III. Verfassungsrechtliche Freiheitsgarantien der Massenmedien 1. Einleitung a) Beitritt zur Satzung des Europarats Das
Gesetz der UdSSR "Über die Presse und andere Mittel der
Masseninformation" vom 12. Juni 1990 und sein republikanischer
Nachfolger, das Gesetz der RF "Über die Massenmedien" vom 27.
Dezember 1991, verkündeten schon einige Jahre vor der Annahme der neuen
rußländischen Verfassung die Freiheit des Wortes, der Presse und
aller übrigen Massenmedien sowie die Gründungsfreiheit und das
Zensurverbot. Diese gesetzlichen Freiheitsrechte sind in der Verfassung
der RF vom 12. Dezember 1993 durch entsprechende, wenn auch erheblich
knapper gefasste verfassungsrechtliche Freiheitsgarantien ergänzt und
verstärkt worden. Ungeachtet ihrer besonderen Entstehungsgeschichte[1]
gilt die neue Verfassung heute den Bürgern der RF als "Oberstes
Gesetz" (Osnovnoj Zakon), das zur Durchsetzung ihrer individuellen
Rechte und Freiheiten höchste Rechtskraft besitzt und vor allen übrigen
Gesetzen und Rechtsakten der RF Vorrang hat. Zudem unterzeichnete die RF
am 28. Februar 1996 die Satzung des Europarats. Die Staatsduma stimmte
mit nur elf Gegenstimmen dem Beitritt zu; die Hinterlegung der
Ratifikationsurkunde erfolgte am 5. Mai 1998. Damit erkennt die RF als
39. Mitgliedsstaat des Europarats nicht nur die Verpflichtungen der
Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten (EMRK) an, sondern sie unterwirft sich auch der
Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofes und der Auslegung der EMRK,
die durch dieses Gericht bisher vorgenommen wurde.[2]
Zugleich übernimmt die RF die Verpflichtung, ihre Gesetzgebung mit den
Vorgaben der Konvention in Übereinstimmung zu bringen. Die
Rußländische Verfassung von 1993 geht über den Wortlaut der EMRK vom
4. November 1950 beträchtlich hinaus. Anders als das einheitliche
Kommunikations-Menschenrecht des Art. 10 Abs. 1 EMRK sichert Art. 29
Verf RF ausdrücklich auch den Massenmedien Freiheit zu. Die Verfassung
der RF enthält außerdem ein generelles Verbot der Vorzensur und gewährleistet
im Rahmen der Informationsfreiheit nicht nur das Recht, Informationen zu
empfangen, sondern auch, sie zu suchen bzw. zu beschaffen.[3]
Die
Durchsetzbarkeit dieser Grundrechte wurde im Sommer 1994 durch die
Verabschiedung eines neuen Verfassungsgerichtsgesetzes verbessert.
Danach besteht zugunsten des Grundrechtsschutzes die Möglichkeit, im
Wege der individuellen Verfassungsbeschwerde die Verfassungsmäßigkeit
von Gesetzen überprüfen zu lassen.[4]
Nach der vorübergehenden Aussetzung seiner Tätigkeit nahm das
Verfassungsgericht der RF Anfang 1995 seine Rechtsprechung wieder auf.
Im Mai 1998 wurde außerdem ein neuer Menschenrechtsbeauftragter
ernannt, der Staatsrechtler O. Mironov (KPRF). Mit der Neubesetzung
dieses Amtes (vgl. Art. 103 Abs. 1 e) Verf RF) hat die Staatsduma eine
nicht unwichtige Ergänzung zum bestehenden Rechtsschutzsystem
geschaffen. b) Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu Art. 29 Verf RF Zunächst
sind die für den Bereich der Massenmedien relevanten Verfassungsartikel
darzustellen. Nähere Ausführungen des Verfassungsgerichts über den
Grundrechtsgehalt des Art. 29 Verf RF existieren bisher nicht. Das
Verfassungsgericht der RF fällte in den Jahren 1992 - 1997 genau 86
Entscheidungen, von denen nur etwa die Hälfte grundrechtliche Fragen zu
klären hatten.[5]
Keine dieser Entscheidungen erging aufgrund einer Auslegung des Art. 29
Verf RF und bestimmte näher dessen Regelungsgehalt oder Schutzbereich.[6]
Auch im Jahr 1998 erging keine erläuternde Entscheidung des
Verfassungsgerichts zu Art. 29 Verf RF. Die "Gerichtliche Kammer für
informationelle Streitigkeiten beim Präsidenten der RF" ersetzt
indessen nicht die Verfassungsrechtsprechung. Da sie ein außerhalb der
Rechtsprechung stehendes staatliches Aufsichtsorgan ist, erlangen ihre
Beschlüsse, Empfehlungen und Gutachten keine bindende Rechtskraft
(siehe oben zweites Kapitel 6. e). Aus diesen Gründen trägt auch die
Kommentarliteratur wenig zur Klärung der grundrechtlichen Fragen im
Zusammenhang mit den Massenmedien bei. Die einschlägigen
Verfassungskommentare beschränken sich in der Regel darauf, die
wichtigsten gesetzlichen Bestimmungen zu erläutern, die mit Art. 29
Verf RF im Zusammenhang stehen, ohne inhaltliche und systematische
Präzisierungen hinsichtlich des Grundrechts selbst zu machen.[7] Für die vorliegende Darstellung erscheint es daher zweckmäßig, die in Art. 29 Verf RF enthaltenen Freiheitsrechte in Bezug zu weiteren grundlegenden Verfassungsvorschriften zu setzen und so ihren Inhalt und ihre Wirkung näher zu bestimmen. Erst in den nächsten Kapiteln ist näher auf den Regelungsgehalt der Mediengesetze einzugehen: Auf das Gesetz der RF "Über die Massenmedien", das Gesetz der RF "Über Information, Informatisation[8] und den Schutz der Information", das Gesetz der RF "Über die Ordnung der Berichterstattung über die Tätigkeit staatlicher Organe durch die staatlichen Massenmedien" usw. Der Überblick über den Inhalt der Verfassungsbestimmungen dient dabei als Grundlage der weiteren Untersuchung. [1]
Vgl. zweites Kapitel Nr. 6 d). - Nach den Ereignissen vom 3. / 4.
Oktober 1993 trat eine verkleinerte Verfassungsversammlung zusammen,
um den im Juli 1993 ausgearbeiteten Text ihrer Vorgängerin
zugunsten der präsidentiellen Vollmachten nochmals zu überarbeiten.
Die grundrechtlichen Bestimmungen des Juli-Entwurfs wurden jedoch
nahezu unverändert in die Verfassung vom 12. Dezember 1993
aufgenommen. Art. 29 Verf RF wurde bezügl. des Propagandaverbots
(Abs. 2) ergänzt. Vgl. P. Häberle, Dokumentation von
Verfassungsentwürfen und Verfassungen ehemals sozialistischer
Staaten in (Süd-) Osteuropa und Asien, Draft Constitution of the
Russian Federation, approved by the Constitutional Assembly on 12th
July 1993, S. 422 ff. [2]
Vgl. aber RIA Novosti vom 21. Juni 1999 (16:32): Die Verhandlung des
Falles Nikitin vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg war
vorerst nicht möglich, weil noch kein Vertreter Rußlands für das
Richterkollegium vorgeschlagen worden war. Wie der Vorsitzende des
Gerichts mitteilte, waren zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 2000
Klagen russischer Bürger eingegangen und 401 davon zur weiteren
Verhandlung angenommen worden. [3]
Art. 10 Abs. 1 EMRK vom 4.11.50: "Jeder hat Anspruch auf freie
Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung
und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von
Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und
ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt
nicht aus, daß die Staaten Rundfunk-, Lichtspiel- oder
Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen." -
Vgl. P. M. Probst (1996), Art. 10 EMRK - Bedeutung für den Rundfunk
in Europa, S. 24 - 26: Probst bezeichnet die Freiheit der
Informationsbeschaffung, das Zensurverbot und die Pressefreiheit
gleichwohl als ungeschriebene, jedoch notwendige Bestandteile des
Art. 10 Abs. 1 EMRK. [4]
Föderales Verfassungsgesetz (Federal´nyj konstitucionnyj zakon,
siehe Art. 108 Verf RF) vom 23. Juli 1994. Text in deutscher Übersetzung:
M. Hartwig, EuGRZ 1996, 219 ff. Zur Verfassungsbeschwerde: Art. 96 -
100 dieses Gesetzes. [5]
V. A. Krjažkov / L. V. Lazarev (1998), Konstitucionnaja justicija v
RF, S. 283 (im Anhang Liste der Verfassungsgerichtsentscheidungen
von 1992 - 1997). Vgl. auch den Sammelband von
Verfassungsgerichtsentscheidungen: T. G. Morščakova, otv. red.
(1997), Konstitucionnyj Sud Rossijskoj Federacii, Postanovlenija,
opredelenija 1992 - 1996. [6]
Vgl. zu den Gegenständen der bisherigen Verfassungsrechtsprechung
A. Nußberger (1998), Die Grundrechte in der Rechtsprechung des
russischen Verfassungsgerichts, Ausgewählte Entscheidungen aus den
Jahren 1995 bis 1997, in: EuGRZ 98 / 105 ff. [7]
Vgl. Kommentierungen zu Art. 29 Verf RF in: Kommentarij k
Konstitucii RF, Izd. 2-e (1996), glavnyj red. L. A. Okun´kov, S.
112 - 117 (A. S. Pjatkina); Konstitucija RF - Naučno-praktičeskij
kommentarij (1997), pod red. B. N. Topornin, S. 231 - 238 (E. A.
Lukaševa); Naučno-praktičeskij kommentarij k Konstitucii
RF (1997), Kollektiv avtorov / pod red. V. V. Lazarev, S. 134 - 140 (A. E. Kozlov).
Vgl.
auch das Lehrbuch von M. V. Baglaj / B. N. Gabričidze (1996),
Konstitucionnoe pravo RF, S. 182 - 189. [8]
Für das russische Substantiv "informatizacija" gibt es
keine entsprechende Übersetzung ins Deutsche, daher wurde das Wort
"Informatisation" gewählt.
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