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2. Einschätzungen von russischer Seite

 

a) Gewalt, Korruption, Informationsverweigerung (Journalistenverband Rußlands)

 

Der "Vortrag über den kritischen Zustand der rußländischen Massenmedien" des rußländischen Journalistenverbands vom September 1997 legt ebenso einen, aber nicht den einzigen, Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Situation der Massenmedien. Er beginnt mit den Worten: "Die Presse, das Radio und das Fernsehens Rußlands durchleben eine Krise. Heutzutage gibt es im Land fast keine Zeitungen und Journale, Fernsehgesellschaften und Radiostationen, die eine echte ökonomische Unabhängigkeit erlangt hätten." [1] Der Verband macht in diesem Zusammen­hang mehrere Vorwürfe publik: Der Erfolg einer Ausgabe oder eines Programms hängt überhaupt nicht von der Zahl der Abonnenten oder Zuschauer ab, sondern von Reklameeinkünften, Dotationen und dem Engagement von Sponsoren. Die Verletzung ethischer Regeln und die Korruption unter den Journalisten sind zur Norm geworden. Die Folgenlosigkeit immer schlimmerer Enthüllungen über die Träger staatlicher Gewalt hat in den Journalisten kein Verantwortungsgefühl aufkommen lassen.[2]

 

Die Auflagenzahlen der Printmedien sind nach der Beobachtung des Journalistenverbandes weiter zurückgegangen: Bei den Zeitungen sind sie im Vergleich mit 1990 schon um das Fünffache gesunken. Die gesamtrußländischen Zeitungen erreichen kaum noch Leser in den entfernteren Regionen Rußlands. Ihr früherer Auflagenanteil von 70% (1990) aller herausgegebenen Zeitungen ist spürbar geschrumpft; heute haben die regionalen Zeitungen diesen Auflagenanteil bekommen.[3] Damit steht nach Auffassung des Verbandes der größte Teil der Bevölkerung Rußlands kurz davor, des Zugangs zum gedruckten Wort beraubt zu werden und der Information über das sozialökonomische, politische und künstlerische Leben der RF verlustig zu gehen.

 

Die Sendungen vieler öffentlicher Radiostationen sind aus Geldmangel gekürzt worden, obgleich sie für die Bewohner des äußersten Nordens und fernen Ostens nahezu die einzige Verbindung zur Außenwelt darstellen.[4] Die politische Parteinahme der führenden Fernsehkanäle des Landes ist offen und andauernd geworden. Der Krieg der Kompromate, die Manipulation der öffentlichen Meinung und die verdeckte Werbung verdrängen die objektive Information von den Bildschirmen und lösen die Freiheit des Wortes ab. Zugleich wird der Versuch nicht aufgegeben, beim staatlichen Fernsehen auf die eine oder andere Weise die echte Zensur wiederherzustellen. Insbesondere das Gesetzesprojekt "Über den höchsten Rat in Fragen der Ethik und der Sitten ..." könnte zur Einrichtung eines neuen Zensurorgans führen.[5]

 

Die materielle Situation der Journalisten hat sich nach Auskunft des Journalistenverbandes weiter verschlechtert. Das mittlere Monatsgehalt eines Journalisten beträgt in den Regionen Rußlands lediglich ein Drittel des im Lande üblichen Durchschnittslohns. Währenddessen nimmt der Druck zu, der auf die Journalisten mit politischen, ökonomischen und administrativen Methoden ausgeübt wird. Im vergangenen Jahr wurden außerdem mehr als 3500 Klagen gegen Herausgeber und Journalisten anhängig gemacht; die Schadensersatzsummen zur Kompensation des moralischen Schadens erreichen Hunderte von Millionen Rubel, sogar Milliarden. Am häufigsten klagen staatliche Beamte und Politiker, die für ihre öffentliche Tätigkeit kritisiert worden sind. Obgleich es sich oft tatsächlich nicht um falsche Tatsachenbehauptungen der Journalisten handelt, sondern um einfache Werturteile, entsprechen die Richter auch solchen Klagen immer wieder.[6]

 

Insbesondere beklagt der Journalistenverband, dass die Anwendung von Gewalt im Umgang mit den Journalisten zur Norm geworden ist. Drohungen, Überfälle und Verprügelungen bis hin zu Totschlag und Mord haben zahlenmäßig zugenommen; allein 1996 sind auf dem Territorium der RF[7] 19 Journalisten getötet worden, und keiner der Fälle ist aufgedeckt worden Die neue Strafgesetzgebung der RF schützt die mit hohem Risiko arbeitende Berufsgruppe der Journalisten nicht genügend, und die Tätigkeit der Strafverfolgungsorgane zugunsten der Journalisten fällt enttäuschend aus.[8] Ein brennendes Problem stellt zudem die eingeschränkte Informationsfreiheit dar. Die Bestimmungen des Gesetzes "Über die Massenmedien" hinsichtlich des freien Zugangs zur Information und die mit ihnen angedrohten Sanktionen für den Fall unbegründeter Informationsverweigerung haben sich in der Praxis als untauglich erwiesen. Die Zurückhaltung und Verweigerung von Informationen geschieht nach den Worten des Verbandes in den bizarrsten Formen und unter den verschiedensten Vorwänden und ist geradezu zum Verhaltensmuster aller Zweige der Staatsgewalt geworden. Als Rekordhalter der Verschwiegenheit nehmen die Exekutive und die Organe der Rechtspflege den ersten Platz ein.[9]

 

Die gewachsene Bedeutung der regionalen Presse hat nach der Ansicht des Journalistenverbands zur Folge, dass sich die örtlichen politischen und ökonomischen Eliten ihrer als einflussreiches Instrument zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen bedienen. Nach der Angabe des Verbandes befinden sich ein Fünftel der regionalen Zeitungen im Eigentum oder Miteigentum staatlicher Strukturen und sind dem Willen der Administrationen vollständig ausgeliefert.

 

Die steuerlichen Privilegien der Massenmedien sollten insgesamt beibehalten werden, um die ökonomische Abhängigkeit zu mildern. Die lange erwarteten föderalen Gesetze "Über die staatliche Unterstützung der Massenmedien und Buchverlage in der RF" und "Über die ökonomische Unterstützung kreis- und stadtangehöriger Zeitungen" haben jedoch nichts zu ihrer Unabhängigkeit beigetragen. Gerade die Zeitungen der Kreise und Städte befinden sich unter den Umständen der Reform der örtlichen Selbstverwaltung in einem rechtlichen Vakuum, weil Bestimmungen über ihren Status und Platz in der kommunalen Ordnung und über ihre Unabhängigkeit fehlten. Aus dem ungelösten Verhältnis der Massenmedien zu den örtlichen Administrationen rührt ein großer Teil der Konflikte her. Hinzu kommt, dass die Gesetzgebung über die Massenmedien die Eigentumsfrage nicht berührt, so dass es keinen Eigentümer de iure, sehr wohl aber einen de facto-Eigentümer gebe. Die Undurchsichtigkeit der Figur des "Besitzers", Anteilseigners und Geldgebers ermöglicht es vielen, als Schatteneigentümer im Hintergrund zu wirken und ihre eigenen Interessen zu verfolgen, ohne vor der Öffentlichkeit oder den Journalisten Verantwortung übernehmen zu müssen.[10]

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[1] Sojuz Žurnalistov Rossii, Doklad o kritičeskom sostojanii rossijskich sredstv massovoj informacii, Sentjabr` 1997, S. 3.

[2] Sojuz Žurnalistov Rossii, aaO., S. 11.

[3] Sojuz Žurnalistov Rossii, aaO., S. 3 und 9. Diese Tendenz entspricht übrigens der in den meisten west- und osteuropäischen Staaten und deutet auf eine Normalisierung hin.

[4] Sojuz Žurnalistov Rossii, aaO., S. 4.

[5] Sojuz Žurnalistov Rossii, aaO., S. 5.

[6] Sojuz Žurnalistov Rossii, aaO., S. 6.

[7] Einschließlich der unbefriedeten Republik Tschetschenien.

[8] Sojuz Žurnalistov Rossii, aaO., S. 7.

[9] Sojuz Žurnalistov Rossii, aaO., S. 8 / 9.

[10] Sojuz Žurnalistov Rossii, aaO., S. 9 / 10.