b) Klagen und Prozesse: Tendenz zu weniger Gewalt (Ratinov / Efremova) Der
Bericht von A. R. Ratinov und G. C. Efremova mit dem Titel
"Massenmedien in Rußland, Gesetze, Konflikte,
Rechtsverletzungen" stellt die Untersuchungsergebnisse des
Monitorings des "Fonds zum Schutz der Glasnost´" (FZG)
für 1997 vor.[1]
Es werden die Gesetzgebungsinitiativen der Staatsduma,[2]
die Konflikte der Journalisten und Redaktionen mit Privaten und
staatlichen Stellen sowie die unterschiedlichsten Rechtsverletzungen
geschildert, und zwar sowohl gegen die Massenmedien gerichtete und auch
von ihnen selbst begangene. Die oben erwähnten, sehr allgemein
gehaltenen Aussagen des Journalistenverbands über den kritischen
Zustand der Massenmedien finden hier ihre Bestätigung. Die Fülle der
aufgrund des Monitorings zusammengetragenen Fälle und
zusammengestellten Daten belegt, dass die verfassungsmäßigen Rechte
der Journalisten zwar größtenteils im Gesetz ihren Ausdruck gefunden
haben, in der Wirklichkeit aber gerne missachtet werden. Für
die Journalisten, die in den Regionen Rußlands arbeiten, scheint
bislang der Grundsatz zu gelten, dass sie in einem Konflikt mit örtlichen
Machthabern und Behörden ihre Rechte nur dann durchsetzen können, wenn
sie den Weg bis in die höchste, den Gerichten des betreffenden
Verwaltungsgebiets ferne Instanz nicht scheuen. Dort, in Moskau, wird
ihnen nicht selten ihr Recht zugesprochen. Vor den Provinzgerichten sind
dagegen Rechtsverkürzungen und glatte Rechtsverdrehungen an der
Tagesordnung; zu beklagen ist die häufige Vertuschung oder schlichte
Untätigkeit der örtlichen Strafverfolgungsbehörden anlässlich der Übergriffe
gegen die Redaktionen von Zeitungen und Sendern. Bei der Rückkehr in
ihre Heimat stellen die Journalisten dann fest, dass ihnen und ihrer
Redaktion außer der lange ersehnten Genugtuung auch ein Berg von
Schulden geblieben ist. Der Aufwand der Rechtsverfolgung ist unter den
gegebenen Umständen unverhältnismäßig groß. Die Beschäftigung mit
Rechtsstreitigkeiten bringt in jedem Falle größere finanzielle Einbußen
für alle Beteiligten mit sich, und auch ein stattgebendes Urteil entschädigt
gewöhnlich nicht für die erlittenen Verluste: Wenn nicht rechtlich, so
doch in ökonomischer Hinsicht sitzen die Administrationen und lokalen
Geschäftsleute am längeren Hebel. In
der Regel klagen die Journalisten und Redaktionen aber nicht selbst,
sondern sie werden verklagt, und die Gerichte geben den Klägern in den
meisten Fällen Recht. Der Beruf der Journalisten scheint in Rußland im
allgemeinen nicht sehr angesehen zu sein, weder bei den öffentlichen
Stellen, noch bei den Bürgern.[3]
Sie können auf das freche Benehmen und den fehlenden Professionalismus
so mancher Journalisten verweisen, und der gestiegene Bedarf an
Skandalen und Enthüllungen leistet Entgleisungen von Journalisten in
gewisser Weise Vorschub. Das "Kompromat" ist inzwischen zum
unterhaltsamen literarischen Genre geworden,[4]
von dem viele Massenmedien leben. Die Verteidigung der Ehre ist ein
wichtiges politisches Thema, mit dem sich erfolgreich Politik machen lässt:
Das Komitee für Kultur der Staatsduma arbeitete ungeachtet der bereits
vorhandenen straf- und zivilrechtlichen Regelungen ein Gesetzesprojekt
aus, das wie eine amerikanische Deklaration zur Zeit der Französischen
Revolution klingt (A. Luk´anov) und die Bildungseinrichtungen,
Arbeitskollektive und Massenmedien dazu aufruft, gemeinsam die Ehre und
Würde der Bürger und des Vaterlandes zu retten.[5]
Die
Struktur der vor Gericht ausgetragenen Konflikte deutet aber darauf hin,
dass sehr oft versucht wird, kritische Journalisten einzuschüchtern
oder persönliche Rachegelüste zu befriedigen. Das Monitoring des FZG
erfasste nur einen Bruchteil der Verfahren. Der Rechtsanwalt A. Vojnov
nennt die Zahl von insgesamt 3.500 - 4.000 Zivilstreitigkeiten pro Jahr.[6]
Seit 1996 scheint sich diese Zahl stabilisiert zu haben, wobei der
Anteil der sogenannten Ehrenprozesse sich ständig erhöht hat. Nicht
nur Geschäftsleute, sondern auch Abgeordnete, Politiker und ganze Behörden
zogen vor Gericht und verklagten die Journalisten oder Redaktionen wegen
der Herabsetzung der Ehre, der Würde oder des geschäftlichen Rufes zur
Zahlung großer Geldsummen. Sowohl 1996 als auch 1997 rangierten diese
Prozesse deutlich an erster Stelle, noch vor den Klagen gegen die
Verletzung der Privatsphäre oder wegen der Verletzung von
Registrierungs- und Lizenzierungsregeln.[7] Schaubild
6
Die
Richter entschieden in zwei Dritteln der Fälle gegen die Journalisten,[8]
und sie verurteilten vielfach nicht nur zur Berichtigung von Tatsachen,
sondern auch zum verfassungswidrigen Widerruf von Meinungen oder zur
gesetzlich nicht vorgesehenen förmlichen Entschuldigung des
Journalisten bei dem in seiner Ehre verletzten Beamten oder Bürger.
Dabei war es anscheinend oft das vorrangige Ziel der Kläger, mit übertriebenen
Zahlungsverlangen zur Wiedergutmachung des erlittenen moralischen
Schadens die Vernichtung der Existenz des Journalisten zu bewirken. Das
Gesetz "Über die Massenmedien" scheint keine Handhabe gegen
diesen Missbrauch zu bieten; im Gegenteil - man wirft den Journalisten
vor, die Pressefreiheit zu missbrauchen (vgl. Art. 4 Gesetz "Über
die Massenmedien"). M.
Fedotov, Sekretär des Journalistenverbands Rußlands, prangerte diese
Schadensersatzprozesse als eine ökonomische Methode an, mit der sich
die freie Meinungsäußerung effektiver als mit staatlichen Kontrollen
unterdrücken lässt: "Eine solche Klage, die mit der Forderung
verbunden wird, den moralischen Schaden in Höhe von einigen Millionen
Rubeln wiedergutzumachen, stellt heutzutage den direkten Versuch dar,
die Freiheit der Massenmedien zu liquidieren." [9]
Die Behauptung ist nicht aus der Luft gegriffen, beteiligen sich an
diesem Spiel doch staatliche Organe, föderale Ministerien und
Gebietsadministrationen, indem sie geltend machen, ihr "geschäftlicher
Ruf" sei beeinträchtigt worden - obgleich bereits wiederholt
entschieden wurde, dass staatlichen Stellen, soweit sie nicht am
Privatverkehr teilnehmen, sondern öffentliche Aufgaben wahrnehmen, kein
geschäftlicher Ruf zu eigen sein kann.[10] Schaubild 7
Die
zweite Kategorie von Rechtsverletzungen, auf die die Autoren des
Berichtes "Massenmedien in Rußland, Gesetze, Konflikte,
Rechtsverletzungen" bei der Darstellung besonderes Gewicht
gelegt haben, betrifft das grundsätzliche Recht der Journalisten und
Redaktionen, zu Informationen freien Zugang zu erhalten. Neben der
zentralen Bedeutung dieses Grundrechts für die Verwirklichung der
Freiheit des Wortes und der Massenmedien war eine Ursache hierfür die
in letzter Zeit deutlich zu spürende Zunahme der rechtswidrigen
Zugangsbeschränkungen. Der Fonds zum Schutz der Glasnost´ verzeichnete
1997 doppelt so viele Fälle wie im Vorjahr.[11]
Die unbegründete Informationsverweigerung rangierte beim Monitoring
des FZG an zweiter Stelle, hinter den kriminellen Anschlägen und Übergriffen
auf Journalisten und Redaktionen, aber vor der Einmischung in die
professionelle Selbständigkeit der Redaktionen und der Behinderung der
Produktion und Verbreitung von Nachrichten.[12] Schaubild 8
Damit zeichnet sich insgesamt die Tendenz zu weniger Gewaltanwendung und zur Bevorzugung anderer, zivilisierterer Formen der Reaktion auf Presse- und Medienkritik ab - diesem Befund lässt sich auch positives entnehmen. Der Anteil der kriminellen Übergriffe hatte 1996 noch bei 46,9 % gelegen. Gleichwohl ist die Informationsverweigerung ein verhängnisvoller Eingriff in die Pressefreiheit, denn sie führt nach Ansicht der Autoren des Berichtes in einen Teufelskreis. Die für die Mitteilung von Informationen zuständigen Beamten geben ungern Fakten preis; sie verheimlichen Informationen oder dosieren die Veröffentlichung nach Belieben. Andererseits ziehen sie aber schnell vor Gericht, um die Journalisten für die Verdrehung von Tatsachen sühnen zu lassen. Ein Blick auf die Verletzungsarten des Rechts auf freien Zugang zur Information zeigt indessen,[13] dass die öffentlichen Stellen nicht unbedingt immer etwas zu verbergen haben, sondern dass dem Journalisten oft schon das generelle Besuchsverbot den Zugang zur Information abschneidet. Schaubild
9
Die
Begründungen, die für Informationsverweigerung im einzelnen gegeben
wurden, zeigten 1997 die wachsende Neigung zu korrekteren, damit
zugleich aber auch weniger angreifbaren Umgangsformen mit den
Massenmedien. Am weitaus häufigsten beruft man sich nach wie vor auf
die Notwendigkeit der Geheimhaltung einer Information. Danach folgt die
Begründung, die Administrations- oder Unternehmensleitung habe es
untersagt, überhaupt hierüber Informationen weiterzugeben, man habe
keine Zeit oder nicht die nötigen Mittel, die erwünschte Information
zu geben, es lägen nur unvollständige oder gar keine Informationen
vor, oder der Journalist werde die begehrte Information nur zum Nachteil
des Informanten oder der Behörde verwenden. Der Vergleich mit 1996
zeigt, dass eher unhaltbare Begründungen deutlich seltener geworden
sind. Häufiger werden dagegen Anspielungen auf eine gewisse Entschädigung
für die Mühe der Informationsvermittlung gemacht.[14]
Die
Autoren üben außerdem wie der Journalistenverband Rußlands daran
Kritik, dass die Gesetzgebung über den freien Zugang zur Information in
der Praxis kaum zur Durchsetzung der Informationsrechte beiträgt. Die
meisten Mitarbeiter der Massenmedien verhalten sich bei Konflikten mit
Staatsorganen und Behörden ausgesprochen passiv und defensiv. Den
Autoren sei kein einziger Fall bekannt geworden, in dem ein Journalist
die Informationsverweigerung vor Gericht angefochten habe.[15]
Eine Umfrage der "Kommission für die Freiheit des Zugangs
zur Information" von 1997 habe ergeben, dass nur 1,4 % der
Befragten dazu bereit waren, die Verletzung ihrer Informationsrechte mit
einer Klage geltend zu machen.[16]
Vorreiter der Verheimlichung von Informationen, die von öffentlichem
Interesse sind, sind nach dem Monitoring des FZG das Verwaltungsgebiet
Rostov am Don, gefolgt von Moskau und den Verwaltungsgebieten Voronež
und Sverdlovsk sowie der Verwaltungsregion Krasnojarsk. Als hauptsächliche
Akteure treten in diesen Konflikten Gouverneure, Bürgermeister und
andere Vertreter der Exekutive auf.[17]
Unter den Journalisten gilt die Exekutive als wichtigste
Informationsquelle überhaupt, es ist aber festzustellen, dass man
zunehmend auch andere Quellen in Anspruch nimmt.[18]
Die Autoren des Berichtes "Massenmedien in Rußland, Gesetze, Konflikte, Rechtsverletzungen" zogen aus den gesammelten Fällen und ausgewerteten Daten insgesamt die Schlussfolgerung, dass die Presse im Jahr 1997 im Gegensatz zum Fernsehen einen schweren Stand hatte. Das Monitoring des FZG habe ergeben, dass die Rechte der Printmedien doppelt so oft verletzt wurden wie die der Fernseh- und Radiogesellschaften; sie seien außerdem in der Regel auch noch empfindlicher zu treffen. Die Printmedien seien sieben Mal öfter gerichtlichen Klageforderungen ausgesetzt gewesen als elektronische Massenmedien. Als Ursachen für diesen Befund nennen die Autoren die materielle Fixierung des geschriebenen Wortes, die es erlaubt, einen kritischen Satz notfalls auch siebenmal nachzulesen, sowie die strengere Redaktion, die in den elektronischen Massenmedien waltet, und die Gewohnheit der Zuschauer, den Fernsehnachrichten größere Objektivität zu unterstellen.[19] Die Liste der konfliktreichsten Massenmedien, die die Autoren anführen, belegt, dass insbesondere die Printmedien im Kreuzfeuer der Kritik stehen: Die ersten Plätze nehmen die beiden zentralen Tageszeitungen "Moskovskij komsomolec" (mit regionalen Rubriken) und "Komsomol´skaja pravda" ein, gefolgt von den regionalen staatlichen Fernsehgesellschaften (GTRK), die im zweiten Kanal "Rossija" senden, der "Izvestija",[20] den "Gorodskie vesti" in Volgograd, den zentralen Fernsehprogrammen NTV und ORT, der "Novaja gazeta - Ponedel´nik", der "Segodnjaščnaja gazeta" in Krasnojarsk, dem "Megapolis-Ekspress", dem Moskauer Sender TV-Centr, sowie den Zeitungen "Kazanskoe vremja", "Brjanskie izvestija", "Brjanskoe vremja", "Večernij Rostov", "Delovye vesti" in Volgograd, "Smena" in St.Peterburg, dem Journal "Ogonek" usw.[21] [1]
A. R. Ratinov / G. C. Efremova (1998), Mass Media v Rossii, Zakony,
konflikty, pravonaruščenija (po dannym monitoringa Fonda Zaščity
glasnosti), otv. red. A. Simonov. [2]
Zu den vielen Gesetzesinitiativen vgl. "Analyz zakonotvorčestva
v RF v kontekste prava čeloveka na informaciju" (1999),
Centr Pravo i sredstva massovoj informacii, Vypusk 17, red. A.
Richter. [3]
A. Ratinov / G. Efremova, aaO., Kapitel V Nr. 2. [4]
Vgl. M. Gel´man (1997), Kompromat kak literaturnyj žanr",
Russkij Journal, 21.11.97. [5]
Gesetzesprojekt "Über das verfassungsmäßige Recht der Bürger
der RF auf den Schutz der Ehre und Würde und über die Gewährleistung
dieses Rechts durch Staat und Gesellschaft", vom Abgeordneten
I. D. Kobzon in die Staatsduma eingebracht und in erster Lesung am
10. März 1999 angenommen. Zur Kritik vgl.
"Analyz zakonotvorčestva v RF v kontekste prava
čeloveka na informaciju" (1999), aaO. unter "Zaščita
česti i dostoinstva"; Text des Projektes im Anhang. [6]
A. E. Vojnov (1999), Otvetstvennost´ žurnalistov za uščemlenie
česti i dostoinstva v smi kak politiko-pravovaja problema, in:
Lekcii po osnovam pravovoj gramotnosti dlja žurnalistov, Centr
"Pravo i sredstva massovoj informacii", Vypusk 16. [7]
A. Ratinov / G. Efremova, aaO., Kapitel IV Nr. 1. [8]
A. Ratinov / G. Efremova, aaO., Kapitel V Nr. 2.1. - Diese Zahl kommt auch dadurch zustande, daß den Journalisten
in den zivilgerichtlichen Verfahren wegen übler Nachrede und
Verleumdung - wie es im übrigen auch dem deutschen Recht entspricht
- die Beweislast für die Richtigkeit ihrer Behauptungen auferlegt
wird. [9]
M. Fedotov (1998), in einem Interview gegenüber R. Volobuev von der
"Literaturnaja gazeta", Nr. 52 (23.12.1998), S. 8: Žurnalist
po statusu bliže k svjaščenniku. [10]
Vgl. A. E. Vojnov (1999), aaO., unter Berufung auf eine Richterin
des Obersten Gerichtshofs der RF. [11]
Der Fonds zum Schutz der Glasnost´ ist im wesentlichen darauf
angewiesen, daß ihm die Rechtsverletzungen von anderen, insbes. von
den Journalisten selbst, zur Kenntnis gebracht werden. Die
gewachsene Bereitschaft, Fälle beim Fonds "anzuzeigen",
und die größere Bekanntheit des Fonds kann sich also ohne weiteres
auf die Statistik ausgewirkt haben. Der Fonds selbst schätzt die
Dunkelziffer der Rechtsverletzungen um einiges höher ein. [12]
A. Ratinov / G. Efremova, aaO., Kapitel III, vor 1. Die absoluten
Zahlen lauten für 1997 (bzw. 1996): 151 (130) kriminelle Übergriffe,
139 (67) Informationsbeschränkungen, 80 (43) Einmischungen, 30 (30)
Produktionsbehinderungen, 26 (7) andere Rechtsverletzungen. [13]
A. Ratinov / G. Efremova, aaO., Kapitel III, 1.3. [14]
A. Ratinov / G. Efremova, aaO., Kapitel III, 1.6. [15]
A. Ratinov / G. Efremova, aaO., Kapitel III, 1.5. [16]
A. Ratinov / G. Efremova, aaO., Kapitel II, 1. [17]
A. Ratinov / G. Efremova, aaO., Kapitel III, 1.2. [18]
A. Ratinov / G. Efremova, aaO., Kapitel III, 1.1. [19]
A. Ratinov / G. Efremova, aaO., Kapitel II, 2. [20]
Vgl. hierzu unten II. 2. e). [21]
A. Ratinov / G. Efremova, aaO., Kapitel II, 3.
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