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5. Bedeutung der Zensur für die Kontrolle der Massenmedien

 

In den zwanziger Jahren gab es in der Sowjetunion zwar keine Pressefreiheit, andererseits genossen die Journalisten der frühen bolschewistischen Massenmedien aber ein Maß an schriftstellerischer Freiheit, das später so nicht mehr wiederkehren sollte. Um die verheerenden Folgen des Kriegskommunismus (1917-21) zu mildern, gestand man der Bevölkerung in der Phase der Neuen Ökonomischen Politik wieder ein gewisses, wenn auch begrenztes Maß an wirtschaftlicher Eigenständigkeit zu. Innerhalb der kommunistischen Partei existierten damals noch einige grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten, und der Kampf um die Nachfolge Lenins hatte gerade erst begonnen. In dieser Zeit kannten die Redakteure kaum detaillierte Vorschriften über die Art der Informationen, die zu veröffentlichen waren.[1] Die Parteikontrolle wurde oft nur sehr oberflächlich gehandhabt, und die Beamten der Zensurbehörde "Glavlit" stießen in vielen Bereichen auf Geringschätzung und Spott.[2]

 

Diese Schonfrist war jedoch bald zu Ende, als Stalin damit begann, die Verwaltung der Sowjetunion in die Hände zu nehmen. Zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution, dem 7. November 1927, legte er ein Programm zur radikalen Kollektivierung der Bauern und zur forcierten Industrialisierung des Landes in großem Maßstab vor. Der XV. Parteitag nahm die Vorschläge an und gab der Staatlichen Plankommission den Auftrag, den Ersten Fünfjahresplan (1928-32) für die gesamte Volkswirtschaft der Sowjetunion auszuarbeiten. Die ehrgeizigen Pläne Stalins verlangten nach einer neuen Generation bolschewistischer Massenmedien. Für die soziale und wirtschaftliche Revolution, die nun in Angriff genommen werden sollte, benötigte man Zeitungen und Radioprogramme, die die Massen entschieden mobilisierten, die "ökonomische Umerziehung" vorantrieben und zugleich als Kontrollinstrumente für die Einhaltung des Fahrplans und die Entdeckung seiner vermutlichen und wirklichen Gegner zu gebrauchen waren. Die offizielle Anerkennung und Reorganisation der Zensurbehörde "Glavlit", die durch eine neue Aufgabenteilung und die Entsendung von "Bevollmächtigten" in die Verlagshäuser, Radiosender und Nachrichtenagenturen eine effektivere Kontrolle gewährleisten sollte, war zugleich Ausdruck der umfassenden Bürokratisierung.[3] Zur täglichen Arbeit der "Bevollmächtigten" schreibt Buzek:

 

"Die Zensoren hielten sich an ein Geheimbulletin mit vertraulichen Vorschriften und an einen Index, genannt `Perechen´, der alle zu zensurierenden Punkte enthielt.[4] Dieser Index wurde ständig überprüft und ergänzt. Während der Ära Stalin war die Zensur des `Glavlit´ schwer zu befriedigen. Im Redaktionsstab jeder Zeitung saßen mindestens zwei Zensoren, die die Korrekturbögen vor dem Umbruch prüften und insbesondere darauf achteten, dass Einheiten der Sowjetarmee nie mit ihren Nummern, ihre Garnisonsstädte nie beim Namen genannt wurden, und jede Information über Maßnahmen der nationalen Verteidigung und über geheime Erfindungen ausmerzten. Die Zensur ging so weit, dass sogar Angaben über Produktionskapazitäten und Anzahl der Arbeitskräfte in Fabriken unterdrückt wurden. Auch jede Illustration wurde vor der Veröffentlichung von den Zensoren geprüft auf irgendwelche Zeichen, die als konterrevolutionäres Symbol oder gar als Hakenkreuz gedeutet werden konnten, oder darauf, ob ein Parteiführer mit verzerrtem Gesicht erschien oder irgend etwas, was das kommunistische System lächerlich machen oder die Staatssicherheit gefährden konnte. Natürlich untersuchten sie auch jeden Text und jede Legende, um politisch unerwünschte Anspielungen zu entdecken." [5]

 

Das Zitat veranschaulicht die Zweischneidigkeit der staatlichen Vorzensur. Einerseits konnte man immer auf den unumgänglichen Schutz der Staatsgeheimnisse und die Gewährleistung der staatlichen Sicherheit verweisen. So fungierte die Zensurbehörde später unter der Bezeichnung "Hauptverwaltung des staatlichen Komitees für Pressewesen beim Ministerrat der UdSSR für den Schutz von Staatsgeheimnissen in der Presse", wobei sich ihre Aufgabenstellung aber nicht wesentlich änderte und der alte Name "Glavlit" noch lange gebräuchlich blieb.[6] Andererseits war die behördliche Vorzensur zu keiner Zeit darauf beschränkt, die Verzeichnisse abzuhaken und zuvor festgelegte Gegenstände des Geheimnisschutzes und der staatlichen Sicherheit aus der Berichterstattung auszunehmen. Erstens konnten die besagten Verzeichnisse täglich erneuert und um politische Tabuthemen ergänzt werden, zweitens gab es neben diesen Indices immer auch behördliche Vorschriften hinsichtlich des korrekten Stils, der äußeren Gestaltung und der offiziellen Parteilinie, und drittens existierten noch die bereits erwähnten sowjetischen Parteibeschlüsse über das Pressewesen, die die täglichen Instruktionen der Regierungsstellen mit ideologischen und politischen Richtlinien ergänzten. In einem solchen ideologisierten System der Lenkung der Massenmedien durch Partei- und Regierungsorgane musste jede formale Kontrolle von Texten zugleich zur Inhaltskontrolle werden. Die allgemeine Neigung, aus jeder Nachricht, und sei sie auch noch so profan, ein Politikum zu machen, veranlasste Angestellte der Agitations- und Propagandaabteilungen der Partei wie behördliche Zensoren der Hauptverwaltung und ihre "Bevollmächtigten" dazu, die Texte unter allen Gesichtspunkten zu lesen.

 

Vielleicht war die staatliche Vorzensur nicht das wichtigste Element der Partei- und Staatskontrolle über die Massenmedien. Ihre tatsächliche Bedeutung schwankte im Verlauf der sowjetischen Geschichte. Die Periode der Neuen Ökonomischen Politik und die Zeit der Entstalinisierung bzw. des "Tauwetters" unter N. S. Chruščev[7] können als Phasen der allgemeinen innenpolitischen Entspannung bezeichnet werden, in denen die Pressezensur lediglich mit vermindertem Druck ausgeübt wurde. Zudem war ihr praktischer Nutzen für die kommunistische Parteiherrschaft, die ihr ideologisches Fundament behaupten und stärken wollte, nur begrenzt. A. Buzek spricht im Hinblick auf die doppelte Aufgabe des Parteisystems, erstens durch gezielte Propaganda und Agitation positive Inhalte zu vermitteln und zweitens durch umfassende Kontrolle die Verbreitung negativer Nachrichten zu verhindern, von einem besonderen Lenkungs- und Überwachungssystem. Nach seinen Worten stand die Zensur als staatliche, bürokratische Einrichtung "zuunterst in der Hierarchie der Kontroll- und Überwachungsmittel." [8] Diesem Standpunkt folgte auch H. Koschwitz:

 

"In der Stalinära übte Glavlit eine strenge Überwachung aller Publikationen aus und kümmerte sich selbst um geringfügige Details. Heutzutage hingegen sieht dieses Amt seine wichtigste Aufgabe darin, alle die Staatssicherheit betreffenden Informationen nicht in die Publizistik gelangen zu lassen. Schon aus diesem Grunde ist seine Auflösung unwahrscheinlich, solange die Staatsführung von der militärischen Bedrohung des Landes überzeugt ist und solange eine echte innenpolitische Liberalisierung unmöglich ist. Im Prinzip wäre allerdings auch ohne die Institution des Glavlit die Einflussnahme der Partei auf die Presse fraglos gesichert." [9]

 

Und R. Paasilinna stellte der technischen Kontrolle des KGB, der Zensurbehörde "Glavlit" und der verschiedenen Sicherheitsbehörden die politische und ideologische Kontrolle der Partei gegenüber und gelangte zu der Auffassung, dass die Selbstzensur der Journalisten "eines der wichtigsten, vielleicht das entscheidende Element der Kontrolle" gewesen sei. Die Korps der Journalisten bestanden zum überwiegenden Teil aus Parteimitgliedern, die an der "ideologischen Frontlinie" arbeiteten und zur Selbstdisziplin und Subordination verpflichtet waren.[10]

 

Die Selbstzensur der Journalisten war jedoch nichts anderes als die indirekte Wirkung der Vorzensur. Die Möglichkeit, zensiert zu werden, schwebte wie ein Damoklesschwert über den Journalisten und Redakteuren. Bezieht man außerdem auch die vielen unveröffentlichten Autoren in die Betrachtung mit ein, für die die Vorzensur zusammen mit der fehlenden Gründungsfreiheit und dem staatlichen Monopol an Druckereien und Papier eine glatte Ausschlusswirkung hatte, dann wird die formale Kontrolle der Zensurbehörde "Glavlit" zum unabdingbaren Bestandteil des totalitären Systems. Auch im Nachhinein gesehen scheint die staatliche Vorzensur einer der Grundpfeiler der Herrschaft der KPdSU gewesen zu sein. Die gesetzliche Abschaffung der Vorzensur und die Einführung der Gründungsfreiheit im Jahr 1990 hatte großen Einfluss auf die Qualität der politischen Berichterstattung und brachte eine ungeheure Anzahl neuer, staatlich unabhängiger Massenmedien hervor.[11] Das Kontrollelement der Vorzensur hatte also, obgleich es später nicht mehr so auffiel und ein wenig in den Hintergrund trat, einen entscheidenden Anteil an der ungestörten Entwicklung des ideologisierten Einparteiensystems. Es war eine unerlässliche Vorbedingung für das Walten und Schalten der weiteren Kontrollinstanzen und die parteigelenkte Überwachung der Massenmedien. Ebenso, wie die uneingeschränkte Herrschaft der kommunistischen Partei einen Verfassungsartikel voraussetzte, in dem der Führungsanspruch der Partei festgeschrieben wurde, erforderte die Organisation der parteigelenkten Massenmedien das Fehlen eines verfassungsrechtlichen Verbots der staatlichen Vorzensur.

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[1] Vgl. A. Buzek (1965), Die kommunistische Presse, S. 141.

[2] Vgl. A. Buzek (1965), Die kommunistische Presse, S. 171.

[3] Vgl. Postanovlenie Politbjuro CK VKP o rabote glavlita, 5. September 1930 (strogo sekretno); Postanovlenie SNK RSFSR o reorganizacii glavnogo upravlenija po delam literatury i izdatel´stv (glavlita), 5. Oktober 1930. Beide Beschlüsse sind enthalten in: T. M. Gorjaeva (1997), Istorija političeskoj cenzury. Dokumenty i kommentarii, S. 54 - 57.

[4] Dieser "Index der Informationen, die nicht in der Presse zu veröffentlichen sind", enthielt mehrere Sektionen mit verschiedenen Informationsarten, deren Mitteilung grundsätzlich einer speziellen Genehmigung der Regierung bedurfte. Vgl. L. Vladimirov (1972), Glavlit: How the Soviet Censor Works, in: Index on Censorship autumn/winter `72, vol.1, No.3/4, S. 31 (39/39).

[5] A. Buzek (1965), Die kommunistische Presse, S. 171 / 172.

[6] Vgl. L. Vladimirov (1972), aaO. S. 32: Die Bezeichnung `Glavlit´ blieb `halb-offiziell´ bei der täglichen Arbeit der Kontrollorgane weiter im Gebrauch.

[7] Als Tauwetter wurde die Zeit der Entstalinisierung in der sowjetischen Literatur bezeichnet, die mit der Absetzung N. S. Chruščevs im Oktober 1964 zu Ende ging. I. G. Ehrenburgs Roman "Tauwetter" (russ. Ottepel´) von 1954 gab der Zeit ihren Namen, weil er mit seiner Berufung auf die Autonomie des Künstlers zu einer Aufbruchstimmung unter den Schriftstellern führte und einen Anstoß für die anklagende, die Menschenrechte betonende Literatur gab.

[8] A. Buzek (1965), Die kommunistische Presse, S. 136. Ebenso B. McNair (1991), Glasnost, Perestroika and the Soviet Media, S. 49/50.

[9] H. Koschwitz (1971), Pressepolitik und Parteijournalismus in der UdSSR und in der VR China, S. 68.

[10] R. Paasilinna (1995), Glasnost and Soviet Television, S. 43 / 44.

[11] Vgl. R. P. Ovsepjan (1996), Istorija novejšej otečestvennoj žurnalistiki, S. 164 und 172 - 174: Die informelle, alternative Presse erreichte in der ersten Hälfte des Jahres 1989 ihren Höhepunkt. Nach der Verabschiedung des Gesetzes "Über die Presse und andere Mittel der Masseninformation" nahm die Zahl der ordentlich registrierten Ausgaben rasch zu; es formierten sich zugleich neue politische Parteien.