Home ] Kapitel 1 ] Kapitel 2 ] Kapitel 3 ] Kapitel 4 ] Kapitel 5 ] Kapitel 6 ] Kapitel 7 ] Kapitel 8 ] Schluss ] Nachwort ] Appendix ]


 

3. Strafgesetz "Behinderung der gesetzlichen professionellen Tätigkeit der Journalisten"

 

Art. 140 des früheren Strafgesetzbuches (Ugolovnyj kodeks, UK) verbot jede böswillige, gegen die Freiheit der Massenmedien gerichtete Behinderung der gesetzlichen professionellen Tätigkeit der Journalisten.[1] Ein Strafgesetz, das mit einem so weiten objektiven Tatbestand Verletzungen der Pressefreiheit  kriminalisierte, war nicht nur in Rußland eine Neuheit. Auch in Westeuropa gab es wenig vergleichbares. Dennoch fragte A. Malinovskij anlässlich der Strafgesetzreform von 1996, ob der rußländische Gesetzgeber dem Ausland nicht umsonst vorausgeeilt sei und ob nicht bildlich gesprochen aus dem ersten Pfannekuchen wie gewöhnlich ein Schmarren geworden sei.[2] Denn das heutige, vierte Strafgesetzbuch Rußlands stellt zwar immer noch die Behinderung der journalistischen Tätigkeit unter Strafe, der Tatbestand des neuen Art. 144 UK ist jedoch im Vergleich zum früheren Artikel so eingeengt worden, dass die Überschrift "Behinderung der gesetzlichen professionellen Tätigkeit der Journalisten" irreführend geworden ist. Strafbar ist nur noch die Behinderung von Journalisten im Wege der "Nötigung zur Verbreitung von Informationen oder zur Unterlassung der Verbreitung".

 

Wie ein Kommentar zum Strafgesetzbuch erklärt, fällt unter den Begriff der Behinderung der gesetzlichen professionellen Tätigkeit der Journalisten gemäß Art. 58 des Gesetzes "Über die Massenmedien" auch die Ausübung der Zensur, die Verletzung der professionellen Selbständigkeit der Redaktion, die ungesetzliche Einstellung eines Massenmediums, die Verletzung des Anfrage- und Auskunftsrechts der Redaktion, die rechtswidrige Entziehung der Akkreditierung usw. Diese Rechtsverletzungen sind indessen erst dann strafbar, wenn der Tatbestand der Nötigung zur Verbreitung oder zur Unterlassung der Verbreitung von Informationen hinzutritt.[3] Strafrechtlich geschützt ist damit lediglich das Endstadium des Informationsprozesses, während die Stadien der Informationsgewinnung und der Bearbeitung der Information bis zum Zeitpunkt ihrer öffentlichen Bekanntmachung vom strafrechtlichen Schutz ausgenommen worden sind. Hierdurch ist die Zweckbestimmung des früheren Gesetzes, der rechtswidrigen Behinderung der journalistischen Tätigkeit entgegenzuwirken, weitgehend aufgegeben worden. Der überwiegende Teil der Rechtsverletzungen, die sich gegen die Massenmedien richten, besteht nämlich gerade in einfacher Informationsverweigerung.[4] Öffentliche Stellen, die den Redaktionen wichtige Informationen rechtswidrig vorenthalten, bleiben gemäß Art. 144 UK grundsätzlich straffrei. Die neue Vorschrift des Art. 140 UK ("Informationsverweigerung zum Nachteil des Bürgers") setzt demgegenüber wenigstens bedingten Vorsatz des Beamten bezüglich der Verletzung gesetzlich geschützter Rechte und Interessen des Bürgers sowie einen Schadenseintritt voraus.[5] Die Besonderheit eines Strafgesetzes zugunsten der Massenmedien liegt jedoch gerade darin, dass das Rechtsgut der umfassend informierten Gesellschaft geschützt wird.

 

Der Schutz der Freiheit der Massenmedien ist durch die Revision des Strafgesetzbuches von 1996 somit wieder beträchtlich zurückgenommen worden. A. Bragina, A. Voinov und J. Tjutina kamen in ihrer Beurteilung der Strafbestimmungen des neuen Gesetzbuchs zu dem Schluss, dass selbst dann, wenn man die Einführung einer Reihe von Vorschriften in Rechnung stellt, die mittelbar die Arbeit der Journalisten fördern, dennoch die nahezu vollständige Aufgabe des strafgesetzlichen Verbots der Behinderung der journalistischen Tätigkeit schwerer wiegt. Die Rechte, die das Massenmediengesetz den Journalisten gewährt, würden durch die Änderung des früheren Art. 140 UK eines der wirksamsten Schutzmechanismen beraubt und könnten infolgedessen nicht mehr effektiv vor Eingriffen geschützt werden.[6]

 

Der frühere Art. 140 UK hat zwar aufgrund der besonderen Erfordernisse des subjektiven Tatbestands keinen unproblematischen Schutzmechanismus zur Verfügung gestellt. Dem Straftäter war nämlich die Absicht nachzuweisen, die Freiheit der Massenmedien beeinträchtigen zu wollen. Die Strafrechtsreform von 1996 bedeutete aber dennoch einen gesetzgeberischen Rückschritt, da das Rechtsgut der Freiheit der Massenmedien kaum mehr Berücksichtigung fand. Die häufigen Fälle der Informationsverweigerung oder der Behinderung der Produktion und Verbreitung von Massenmedien durch öffentliche Stellen der RF machen es indessen erforderlich, dass der Gesetzgeber zum Schutz der Grundrechte des Art. 29 Verf RF geeignete Maßnahmen ergreift.

[nächste Seite]



[1] Der umfassende Straftatbestand des früheren Art. 140 wurde zugleich mit dem liberalen Gesetz der UdSSR "Über die Presse und andere Mittel der Massenin­for­mation" eingeführt. Vgl. M. Fedotov (1996), SMI v otsutstvii Ariadny, S. 272: 1995, im Jahr vor der Gesetzesänderung, wurde lediglich ein Urteil gesprochen, das sich auf Art. 140 stützte, und zwei weitere Strafverfahren wurden eingeleitet.

[2] A. Malinovskij, Novyj ugolovnyj kodeks i svoboda pressy, in: ZIP 26 (Okt. ´96).

[3] Ju. A. Krasikov (1998), Kommentar zu Art. 144, in: Kommentarij k Ugolovnomy kodeksu RF, S. 314.

[4] Vgl. siebtes Kapitel, 2. b).   

[5] Ju. A. Krasikov, Kommentar zu Art. 140, in: Kommentarij k Ugolovnomy kodeksu RF, S. 309. Art. 140 UK soll Art. 24 Abs. 2 Verf RF umsetzen, der vorschreibt, daß öffentliche Stellen dazu verpflichtet sind, jedem die Einsicht in Dokumente zu ermöglichen, die seine Rechte und Freiheiten unmittelbar berühren, soweit gesetzlich nichts gegenteiliges bestimmt ist.

[6] A. Bragina, A. Voinov, J. Tjutina, Ugolovnyj kodeks RF segodnja i zavtra, in: ZiP 10 (Juni ´95).