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3. Kommentar

 

Der Überblick über die russischen und westlichen Einschätzungen der Pressefreiheit in der RF ist nicht abschließend; insbesondere hinsichtlich des Einsatzes von roher Gewalt gegen Journalisten ist zu ergänzen, dass auch 1998 wieder eine Reihe von Journalisten überfallen und getötet wurden oder schwere Körperverletzungen erlitten. Obgleich die Fälle überwiegend nicht aufgeklärt wurden und einfache Raubüberfälle nicht immer auszuschließen sind, besteht doch aufgrund der von den Opfern zuletzt durchgeführten Recherchen vielfach der begründete Verdacht, dass die Angreifer aus politischen Motiven handelten.[1] Die Vielzahl der gegen die Journalisten und Redaktionen ergriffenen Maßnahmen (Klagen, Einschüchterungen, Razzien, Ausübung wirtschaftlichen Drucks usw.) weist zusätzlich darauf hin, dass die meisten Journalisten nicht zufällig, sondern gerade im Zusammenhang mit der Ausübung ihres Berufs misshandelt oder sogar ermordet werden.

 

Zur Schilderung der Finanznöte der Massenmedien, insbesondere der regionalen und der nichtstaatlichen, ist hinzuzufügen, dass sie das Schicksal jeglichen privaten Unternehmertums in Rußland teilen. Findet sich kein kapitalkräftiger Investor, sind die wirtschaftlichen Bedingungen sehr hart: Hohe Steuern, ungünstige Kreditkonditionen (nahezu überhaupt keine langfristigen Kredite), wenige und kaum geeignete Existenzgründungshilfen, Preisdiktate staatlicher Hersteller und Dienstleister, Bevormundung durch die Administrationen, scharfe Konkurrenz der staatlichen Unternehmen, diskriminierende örtliche Normgebungen und nicht zuletzt die fehlende Rechtssicherheit setzen der Gründung und dem Ausbau eines kleinen oder mittleren Unternehmens enge Grenzen.[2] Die mangelnde finanzielle Ausstattung des Gerichtssystems und die unzureichende Aus- und Weiterbildung der Richter stellen seit Jahren ein großes Problem für die Rechtspflege dar.[3] Die obersten Gerichte der RF können die Einhaltung der Gesetze und die Rechtsprechung in den Regionen nicht von vornherein überwachen, sondern erst im Fall der Berufung oder Revision tätig werden. Wie die immer wieder geforderte Reform des Steuersystems ist auch die Verbesserung der Rechtspflege eine Aufgabe mit Priorität.

 

Die im August 1998 ausgebrochene Finanz- und Bankenkrise hat nochmals gezeigt, dass es den meisten regionalen Massenmedien trotz der immerhin jahrelang anhaltenden relativ hohen Stabilität des Rubel kaum gelingt, Rücklagen oder gewisse Mindestreserven zu bilden, geschweige denn eigene Gebäude und Maschinen zu erwerben. Viele Massenmedien befanden sich schon längst in der Krise, als die Abwertung des Rubel erfolgte. Die Gründung von Medienholdings ist daher ein sinnvoller Schritt zur Begründung größerer Eigenständigkeit. Dabei sind sowohl die staatlichen als auch die privaten Unterstützungen der Massenmedien bis auf weiteres notwendig, um die Weiterentwicklung der reichen russischen Medienlandschaft zu sichern.

 

Ob die unabhängigen Massenmedien infolge des wirtschaftlichen Einflusses kapitalkräftiger Anteilseigner tatsächlich keine nennenswerten Spielräume mehr haben, um eine eigenständige Redaktionspolitik zu betreiben, ist schwierig zu beurteilen. Erstens fragt es sich, ab wann man ein Massenmedium eigentlich als unabhängig bezeichnen kann. Selbst Tretjakovs "Nezavisimaja gazeta" oder "Unabhängige Zeitung" bedurfte inzwischen der tatkräftigen Unterstützung einer Großbank. Die nichtstaatliche Fernsehgesellschaft NTV ("Unabhängiges Fernsehen") erhielt wie ORT auch staatliche Kredite und wurde ebenso mit Privilegien hinsichtlich der Übertragungsgebühren bedacht. Zweitens ist es nicht gerechtfertigt, jeder größeren kapitalmäßigen Beteiligung ohne weiteres auch meinungsbildenden Einfluss auf die Redaktion zuzuschreiben. Im Hinblick auf den gesetzlichen Status der Redaktionen geben die Großaktionäre nicht selten vertragliche Nichteinmischungsgarantien ab. Im folgenden Kapitel soll daher der Frage nachgegangen werden, ob die privaten Anteilseigner für den Staat die Rolle von Zensoren übernehmen können. Hierbei wird vor allem der Fall der berühmten Tageszeitung "Izvestija" zu untersuchen sein.

 

Die vielfache und berechtigte Kritik des ungebührlichen Einflusses privater Anteilseigner kann außerdem nicht von der Tatsache ablenken, dass auch die staatlichen Massenmedien den verschiedensten Einwirkungen ausgesetzt sind: den Vorgaben und Einwendungen der föderalen Regierung oder der regionalen Administrationen, insbesondere ihrer faktischen Finanz- und Personalhoheit. Der Medienkontrolle des Staates stehen längst nicht so viele rechtliche und institutionelle Hindernisse im Weg wie derjenigen der privat organisierten Anteilseigner nichtstaatlicher Massenmedien. Die Pressevielfalt, die als wichtiger Garant der Pressefreiheit in Rußland erscheint, wird nicht nur durch den Konzentrationsprozess der privat geführten Massenmedien gefährdet, sondern auch durch den Staat selbst. Im Hinblick darauf ist die beabsichtigte und zum großen Teil bereits umgesetzte Ausweitung und Stärkung des VGTRK- Komplexes zu betrachten.

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[1] Vgl. Internationales Presseinstitut IPI, 1998 World Press Freedom Review: Russia; Committee to Protect Journalists CPJ, Country Report: Russia, As of December 31, 1998; U.S. Department of State, Russia Country Report on Human Rights Practices for 1998, Section 2. a) Freedom of Speech and Press.

[2] Vgl. S. Rink (1997), Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Klein- und Mittelunternehmen in Rußland, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik DIE, S. 21, Tab. 7: Rangfolge der Probleme aus der Sicht der Unternehmer: 1. Hohe Steuern, 2. Rechtsunsicherheit, 3. hohe Kreditzinsen, 4. Bürokratie, 5. geringe Nachfrage, 6. hohe Mieten, 7. Rohstoffversorgung, 8. alte Produktionsanlagen, 9. unzureichende Infrastruktur, 10. monopolistische Marktstrukturen usw.

[3] Peter H. Solomon, Jr. (1997), The Persistence of Judicial Reform in Contemporary Russia, in: East European Constitutional Review, Vol. 6, No. 4, S. 50 (54), nennt als Hindernisse der Gerichtsreform die unzulängliche Fähigkeit der Regierung, Steuern einzutreiben, den Kompetenzkonflikt zwischen der staatlichen Zentralgewalt und den Föderationssubjekten und schließlich die letzte, seit der Mitte der 90-er Jahre wieder heftig ausgebrochene Kriminalitätswelle. Vgl. auch E. Huskey (1997), Russian Judicial Reform after Communism, in: Reforming Justice in Russia, S. 325 (335 ff. "Court Personnel"): Geringe Gehälter und persönliche Schutzlosigkeit führen zu einem Richterschwund.