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7. Verbot jeder öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich organisierten Zensur  

 

a) Gesetzeswortlaut

 

Wie im dritten Kapitel erwähnt, verbietet die Verfassung die staatliche Inhaltskontrolle der Masseninformation mit den Worten: "Die Freiheit der Massenmedien wird gewährleistet. Die Zensur ist verboten" (Art. 29 Abs. 5 Verf RF). Dem verfassungsrechtlichen Zensurverbot ist bis auf weiteres, d. h. bis zu einer durch die Rechtsprechung gefestigten Begriffsbestimmung, der Zensurbegriff des Gesetzes "Über die Massenmedien" zugrunde zu legen. Das Gesetz verbietet die Vor- oder Präventivzensur. Es beschränkt den Anwendungsbereich des strikten verfassungs­rechtlichen Zensurverbots auf die Kontrollmaßnahmen, die das Erscheinen einer Ausgabe oder Sendung von einer vorherigen Genehmigung abhängig machen. Hierbei werden aber nicht allein staatliche Prüfungsverfahren untersagt (formeller Zensurbegriff nach deutschem Recht), sondern auch nichtstaatliche Kontroll- oder Überwachungsmaßnahmen. Das Gesetz stellt das von einer "gesellschaftlichen Vereinigung"[1] geäußerte Verlangen, vor der Verbreitung von Informationen die Zustimmung einzuholen, der staatlichen Zensur gleich. Art. 3 des Gesetzes "Über die Massenmedien" lautet:

 

"Die Zensur der Massenmedien, d.h. das gegenüber der Redaktion geäußerte Verlangen seitens der Vertreter öffentlicher Stellen, der Regierungsorgane, Organisationen, Anstalten oder gesellschaftlichen Vereinigungen, die Nachrichten und das Informationsmaterial im Wege vorheriger gegenseitiger Abstimmung festzulegen (außer in den Fällen, in denen der zuständige Vertreter der genannten Stellen interviewt wurde oder selbst der Verfasser der Nachricht ist) sowie das umfassende oder auch nur einzelne Teile betreffende Verbot der Verbreitung der Nachrichten und des Informationsmaterials, ist nicht gestattet.

Die Gründung und die Finanzierung von Organisationen, Einrichtungen, Organen oder öffentlichen Stellen, zu deren Aufgaben oder Funktionen die Ausübung der Zensur von Masseninformation gehört, ist nicht gestattet (Übers. d. Verf.)."

 

Die Frage, ob auch das gegen­über dem einzelnen Journalisten geäußerte Verlangen vorheriger Abstimmung unter den Zensurbegriff fällt, ist von den Gerichten noch nicht entschieden worden. Sinn und Zweck des Art. 3 sprechen indessen dafür, auch den Journalisten in den Schutzbereich der Vorschrift mit aufzunehmen, sofern die Vorkontrolle planmäßig, d. h. öfter oder in größerem Umfang, durchgeführt wird.

 

b) Adressatenkreis des Zensurverbots

 

Ein Grund für die weite Formulierung des Art. 3 Abs. 1 könnte in der Erfahrung liegen, die man nach der Einführung des gesetzlichen Zensurverbots im Sommer 1990 mit der verzögerten Auflösung der Zensurbehörde GUOT und ihrer Umwandlung in eine "Agentur" machte. Die Autoren des Gesetzes "Über die Massenmedien" wollten offenbar verhindern, dass behördliche Einrichtungen wie die 1991 geschlossene GUOT oder entsprechende gesellschaftliche oder öffentliche Einrichtungen etwa auf vertraglicher Basis die Zensur unter irgendeinem Vorwand weiterhin ausüben. Zudem wird im russischen Recht zwischen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Handlungs- und Organisations­formen bisher noch nicht immer klar unterschieden. Die Erweiterung des Adressatenkreises des Zensurverbots auf gesellschaftliche Vereinigungen könnte somit in erster Linie auf die Unterbindung von Umgehungsversuchen zielen, die von staatlicher Seite zu befürchten sind. Dann wäre der Formulierung des Art. 3 weniger ein materieller, sich gegen jeden richtender Zensurbegriff zu entnehmen, als vielmehr ein flexibler formeller Zensurbegriff. Dafür spricht auch, dass die Aufzählung keine natürlichen Personen nennt, sondern nur gesellschaftliche Vereinigungen.

 

Gegen diese Interpretation spricht jedoch das kategorische Verbot des Gesetzes "Über die Massenmedien", dass sich außenstehende Dritte in die selbständige, professionelle Tätigkeit der Redaktion einmischen (Art. 19). Die besonders betonte Unabhängigkeit der Redaktion eines Massenmediums gilt selbst zugunsten von Journalistenkollektiven, die sich nicht in der Form einer juristischen Person zu Redaktionen zusammengeschlossen haben. Die Kompetenzen und Rechte des Gründers (bzw. Herausgebers) sind dementsprechend durch Art. 18 Abs. 2 sehr eingeschränkt worden. Diese Vorschrift lässt zwar individuelle Vereinbarungen im Gründungsvertrag und in der Redaktionssatzung grundsätzlich zu, bestimmt aber zugleich: "Der Gründer darf sich nicht in die Tätigkeit des Massenmediums einmischen, es sei denn, dieses ist vorgesehen durch das hiermit vorliegende Gesetz, die Redaktionssatzung oder den Vertrag des Gründers mit der Redaktion". Das Einmischungsverbot des Art. 19 ist also strikt und umfassend zu sehen. Es soll den Status der Redaktion als des eigentlichen Trägers des Freiheitsrechts der Massenmedien festschreiben, insofern dieses Recht zur Verwirklichung des Rechts auf freie Meinungsäußerung gewährt wird und nicht die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung oder die Gründungsfreiheit betrifft. Die Absicht des Gesetzgebers, den Redaktionen einen außergewöhnlichen Freiheitsstatus zu verleihen, wird anhand der tatsächlichen Situation der russischen Massenmedien zur Zeit der Verabschiedung des Gesetzes plausibel. Zum einen befanden sich viele Zeitungsredaktionen in der Hand staatlicher Organe und regionaler Administrationen, und zum anderen musste die in Art. 30 vorgesehene Einrichtung einer unabhängigen Föderalen Kommission für Fernsehen und Rundfunk angesichts der Vollmachten des FSTR höchst unsicher erscheinen. Das Einmischungsverbot des Art. 19 sollte die Machtvollkommenheit staatlicher Stellen und die fehlende gesellschaftliche Aufsicht über die Massenmedien kompensieren. Schließlich weist auch der zweite Absatz des Art. 3 darauf hin, dass grundsätzlich jede Stelle, die eine planmäßige, vorbereitende Inhaltskontrolle über die Massenmedien ausübt, dem Zensurverbot zuwiderhandelt. Aufgrund der Systematik des Gesetzes und der Motive der Autoren ist es deshalb geboten, den Begriff der "gesellschaftlichen Vereinigung" weit auszulegen.

 

Nach dem materiellen Zensurbegriff des Gesetzes "Über die Massenmedien" unterfallen also nicht nur privatrechtlich organisierte Stellen des Staates, sondern auch öffentliche und gesellschaftliche Vereinigungen, die nicht vom Staat gebildet oder finanziert werden, dem gesetzlichen Zensurverbot. Der russische Gesetzgeber ist nicht so vorsichtig gewesen bei der Anerkennung der Drittwirkung der Grundrechte wie der deutsche. Er versteht die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers, die die Verfassung gewährleistet, nicht als reine Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe im Sinne des klassischen deutschen Grundrechtsbegriffes,[2] sondern als Freiheitsrechte, die unter Umständen auch gegen privatrechtlich organisierte Dritte geltend gemacht werden können. Adressaten des Zensurverbots sind somit nicht nur staatliche Organe, sondern auch ohne jede Einschränkung öffentliche Einrichtungen und gesellschaftliche Vereinigungen.

 

c) Exkurs: Zum deutschen Zensurverbot

 

Auch in Deutschland, wo man bisher aus Gründen der Rechtssicherheit und Praktikabilität am formellen Zensurbegriff weitgehend festhielt, gibt es abweichende Auffassungen, die es als unbefriedigend empfinden, nur die Einführung eines staatlichen Verbots mit Erlaubnisvorbehalt als verfassungswidrige Maßnahme zu qualifizieren. So hat zum Beispiel W. Hoffman-Riem die Ansicht vertreten, dass das Zensurverbot seinem Zweck entsprechend als Verbot systematischer Kontrolle im Kommunikationsbereich bezeichnet werden kann. Es sei schon dann eine lähmende Kommunikationsbehinderung zu befürchten, wenn "zwar auf ein Genehmigungsverfahren verzichtet wird, aber staatliche Stellen zur inhaltlichen Überwachung der Kommunikation eingesetzt und ihnen etwa Aufgaben systematischer Gefahrenerforschung übertragen würden." [3] Das Zensurverbot sei nicht auf traditionelle Eingriffe begrenzt, sondern erfasse ebenso faktische, eingriffsgleiche Maßnahmen, falls sie einen Kontrollmechanismus schüfen, der zum funktionalen Äquivalent der formellen Zensur werden könnte. Auch die strikte Begrenzung des Zensurverbots auf die Vorzensur sei nicht sinnvoll, da der Wirksamkeitsgrad einer Zensurmaßnahme maßgeblich davon abhänge, wie das Massenmedium verbreitet wird. Technologische Änderungen könnten neue Chancen für eine moderne Medienkontrolle eröffnen: "Würde beispielsweise der gegenwärtige Verbreitungsmodus von Rundfunk aufgrund technologischer Neuerungen durch ein System der Speicherung von Rundfunkinhalten und der Möglichkeit zum jederzeitigen Abruf ersetzt, (...) so ergäben sich neue Ansätze einer wirkungsvollen Nachzensur." [4] Bezieht man diese Überlegung auf die Verbreitung von Informationen im Internet, dann wird klar, dass die Möglichkeit der erstmaligen Verbreitung, die für Papierzeitungen so wichtig war, für die elektronischen Massenmedien immer weniger von Bedeutung sein wird. Die Rechtssicherheit und Praktikabilität des eindeutigen formellen Zensurbegriffs hat den Nachteil, dass man neuere Entwicklungen nicht in dem Maße berücksichtigen kann, wie es vielleicht nötig wäre.

 

Ebenso lässt sich die Beschränkung des Adressatenkreises des Zensurverbots nur so lange rechtfertigen, wie es möglich ist, damit die verfassungsmäßig vorgesehene Freiheit der Massenmedien hinreichend zu schützen. Gerade in Bezug auf das Recht, sich nicht zensieren lassen zu müssen, ist neben der individualrechtlichen Komponente des Grundrechts seine institutionelle Komponente zu beachten. Als verfassungsgewollte Institution sind freie Massenmedien nicht nur vor staatlichen Eingriffen zu bewahren, sondern unter Umständen auch mit der Hilfe des Staates vor Rechtsverletzungen in Schutz zu nehmen, die von Privaten ausgehen. Das Zensurverbot des deutschen Grundgesetzes richtet sich zwar in erster Linie gegen den Staat. "Der programmatische Gehalt der Kommunikationsfreiheit legitimiert den Gesetzgeber jedoch, das Zensurverbot auch auf ähnliche Machtträger zu erstrecken, soweit sie ihre soziale oder ökonomische Macht zur Kommunikations­kontrolle nutzen." [5]

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[1] Russisch: "Obščestvennoe ob´edinenie".

[2] Vgl. hierzu H. Schulze-Fielitz (1996), Kommentierung zu Art. 5 GG, Rn. 141, in: Grundgesetz Kommentar, Bd. I, Artikel 1-19; H. Bethge (1999), Kommentar zu Art. 5 GG, Rn. 133, in: Grundgesetz Kommentar.

[3] W. Hoffmann-Riem (1984), Kommentierung zu Art. 5 Abs. 1, 2, S. 518, Rd. 77, in: Kommentar zum Grundgesetz für die BRD, Bd. 1.

[4] W. Hoffmann-Riem, aaO. Rd. 78.

[5] W. Hoffmann-Riem, aaO. Rd. 81.