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9. Schlussbetrachtung

 

Nach dem Ende der sozialistischen Sowjetunion und der Entstehung der Gemeinschaft unabhängiger Staaten wurde die Phase des staatlichen Neubeginns der Rußländischen Föderation oft als postsozialistische Übergangsperiode bewertet, deren vorrangiges Ziel die Einführung der freien Marktwirtschaft und die Etablierung eines demokratischen Rechtsstaates ist. Diese Betrachtungsweise weckt im Falle anderer osteuropäischer Staaten wie Polen und Tschechien weniger Zweifel. Der Reformbedarf der Rußländischen Föderation ist ungleich größer,[1] und nicht alle Versuche, den sowjetischen Einparteienstaat wirtschaftlich und politisch zu reformieren, rechtfertigen die Annahme, dass sich das ehemalige Kernland des Sozialismus bereits auf dem direkten Wege zum liberalen Rechtsstaat befinde.[2]

 

Um von der zentral gesteuerten Planwirtschaft sogleich zur freiheitlichen Marktwirtschaft überzugehen, fehlte das Geld. Der im Verlauf von siebzig Jahren aufgebaute militärisch-industrielle Komplex, das kostspielige Rückgrat der sowjetischen Wirtschaft, ließ sich nicht ohne größere Investitionen modernisieren oder in zivile Industrie konvertieren. Um die Denkmuster und Strukturen der kommunistischen Parteiherrschaft zu überwinden und einen Rechtsstaat zu entwickeln, fehlte die Rechtstradition. Die Annahme einer demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassung bedeutete nicht, dass Gesetzesvorbehalt und Gewaltenteilung auch sogleich funktionieren würden. Schließlich garantierte der Wechsel der Eliten allein für sich genommen noch nicht den Anfang eines neuen Staates und einer veränderten Gesellschaftsordnung. Unter der Bevölkerung blieb die Ansicht weit verbreitet, dass die Regierenden sich den Staat immer zum eigenen Vorteil einrichten. Anhaltspunkte für diese Sichtweise waren vorhanden. Die spontane oder "wilde Privatisierung" (1987-89) und die spätere Massenprivatisierung (1992-94) wurde häufig als Ausdruck eines neuen Nomenklatur-Kapitalismus bewertet, der es der führenden Klasse aus höherrangigen Beamten und ehemaligen Funktionären ermöglichte, ihre persönlichen Beziehungen und ihre politische Macht in wirtschaftliche Stärke und neues Privateigentum umzuwandeln.[3] Man stellte sogar die These auf, dass schon geraume Zeit vor dem Zerfall der UdSSR "Teile der Führung der Sowjetunion zielstrebige Vorbereitungen für die von ihnen erwartete Auflösung des Landes" trafen und die Aneignung des Staatseigentums in beträchtlichem Umfang von langer Hand planten.[4]

 

Die unterschiedlichen Verschwörungsszenarien, die entworfen wurden, sind zwar nicht alle besonders glaubhaft. Wie festzustellen ist, "hat sich die ehemals einheitliche sowjetische Elite in zwei große Gruppen gespalten: in eine politische und eine Wirtschaftselite."[5] Dabei scheint der Startplatz für den Aufstieg in die heutige Führung vor allem der zweite und dritte Rang der früheren Nomenklatura gewesen zu sein.[6] Beides spricht gegen die Annahme, es habe eine Metamorphose der obersten Parteiführung in die neue politische und wirtschaftliche Führung Rußlands stattgefunden. Die Reformen Rußlands verliefen in ungeregelten Bahnen, und nicht alle ihre Ergebnisse waren vorhersehbar - selbst für Eingeweihte nicht.

 

Die frühe gesetzliche Abschaffung der staatlichen Vorzensur im Sommer 1990 kam zum Beispiel mehr oder weniger überraschend. Sie konnte nicht von heute auf morgen zu unabhängigen Massenmedien führen. Aber der Prozess ihrer Befreiung hatte schon 1986 begonnen, und beim staatlichen Neubeginn der RF konnte man auf den ersten, substantiellen Ergebnissen der Umgestaltung des Mediensektors aufbauen und die Unabhängigkeit der Massenmedien schrittweise weiterentwickeln und ausbauen. Die Pressefreiheit war der erste große sichtbare Erfolg der Reformen und zugleich die wichtigste Voraussetzung für die weiterhin notwendige Modernisierung des Staates. Hinsichtlich der heute bestehenden Möglichkeiten freier öffentlicher Meinungsäußerung kann wirklich von einer postsozialistischen Errungenschaft gesprochen werden. Die parteigesteuerte "Erneuerung des Sozialismus", der "Neo-Leninismus" M. Gorbačevs und das "Neue Denken" in der Außenpolitik mündeten schließlich ein in die Entideologisierung des sowjetischen Staates. Das Propagieren eines "Sozialismus mit menschlichem Gesicht" zwang die Kommunistische Partei der Sowjetunion zum umdenken, und Gorbačevs Forderung nach Offenheit und Transparenz der wirtschaftlichen und staatlichen Vorgänge und Institutionen setzte die Massenmedien als Vorreiter und Katalysator der gesellschaftlichen Erneuerung in Bewegung. Ein großer Teil der progressiv Denkenden und gegenüber dem alten System kritisch Eingestellten fand in den Medien ein neues Wirkungsfeld. Als dann auch noch das Schlagwort von der "Entwicklung der Demokratie auf breiter Basis" fiel und sich landesweit "informelle Gruppen" bildeten, konnten Presse und Fernsehen damit beginnen, wieder eine eigenständige, parteiunabhängige Rolle im politischen Geschehen zu spielen.

 

Dennoch war es ein kleines Wunder, dass bereits vor dem Untergang der Sowjetunion das erste liberale Pressegesetz dreier Juristen des Instituts für Staat und Recht der Akademie der Wissenschaften verabschiedet werden konnte (vgl. die Einordnung der beiden ersten Mediengesetze in die politische Entwicklung der RF am Ende dieses Kapitels). Wie die Religionsfreiheit, so erschien auch die Pressefreiheit nicht allen Russen als natürliche Folge der Reformen. Sie war zunächst ein eher unbeabsichtigtes Ergebnis der parteigeführten Perestrojka, ein Zugeständnis an die langjährigen Forderungen der Menschenrechtsbewegungen, und wurde erst später zum demokratischen Attribut der Rußländischen Föderation. Nicht einmal die Reformer unter den politischen Führungskräften des Landes haben geschlossen und bedingungslos die Umsetzung der Freiheitsrechte vorangetrieben. L. Kravčenkos Präsidentenfernsehen und M. Gorbačevs Reaktionen auf die Pressekritik an seiner Nationalitätenpolitik verdeutlichten, dass es vom gesetzlichen Zensurverbot bis zur wirklichen Unabhängigkeit der Massenmedien von staatlichen Vorgaben noch ein weiter Weg sein konnte. Ohne den populären Präsidenten der RSFSR B. El´cin und die ihn unterstützende radikaldemokratische Bewegung wäre die Pressefreiheit wahrscheinlich bald wieder beträchtlich eingeschränkt worden. Es ist der Unfähigkeit der Moskauer Putschisten aus dem Regierungskabinett Gorbačevs zu verdanken, dass die Restauration misslang und die Führung der Republik Rußland die Chance erhielt, einen zweiten politischen Neuanfang für die Reformen zu starten.  

 

M. Gorbačevs Perestrojka hatte sich schließlich als erfolglos erwiesen, und als sein freiwilliges oder erzwungenes Zusammengehen mit den nationalistischen und reformfeindlichen Kräften in der KPdSU immer bemerkbarer wurde, musste er entdecken, dass seine politischen Gegner mächtiger und die Bürger der Sowjetunion selbstbewusster geworden waren. B. El´cins blitzartige, entschlossene Reaktion besiegelte sodann das Ende der Staatsherrschaft der kommunistischen Partei. B. El´cins Rückhalt unter der Bevölkerung war damals so groß, dass er die ehemalige Staatspartei kurzerhand verbieten und radikale wirtschaftliche Reformen einleiten konnte. Preisfreigabe, Freihandel und Massenprivatisierung sollten den Übergang zur freien Marktwirtschaft erzwingen, die Anhäufung von Kapital wurde als wesentliche Voraussetzung für wirtschaftlichen Fortschritt angesehen[7] und die Stärkung des Rubel stand über Jahre hinweg an erster Stelle in der Finanz- und Wirtschaftspolitik des Landes.

 

Der weitere wirtschaftliche Niedergang der Industrie wurde indessen nicht aufgehalten, und es blieben viele "Inseln des Sozialismus"[8] in ihrer bisherigen Gestalt bestehen, wie zum Beispiel der militärisch-industrielle Komplex, der Agrarsektor oder das Bildungssystem. Ein Vergleich der volkswirtschaftlichen Situation der RF von 1991 mit derjenigen von 1998 lässt sogar daran zweifeln, ob sich überhaupt etwas zum Besseren gewendet hat:

 

"Im Jahr 1991, als die erste Regierung der Reformer gebildet wurde, registrierte man einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um drei Prozent, die Inflation lag bei 90 Prozent, das Haushaltsdefizit bei 15 Prozent des Sozialprodukts. 1998 sind die makroökonomischen Parameter fast dieselben geblieben: Der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts betrug 4,6 Prozent, die Inflation lag dicht unter 90 Prozent, das Haushaltsdefizit, unter Berücksichtigung von Schulden und aufgeschobenen Zahlungsverpflichtungen, lag bei 15 Prozent. In den vergangenen sieben Jahren, so errechnete der Direktor des Instituts für Wirtschaftsanalyse, Andrej Illarionov, sei das Wirtschaftspotential Rußlands um vierzig Prozent zurückgegangen und die Staatsschulden von 100 Milliarden Dollar im Jahr 1991 auf fast 200 Milliarden im Jahr 1998 gestiegen. Das 20. Jahrhundert sei für Rußland im wesentlichen verloren." [9]

 

Nicht nur die produzierende Industrie, sondern auch Presse und Fernsehen erlebten nach der Endphase der Perestrojka eine ungeahnte finanzielle Krise. Dank vieler Sparmaßnahmen, steuerlicher Erleichterungen und privater Investitionen gingen eine Reihe von Zeitungen und Fernsehgesellschaften verhältnismäßig schnell wieder gestärkt aus den ersten Krisenjahren hervor. Sie entwickelten sich zu gewinnorientierten Medienunternehmen, während eine große Anzahl von Massenmedien weiterhin mit Verlust arbeitet und nicht zuletzt durch staatliche Unter­stützungsmaßnahmen am Leben erhalten wird. Der auf die Gründungsphase folgende Konzentrationsprozess in den Massenmedien ist jedoch nicht ausschließlich als Krisenerscheinung zu werten, sondern auch als Antwort auf die Anforderungen des neuen Marktes und als Folge der langsamen, aber stetigen Einführung betriebswirtschaftlicher Kriterien (vgl. siebtes Kapitel, 2 c, d).

 

Obgleich die während der Amtszeit Präsident B. El´cins entstandene Gesellschaftsordnung mitunter als unproduktiver Nomenklatur-Kapitalismus kritisiert wurde, ist sie dennoch ein relativ offenes System, das den Massenmedien einige Freiräume gewährt hat. Die kurz- und auch längerfristigen Investitionen der Großbanken und vermögenden Gesellschaften des Rohstoffsektors in den Markt der Massenmedien sicherten eine große Zahl von staatsunabhängigen Medienunternehmen. Sie würden eine Wiedereinführung der staatlichen Zensur sehr erschweren, auch wenn man aufgrund der Verflechtungen von Politik und Wirtschaft die Nähe der sogenannten "Oligarchen" zur Regierung in Betracht zieht und die formale Staatsferne privater Medienkonzerne hin und wieder zur vertrauensvollen Beziehung und Zusammenarbeit mit staatlichen Strukturen wird (vgl. achtes Kapitel, 2). Vor dem Hintergrund der verstärkten Kontrolle über die staatlichen Massenmedien, der fast übermächtigen Präsidialadministration und der über weite Strecken handlungsunfähigen Bundesversammlung, deren Gesetzentwurf-Aktionismus über den gesetzgeberischen Stillstand der letzten Jahre hinwegtäuschte, sind die privaten Kapitalgeber geradezu als die bisherigen Retter der Pressefreiheit erschienen. Zwischen ihnen und den Medien bildete sich eine Art "politischer Grundkonsens"[10] über die Notwendigkeit, die Pressefreiheit als Bestandteil der demokratischen, die freie wirtschaftliche Betätigung ermöglichenden politischen Ordnung zu schützen und zu verteidigen.

 

Am deutlichsten trat dieser Grundkonsens während der Präsidentschaftswahlen von 1996 hervor. In der folgenden Zeit begannen die "Informationskriege", die einige Großakteure zentraler Massenmedien aus wirtschaftlichen Motiven entfesselten. Sie enthüllten die wirtschaftliche Abhängigkeit vieler Massenmedien von kapitalkräftigen Fremdfirmen und brachten die russische Journalistik in Misskredit. Man befürchtete sogar, dass anstelle des Staates nunmehr einige Großaktionäre die Zensur ausüben könnten, und sah den Fall der "Izvestija" gleichsam als Beweis für die neue, fast uneingeschränkte Macht der Wirtschaftsunternehmen an. Es war aber auch ein gutes Zeichen, dass die Verteidiger der Pressefreiheit ihre Aufmerksamkeit verstärkt den Einflüssen der Privaten widmeten. Damit zeigten sie, dass sie den Staat nicht mehr unbedingt als die größte Gefahr für die Freiheit der Massenmedien ansahen. Ob die neue Stärke der Privaten eine langfristige Erscheinung sein wird oder der Staat wieder mehr Einfluss gewinnt, hängt nicht zuletzt von der wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands ab. Im siebten Kapitel sollen hierzu Einschätzungen vorgestellt werden, und im achten Kapitel sollen neuere Entwicklungen im staatlichen und privaten Bereich genauer untersucht werden. Zuvor ist es jedoch notwendig, die rechtlichen Grundlagen der Freiheit der Massenmedien darzustellen. Das Gesetz "Über die Massenmedien" von 1991 und die Verfassung der RF von 1993 haben nicht nur die bisherige Entwicklung geprägt, sondern sie könnten sich zukünftig als die wichtigste Stütze der Redaktionen und Journalisten Rußlands erweisen.

 

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[1] Vgl. z. B. die Struktur der Business-Schicht Rußlands im Vergleich mit anderen osteuropäischen Ländern: T. Zaslavskaja (1999), Die Business-Schicht der russischen Gesellschaft, in: Rußland - wohin? Rußland aus der Sicht russischer Soziologen, S. 127 (143).

[2] Vgl. die Einschätzung der rechtsstaatlichen Fortschritte bei O. Luchterhandt (1998), "Rechtsstaat Rußland", Beachtliche Fortschritte - schwere Defizite - ungünstige Perspektiven, in: Internationale Politik 10/98, S. 12 - 22.

[3] Vgl. O. Steffen (1997), Die Einführung des Kapitalismus in Rußland, S. 201 ff. und 225 ff. und V. Belocerkovskij (1996), Was geschieht mit Rußland? S. 186 ff.

[4] B. Knabe (1998), Die System-Mafia als Faktor der sowjetisch-russischen Transformation, Teil I: Vorbereitung und Durchführung des Systemwechsels, Bericht des BIOst Nr. 47/98, S. 6.

[5] O. Kryshtanovskaja (1999), Die Transformation der alten Nomenklatur-Kader in die neue russische Elite, in: Rußland - wohin? Rußland aus der Sicht russischer Soziologen, S. 213 (231).

[6] O. Kryshtanovskaja (1999), aaO. S. 243.

[7] Vgl. E. Jasin (1997), How to Revive Russia´s Economy, S. 20: Östliches Privatisierungsmodell: Staatseigentum wird "verteilt" und nicht verkauft. Der Handels- und Finanzsektor sollte zuerst wachsen und dann die übrige Wirtschaft nach sich ziehen.

[8] Ju. Afanas´ev (1998), My tak i ne vyrvalis iz socializma, in: Moskovskie novosti, Nr. 50 (20. - 27.12.98), S. 12 / 13. Umgekehrt das Schlußwort E. Schneiders (1999), Das politische System der Russischen Föderation, S. 265: "Das Fundament des Transformationsgebäudes bildet die bürgerliche oder zivile Gesellschaft. Sie entsteht in Rußland erst inselförmig. Es werden noch Jahre vergehen, bis sich eine civil society in Rußland entwickelt hat und die politische Transformation dann weitgehend vollzogen ist."

[9] E. Siegl (1999), Rußlands verlorene Zeit, FAZ vom 7. Mai 1999, S. 17. Vgl. auch H. Vogel, Rußland steckt in einem Rückstau ungelöster Probleme, FAZ vom 29. Juli 1999, S. 10.

[10] P. Hübner (1998), Pressefreiheit in Rußland - Großaktionäre als Zensoren? S. 4.