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X. Statt eines Nachwortes

 

Duma- und Präsidentschaftswahlen: Die neue Bedeutung der Massenmedien in Rußland

 

Am Silvesterabend des Jahres 1999 erklärte der erste Präsident der Rußländischen Föderation, Boris El´cin, ebenso feierlich wie unvermutet seinen vorzeitigen Rücktritt. Zugleich stellte er den jungen Ministerpräsidenten Vladimir Putin als seinen Wunschnachfolger vor. Putin war nach Černomyrdin, Kirienko, Primakov und Stepašin der fünfte Minister­präsident Rußlands in rascher Folge. Nun trug er auch noch den Titel des „die Pflichten des Präsidenten Wahr­nehmenden“. Viele hielten ihn jedoch für einen schwachen Interimspräsidenten, der die für Juni 2000 angesetzten Präsidenten­wahlen kaum werde bestehen können. Der frühere KGB-Mann, dem man wegen seiner Karriere in Ostdeutschland auch den Spitznamen „Stasi“ gab, schien allzu farblos und auf­grund seiner geringen politischen Erfahrungen wenig geeignet, die Rolle des Präsidenten zu übernehmen. Die im Fall „Mabetex“ deutlich zutage getretene Korruption der „El´cin-Familie“ hatte außerdem gezeigt, dass die politische Führung des Kreml nicht nur physisch, sondern auch moralisch am Ende war. Dem von ihr in letzter Minute auf den Schild gehobenen Putin räumte man daher anfangs geringe Chancen auf einen Wahlsieg ein. Nur wenn es gelingen würde, den Repräsen­tanten des alten Systems zum neuen Hoffnungs­träger Rußlands zu machen, hatte er Aussicht auf Erfolg.

 

Die plötzlich aktuell gewordene Tschetschenienfrage bot die beste Gelegenheit, Putin als entschlossenen Handlungsträger darzustellen. Anfangs ging es darum, die von Tsche­tschenien aus in Dagestan eingefallenen Islamisten wieder zurückzudrängen. Einmal in Bewegung gesetzt, machten die russischen Streitkräfte jedoch auch vor der tschetschenischen Grenze nicht Halt. Sie verfolgten die Aufständischen über die Berge und nahmen dabei zugleich die auf das Jahr 2001 verschobene Klärung des status quo der abtrünnigen Föderationsrepublik in Angriff. Die mysteriösen, bis heute ungeklärten Spreng­stoffexplosionen in einer Reihe russischer Wohnhäuser spielten den Stimmungsmachern für Putin dabei noch zusätzlich in die Hände. Ein zweiter Tschetschenienfeldzug als Rache für tschetschenische Bombenleger passte so gut in das Konzept des Kreml, dass sogar bald darauf Spekulationen darüber angestellt wurden, ob El´cins Kreml-Mannschaft den ganzen Konflikt geplant und bewußt herbeigeführt hatte. Gerüchten zufolge wurde Minister­­präsident Stepaschin vom Präsiden­ten Boris El´cin entlassen, weil er sich weigerte mitzuspielen. Auch will man in einer russischen Kaserne nicht weit von einem der Unglücksorte Sprengstoffsäcke gefunden haben, die mit der Aufschrift Zucker getarnt waren.

 

Wie immer in Rußland gibt es viele Vermutungen über die Pläne des Kreml und wenig klare Hinweise und eindeutige Stellungnahmen. Sicher ist, dass der Präsidentschaftskandidat Putin sich die Situation zunutze machte. Er ließ erneut in das vom ersten Krieg (1994-96) noch schwer zerstörte Land einmarschieren, belagerte und zerstörte schließlich nach langen Kämpfen die Hauptstadt Grozny. Er vertrieb die „Banditen“, die angesichts des gewalt­samen Auftretens der föderalen Streitkräfte wieder zu tschetschenischen Freiheitskämpfern geworden waren und deren Zahl sich vervielfacht hatte. Es verlief zwar nicht alles reibungslos. Die Einnahme Groznys wurde mit großen Opfern erkauft. Putin und die Beamten des Kreml konnten sich aber der vorbehaltlosen Zustimmung der Bevölkerung gewiß sein. Sie schwammen auf einer Welle des Nationalismus. Der Geist der vom wirtschaftlichen und militärischen Zerfall gedemütigten Supermacht stieg wie Phönix aus der Asche. Die Nato-Aktionen gegen das vermeintliche „Brudervolk“ der Serben, die jahrelangen Geiselnahmen in Tschetschenien und die vielen Opfer der nach offizieller Lesart zweifellos von Tschetschenen zu verantwortenden Häuser­explo­sionen empörten das Volk so sehr, daß keiner mehr hinsah, als die Soldatenmütter wieder protestierend auf die Straße gingen. Der als Polizeiaktion gegen Räuber deklarierte Feldzug kostete nicht nur viele Zivilisten, sondern auch weit über 2000 russischer Soldaten das Leben. Das harte Durchgreifen, verbunden mit einer verschärften Aufsicht über die Massenmedien im allgemeinen und einer positiven Propaganda des Staatsfernsehens im besonderen, brachte Putin dennoch die erwünschte Popularität. 

 

In kurz entschlossen vorgezogenen Wahlen vom 26. März 2000 wurde Vladimir Putin nach den offiziellen Angaben der Zentralen Wahlkommission mit 52,94 % der Stimmen zum neuen Präsidenten Rußlands gewählt. Die Wahlbeteiligung lag am Ende mit 68,74 % der Wahlberechtigten erstaunlich hoch. Anders als seinem Vorgänger Boris El´cin gelang ihm der Wahlsieg gleich in der ersten Runde. Selbst die Berücksichtigung der Unregelmäßigkeiten und Wahl­fälschungen, zu denen es laut Kommunistenführer Zjuganow in zwei Dutzend der Föderationssubjekte gekommen sein soll, hätte am Ergebnis nicht viel geändert. Zjuganov erhielt in der ersten Wahlrunde nur 29,17 % der Stimmen. In der zweiten Wahlrunde hätte er gegen Putin, der statt der Diktatur des Proletariats die Diktatur des Gesetzes versprach, mit aller Wahrscheinlichkeit verloren.

 

Andere, ernstzunehmende Kandidaten für das Amt des Präsidenten hatte es nicht gegeben. Namentlich der von Präsident El´cin geschaßte Ministerpräsident Primakov unterlag dem siegreichen Putin schon im Vorfeld der Wahlen. Sein Wahlblock „Vaterland – Ganz Rußland“, ein aus der Partei des Moskauer Bürgermeisters Jurij Luškov und einer Reihe von Gouverneuren geschmiedetes Wahlbündnis, galt zwar lange Zeit als aussichtsreichste politische Bewegung Rußlands. Sie scheiterte jedoch schon in den Staatsduma-Wahlen im Dezember 1999. An dem Mißerfolg waren die Kreml-Strategen nicht unbeteiligt. Die Politmagazine der beiden großen staatlichen Fernsehprogramme ORT und RTR hatten sich monatelang beinahe mit nichts anderem beschäftigt als mit Korruptions­vorwürfen (insbesondere gegen Luškov) und Anspielungen auf die kommunistische Vergangenheit (bei Primakov). Auch in den täglichen Nachrichtensendungen blieb man nicht unparteiisch. Das Positiv-Image der jungen, energischen Hoffnungsträger Putin und Šojgu, beide immer in Bewegung, kontrastierte mit dem offensichtlichen Negativ-Image des alten Primakov. Wenn er überhaupt gezeigt wurde, dann in sitzender oder ruhig stehender, gleichsam auf etwas wartender Stellung. Šojgu hingegen, der telegene Zivilschutz- und Katastrophenminister, war in der heißen Phase des Wahlkampfes vom Bildschirm gar nicht wegzudenken.

 

Die Rechnung ging auf, wenngleich sich die skandalmüden Fernsehzuschauer verdutzt die Augen rieben. Viele sahen sich das Spektakel im Staatsfernsehen mit einer Mischung aus Widerwillen und Neugier an, war es doch immer wieder spannend, wie weit der bekannte Kommentator Sergej Dorenko in seinem Nachrichten­magazin „Vremja“ (ORT) denn dieses Mal gehen würde. Zeitungsjournalisten schrieben von einer der schmutzigsten Wahlkampagnen in der Geschichte Rußlands. Noch nie waren Wahlkandidaten so gründlich kompromittiert worden. Primakow trat zur Präsidentschaftswahl gar nicht erst an. Die völlig neu aus dem Boden gestampfte und mit den Geldern wohlbekannter, dem Kreml nahestehender „Oligarchen“ finanzierte Einheits- und Bärenpartei gewann im Dezember auf anhieb 23,32 % der Wähler­stimmen, beinahe doppelt so viel wie der Wahlblock „Vaterland – Ganz Rußland“. Putins Bärenpartei wurde die zweitstärkste Fraktion in der Staatsduma. Die stärkste Fraktion, die der Kommunistischen Partei, die man bisher eher bei der systematischen Opposition eingeordnet hatte, fand sich dazu bereit, die wichtigsten Posten in den Haushalts- und Gesetzgebungs­komitees der Duma im stillen Einvernehmen mit Putins Bärenpartei zu besetzen. Vorweg und unter Ausschluß der übrigen Parteien, die zu den Verlierern dieser Wahl zählten: Luškovs Wahlblock „Vaterland – Ganz Rußland“, Javlinskijs demokratischer „Jabloko“ und die ebenfalls demokratische „Union der rechten Kräfte“ blieben außen vor. Sie verließen die ersten Sitzungen der Staatsduma unter Protest.

 

Im Nachhinein betrachtet entschied der Kreml Parlaments- wie Präsidentschaftswahlen in rascher Folge hinter­einander für sich. Alles lief wie am Schnürchen. Vielleicht nicht jedes, aber doch viele Mittel, die der Staatsgewalt zur Verfügung standen, wurden zur Erreichung des Ziels eingesetzt. Man verteilte Wahl­ge­schenke und Wahlversprechen, propagierte die junge Kreml-Führung und agitierte gegen den politischen Gegner. In jeder Beziehung kriegsentscheidend war dabei die staatliche Einfluß­nahme auf die Massenmedien, insbesondere auf Fernsehen und Rundfunk. Ein Blick auf ORT und RTR beweist, dass es in Rußland weder staatsfernes noch öffentliches Fernsehen gibt.

 

Die staatlichen Fernsehprogramme ORT und RTR

 

Das föderationsweite Fernseh­programm ORT oder „Öffentliches Rußländisches Fernsehen“, mit Abstand der größte und erfolgreichste Sender, fungierte wie zu Zeiten der Sowjetunion als „Injektionsspritze“ des Kreml. Der spitze Fernsehturm Ostankino war früher das Sinnbild kommunistischer Indoktrination. Heute ist ORT eine Manipulationsmaschine, die sich ebenso der Hammermethode wie auch ausgefeilter psychologischer Techniken bedient. Den Hammer schwingt Sergej Dorenko, einer der besten unter den journalistischen Auftragskillern. Psychologie kommt dagegen in den täglichen Nachrichten zur Wirkung, in der Auswahl der Bilder und Themen oder im Unterbewerten und Verschweigen.

 

Der Staat hält 51 % der ORT-Aktien, die Gesellschaft befindet sich jedoch auch im Einflußbereich von Privataktionären. Sie gehören zu den sogenannten „Oligarchen“, jenen Geschäftsleuten, die sich den illegalen Business aufgrund guter persönlicher Beziehungen zur Politik schon früh und im großen Maßstab leisten konnten. Der prominenteste unter ihnen, Boris Berezovskij, ist der langjährige Freund der innersten Kreml-Führung um Boris El´cin. Wegen der zuletzt sehr gewachsenen Bedeutung von El´cins Tochter Tatjana Djačenko nannte man diesen Kreis schließlich nur noch die „Familie“. Berezovskij brachte das Kunststück fertig, die entscheidenden Positionen bei ORT mit seinen Leuten zu besetzen. Er gehört zu den wenigen Medienmagnaten Rußlands, die sich im Laufe von El´cins Amtszeit Informationsimperien aufbauen durften. Zu Berezovskijs Bereich, den er auf dem Wege finanzieller Beteiligungen und Investitionen 1999 noch beträchtlich erweitern konnte, zählen neben ORT und TV-6 auch die Tageszeitungen „Nezavisimaja gaseta“, „Novye isvestija“ und „Kommersant“.

 

Berezovskij ist zwar die umstrittenste, zugleich aber auch die einflußreichste Figur unter den „Oligarchen“. Er übernahm eine ganze Reihe wichtiger öffentlicher Ämter, wurde jedoch während der Amtszeit Primakovs per Haftbefehl gesucht. Er betrog den Staat ganz offensichtlich um große Summen, fungierte jedoch auch nach Putins Amtsantritt wieder als staatlich geschätzter Geschäftsmann. Er unterhält Sicherheits­dienste und Detekteien, die für beinahe jede prominente Persönlichkeit Rußlands kompromittierendes Material gesammelt haben. Er verachtet das einfache Volk und nimmt auch in der Öffentlichkeit kein Blatt vor den Mund. Er ist bekennender Egoist und zugleich ein homo socialis, der über ein riesiges Netz aus geschäftlichen und persönlichen Beziehungen verfügt. Er ist der kapitalitische Nachfolger der alten Nomenklatura, der sich im Chaos Rußlands bestens auskennt und zurecht findet. Und doch ist er kein Oligarch im wahrsten Sinne des Wortes, auch keine graue Eminenz, sondern einfach ein Geschäftsmann, dessen Geschäft so groß wurde, daß er zwangsläufig mit Politikern zu tun bekam und selbst zu einer Art von Politiker wurde – nur eben nicht unbedingt zu einem, der dem Gemeinwohl verpflichtet ist: Vorteil und Stärke der sogenannten „Oligarchen“ Rußlands.

 

In wirtschaftlicher Hinsicht nicht ganz so erfolgreich, in politischer Hinsicht jedoch auf dem besten Wege, zum Regierungssender Nr. 1 zu werden, ist das zweite Fernsehprogramm RTR. Es gehört zu 100 % dem Staat. Zu Gorbačevs Zeiten war der sogenannte „Telekanal Rossija“ noch rebellisches Programm der nach Autonomie strebenden Republik Rußland. Später wurde daraus nach und nach angepaßtes Staatsfernsehen. El´cins eigene Entdemo­kratisierung, die im ersten Tschetschenien­feldzug gipfelte, hinterließ ihre Spuren. Noch vor seiner Wiederwahl im Jahr 1996 entließ El´cin Oleg Popcov, den selbstbewußten, unabhängigen Leiter von RTR, und ebnete den Weg für opportu­nistisches Präsidentenfernsehen. 1998 begann die Umstrukturierung und die Schaffung der staat­lichen Medienholding VGTRK, die über 90 regionale staatliche Fernsehgesellschaften als Tochergesellschaften und ebensoviele Sendezentren als ihre Filialen verwaltet. Hierdurch wurde RTR noch stärker in die Medienaufsicht des Kreml eingebunden. Es entstand ein riesiges staatliches Informations­zentrum. Zur VGTRK gehören heute nicht nur RTR und die regionalen staatlichen Fernsehgesellschaften, sondern auch die Nachrichten­agentur Ria Vesti und die Radios Majak, Golos Rossii, Orfej und Radio Rossii.

 

RTR ist bei weitem stärker als ORT der Regierung unterstellt. Hinzu kommt eine personelle Besonderheit. Michail Lesin gründete vor einigen Jahren die auf dem umkämpften  russischen Markt außergewöhnlich erfolgreiche Reklameagentur „Video International“. Die gutgehende Agentur schloß einen Vertrag mit RTR. Bald darauf wurde Lesin leitender Manager bei RTR. Heute ist er Minister für Presse und Medien, auch im neuen Regierungskabinett Kasjanov. Journalismus und Medien sind zwar nicht sein Lieblingsthema, aber er ist ein guter Geschäftsmann, und wenn es sein muß auch ein entschlossener Politiker. Im Sommer 1999 liquidierte der Kreml den Föderalen Dienst für Fernsehen und Rundfunk sowie das Pressekomitee der RF, zwei Einrichtungen, die sich eine eigenständige Position in der staatlichen Medienaufsicht erarbeitet hatten. An ihrer Stelle schaltet und waltet Lesins „Ministerium in Angelegenheiten der Presse, des Rundfunks und der Mittel der Massenkommunikation“. Seitdem ist die finanzielle Überprüfung von RTR zurückhaltender geworden. Um einiges aggressiver wurden jedoch die staatlichen Aufsichtsmaßnahmen gegen kleinere Massen­medien.

 

„Der Bolschewismus ist zu uns zurückgekommen!“

 

Im September 1999 hob Lesin vorübergehend die Lizenz der Fernsehgesellschaft „Peterburg“ auf und ließ den Sender für kurze Zeit abschalten. Das Programm hatte eine Sendung gezeigt, für deren Ausstrahlung ORT kurz zuvor bereits verwarnt worden war. „Peterburg“ ist das schwache Überbleibsel des früheren rußlandweiten „5. Kanal Peterburg“, dessen Frequenz 1997 per Präsidialdekret dem staatlichen Moskauer „Telekanal Kultura“ zugeteilt wurde. Auch vor den Wahlen zur Staatsduma im Dezember 1999 erteilte Lesin den verschiedensten Massenmedien schriftliche Verwarnungen. Als wirksames Druckmittel diente dabei immer wieder die Entscheidung über die Erteilung, Verlängerung oder Entziehung der Sendelizenz. Nach den Präsidentschaftswahlen sprach Lesin gegen Luškovs Moskauer Fernsehprogramm „TV Zentr“ Verwarnungen aus, um die Lizenz des Senders nicht verlängern zu müssen.

 

Die neue staatliche Medienpolitik deutet darauf hin, dass sich mit dem Amtsantritt von Präsident Putin ein politischer Richtungswechsel vollzogen hat. Sergej Alekseev, einer der Väter der neuen, demokratischen Verfassung Rußlands, schrieb zu Anfang des Jahres: „Der Bolschewismus ist zu uns zurückgekommen!“. Der Anlaß für diesen Ausruf war die Babitskij-Story, die die Öffentlichkeit und die Medien über einen Monat lang in Atem hielt. Ende Januar wurde der „Radio Liberty“-Journalist Babitskij entführt und gefangen­genommen. Trotz Recherche-Verbot im tschetschenischen Krisengebiet hatte Babitskij, ausgestattet mit illegalen Papieren, wochenlang über die Kampfeinsätze der föderalen Streitkräfte und ihre Folgen für die Zivilbevölkerung berichtet. Plötzlich erhielt man von ihm kein Lebenszeichen mehr. Dann hieß es von offizieller Seite, er sei gegen drei russische Soldaten ausgetauscht und einer tschetschenischen Kampfgruppe übergeben worden. Auf den Druck insbesondere der USA hin ließ der staatliche Sicherheitsdienst FSB Babitskij jedoch am 28. Februar wieder frei. Er war in einem Gefangenenlager für Tschetschenen festgehalten worden. Seine Freilassung erfolgte auch mit Rücksicht auf die bevorstehenden Präsident­schafts­wahlen. Im Interview mit der Tageszeitung Kommersant bezeichnete Putin den Journalisten Babitskij gleichwohl als Verräter, der auf der Seite des Feindes gekämpft habe. Babitskij sei kein Journalist, und wenn er wie ein russischer Bürger behandelt werden wolle, dann habe er sich auch wie ein gesetzes­treuer Bürger zu verhalten.

 

Am 7. Mai legte Putin den Eid auf die Verfassung ab und versprach die „Diktatur des Gesetzes“. In der Inaugurationsrede verkündete er, daß „das Staatsoberhaupt in Rußland immer ein Mensch war und sein wird, der für alles verantwortlich ist. Für alles, was in Rußland passiert.“ Nur vier Tage später stand dem größten und unabhängigsten Fernsehsender Rußlands, NTV, eine demütigende Strafaktion des Kreml bevor.

 

Am 11. Mai um 9:30 Uhr, rückten etwa 20 Komman­dos maskierter Männer, gefolgt von Beobachtern oder „Zeugen“ in Zivil, in die Zentrale der Media Most ein, der Holding von NTV und einigen bekannten Printmedien. Sie überrannten den Sicherheitsdienst und befahlen allen Mitarbeitern und Angestellten, Schränke und Safes zu öffnen, die Zimmer zu verlassen und sich in der Eingangshalle mit dem Gesicht zur Wand aufzustellen. Die Durchsuchung stellte eine konzertierte Aktion des staatlichen Sicherheitsdienstes, der Steuerpolizei und der Generalstaatsanwaltschaft dar. Die Gruppe der Staatsanwälte, die nach dem Gesetz die Ermittlungen leitet, kam zuletzt. Der Durchsuchungsbefehl, unterschrieben von einem anderen als dem eigentlich zuständigen Ermittler, enthielt lediglich den pauschalen Hinweis auf irgendwelche Rechtsverletzungen des Sicherheitsdienstes von Media Most und war formal nur für drei Räume der Media Most-Holding gültig. Gegen Ende der Durchsuchung wurde zwar ein ergänzender Durchsuchungsbefehl beigebracht. Auch dieses Papier rechtfertigte jedoch nicht das Durchstöbern der Büros, die anderen juristischen Personen zuzuordnen waren. Die erstinstanzliche Gerichtsentscheidung fiel eindeutig aus: Die Durchsuchenden verstießen gleich mehrmals gegen das Gesetz.

 

Das Benehmen der zivilen „Zeugen“ der Durchsuchung war auffällig. Sie wachten nicht über die Rechtmäßgikeit der Durchsuchung, sondern waren damit beschäftigt, die Angestellten der Media Most nicht aus den Augen zu lassen. Zwischendurch vernahm man sogar einvernehmliche Gespräche zwischen „Zeugen“ und Maskierten, wie zum Beispiel: „Wer bist du denn heute, Zeuge? – Ja, heute fungiere ich als Zeuge...“ Eingesammelt wurden Computer, Aufzeichnungsgeräte, private Notizbücher, Postkarten usw. Wäre es den Ermittlern wirklich, wie vom FSB erklärt wurde, um die Verletzung der Privatsphäre und des Brief- und Fernmeldegeheimnisses durch den Sicherheitsdienst der Media Most-Holding gegangen, wären umfassende Untersuchungen notwendig gewesen. Wie der leitende Ermittler der Generalstaatsanwaltschaft Danilow jedoch später zugeben mußte, hatten die Gegenstände und Dokumente, die der FSB-General Sdanowitsch gleich am nächsten Tag im Fernsehen präsentierte, mit den Ermittlungen gegen Media Most in Wirklichkeit nichts zu tun. Für die Fernsehzuschauer entstand der Eindruck, als sei ein schon lange notwendiger Schlag gegen die private Sicherheitsarmee Gusinskijs erfolgt. Die bekannten Fernsehkommentatoren Dorenko und Svanidze deuteten sogar das Vorliegen einer amerikanischen bzw. jüdischen Verschwörung gegen Rußland an - Antisemitismus und Spionomanie im ersten und zweiten staatlichen Fernsehprogramm Rußlands.

 

Die erste Reaktion der freien Medien auf diese ungewöhnliche Demonstration staatlicher Macht war die Frage, ob denn Putin von der Aktion wußte. Er hatte sich am gleichen Tag im kleinen blauen Gästezimmer des Kreml zu einem informellen Gespräch mit Ted Turner (CNN) getroffen. Dennoch ist es sehr unwahrscheinlich, daß eine so spektakuläre Durch­suchungsaktion ohne die vorherige Zustimmung Putins erfolgte. Fraglich ist höchstens, ob Putin das hierdurch entstandene Bild des pressefeindlichen Polizeistaates billigend vorhergesehen hat. Kunden, Partner und potentielle Investoren von NTV wurden jedenfalls gründlich verschreckt.

 

Die unabhängige Wochenzeitung „Obščaja gaseta“ brachte wieder wie damals beim August-Putsch von 1991 eine Sonderausgabe zur Verteidigung der Pressefreiheit heraus. Viele namhafte Journalisten, Politiker und Menschenrechtler beteiligten sich und verurteilten die Staatsaktion: Die gesichtslose Staatsgewalt verlasse sich immer auf den Mann mit der Maske. Das Land schlage langsam den Weg Pinochets ein. Am Werk seien Kleptokraten, die sich für ihre Zwecke der Staatssicherheit bedienten. Schließlich verfaßte auch der Journalisten­verband Rußlands eine Erklärung. Er nannte die Durchsuchung einen verfassungswidrigen Akt staatlicher Willkür zum Zwecke der Einschüchterung unabhängiger Massenmedien. Die „Zensur der schwarzen Masken“ stelle das letzte Glied in einer Reihe von Beinträchtigungen der Pressefreiheit dar. Der Wegfall der staatlichen Unterstützung der Zeitungen, der ständige Miß­brauch der Lizenzerteilung als Instrument politischer Selektion und die staatliche Unterdrückung oder Verfolgung von Journalisten wie Babitskij fügten sich ein ins allgemeine Bild pressefeindlicher Staatsbeamter.

 

Bleibt zu fragen, welchen Sinn die Strafaktion hatte. War es nicht zumindest gerechtfertigt, dem Verdacht der systematischen Verletzung der Privatsphäre und des Brief- und Fernmelde­geheimnisses durch den an die 2000 Mitarbeiter zählenden Schutzdienst der Media Most nachzugehen? Schließlich hat sich in Rußland ein merkwürdiges System privater Sicherheitsdienste herausgebildet. Viele von ihnen beschäftigen sich nicht nur mit dem Firmenschutz, sondern auch mit dem Abhören von Privatgesprächen und dem Sammeln von kompromittierendem Material. Die Verletzung des Fernmeldegeheimnisses ist in Rußland offensichtlich schon lange nicht mehr das Privileg des staatlichen Sicher­heitsdienstes, sondern ein von vielen verübtes Vergehen. Warum also nicht dem Unwesen ein Ende bereiten? Aus Rußland soll ein demokratischer Rechtsstaat werden, wie Putin versprach.

 

Eine Reihe von Umständen deutet jedoch darauf hin, daß die Motive der staatlichen Ermittler rein politischer Natur waren. Die unversöhnliche Gegensätzlichkeit, die das Verhältnis des Kreml zu Media Most seit einiger Zeit bestimmt, zeigt sich auf vielen Ebenen, politischen wie geschäftlichen und personellen. Die politische Neutralität und unabhängige Berichterstattung von NTV stellt ein Ärgernis für den Kreml dar, der sich stets um sein Ansehen im In- und Ausland bemüht. Die NTV-Berichte aus Tschetschenien und die Sendungen im Wahl­kampf waren einfach zu kritisch. Die Aufdeckung illegaler Machen­schaften wichtiger Staatsbeamter hat darüber hinaus auch persönliche Rache­gelüste geweckt. Die Liste der Feinde von Media Most ist lang. Da gibt es den einflußreichen Geschäftsmann Berezovskij, der sich mit „seinen“ Massenmedien ständig „Informationskriege“ mit Media Most liefert. Außerdem ist da sein Freund und Leiter der Präsidial­administration Vološin und dessen Freunde. Und schließlich zählen auch einige Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft und des FSB zu den Gegnern. Am 26. April dieses Jahres veröffentlichte die der Media Most angehörige Tageszeitung „Segodnja“ einen Artikel über illegale kommerzielle Betätigungen des stellvertretenden Direktors des FSB. Die Staatsanwaltschaft interessierte sich daraufhin nicht so sehr für die möglichen straf­rechtlichen Konsequenzen des mitgeteilten Verdachts, als vielmehr für die Frage, auf welchem Wege die unerhörten Tatsachen beschafft worden waren. Noch am gleichen Tag der Veröffentlichung wurde eine Strafakte wegen Verletzung der Privat­sphäre und des Brief- und Fernmelde­geheimnisses angelegt, persönlich unter­schrieben vom stellvertretenden Generalstaatsanwalt Kechlerov. Auf diese Strafakte, so scheint es, kamen die Ermittler für die Durchsuchung der Media Most zurück.

 

Zu ergänzen ist, daß der Generaldirektor von NTV Kiselëv etwa zwei Wochen nach der Durchsuchungsaktion bei der Media Most-Holding verkündete, die satirische Puppenshow „Kukly“ müsse auf den bisherigen Hauptdarsteller, die Figur Putin, verzichten, denn „dieses war eine der Bedingungen, die der Kreml unserem Kanal stellte, damit man uns in Ruhe läßt. Na ja, wir werden sehen, ob sich dadurch bei denen da oben Erleichterung breit macht, wenn sie das Programm sehen.“ Wie die Internetseite „Russkij Deadline“ versichert, war die populäre Sonntagssendung aber auch ohne Putin ganz lustig. Der gerade als Leiter der Präsidial­administration wieder bestätigte Vološin alias Moses führte sein Volk bzw. die Gouverneure Rußlands durch die Wüste und wandte sich dabei von Zeit zu Zeit an Gott den Herrn, der auf russisch mit „GB“ abgekürzt dieselben Initialen wie die Staatssicherheit hat.

 

Die Media Most-Holding

 

Offenbar hat NTV nicht mehr viel zu verlieren. Die einstmals relativ starke finanzielle Position der Media Most-Holding scheint dahingeschwunden. NTV hat nach eigenen Angaben über 200 Millionen US-$ Schulden angehäuft. Ein rettender Verkauf der Most-Bank scheiterte zunächst, wie die „Moskovskie novosti“ unter Berufung auf die „Herald Tribune“ berichteten, am persönlichen Veto Vladimir Putins. Ohne Gazprom hätte die Media Most-Holding allem Anschein nach bereits seit längerer Zeit den Bankrott anmelden müssen. Der finanzstarke Energiekonzern griff der Media Most schon mehr als einmal mit Kreditbürgschaften unter die Arme; er hält bereits hohe Beteiligungen an der Holding. Eine weitere Schuldentilgung durch Gazprom bringt für Media Most in jedem Fall die Notwendigkeit mit sich, mit neuen Mehrheiten leben zu müssen.

 

Eigentlich fragt sich noch heute, wie ein unabhängiger Sender wie NTV in Rußland so groß werden konnte. Schließlich hat sich in der Amtszeit El´cins auch kein staatsfernes öffentlich-rechtliches Fernsehen etablieren können. Präsident El´cin trat zwar immer als Garant der Pressefreiheit auf. Er verfügte eine beeindruckende Reihe von präsidentiellen Dekreten zugunsten der Pressefreiheit. Er wollte oder konnte aber keine staatsfreien öffentlich-rechtlichen Programme dulden. Die ständige Konfrontation des Präsidenten mit einer von der KP Rußlands dominierten Staatsduma ließ eine klare Frontlinie entstehen. Die beiden großen Fernsehprogramme ORT und RTR stellen - heute mehr denn je - Staatsfernsehen im wahrsten Sinne des Wortes dar. Private Sender, die auf Sendung gehen möchten, sind darauf angewiesen, die staatliche Sende- und Anlagenlizenz von einer der Regierung direkt unterstellten Instanz erteilt und verlängert zu bekommen. Obgleich das liberale Gesetz „Über die Massenmedien“ von 1991 vorsieht, daß die Lizenzen von einer staatlich unabhängigen „Rundfunkommission“ auf gesetzlicher Grundlage erteilt werden, gelang es bis heute nicht, ein entsprechendes Rund­funkgesetz zu verabschieden. Die Lizenz von NTV, die bis zum Jahr 2003 gilt, wurde dem Sender 1996 direkt durch die Hand des Präsidenten geschenkt, aufgrund eines Präsidialdekrets.

 

Seine Unabhängigkeit verdankt NTV also nicht nur der Tüchtigkeit seiner Mitarbeiter, sondern auch einer Reihe von glücklichen Umständen. Während der letzten sieben Jahre konnte sich der erfolgreiche Sender einen Balanceakt zwischen loyalem Verhalten und selbständiger Programmpolitik leisten. Im Oktober 1993 von bekannten Journalisten und ehemaligen Mitarbeitern des Informationsdienstes von Ostankino gegründet, erwarb sich NTV schnell den Ruf guter Berichterstattung. Wie die Zeitung „Argumenty i fakty“, die 1991 die Rekord­­zahl von über 30 Millionen Abonnenten erreichte, gewann NTV mit dem tatsachenorientierten Nachrichtenstil westlicher Prägung viele Zuschauer. Hilfreich war außerdem das Geschick des Unternehmers Wladimir Gusinskij, der 1989 die Most-Gesellschaft gegründet hatte und zunächst im Immobilien­geschäft tätig war. Aufgrund guter Beziehungen zu Moskaus Bürgermeister Jurij Luškov wurde die Most-Bank zur Bank Moskaus, d.h. sie erhielt den privilegierten Status der von der Stadtregierung beauftragten Bank. Die Reichtümer, die die Most-Gruppe in den Jahren 1992-1994 durch begünstigte Immobiliengeschäfte und außerordentliche staatliche Kredite anhäufte, investierte Gusinskij zum großen Teil ins Mediengeschäft, insbesondere in die kostspielige Vergrößerung des Senders NTV.

 

1995 machte sich NTV mit ungeschönten Kriegsbildern vom Tschetschenienkonflikt einen Namen und bewirkte, das sich sogar das zweite staatliche Fernsehprogramm RTR der kritischen Berichterstattung anschloß. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1996 schwenkte NTV wieder auf die Linie des Kreml ein und favorisierte – in Ermangelung eines anderen Gegenkandidaten zum Kommunistenführer  Zjuganow – den Amts­inhaber Boris El´cin. Nach der gelungenen Wieder­wahl erhielt NTV als Belohnung für die Unterstützung El´cins die starke Frequenz des vierten Kanals zugeteilt. Im Juni 1997 gewährte man NTV auf die amerikanischen Investitions­kredite für das Satellitensystem „Bonum-1“ staatliche Garantien. 1997 wurde die Media Most-Holding geschaffen. Diese Holding vereint unter ihrem Dach das beliebte Moskauer Radio „Echo Moskvy“, das Wochenjournal „Itogi“ (zusammen mit Newsweeks), die Tageszeitung „Segodnja“ und vor allem „NTV“ oder auch „Neues Fernsehen“, das einzige private Fernsehprogramm, dessen Reichweite mit den beiden staatlichen Sendern ORT und RTR vergleichbar ist. Alle diese Massen­medien vertreten einen hohen Standard und können - im weitesten Sinne des Wortes - dem demokratischen Lager zugerechnet werden. Gusinskijs Media Most-Holding stellt ein Medienunternehmen dar, dessen fortschrittliche Informations­politik für die Pressefreiheit in Rußland eine große Bedeutung hat. Die Entwicklung der Media Most-Gesellschaft scheint ihren Zenit allerdings schon seit längerem überschritten zu haben.

 

Erste Anzeichen des Niedergangs zeigten sich bereits im Dezember 1994, als Präsidentengarde bei der Most-Bank eine Razzia veranstaltete und die Mitglieder des Sicherheitsdienstes der Bank mit den Gesichtern im Schnee lagen. Wie Koržakov später zugab, wollte er „zeigen, wer der Herr in der Stadt ist“. In dieser „Schlacht um Moskau“ geriet Luškov arg in Bedrängnis, und man entzog der Most-Bank bald darauf ihre Privilegien als Moskauer Stadtbank – ein finanzieller Verlust, aber auch ein Imagegewinn für die „Most-Medien“. Luškovs Situation verbesserte sich erst Ende 1995, als Premierminister Viktor Černomyrdin dem Moskauer Bürgermeister wieder demonstrativ die Hand reichte.

 

Ein zweiter Rückschlag für die Media Most-Holding war die Finanz- und Bankenkrise vom August 1998, denn man hatte im Vertrauen auf gleichbleibende ökonomische Verhältnisse größere lang­fristige Investitionen getätigt und sah sich nun plötzlich zu einer beträchtlichen Verschuldung gezwungen. Zugleich verringerten sich die Einnahmen aus dem Werbefernsehen drastisch. Die heutigen Schulden der Media Most gehen vor allem auf die Auswirkungen der damaligen Finanzkrise zurück.

 

Den dritten Rück­schlag erlitt Media Most voriges Jahr. Die staatliche Außenhandelsbank machte ihren Kredit an die Media Most in Höhe von 42,2 Millionen US-$ gerichtlich geltend und lehnte sowohl eine Verlängerung als auch eine Annahme von Obligationen kategorisch ab. Es wurde vermutet, daß hinter dieser ungeduldigen Rückforderung der staatlichen Bank in Wirklichkeit Boris El´cins „Kreml-Familie“ stand, vor allem der von NTV kritisierte Leiter der Präsidial­administration Voloschin. Als Bestätigung hierfür dienen die folgenden vergeblichen Versuche des Kreml, die Gazprom-Führung auszuwechseln, die der Media Most-Holding das finanzielle Überleben sicherte.

 

Die Festnahme Gusinskijs

 

Die Nachricht von der Verhaftung Gusinskijs am 13. Juni löste eine Welle der Empörung aus. Niemand hatte damit gerechnet, dass die Generalstaatsanwaltschaft Rußlands einen Monat nach der spektakulären Durchsuchung der Media Most-Holding am 11. Mai so weit gehen würde, den Chef des größten privaten Medienunternehmens Rußlands einfach „bis auf weiteres“ zu inhaftieren. Gusinskijs Kaltstellung wurde von den Chefredakteuren der Most-Medien NTV, Itogi, Segodnja und Echo Moskvy als aggressiver Schlag des Kreml gegen die Presse­freiheit verstanden. Unter der Überschrift „Wunschträume des Kreml“ (Itogi) präsentierten sie sich im Internet auf einem Gruppenbild mit Handschellen. Erst die nach­drückliche Unterstützung, die Gusinskij als Exponent der freien Medien und als Vizepräsident des jüdischen Weltkongresses aus dem In- und Ausland erfuhr, bewirkte nach drei Tagen seine vorläufige Freilassung gegen Kaution.

 

Unterdessen gab der Gegenspieler Gusinskijs, der Geschäftsmann Berezovskij, dem Spiegel ein Interview und wies nicht ohne Genugtuung auf die „unkonstruktive Opposition“ der Most-Medien hin: „Was immer von Putin kam: Alles wurde heruntergemacht. Gusinskij musste sich darüber im Klaren sein, wohin das führen würde.“ Berezovskij hingegen, wie Gusinskij im Mediengeschäft sehr engagiert, hatte den Kreml in Parlaments- wie Präsidentschaftswahlen maßgeblich unterstützt. Seitdem konnte er seine starke Position wieder ausbauen. Über hohe finanzielle Beteiligungen kontrolliert er faktisch den größten Fernsehsender Rußlands, die ORT-Aktiengesellschaft, die sich zu 51% im Staats­eigentum befindet. Kürzlich erhielten seine Tochter und der von Berezovskij favorisierte Politkommentator Dorenko bei ORT Direktoren­posten. Berezovskij hat übrigens auch gezeigt, was er unter konstruktiver Opposition versteht. In scharfer Form wandte er sich gegen die Staatsreform Putins, die auf eine Entmachtung des Föderationsrats und der Provinzgouverneure Rußlands hinausläuft. Die Abgeordneten der Staats­duma reagierten auf die Kritik des ungeliebten „Oligarchen“ allergisch und stimmten mit großer Mehrheit für die Reform.

 

Kaum einer glaubt daher noch den Beteuerungen der staatlichen Ermittler, ausschließlich im Interesse der Strafverfolgung tätig geworden zu sein. Anlässlich der Durchsuchung der Media Most-Holding hatte die Generalstaatsanwaltschaft erklärt, lediglich gegen den Sicherheitsdienst der Holding vorgehen zu wollen. Das Brief- und Fernmeldegeheimnis und nicht zuletzt die Privatsphäre der Media Most-Mitarbeiter seien von Gusinskijs Sicherheitsleuten systematisch verletzt worden. Im Fall Gusinskij lautet der Vorwurf, dieser habe sich persönlich in großem Maßstab Staatseigentum angeeignet. Die vor kurzem wiedereröffnete Akte „Russkoe Video“ ist jedoch inzwischen über zwei Jahre alt. Das staatliche Fernsehunternehmen wurde im März 1998 im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen den früheren Petersburger Bürger­meister Sobčak wegen des Verdachts der Korruption durchsucht. Hauptbeschuldigter war der General­direktor von „Russkoe Video“. Vieles spricht dafür, dass bei der erneuten Untersuchung des Falles im Hinblick auf Gusinskij politische Interessen mit im Spiel sind. Gusinskij investierte 1997 in die Tochtergesellschaft, die GmbH „Russkoe Video – 11. Kanal“, und erwarb zum Preis von lediglich 25 Mio. „alten“ Rubeln eine Beteiligung von 75 Prozent. Nach Ansicht der staatlichen Ermittler stellte der Anteil jedoch einen Wert in Höhe von 10 Mio. US-$ dar.

 

Die Durchsuchung der Media Most-Holding und die Verhaftung Gusinskijs stellen somit nur die letzten, zugleich aber die entschiedensten staatlichen Angriffe auf unabhängige Medien­unternehmen in Rußland dar. Die Signalwirkung für die übrigen Massenmedien ist beträcht­lich. Es bleibt abzuwarten, ob Vladimir Putin, für den die Freiheit des Wortes einen „unum­stößlichen Wert“ hat, wie sein Pressedienst mitteilte, auch so frei ist, diesem Wert wieder Geltung zu verschaffen. Personelle Konsequenzen hat Putin bisher jedenfalls nicht gezogen. Im Gegenteil, die wichtigsten Kabinettsposten der neuen Regierung Kazjanov wurden wieder mit den bisherigen Leuten besetzt. Zum Abschuss freigegeben wurde vielmehr das Fernseh­programm des unbequemen Moskauer Bürgermeisters Jurij Luškov, TV Zentr, dessen Lizenz abgelaufen ist. Einer der drei neuen Bewerber für die freigegebene Sendefrequenz, REN-TV, gab inzwischen bekannt, sich am Ausschreibungsverfahren nicht beteiligen zu wollen. Es sei „unethisch, gegen einen funktionierenden Kanal anzutreten, in den das Geld der Steuerzahler investiert wurde und der eine gute Entwicklungsperspektive besitzt (...).“ - Angesichts dieser Medienpolitik des Kreml können weder die Losung von der Diktatur des Gesetzes noch der Hinweis auf die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft darüber hinwegtäuschen, dass durch Rußlands Etagen der Macht ein neuer Geist weht. Beurteilt man den Präsidenten und die ihn umgebenden Politiker nach ihren Taten, und nicht nach ihren Worten, so stellt man ein gestärktes Selbstbewusstsein und eine neue, fast unverhohlene Freude an der Staatsgewalt fest.