7. Entstehung staatlicher und privater Medienimperien a) Fernsehen: Vorrangstellung des Staates Die
Wirtschaftskrise, die sich seit 1992 zusehends verschärfte, führte
dazu, dass immer mehr private Geschäftsleute und Großbanken in den
Markt der Massenmedien drängten. Der Kampf um wirtschaftlichen und
politischen Einfluss verstärkte sich. Der Besitz einer in Moskau
erscheinenden Zeitung wurde für einige vermögende Geschäftsleute zur
Prestigefrage. Auch das Fernsehen wurde schnell zum Investitionsprojekt
für wirtschaftliche und politische Zwecke. In Rußland gab es 1997
bereits über 600 private Fernsehstationen mit Sendelizenz.[1]
Privatleute, Unternehmen und Bankengruppen haben sich zu
"Medienmagnaten" und "Medienimperien" entwickelt,
die bei Fernsehsendern und Zeitungen durch ihre wirtschaftlichen
Beteiligungen beträchtlichen Einfluss ausüben können. Der Zeitungs-
und Zeitschriftenmarkt ist hierdurch zweifellos pluralistischer geworden
und hat die staatliche Einflussnahme und Kontrolle sehr erschwert, wenn
nicht sogar unmöglich gemacht.[2]
Der TV-Markt ist dagegen nicht im gleichen Ausmaß privatisiert und
"demokratisiert" worden. Das
Staatsfernsehen hat trotz teilweiser Privatisierung seine
Vorzugsstellung unter den elektronischen Massenmedien noch immer nicht
eingebüßt. Nach dem Scheitern des Putsches im August 1991 wurde das
sowjetische „Zentrale Fernsehen” in die staatliche
Fernsehgesellschaft „Ostankino” umgewandelt. Der zweite Kanal wurde
ganz der rußländischen Fernsehgesellschaft VGTRK[3]
bzw. dem zweiten Programm RTR zur Verfügung gestellt. Der „5. Kanal
St. Petersburg” avancierte zum dritten staatlichen Fernsehprogramm.
Die drei genannten Fernsehprogramme befinden sich bis heute unter
staatlicher Kontrolle, obgleich sie weit weniger Mittel aus dem
Haushaltsbudget erhielten, als vorgesehen.[4]
RTR befindet sich zu 100% im staatlichen Besitz, und von „Ostankino”
ist dem russischen Staat nach der Umwandlung der staatlichen
Gesellschaft in die Aktiengesellschaft ORT[5]
ein Kontrollpaket von 51% geblieben. Der „5. Kanal St. Petersburg”
wurde zunächst aufgrund eines Präsidialdekrets staatlich und
strukturell dem zweiten Fernsehen (VGTRK) untergeordnet verlor dann 1997
den 5. Kanal an das VGTRK-Programm "Kultura". Die heutige OAO
"Fernsehgesellschaft Peterburg", bei der die Stadt St.
Petersburg die Mehrheit der Aktien hält, sendet nur noch in der
Petersburger Region. Die Moskauer Stadtregierung des Bürgermeisters J.
Lužkov kontrolliert hingegen mit "TV-Centr" ein eigenes überregionales
Fernsehprogramm (vgl. Anhang 3.). b) Sonderfall NTV (Unabhängiges Fernsehen) Im
Oktober 1993 gründeten bekannte Journalisten und ehemalige Mitarbeiter
des Informationsdienstes von „Ostankino” die private
Fernsehgesellschaft NTV, die mit den Mitteln der „MOST-Bank“ des
Unternehmers V. Gusinskij groß und mit unabhängigen Nachrichten- und
Informationssendungen ("Itogi") neuen Stils auch sehr
erfolgreich wurde. Heute ist NTV mit weit über 100 Mio. erreichbaren
Zuschauern und eigenen Satelliten das bedeutendste private Fernsehprogramm.
NTV gehört nach den Angaben von A. Kačkaeva zu etwa 70% V.
Gusinskij,[6]
der als Generaldirektor der "Media-Most"-Holding (Sender
"NTV" und "NTV-Plus",
Radio "Echo Moskvy", Zeitung
"Segodnja", Journal "Itogi" u.a.) einen bedeutenden
Teil des Marktes privater Massenmedien kontrolliert und damit über
großen politischen Einfluss verfügt. NTV
spielt unter den großen Massenmedien Rußlands eine Sonderrolle. Die
1997 geschaffene Media-Most-Holding ist aus der 1989 gegründeten
MOST-Gesellschaft hervorgegangen, einem vor allem im Bau- und Immobiliengeschäft
erfolgreichen Unternehmen. 1993 umfasste die MOST-Gruppe bereits 42
juristische Personen. Die MOST-Bank erhielt von Ju. Lužkov, dem Bürgermeister
der Stadt Moskau, den Status der von der Stadtregierung beauftragten
Bank Moskaus. Die Reichtümer, die die Most-Gruppe in den Jahren
1992-1994 durch begünstigte Immobiliengeschäfte und außerordentliche
staatliche Kredite anhäufte,[7]
bildeten den Grundstock des späteren Medienimperiums Gusinskijs. Erst
Ende 1994, als A. Koržakov, der damalige Leiter
der Präsidentengarde, mit aller Macht versuchte, die nach
dem wenig erfolgreichen staatlichen Privatisierungsprogramm von
1992-94 noch gewachsene Bedeutung der Stadt Moskau zu schmälern und mit
einer Razzia bei der MOST-Bank das Bündnis Lužkov-Gusinskij zu zerstören,
nahm der ungebremste Aufstieg der MOST-Gruppe ein Ende. Lužkov sah sich
gezwungen, die von Moskau so reichlich zu verteilenden Privilegien der
neugegründeten Munizipalbank Moskaus zu verleihen. Die
helfende Hand des Premierministers V. Černomyrdin und die
verdienstvolle Rolle des NTV-Senders im Präsidentschaftswahlkampf von
1996, den der erkrankte El´cin abermals aufgrund der „kommunistischen
Gefahr“ für sich entscheiden konnte, bescherten dem Sender wieder
staatliche Unterstützung und die ausschließlichen Rechte für den
vierten Fernsehkanal Rußlands. Seitdem jongliert der Sender NTV
zwischen der ihm zustehenden Aufgabe, ein modernes Massenmedium, das heißt,
eine die Tatsachen Rußlands ungeschönt darbietende Informationsquelle
zu sein, und der Notwendigkeit, sich mit den regierenden Kräften des
Landes zu arrangieren. Aufgrund der bemerkenswerten finanziellen Selbständigkeit
der Media Most-Holding war es Gusinskij lange Zeit gestattet, eine für
Rußland gänzlich unpassende Medienphilosophie zu vertreten: Wir senden
nur das, was unser Rating fördert. Eigentlich bedeutet die Befolgung
dieses Grundsatzes für jedes russische Fernsehprogramm das sichere
Todesurteil, es sei denn, es heißt „NTV“. Besonders
hervorzuheben ist außerdem, dass die "Media-Most"-Holding
etwa im Vergleich zur ORT, wo die Beteiligungsverhältnisse der privaten
Anteilseigner sich öfter änderten und der Einfluss einzelner Aktionäre
überproportional groß ist, eine relativ durchsichtige Struktur
aufweist und dem westlichen Modell des gewinnorientierten und möglichst
unabhängigen Medienunternehmens am nächsten kommt.[8]
Ein Blick auf die weiteren Medienimperien (Stand: Frühjahr 1998, d.h.
vor der Abwertung des Rubel und der folgenden Banken- und
Finanzkrise) bestätigt diese Aussage. Die
sogenannte „Vierergruppe”[9]
unter der Führung von B. Berezovskij hielt Beteiligungen an ORT
(insgesamt 46 %), TV-6 (37 %) und einigen Zeitungen ("Nezavisimaja
gazeta", "Novye izvestija"). Boris Abramovič
Berezovskij ist Professor und Firmengründer der Aktiengesellschaft
LogoVAZ, die sich beim Autohersteller AvtoVAZ, bei Aeroflot, in der Erdölindustrie
und im Medienbereich engagierte. Außerdem ist er seit 1994 Erster
Stellvertretender Vorsitzender des Direktorenrats der ORT und seit 1995
dessen Vorsitzender gewesen. Nach der Wahlkampagne von 1996 agierte er
ungefähr ein Jahr lang als Stellvertretender Sekretär des
Sicherheitsrates und im April 1998 wurde er zum Exekutivsekretär der
GUS ernannt. Dieses Amt bekleidete er bis Februar 1999. Als "ebenso
umtriebiger wie intellektuell brillanter und phantasievoller
Finanzjongleur, der Geschäft und Politik klug zu verbinden weiß",
aber, soweit erkennbar, mit LogoVAZ "keine klare
Unternehmensstrategie" verfolgt,[10]
vertritt Berezovskij eine neue Spezies russischer Geschäftsleute.
Sein Engagement im Medienbereich ist lediglich ein nützlicher
Bestandteil seiner Geschäftspolitik, die vor allem darin besteht,
gewinnbringende Beziehungen zu knüpfen (Einzelheiten zu Berezovskij im
achten Kapitel, 2. h). Der
Konzern „Gazprom” erwarb Aktien von NTV (30 %) und ORT (3 %) und
unterstützte u.a. die Zeitungen „Trud” und "Rabočaja
tribuna". Die bankgeführte Gruppe „ONEKSIM” (V. Potanin) besaß
Radio „Evropa Plus”, die Informationsagentur „Prajm”, „RTV
signal” und verfügte über wirtschaftlichen Einfluss bei den
Zeitungen „Komsomol´skaja pravda”, „Izvestija" (51 %),
"Russkij Telegraf" und „Nedelja” sowie beim
Wirtschaftsmagazin "Ekspert". Der Mineralölkonzern
"Lukojl" hielt Anteile am Fernsehsender TV-6 (20 %), an REN-TV
(75 %) und an der "Izvestija" (49 %). Weitere bankgeführte
Gruppen wie "MENATEP" und "SBS-Agro" verfügten
gleichfalls, wenn auch in geringerem Umfang, über Beteiligungen an
Fernsehgesellschaften und Zeitungen. Für diese Mediengruppen, die
sich bei vielen Massenmedien einen mehr oder weniger großen Einfluss
gesichert hatten und ihre finanziellen Beteiligungen mal vergrößerten,
mal verringerten, bestand offenbar neben dem rein wirtschaftlichen
Interesse am Aufbau eines erfolgreichen Medienunternehmens vor allem das
besondere politische Interesse, ein Programm oder eine Zeitung
beeinflussen zu können. Zu
den Massenmedien, die eine relativ eigenständige Informationspolitik
betreiben konnten, zählte die russische Medienexpertin A. Kačkaeva
Anfang 1998 kaum mehr als eine Handvoll von Zeitungen, Zeitschriften und
Verlagsgesellschaften (insbes. „Kommersant”, „Argumenty i
Fakty”, „Moskovskij Komsomolec”, „Soveršenno sekretno”,
„Ekonomičeskaja gazeta” und „Independent Media”).[11]
Insgesamt gesehen offenbaren die Beteiligungsverhältnisse der
russischen Massenmedien ein großes Ausmaß an Verbindungen zwischen
Politik und Wirtschaft. Ein starker, wirtschaftlich und politisch
weitgehend unabhängiger privater Sektor hat sich bisher noch nicht
herausgebildet. Selbst NTV war wiederholt auf staatliche Hilfestellungen
angewiesen. c) Image des Fernsehens als Propagandainstrument Auf den elektronischen Massenmedien lastet immer noch die Vergangenheit des sowjetischen Einheitsstaats. Weder der reformwillige Generalsekretär der KPdSU M. Gorbačev noch der erklärte Radikalreformer und Demokrat B. El´cin haben hieran etwas geändert. Das russische Fernsehen wird von vielen als unentbehrliches Machtinstrument angesehen, das von der politischen Führung des Landes niemals aus der Hand gegeben werden sollte.[12] Jahrzehntelang galt der spritzenförmige Ostankino-Fernsehturm als Sinnbild täglicher ideologischer Injektionen der Parteipropaganda. Auch nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft hielt sich bei vielen Politikern die überkommene Vorstellung, dass die Fernsehzuschauer nach dem Schema Impuls - Reflex passiv reagieren und durch Sendungen direkt beeinflusst werden können.[13] Die zunehmend mit westlichen Manipulationstechniken ausgestattete Werbung kann den Glauben an die Allmacht des Fernsehens nur zusätzlich bestärkt haben. Der überraschende Erfolg V. Žirinovskijs bei den Wahlen von 1993, die kritische Fernsehberichterstattung über den Tschetschenien-Krieg im Jahr 1995 und die fast einmütige Wahlkampagne aller großen Fernsehprogramme zugunsten B. El´cins im Präsidentschaftswahlkampf von 1996[14] haben bewiesen, dass die politische Bedeutung des Fernsehens in Rußland gar nicht überschätzt werden kann. Staatliches und privates Fernsehen sind gleichermaßen zu wichtigen politischen Akteuren der post-kommunistischen Präsidialdemokratie geworden. Sowohl die Reformgegner aus der mächtigen, konservativen Staatsbürokratie als auch die Anhänger der politisch und wirtschaftlich progressiven Reformpolitik B. El´cins haben in den letzten Jahren oft versucht, die Presse- und Meinungsfreiheit einzuschränken - die einen, um die Reformen zu stoppen, die anderen, um sie nicht zu gefährden. [1]
Vgl. I. Sigal (1997), Obzor RTV, Kapitel IV. [2]
Vgl. P. Hübner (1998), Pressefreiheit in Rußland - Großaktionäre
als Zensoren? S. 5 / 6. [3]
Vserossijskaja gosudarstvennaja teleradiokompanija (VGTRK) oder
Gesamtrußländische Staatliche Fernseh- und Rundfunkgesellschaft. [4]
Vgl. I. Sigal (1997), Obzor RTV, Kapitel III: RTR erhielt 1996 nur
30% der versprochenen Mittel. [5]
Obščestvennoe rossijskoe televidenie (ORT) oder Öffentliches
Rußländisches Fernsehen. [6] A. Kačkaeva (1998), Rossijskie imperii SMI, S. 24. [7]
A. Golovkov, Tot samyj Gusinskij, Zurnal „Delo“ N 37,
28.10.1997. [8]
Vgl. Redaktion der Zeitschrift Žurnalist Juni 98, S. 21. [9]
Vgl. A. Kačkaeva (1998), Rossijskie imperii SMI, in: urnalist
Juni 1998, S. 22 / 23: An dem Bankenkonsortium waren die Banken
MENATEP-Rosprom-Juksi, SBS-Agro und Alpha-Bank beteiligt. [10]
H.-H. Schröder (1998), Jelzin und die "Oligarchen",
Materialien zum Bericht des BIOst 40/98, S. 25. [11] A. Kačkaeva (1998), aaO. S. 23. - Zu ergänzen ist z.B. die
relativ unabhängige, aggressiv berichtende Tageszeitung
"Novaja gazeta". [12]
Vgl. D. Dondurej, Narod ugovorili ne vstavat´ s kolen, in: Izvestia
5.8.98, S. 3, mit seinem Plädoyer für regierungsgelenkte positive
Berichterstattung. [13]
Vgl. E. Mickiewicz (1997), aaO. S. 28: Frühe Untersuchungen der
70er Jahre bewiesen das Gegenteil. [14]
Vgl. zum Wahlkampf Y. Lange (1997), Media in the CIS, S. 173; E.
Mickiewicz, aaO. S. 171 ff.; D. Sager (1998), aaO. S. 292 ff.
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