6.
Gesetzesprojekt "Über den höchsten Rat für den Schutz der
Sittlichkeit des Fernsehens und des Rundfunks"[1]
Am
10. März 1999 verabschiedete die Staatsduma das seit längerer Zeit
geplante Gesetz über die Einsetzung eines aus 12 Mitgliedern
zusammengesetzten Kontrollgremiums. Obgleich bereits eingangs im
Gesetzestext darauf hingewiesen wird, dass dieser Höchste Rat für den
Schutz der Sittlichkeit nicht dazu berechtigt sein soll, die Vor- oder
Präventivzensur auszuüben (Art. 3 Punkt 1), haben die Vertreter der
Medien gegen seine gesetzliche Einrichtung lautstark protestiert.[2]
Sie erblicken hierin eine die Pressefreiheit beeinträchtigende
Institution, wenn nicht gar die Wiedereinführung der Zensur. Dem Gesetz
wurden daher schon im voraus keine Chancen für das Inkrafttreten eingeräumt,
und tatsächlich legte der Präsident der RF B. El´cin, der schon des
öfteren als Schutzgarant der Pressefreiheit aufgetreten ist, sogleich
nach der Verabschiedung sein Veto ein. Angesichts der großen
Stimmenmehrheit, mit der das Gesetz sowohl die Staatsduma als auch den Föderationsrat
passiert hatte, erschien die Überwindung des Vetos durch eine
nochmalige Abstimmung nicht ausgeschlossen. Sie scheiterte jedoch am 21.
April 1999 mit einer klaren Niederlage.[3]
Bevor auf die Kritik des Gesetzes eingegangen wird, sollen seine
wichtigsten Regelungen vorgestellt werden. a) Regelungsgehalt des Gesetzesprojekts Der
Höchste Rat zum Schutz der Sittlichkeit soll ständig tagen und sich
aus 12 Mitgliedern zusammensetzen, die keiner anderen bezahlten Tätigkeit
nachgehen, ausgenommen lehrende, wissenschaftliche oder künstlerische
Berufe. Ihre Unabhängigkeit soll durch die gleichen materiellen
Garantien gesichert werden, die auch Staatsbeamten gewährt werden (Art.
5 Punkt 3). Für seine Tätigkeit erhält der Rat Mittel aus dem
Haushalt der RF und bestimmt selbst über seine Finanzen (Art. 6). Präsident,
Regierung, Staatsduma und Föderationsrat ernennen jeweils drei
Mitglieder für die Dauer von sechs Jahren (Art. 4 Punkt 1). Die
Ernennung der Mitglieder ist unwiderruflich, denn ihre Vollmachten enden
nur auf eigenen Wunsch, durch strafgerichtliches Urteil, durch
gerichtliche Entziehung oder Einschränkung der Geschäftsfähigkeit
sowie im Todesfalle (Art. 5 Punkt 2). Der Rat wählt in geheimer
Abstimmung mit der Mehrheit seiner Stimmen einen Vorsitzenden, der im
Falle der Stimmengleichheit bei allen Entscheidungen des Rates die
ausschlaggebende Stimme hat.[4]
Sowohl bei der Wahl des Vorsitzenden als auch bei den sonstigen
Entscheidungen des Rates genügt zur gültigen Abstimmung die
Anwesenheit von sieben Mitgliedern, d. h. notfalls können Beschlüsse
mit einer Mehrheit von vier Stimmen gefasst werden (Art. 4 Punkte 1 und
2). Die
Überwachungstätigkeit des Rates besteht darin, mit der Hilfe seines
Apparates den Inhalt der gesendeten Radio- und Fernsehprogramme
daraufhin zu überprüfen, ob er zugunsten des Schutzes der
Sittlichkeit, kultureller Werte, der Familie, der Mutterschaft, der
Vaterschaft und der Kinder oder aber zur Stärkung der Liebe und
Verehrung des Vaterlandes oder des Glaubens an das Gute und die
Gerechtigkeit einschreiten muss (vgl. Art. 3 Punkt 2). Insbesondere darf
der Rat die Vertreter der Massenmedien vorladen, um sich über ihre Tätigkeit
zu informieren. Zu Beweiszwecken darf der Rat von den Sendern die
Aufbewahrung von Kopien fordern. Im Verdachtsfalle haben die Sender die
betreffenden Kopien innerhalb von zehn Tagen beim Rat abzuliefern (Art.
7 Punkt 2). Hinreichend für ein diesbezügliches Tätigwerden des Rates
ist jede Anzeige (Art. 4 Punkt 3 Satz 2). Verpflichtend für ein
Tätigwerden sind hingegen nicht nur die Anzeigen von Staatsorganen,
sondern auch die Anzeigen einzelner Abgeordneter oder die Aufforderung
eines Mitgliedes des Höchsten Rats für den Schutz der Sittlichkeit
(Art. 4 Punkt 3 Satz 1). Weitere
Voraussetzung dafür, dass der Rat den Inhalt einer Sendung überprüft,
ist lediglich die Mitteilung in der Anzeige, dass ein bestimmter Sender
die Gebote der Sittlichkeit verletzt hat und dass seit der Ausstrahlung
des Programms nicht mehr als 20 Tage vergangen sind (Art. 4 Punkt 3 Satz
3). Der Rat trifft seine Entscheidung über die sittliche und kulturelle
Güte des Programms sodann anhand der Beurteilungskriterien, die in Art.
3 Punkt 3 des Gesetzes aufgeführt sind. Da sich diese Begriffe nur zum
Teil in anderen föderalen Gesetzen wiederfinden und auch durch das
vorliegende Gesetz nicht eigens definiert werden, werden sie hier im
Zusammenhang wiedergegeben: "Zum
Zwecke des Schutzes der Sittlichkeit spricht der Rat gegen die Sender
Verwarnungen aus und ergreift auch die weiteren in diesem Gesetz
vorgesehenen Maßnahmen, falls sie Fernseh- oder Radioprogramme gleich
welcher Übertragungstechnik verbreitet haben, deren Inhalte oder Ziele
gerichtet sind:
Lediglich
für den Begriff der Sittlichkeit, den Oberbegriff dieser Kriterien,
gibt es eine gesetzliche Definition. Sie wird bezeichnet als "System
der ethischen Normen und Verhaltensregeln, die sich in der Gesellschaft
auf der Grundlage traditioneller geistiger und kultureller Werte und
Vorstellungen über die Güte, die Ehre, die Würde, die Pflicht, das
Gewissen und die Gerechtigkeit herausgebildet
haben (Art. 2). Einzelne Kriterien wie zum Beispiel die Zufügung
von Schaden für die physische oder psychische Gesundheit einer Person,
die Herabsetzung ihrer Würde oder die nicht auf den einzelnen bezogene
Verletzung allgemein anerkannter Normen der Humanität und Moral bedürfen
daher, soweit sie über die Verantwortlichkeit nach dem Strafgesetzbuch
der RF hinausgehen, der begrifflichen Klärung. Die genauere Bestimmung
der Reichweite und Strenge der anzuwendenden Maßstäbe überlässt das
Gesetz jedoch den Mitgliedern des Rates. Befindet der Rat mit der
Mehrheit der Stimmen der bei der Abstimmung anwesenden Mitglieder, dass
die Anzeige gerechtfertigt ist und der betreffende Sender die in Art. 3
Punkt 3 genannten Kriterien nicht eingehalten hat, so kann er nach
einmaliger Verwarnung sofort folgende Maßnahmen treffen (Art. 7 Punkt
4):
Die
Verwarnung an sich ist nicht gerichtlich anfechtbar; erst gegen eine vom
Rat verhängte Maßnahme ist innerhalb eines Monats die gerichtliche
Klage zulässig (Art. 7 Punkt 7). Die Geldbuße ist nach dem Wortlaut
des Art. 8 bei jedem Verstoß gegen die guten Sitten fällig. Nicht
ausgeschlossen erscheint, dass der Rat kumulativ die Geldbuße verhängt,
die Lizenzentziehung betreibt und die Absetzung des Generaldirektors
verlangt. Um einen Sittlichkeitsverstoß zu vermeiden und den Folgen der
administrativen Verantwortlichkeit und der weiteren dem Rat zur Verfügung
stehenden Einflussnahme zu entgehen, dürfen die Sender die geplanten
Programme und zukünftig auszustrahlenden Filme beim Rat einreichen. Sie
erhalten dann innerhalb eines Monats eine
Unbedenklichkeitsbescheinigung, mit der die grundsätzliche Übereinstimmung
der vorbereiteten Sendungen mit den Anforderungen dieses Gesetzes
gutachtlich versichert wird (Art. 7 Punkt 2). Als weiteres Druckmittel
steht dem Rat darüber hinaus im Rahmen der Empfehlungen, die er
hinsichtlich der Ausarbeitung der staatlichen Politik in den Bereichen
Rundfunk und Fernsehen gibt, auch die Befugnis zu, der Regierung Vorschläge
hinsichtlich der Gewährung und Verteilung staatlicher Vergünstigungen
und Privilegien an die Massenmedien zu machen (Art. 7 Punkt 3). Schließlich
will der Rat jedes Jahr
denjenigen Sendern Ehrenurkunden ausstellen, die zur Stärkung und
Befestigung der Sittlichkeit, der Vaterlandsliebe und des Glaubens an
die Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit beitragen (Art. 3 Punkt 4). b) Kritik des Gesetzesprojekts Mit
dem Ende der Sowjetunion verschwand nicht nur die Zensur der
Kommunistischen Partei, sondern es verblassten auch die alten
Wertvorstellungen, die den "real existierenden Sozialismus"
als eine reine, mit allen Tugenden gesegnete Gesellschaftsordnung
propagierten. Jahrzehntelang hatten die Bilder von Arbeitslosen, Straßenbettlern,
Drogenabhängigen und Prostituierten als Wahrzeichen des Kapitalismus
gegolten. Sie wurden fast nur im Zusammenhang mit der
Auslandsberichterstattung gezeigt. Als der Westen dann mit moderner
Reklame und den üblichen Darstellungen von Verbrechen, Sex und Gewalt
in den russischen Massenmedien Einzug hielt, war ein großer Teil der
Bevölkerung, vor allem die ältere Generation, sichtlich schockiert und
sehnte sich nach der vergangenen sozialistischen Medienharmonie.[5]
Den neuen Stil der russischen Massenmedien beklagen also nicht nur die
Abgeordneten der Staatsduma. Viele Bürger sprechen von einem
Sittlichkeitsverfall und sind davon überzeugt, dass etwas geschehen
muss, um dem Treiben Einhalt zu gebieten. Das Argument der Gegner des
Gesetzesprojekts, der Höchste Rat zum Schutz der Sittlichkeit sei
allein deshalb schon überflüssig, weil es gegen Pornographie,
Ehrverletzungen und verbotene Gewaltdarstellungen bereits eine
ausreichende gesetzliche Handhabe gebe, wird also kaum jemanden überzeugen,
dem an der Verbesserung der Qualität der Fernseh- und Radiosendungen
gelegen ist. Einer der Urheber des Gesetzesprojektes, der bekannte
Schauspieler und stellvertretende Leiter des Staatsdumakomitees für
Kultur N. Gubenko (KPRF), hat zur Rechtfertigung seines Vorhabens auf
die Medienräte in Großbritannien, den USA und Italien hingewiesen.[6]
Auch das Argument, die Bildung des Höchsten Rates zum Schutz der
Sittlichkeit sowie die Einrichtung des dazugehörigen Apparates und
regionaler Vertretungen sei im Föderalen Haushalt 1999 nicht
vorgesehen, scheint angesichts des von vielen angenommenen
Handlungsbedarfs eine Ausrede zu sein. Schließlich sollen vom Rat beträchtliche
Geldbußen verhängt werden dürfen, die sämtlich dem föderalen Budget
bzw. den regionalen Haushalten zugute kommen. Selbst der Vorwurf, die
Position des Rates bleibe im System der Organe der Staatsgewalt
unbestimmt und verstoße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung, findet
wenig Zustimmung. Gerade im Bereich der Inhaltskontrolle wäre eine
allein von der Exekutive geführte Staatsaufsicht unter dem
Gesichtspunkt der Staatsfreiheit der Massenmedien bedenklich. Beispiele
für Institutionen, die gewissermaßen außerhalb des Verfassungssystems
der Staatsorgane stehen, gibt es außerdem genug. Die "Kammer für
informationelle Streitigkeiten beim Präsidenten der RF" gehört
weder der Judikative an, noch ist sie den Weisungen des Präsidenten
oder der Regierung der RF unterworfen. Der Sicherheitsrat des Präsidenten
der RF, in dem zeitweise auch die Vorsitzenden der beiden
parlamentarischen Kammern saßen, lässt sich ebenfalls schwer zuordnen.
Nach seinem Selbstverständnis ist der Sicherheitsrat jedenfalls kein
lediglich beratendes Gremium. Ein unabhängiger, von Exekutive und
Legislative zu gleichen Teilen ernannter Kontrollrat für den Schutz der
Sittlichkeit wäre also keine Einrichtung, die man allein aufgrund ihrer
Systemwidrigkeit ablehnen würde. Der
Inhalt der Regelungen über den Sittenrat weckt jedoch eine Reihe
rechtlicher Bedenken. Zunächst ist hervorzuheben, dass die Vollmachten
und Sanktionsmöglichkeiten des Rates einen Kontrollmechanismus
darstellen, der die direkte Einwirkung und den unmittelbaren Druck auf
die Medien gestattet, seien es staatliche oder private Fernseh- und
Rundfunkgesellschaften. Zum Zwecke der Maximierung der Eingriffswirkung
nehmen die Autoren des Gesetzesprojektes - bewusst oder unbewusst -
einige Unstimmigkeiten mit der bestehenden Rechtsordnung in Kauf. Die
Vorschrift über die administrative Verantwortlichkeit des Senders
verweist hinsichtlich der Geldbußen und ihrer Eintreibung auf das
Gesetzbuch über administrative Rechtsverletzungen (Kodeks ob
administrativnych pravonarušenijach, KoAP). Die dort genannte
Obergrenze der Geldbußen wird jedoch weit überschritten, und es wird
die Regel vernachlässigt, dass allein natürliche Personen und Amtsträger
als Subjekte administrativer Verantwortlichkeit in Frage kommen. Der Rat
soll die Geldbuße dem Sender auferlegen, d.h. einer juristischen
Person. Das Gesetz "Über die Massenmedien" bestimmt dagegen,
dass allein der jeweilige Chefredakteur für den Inhalt eines
Massenmediums verantwortlich ist (Art. 19 Abs. 5). Schließlich erlaubt
das Gesetzesprojekt dem Rat, auf die gerichtliche Annullierung der
Sendelizenz hinzuwirken und dabei den FSTR zu übergehen, der die
Lizenzen vergibt und über die Einhaltung der Gesetze und der
Lizenzbedingungen wacht. Hier scheint die Annahme berechtigt, die
Staatsduma wolle sich zum Ausgleich für die fehlende parlamentarische
Kontrolle über den FSTR ein eigenes Kontrollorgan schaffen.[7]
Es setzt sich der bereits erwähnte Machtkampf zwischen dem Parlament
und der Seite des Präsidenten fort, bei dem beide Seiten konträre
Kontrollorgane errichten und sich gegenseitig nicht anerkennen. Der
zweite Haupteinwand gegen den Gesetzentwurf liegt auf der Hand. Die
unbestimmten Rechtsbegriffe, die zur Begründung eines Verstoßes gegen
die Sittlichkeit dienen (Art. 3 Punkt 3), stellen jeden, der sie auf den
Einzelfall anwenden möchte, vor schwierige Wertungs- und
Auslegungsprobleme. Dass neben definierbaren juristischen Kriterien auch
unklare moralische Begriffe wie die "Verletzung allgemein
anerkannter Normen der Humanität und Moral, der historischen Grundlagen
der Familie" verwendet werden sollen, um die administrative
Verantwortlichkeit des Senders zu begründen, überfordert sogar den
Richter. Der Gebrauch solcher Begriffe durch ein außergerichtliches,
mit derart weitreichenden Befugnissen ausgestattetes Kontrollorgan
stellt ohne jeden Zweifel ein großes Wagnis dar. Der
Gesetzentwurf enthält gleichwohl keine wie auch immer gearteten
Vorkehrungen gegen den Missbrauch seiner Regelungen. Weder die
verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates zu ideologischer
Neutralität (Art. 13 Verf RF) noch die Gewissens- und Religionsfreiheit
(Art. 28 Verf RF) oder die Freiheit des literarischen und künstlerischen
Schaffens (Art. 44 Verf RF) haben in ihm Ausdruck gefunden. Die
subjektiven Ansichten der zwölf Ratsmitglieder, die für sechs Jahre im
Amt bleiben und niemandem außer sich selbst verantwortlich sind, haben
vielmehr durch die Abstimmungsordnung, die auf eine schnelle
Beschlussfassung hin angelegt ist, alle Möglichkeiten, sich über die
Wertvorstellungen politischer, religiöser oder ethnischer Minderheiten
hinwegzusetzen. Angesichts der politischen Gespaltenheit der russischen
Gesellschaft und ihrer multinationalen Zusammensetzung würde ein
solcher Kontrollrat zwangsläufig zum Austragungsort politischer
Streitigkeiten oder aber - bei entsprechender Zusammensetzung - zum
Instrument politischer Bevormundung.[8]
Der gesellschaftlichen Aufgabe, die Qualität der Sendungen des
Fernsehens und Rundfunks zu verbessern, wäre damit nicht gedient. Das
Angebot von Unbedenklichkeitsbescheinigungen über geplante
Sendungen stellt im übrigen einen Umgehungsversuch des
verfassungsrechtlichen Verbots der Präventivzensur dar und erinnert an
die früheren Bemühungen der GUOT, die Arbeit der sowjetischen
Zensurbehörde "Glavlit" fortzusetzen. Welchen Aktualitätswert
können Programme noch haben, die mindestens einen Monat vor ihrer
Ausstrahlung zur gutachtlichen Überprüfung dem Höchsten Rat für den
Schutz der Sittlichkeit vorgelegt worden sind? Die ablehnenden
Reaktionen auf das Gesetzesprojekt sind dementsprechend eindeutig und
scharf ausgefallen. E.
Jur´ev spottete: "Nach den erfolglosen Versuchen, das Fernsehen
mit der Hilfe von schrecklichen Parlamentsbeschlüssen, besonderen
Aufsichtsräten und regelmäßigen Vorladungen der Fernsehchefs bei der
Staatsduma wieder zu den Grundlagen des Moralkodex des kommunistischen
Aufbaus zurückzubringen, haben sich die hochsittlichen Parlamentarier
nunmehr dazu entschieden, diese nicht leicht zu bewältigende Aufgabe
einem besonderen Staatsorgan anzuvertrauen."[9]
- O. Dobrodeev, der Generaldirektor von NTV, wertete das Gesetzesprojekt
als Versuch, unter dem Vorwand der Verteidigung der guten Sitten bei den
elektronischen Massenmedien einen kräftigen Hebel anzusetzen, um sich
im Jahr der Parlamentswahlen politischen Einfluss zu sichern.[10]
Auch das Zentrum "Recht und Massenmedien" äußerte die
Meinung, es sei den Autoren des Projektes nicht darum gegangen,
zugunsten von Sittlichkeit und Moral einen brauchbaren Gesetzentwurf
zustande zu bringen. Die lange Vorlaufzeit des Projektes und die große
Zahl der Verbesserungsvorschläge, die nicht berücksichtigt wurden,
spreche für sich.[11]
Der Leiter der Abteilung des Präsidenten der RF für Gesellschaft und
Kultur, D. Molčanov, nannte das Gesetzesprojekt "absolut
verfassungswidrig" und machte geltend, dass bei ORT und VGTRK
entsprechende Kontrollräte bereits existieren, deren Entscheidungen
allerdings lediglich den Charakter von Empfehlungen haben.[12]
Die staatsrechtliche Abteilung des Präsidenten der RF bezeichnete die
Heranziehung unbestimmter ethischer und sittlicher Normen zur Begründung
rechtlicher Verantwortlichkeit als unannehmbar. Der Gesetzentwurf
widerspräche sowohl den Grundlagen des verfassungsmäßigen Aufbaus der
RF als auch einer Reihe von föderalen Gesetzen. Und A. Kotenkov, der
Vertreter des Präsidenten der RF in der Staatsduma, betonte gegenüber
den Abgeordneten, man müsse die vorhandenen Gesetze nur anwenden, vor
allem die Gesetzgebung zur Kontrolle und zur Einschränkung erotischer
und pornographischer Produktionen.[13]
Dieser Rat war gut gemeint, aber er nahm vorweg, was noch nicht geklärt
war: Die Staatsduma verabschiedete das föderale Gesetz "Über
den staatlichen Schutz der Sittlichkeit und Gesundheit der Bürger und
die Verstärkung der Kontrolle des Absatzes von Produktionen erotischen
Charakters" [14]
am 7. April vergebens, denn der Präsident der RF legte am 11. Mai 1999
hiergegen sein Veto ein. Das Projekt wollte die Lizenzierung
vorschreiben und zeitliche Beschränkungen einführen (1:00 Uhr - 4:00
Uhr) . c) Charta der Fernseh- und Radiosender Auf
Initiative des FSTR einigten sich schließlich "nach neun
Monaten angestrengter Abstimmungstätigkeit" die Vertreter der
führenden Fernsehprogramme am 28. April 1999 auf eine "Charta
der Fernseh- und Radiosender", die ihre Unterzeichner zur
Einhaltung bestimmter moralischer Grundsätze verpflichtet und die Gründung
eines "Gesellschaftlichen Rundfunkrates" vorsieht: "Die
hiermit die Charta unterstützenden Fernseh- und Rundfunkgesellschaften
sind der Auffassung, dass unter den gegebenen Umständen, da ständig
die unterschiedlichsten Forderungen laut werden, die sich an die Adresse
der Massenmedien richten, und da versucht wird, die Freiheit des Wortes
einzuschränken, insbesondere auf gesetzgeberischem Wege, die Charta der
Fernsehsender die Bereitschaft des Fernsehens und Rundfunks
demonstrieren soll, die Probleme selbständig zu lösen, die mit den
sittlichen und künstlerischen Grundsätzen der Arbeit der Massenmedien
verbunden sind (Übers. d. Verf.)."[15] Die
Charta stellt klar, dass nicht erst die Gesetze, sondern bereits die
journalistische Ethik der Tätigkeit der Massenmedien Regeln vorgibt und
feste Grenzen setzt. Sie enthält darüber hinaus wichtige Definitionen
und moderne presserechtliche Prinzipien, unter anderem auch solche, die
in anderen Ländern im Wege richterlicher Rechtsfortbildung aufgestellt
worden sind und dort unmittelbare Rechtsgeltung besitzen. Der Grundsatz
der Wahrhaftigkeit der Information wird verstärkt durch besondere
Anforderungen an die publizistische Sorgfaltspflicht. Zwischen Tatsachen
und Meinungen ist genau zu unterscheiden und eine Gleichsetzung zu
vermeiden. Die Berichtigung von Fehlern und Ungenauigkeiten soll unverzüglich
erfolgen und so mitgeteilt werden, dass sie von allen zur Kenntnis
genommen werden kann. In allen Fällen sollen die Kritik und die Antwort
hierauf im Zusammenhang und in ebenbürtiger Form wiedergegeben werden
(Prinzip der Waffengleichheit). Zum "Schutz der Rechte und
gesetzlichen Interessen der Bürger und Organisationen, der
gesellschaftlichen Gesundheit und Sittlichkeit" sind die
Unterzeichner der Charta gehalten, persönlichkeitsverletzende oder
gewaltverherrlichende Darstellungen zu unterlassen. Insbesondere enthält
der Text genaue und überprüfbare Definitionen der Privatsphäre (častnaja
žizn´) und der maßlosen Grausamkeit und Gewalt (črezmernaja žestokost´
i nasilija). Für die Verletzung der Privatsphäre werden zusätzlich
viele Fallgruppen aufgeführt. Heimlich angefertigte Aufnahmen dürfen
z.B auch nicht von Dritten entgegengenommen und verwertet werden, vor
allem nicht solche, die ohne gerichtlichen Beschluss in die Privatsphäre
des einzelnen eingreifen. Ausdrücklich
wird auch Politikern und hohen Beamten der Schutz ihrer Privatsphäre
zugesichert, wobei jedoch besonders darauf hingewiesen wird, dass auch
hier Ausnahmen zulässig sind, die "zum Schutz öffentlicher
Interessen oder der Rechte und Freiheiten Dritter" notwendig
sind. Ebenso wie die Privatsphäre wird auch das öffentliche Interesse
genau und überprüfbar definiert. Hierunter fallen die Notwendigkeit
des Schutzes der Grundlagen der Verfassung der RF, die Abwendung von
Gefahr für die staatliche Sicherheit, die Aufdeckung von Verbrechen,
der Schutz der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung
und die Benachrichtigung der Öffentlichkeit darüber, durch Handlungen,
Dokumente oder Mitteilungen eines Individuums oder einer Organisation in
einem Irrtum befangen zu sein. Die Charta führt damit die Notwendigkeit
ein, im Einzelfall zwischen dem privaten und dem öffentlichen Interesse
abzuwägen, sie erlegt also in Übereinstimmung mit dem liberalen Gesetz
"Über die Massenmedien" in erster Linie den Redakteuren
selbst die Verantwortung für die von ihnen mitgeteilten Informationen
auf. Schließlich
verpflichtet die Charta ihre Unterzeichner zum Gebrauch einer korrekten
Sprache und führt einige Handlungen der Massenmedien auf, die "mit
den Normen zivilisierter Journalistik unvereinbar" sind, wie
zum Beispiel das Führen einer Informationskampagne zum Zwecke der
Diskreditierung einer Person aus wirtschaftlichen Motiven, das Erlangen
von Informationen durch Drohung, Täuschung oder Bestechung, das
Ausnutzen des Vertrauens oder der emotionalen Stimmung eines Gesprächspartners,
der die Folgen seiner Aussagen nicht übersieht usw. Die Charta enthält
also eine ganze Reihe von ethischen und rechtlichen Grundsätzen und
hebt sich positiv von den Gesetzesentwürfen der Staatsduma ab. d) Schlussfolgerung: Gesetzesentwurf im Dienste der Politik Die rechtliche und medienpolitische Kritik am Gesetz "Über den höchsten Rat für den Schutz der Sittlichkeit ..." war so verheerend, dass man sich fragen muss, ob die Staatsduma gewisse Gesetzesentwürfe schon in dem Bewusstsein ausarbeitet und verabschiedet, ein Inkrafttreten sei sowieso ausgeschlossen, oder ob die Deputierten der Staatsduma inzwischen ihre Gesetze als wirkungsvolle und angemessene Oppositionsarbeit zur bestehenden Rechts- und Staatsordnung Rußlands begreifen. Am besten klingt der Erklärungsversuch von S. Ševerdjaev, das Gesetz entspringe hauptsächlich der mangelhaften rechtlichen Grundlage der Tätigkeit des FSTR.[16] In erster Linie ist der Vorschlag zur Schaffung des neuen Kontrollorgans jedoch auf die feste Absicht der KPRF zurückzuführen, das Fernsehen stärker inhaltlich zu kontrollieren. Die vorgesehenen umfangreichen Vollmachten des Rates, die die Kompetenzen vergleichbarer Institutionen anderer Länder weit überschreiten, erinnern an die frühere sowjetkommunistische Praxis der vorrangigen, alle weiteren staatlichen Aufsichtsorgane in den Schatten stellenden Parteikontrolle der Massenmedien. Andererseits ist zuzugeben, dass die Verpflichtung der elektronischen Massenmedien auf gewisse ethische und rechtliche Grundsätze dringend notwendig war, und es ist zu fragen, weshalb es denn erst im Jahre 1999 zu einer Charta über die Einhaltung wichtiger Mindestanforderungen gekommen ist. Es bedurfte anscheinend erst heftiger Angriffe auf die Massenmedien von Seiten der Staatsduma und der - auch durch die wirtschaftliche Krise im August 1998 bedingten - Bildung und Stärkung gesamtnationaler Interessenverbände wie der "Nationalen Assoziation der Fernsehsender" (NAT) und der "Rußländischen Assoziation des Regionalen Fernsehens" (RART), die übrigens zu den Mitunterzeichnern der Charta gehören, um einen ersten gemeinsamen Ansatz zur Anerkennung ethischer Mindeststandards zu finden. [1]
Veröffentlicht in: ZiP 55 (März ´99), V Fokuse. [2]
Vgl. z.B. D. Potapov, Deputaty nazvali cenzuru nravstvennost´ju,
Kommersant Daily vom 11.03.99, der die ablehnenden Bemerkungen der
Generaldirektoren von ORT, RTR, NTV und des Präsidenten von TV-6
zitiert. [3]
Vgl. A. Richter, Kolonka redaktora, in: ZiP 55 (März 1999): In der
Staatsduma stimmten 266 Deputierte (von 226 erforderlichen) für die
Verabschiedung, dagegen stimmten lediglich 20. Am 17. März stimmten
115 Mitglieder des Föderationsrats (bei 90 notwendigen Stimmen) für
die Billigung dieses Gesetzes, und nur 7 lehnten es ab. Am 31. März
1999 legte der Präsident der RF sein Veto gegen das Gesetz ein. Zur
Überwindung des Vetos war allerdings eine Mehrheit von 300 Stimmen
der Deputierten der Staatsduma notwendig. Am 21. April stimmten nur
noch 235 Dumaabgeordnete für das Gesetz. [4]
Für den Fall, daß keiner der für den Vorsitz vorgeschlagenen
Kandidaten die erforderliche Stimmemmehrheit erhält oder bei
Stimmengleichheit sieht das Gesetz keine zusätzlichen Regelungen
vor. [5]
Höhepunkte des neuen Fernsehens waren unzensierte
Nachrichtensendungen während des Tschetschenienkonflikts, die
Fernsehserie St. Barbara, Werbung mit erotischen Bildern und nicht
zuletzt die "500 Sekunden" des A. Nevzorov, der sich immer
bemühte, frische Bilder von Unfällen oder neue Aufnahmen von
schlafenden oder handgreiflich werdenden Staatsduma-Deputierten zu
zeigen. [6]
Zitiert von V. Pozner, Sovet da cenzura, Vremja MN, 11. März 1999. [7]
S. Ševerdjaev, Vysšij sovet: sinica uže v rukach?, in: ZiP 55 (März
´99). [8]
Vgl. INTERFAKS, 17. März 1999, in: in: ZiP 55 (März 1999): Der
Leiter des Staatsdumakomitees für Kultur, S. Govoruchin, nannte als
herausragende Beispiele für unsittliche Verhaltensweisen der
Journalisten, daß sich die Massenmedien während des
Tschetschenienkonflikts unter der Fahne des Feindes gesammelt hätten
und daß die Massenmedien während des Präsidentschaftswahlkampfes
von 1996 die schwere Krankheit des B. El´cin verschwiegen hätten.
[9]
E. Jur´ev, Ljubov k partii - eto erotika ili pornografija?,
Segodnja, 11.3.1999 (Übers. d. Verf.). [10]
Zitiert von D. Potapov, Deputaty nazvali cenzuru nravstvennost´ju,
Kommersant Daily, 11.03.99. [11]
Zentrum "Recht und Massenmedien", "Lozung `Vsja vlast´
sovetam ... po nravstvennosti´ ne prošel", in: ZiP 55 (März
´99). [12]
INTERFAKS, 23. März 1999, in: ZiP 55 (März ´99). - Vgl. Post-Soviet
Media Law & Policy Newsletter, Issue 50 (Nov. ´98), unter:
"Russia": Das erste Treffen eines entsprechenden,
lediglich Empfehlungen aussprechenden Kontrollrats fand am 16.
Oktober 1998 bei RTR statt. Der Rat bestand aus sieben Mitgliedern;
neben Vertretern des Präsidenten, der Regierung und des Parlaments
wurden auch Fachleute gesellschaftlichen Ranges eingeladen. [13] RIA "Novosti", 21. April 1999, unter: Internews
(http://www.internews.ru/), Eednevnye novosti: Mass-media. [14] ZiP 45 (April 1998), Proekt Federal´nyj zakon "O gosudarstvennoj zaščite
nravstvennosti i zdorov´ja graždan i ob usilenii kontrolja za
oborotom produkcii seksual´nogo charaktera". [15]
Einleitung der "Chartija teleradioveščatelej" vom
28.4.99, unterschrieben von den Vorsitzenden und Generaldirektoren
von ORT, VGTRK, NTV, TV-6, TV-Centr, REN-TV, 31 kanal, TNT-teleset´,
STS, NAT, RART. Die Charta ist veröffentlicht unter:
http://www.tvradio.ru/news.html, download 20.6.99. [16]
S. Ševerdjaev, "Vysšij sovet: sinica uže v rukach?" in:
ZiP 55 (März ´99).
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