entsprechend angepasst werden. Umfragen des NPI unter den regionalen Printmedien brachten wie erwähnt sehr unterschiedliche Resultate. Sie waren einerseits nicht so stark vom Abzug der Ausländer betroffen wie die Moskauer Medien und kannten ein bescheideneres Preisniveau, andererseits führten sie weniger Dollarkonten und bekamen die Inflation mehr zu spüren.

 

Nach der Ansicht A. Pankins, des Direktors des Forschungszentrums Massenmedien beim NPI, lässt sich nicht einmal auf die Frage, ob der staatliche Druck auf die Massenmedien zugenommen hat, eine eindeutige Antwort geben. Das russische Mediensystem stamme zum großen Teil aus alten Zeiten und werde von politischen Zweckmäßigkeiten geprägt. Der Präsident ernennt und entlässt den Direktor der VGTRK per Dekret, ohne sich um die Satzung der staatlichen Gesellschaft zu kümmern, die eine fünfjährige Amtszeit vorsieht. Die Versuche der Staatsduma, in der VGTRK politische Aufsichtsräte einzuführen, seien eine Angelegenheit, die man sehr unterschiedlich bewerten könne, je nachdem, ob man die ausländischen Vorbilder solcher Medienräte heranzieht oder auf die Gefahr der Staatszensur abstellt. Nach der Abstimmung über die Verlängerung des Gesetzes "Über die staatliche Unterstützung der Massenmedien" seien diejenigen Abgeordneten, die dagegen stimmten (z.B. S. Kovalev, G. Javlinskij, J. Ščekočichin, V. Irgunov), in den Medien laut als "Feinde der Pressefreiheit" beschimpft worden. Zugleich habe man verschwiegen, dass die Befürworter des Gesetzes vor allem aus den Reihen der Fraktionen der KPRF und der LDPR kamen, die seit langem für eine stärkere staatliche Kontrolle der Massenmedien eintreten.[8] Dennoch sind die allgemeinen Tendenzen der wirtschaftlichen und ökonomischen Entwicklung der Massenmedien nach der Augustkrise aufgrund der gesammelten Daten und unter Berücksichtigung der genannten Einschränkungen erkennbar. Nach A. Pankin lassen sich einige objektive, ideologiefreie Aussagen machen.

 

Zunächst ist festzustellen, dass vielen negativen Auswirkungen der Krise allein durch neue Lenkungsmethoden der Unternehmensführung begegnet werden konnte. Dieser Befund trifft nach der Ansicht Pankins gerade auf die regionalen Massenmedien zu: vielfach habe sich das Management gewandelt - eine an sich positive Folge der Krise. Die Massenmedien haben lange eine privilegierte Sonderrolle in der russischen Wirtschaft gespielt, und in gewisser Weise hat jede größere Krise hinsichtlich ökonomischer Fehlentwicklungen die Kraft eines reinigenden Gewitters:

 

"(...) die gesamten Medien gingen von der Vorstellung ihrer Sonderrolle in der Gesellschaft aus und erreichten durch aktiven Lobbyismus auf föderaler und regionaler Ebene ein System von Vergünstigungen und Privilegien gegenüber den anderen Wirtschaftsbranchen. Im Ergebnis verfügten die Massenmedien tatsächlich über eine der angenehmsten Besteuerungsarten, und ebenso über direkte Dotationen, hauptsächlich aus den regionalen Budgets. Indem sie die Vielfalt und den Pluralismus der Medien bewahrte, verringerte eine solche Vorzugstellung zugleich den Anreiz, sich auf die Bedingungen des Marktes einzurichten. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene betrachtet wurden die Medien zu einer jener lobbyistischen Gruppen in der Gesellschaft, die für sich immer wieder ein besonderes Ordnungsregime aushandelten und dabei recht eigentlich die liberalen Reformen begruben, die bekanntlich mit so unterschiedlichen Spielregeln auf dem Markt nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Die negative Rolle der Presse verstärkte sich dadurch, dass ihre Blüte nicht vom realen Zustand der Wirtschaft getragen werden konnte. Die Krise selbst rührte in Wirklichkeit daher, dass zwischen der tatsächlichen Nachfrage und der Vorstellung der Medien darüber, wie viele der Markt ernähren könne, eine große Kluft herrschte."[9]

 

Entsprechend skizziert das NPI den Vorkrisenzustand des Medien- und Reklamemarktes mit den folgenden Stichworten:

  •  Zunahme der Anzahl registrierter Massenmedien bei stetiger Verringerung der Auflagenzahlen und kleiner werdenden Marktanteilen der Fernsehsender

  •  Zunehmendes Reklamebudget bei allen Medien; Konzentration auf Moskau, seit 1997 aber - infolge des Einzugs westlicher Marken - auch positive Entwicklungen in den Regionen, insbesondere beim Fernsehen

  •  Finanzielle, zumeist nicht offengelegte Abhängigkeit der Massenmedien von Fremdfirmen und Sponsoren, d.h. von staatlichen Organen aller Ebenen, politischen Parteien, kommerziellen Strukturen mit und ohne Anbindung an die zentrale und regionale Staatsgewalt

  •  Beginn der Formierung von Media-Holdings auf der Basis oder in Zusammenarbeit mit Finanz-Industrie-Gruppen (russ. FPG) in Moskau und ähnlicher kommerzieller Strukturen in den Regionen

  •  Expansion Moskauer Massenmedien in die regionalen Märkte, Eröffnung von Filialen usw.

  •  Abhängigkeit der Redaktionen von externen Produktions- und Vertriebsstrukturen: Papier, Druck, Vertrieb, Sendeanlagen. Die Druckereien befinden sich ganz überwiegend in föderalem Staatseigentum; sie werden jedoch faktisch von den örtlichen Administrationen kontrolliert; das Vertriebssystem entspricht nicht den Anforderungen der Redaktionen

  •  Aufkommen starker Gesellschaften, die nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit und Gewinnerzielung streben 

  •  Außerordentliche Undurchsichtigkeit des Medienmarktes in jeder Beziehung, von den Eigentumsverhältnissen bis hin zu den Einnahmequellen und der Ausgabenstruktur

Zu den Krisenfaktoren, die sich besonders auf die Lage der Massenmedien ausgewirkt haben, zählt das NPI vor allem fünf Umstände:

  •  Die Einigung auf E. Primakov als Regierungsvorsitzenden und die folgende Zusammenarbeit mit Teilen der bisherigen Opposition brachte einen Elitenwechsel mit sich und bewirkte eine Richtungsänderung in der Wirtschaftspolitik.

  •  Die Exportorientierung der russischen Wirtschaft und das frühere Interesse an Finanzspekulationen hat nachgelassen, stattdessen traten die Befürworter eines starken Binnenmarktes auf den Plan

  •  Bei den hauptsächlichen Sponsoren und Investoren der Massenmedien sind die Geldmittel knapp geworden; zu den Sponsoren gehören nicht zuletzt die Verlierer der Augustkrise, nämlich einige Moskauer Großbanken und im Exportgeschäft tätige Firmen

  •  Ebenso ist das Geld in der Mittelschicht knapp geworden. Die kleinen Unternehmer, selbständigen Geschäftsleute und Dienstleister, die in Moskau und anderen Großstädten einen wichtigen Bestandteil der Nachfrage nach Massenmedien ausmachten, sind von der Krise in ihrer Existenz bedroht worden und änderten ihr Konsumverhalten[10]

  •  Die Inflation hat zugenommen; das Export-Importverhältnis einer Reihe von Gütern und Dienstleistungen, die für die Massenmedien von Bedeutung sind, hat sich verschlechtert

 

Das Ergebnis der Untersuchung über die Auswirkungen der Krise lautet zusammengefasst, dass es auf dem Medienmarkt wider Erwarten nicht zu massenhaften Zusammenbrüchen gekommen ist, und dass in erster Linie die Moskauer Medienimperien der sogenannten "Oligarchen" gelitten haben. Sie hatten im Vertrauen auf die Kontinuität der damaligen wirtschaftlichen Entwicklung langfristige Investitionen getätigt und sahen sich nun mit einer völlig anderen Wirklichkeit konfrontiert; mit anderen Worten, sie hatten sich verkalkuliert. Weitaus weniger betroffen waren die Massenmedien der fortgeschritteneren Regionalmärkte, denn selbst die Budgets vergleichsweise großer regionaler Medienunternehmen sind bescheidener und orientieren sich mehr an den Möglichkeiten örtlicher Auftraggeber für Anzeigen und Werbesendungen. Hier können neue Managementmethoden, evtl. auch ein verringerter Personalbestand und eine größere Diversifikation des Unternehmens schnelle Resultate bringen.

 

Im Verlauf der Krise wurde sichtbar, dass sich viele Unternehmen der Medienbranche nicht an wirtschaftlichen Kriterien orientieren. Die Verschärfung des Wettbewerbs führte zur Desorganisation vieler Märkte, offizieller wie inoffizieller. Einige Moskauer Werbeagenturen mussten entdecken, dass sie irreale Preise bildeten. Erneut machte man die Erfahrung, dass die Preisbildung sehr durch Angebot und Nachfrage reguliert werden kann; als Kampfmittel wurden das Dumping und kartellähnliche Absprachen eingesetzt. Wie das NPI feststellt, wurde so von vielen Medienunternehmen das Problem des Überlebens auf die eine oder andere Weise gelöst; das Problem mangelnder Investitionen konnte indessen nicht mit gleichem Erfolg bewältigt werden. Neben der fehlenden Transparenz des Marktes und der Unternehmen, die insbesondere auf ausländische Investoren eher abschreckend wirkt, scheinen es gerade die gewählten Überlebensstrategien zu sein, die einer erfolgreichen wirtschaftlichen Umstrukturierung entgegenstehen.

 

Das NPI beobachtete eine Tendenz zur Verstaatlichung der Massenmedien, die auf Gegenseitigkeit beruht. Staatliche Organe aller Ebenen und politischen Ausrichtungen nutzen die gegenwärtige ökonomische Schwäche der Medienunternehmen aus, um die "herrenlosen" unter ihnen in ihren Bannkreis zu ziehen, und viele Herausgeber und Journalisten folgen ihrem Ruf nur allzu bereitwillig, weil sie die Sicherheit des Arbeitsplatzes der redaktionellen Unabhängigkeit vorziehen. In der Zeit der bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wirken das traditionelle Vertrauen in den Staat und die Politisierung der Massenmedien zusammen, und die vielen während der Krise neu entstandenen Sammlungsbewegungen und Interessenverbände der Medien scheinen sich bisher vorrangig zur Wahrung der bestehenden Privilegien und zum Empfang neuer staatlicher Hilfen gebildet zu haben. Auch das Entstehen größerer Medienholdings dient offensichtlich nicht nur der Ermöglichung einer vorteilhaften Zusammenarbeit von Zeitungen, Sendern und Werbeagenturen, sondern geschieht in vielen Fällen zu Zwecken der mehr oder weniger unauffälligen Beteiligung des Staates und der Verteilung von finanziellen Unterstützungen in einem einheitlich gelenkten Zusammenschluss.

 

Diese Form des Zusammenwirkens der Medien mit staatlichen Strukturen, die A. Pankin als "gegenseitige Erpressung und gegenseitige Schmeichelei" bezeichnet, ist nach seinen Worten eher vorübergehender Natur und könnte mit dem Ablauf der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 ein vorläufiges Ende nehmen. Seine Hoffnung gründet sich auf die Annahme, dass den regionalen und föderalen Haushalten keine unbegrenzten Finanzmittel zur Verfügung stehen. Die eher unabhängig und nach wirtschaftlichen Kriterien arbeitenden Medienunternehmen stellen die Existenzberechtigung überwiegend staatlich finanzierter Medienholdings spätestens dann in Frage, wenn diese Verluste machen und die Notwendigkeit staats- oder administrationstreuer Medien nicht mehr so dringend erscheint wie zur Wahlzeit.

 

Gleichwohl ist es noch keine ausgemachte Sache, dass nach einer immerhin zweijährigen Phase wichtiger Volkswahlen die privat geführten Medienunternehmen triumphieren und die Interessenverbände der Medien sich in Vorkämpfer der Unabhängigkeit vom Staat verwandeln. Die kurzfristigen Vorteile staatlich finanzierter Medienholdings könnten ebenso zu einer dauerhaften Verfestigung gemischter staatlich-privater Strukturen führen. Unabhängige regionale Zeitungen sind gefährdet; gerade auf regionaler Ebene sind staatlich unterstützte Massenmedien den privaten in vieler Hinsicht überlegen. Sie haben die Möglichkeit des Dumpings und sind zugleich weniger dem Preisdiktat staatlicher Druck- und Vertriebsmonopole oder gewissen behördlichen Repressionen ausgeliefert. Die rein privaten Gesellschaften können sich dagegen hauptsächlich durch ihr gutes Ansehen und ein besseres rating wehren. Sie müssten außerdem mit dem jetzt schon zu beobachtenden Trend fortfahren und sich besser organisieren, sei es, dass sich Verlagshäuser mit nichtstaatlichen Druckereien verbinden und eigene Verteilungssysteme aufbauen, sei es, dass sich die Redaktionen von Zeitungen mit anderen Massenmedien und Werbeagenturen in privaten Medienholdings zusammenschließen. Beide Vorgehensweisen erfordern den Zufluss von Kapital, zumindest die Möglichkeit der Kreditaufnahme. Als Schlüsselfrage betrachtet das NPI deshalb den Erfolg oder Misserfolg der Zentralbank bei dem Versuch, das System umzustellen und die kreditgebende Funktion der Banken wiederzubeleben. Langfristige Darlehen müssen sich wieder rechnen, sonst fahren die Kreditinstitute - wie vor der Augustkrise - damit fort, sich mit kurzfristigen Spekulationsgewinnen zu beschäftigen. Ebenso muss zugunsten ausländischer Investoren ein Mindestmaß an Transparenz gewährleistet werden, damit sich diese trauen, den Fuß wieder über die Grenze zu setzen. Bewegt sich die Entwicklung in diese Richtung, so sieht das NPI im Prozess der Politisierung der Massenmedien während der Zeit der Wahlen keinen ausschließlich negativen Prozess in Richtung auf eine einseitige Verstaatlichung der Massenmedien, sondern vielmehr ein pluralitätsförderndes Ereignis, das aufgrund der kurz- und mittelfristigen politischen Investitionen allen Massenmedien zugute kommt.

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[1] The Business Development Service of the Russian National Press Institute (1998), Regional Newspapers and the Russian Crisis, 16.9.98.

[2] Auch im Februar 1999 hatte sich dieser Kurs kaum wieder erholt, sondern war weiterhin bei etwa 23:1 stehengeblieben. Die Kaufkraft des Dollars verdoppelte sich.

[3] The Business Development Service of the Russian National Press Institute, aaO., Kapitel: "How Newspapers Have Responded".

[4] The Business Development Service of the Russian National Press Institute, aaO., am Ende des Berichts, unter "Prognosen".

[5] NPI / A. Pankin (1999): Sredstva massovoj informacii Rossii v period krizisa (avgust 1998 - fevral´ 1999).

[6] Übersetzung etwa: "Tiefer kann man nicht fallen."

[7] Das NPI stützt diese Aussage auf das Monitoring der "Russian Public Relations Group", in dem die Veränderung der Anzahl der Anzeigen oder Werbesendungen, der Anzeigenfläche bzw. der Werbeminuten sowie der "Ausgaben" in US-$ einzeln aufgeführt und nach Monaten verglichen werden. Die offiziellen Daten der Rußländischen Assoziation der Reklameagenturen (RARA) vergleichen 1998 insgesamt mit 1997, so daß sie lediglich eine gewisse Umverteilung der Reklameaufträge unter den einzelnen Werbeträgern ausweisen (Fernsehen - 13 %, Presse + 5 %), aber keinen Rückgang der Werbung an sich.

[8] NPI / A. Pankin, aaO. unter "Vstuplenie".

[9] NPI / A. Pankin, aaO. unter "Otvetstvennost´ SMI za krizis" (Übers. d. Verf.).

[10] Vgl. FAZ vom 27. Mai 1999, S. 18: Rußlands Mittelstand läßt kräftig Federn: Eine Umfrage des Russischen Unabhängigen Forschungsinstituts für Sozial­politische und Sozialökonomische Probleme ergab, daß vor der Krise noch knapp 25 % der erwachsenen arbeitsfähigen Bevölkerung in Rußland zur Mittelschicht zählten, danach nur noch etwa 16 - 18 %. In die Erhebung gingen 1765 Personen ein; zu den Kriterien zählte ein monatliches Pro-Kopf-Einkommen von nicht weniger als 1000 Rubel (rund 40 US-$) pro Familienmitglied.