7. Selbstverlag der bürgerrechtlichen und religiösen Bewegungen
Den einzigen Ausweg aus dieser systematischen, mit staatlichen Institutionen vervollkommneten Bevormundung durch die KPdSU stellte das riskante Unterfangen dar, Zeitschriften und Bücher im Selbstverlag (Samizdat) zu verbreiten. Im Gegensatz zum staatlichen Desinformationssystem erhob die Bürgerrechtsbewegung mit ihrer die Menschenrechte betreffenden "Chronik der laufenden Ereignisse" die Tatsachentreue zum obersten Prinzip, und in gewisser Weise bildete sich ein "Gegeninformations- und Kommunikationssystem", das zu einer "nicht mehr wegzudenkenden Kraft der Sowjetgesellschaft" wurde.[1] Die Möglichkeiten des Samizdat waren jedoch angesichts des staatlichen Papier-, Druck- und Vertriebsmonopols begrenzt. Der Versuch, eine möglichst breite Untergrundpresse zu etablieren, stieß auf beträchtliche materielle Hindernisse, weil man sich im wesentlichen auf die Weitergabe von Abschriften und Durchschlägen von einer Hand in die andere beschränken musste. Zudem erlaubten verschiedene Straftatbestände, welche die Gesinnung der Systemkritiker mit willkürlich zu handhabenden Tatbeständen kriminalisierten, die mühelose Strafverfolgung derartiger Aktivitäten.[2] G. von Rauch schrieb hierzu: "Die Führung reagierte durch Kriminalisierung der Proteste, indem neue Gesetze ins Strafgesetzbuch aufgenommen[3] und der ideologische Kampf ausgerufen wurde, worauf neue Proteste, darauf Einweisungen in Heilanstalten und Ausbürgerungen erfolgten. Die harte Hand Suslovs war unverkennbar (...)"[4] Und R. P. Ovsepjan fasste zusammen: "Die
Verhärtung des politischen Regimes und der wachsende ideologische Druck
und die Intoleranz gegenüber Andersdenkenden[5]
riefen bei einem gewissen, progressiv eingestellten Teil der
wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenz offenen Protest
hervor, sowie das Bestreben, die bürgerlichen Freiheitsrechte zu
verteidigen. So kam es zu den Dissidenten, deren hauptsächliches Tun
darin bestand, zu protestieren und an die politische Führung des Landes
zu appellieren, an die Gerichte und an die Strafverfolgungsbehörden. So
kam es auch zur unzensurierten Presse (Samizdat und Tamizdat). Den
Anfang der Dissidentenbewegung bezeichnete die Demonstration auf dem
Moskauer Puschkin-Platz vom 5. Dezember 1965. In den Jahren 1968 - 1976
entwickelte sich die Bewegung weiter, als die sowjetischen Verbände in
die Tschechoslowakei einmarschierten, um den Volksaufstand
niederzuschlagen, und als politische Prozesse gegen diejenigen geführt
wurden, die man des Antipatriotismus beschuldigte, der kriminellen
Zusammenarbeit mit westlichen Massenmedien und Organen der Spionage. Über
die Dissidenten hat sich die sowjetische Presse lange Zeit
ausgeschwiegen. (...)". [6] Die im Wege des Samizdat bekanntgemachten Berichte, Aufsätze, Bücher und Lieder waren daher ungeachtet ihrer großen symbolischen Wirkung für die bürgerrechtlichen und religiösen Vereinigungen und abgesehen von der nützlichen Funktion, die Parteiführung hin und wieder mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, keine echten Mittel der Massenkommunikation. Die Periodika des Selbstverlags dienten den Dissidenten, wie einstmals der verschworenen Gemeinschaft der Bolschewiken im Zarenreich, als Fahne, um die sie sich scharen konnten. Erst mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) durch die Sowjetunion und der Bildung zahlreicher, im ganzen Land sich verbreitender "Helsinki-Komitees", die auf die Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen pochten, erreichte die Dissidentenbewegung eine breitere Öffentlichkeit.[7] Da die Sowjetunion mit der Anerkennung dieses Dokuments unter anderem versprochen hatte, dem Prinzip VII. "Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit" nicht zuwider zu handeln, konnte den Dissidenten in den Augen der Bevölkerung nicht mehr derselbe Anschein der Illegalität anhaften wie in den Jahren zuvor. [1]
O. Luchterhandt (1980), UN-Menschenrechtskonventionen - Sowjetrecht
- Sowjetwirklichkeit, S. 140. [2]
Zum Beispiel enthielt Art. 70 des StGB der RSFSR den Tatbestand der
"Agitation und Propaganda, die zum Zwecke der Untergrabung oder
Schwächung der Sowjetmacht betrieben wird" sowie den der
Agitation und Propaganda, die durch "Verbreitung
verleumderischer Erdichtungen" begangen wird, welche die
sowjetische Staats- und Gesellschaftsordnung herabsetzen. [3]
Der Tatbestand des neu eingeführten Art. 190 StGB RSFSR setzte
nicht mehr wie Art. 70 den direkten Vorsatz zur Untergrabung oder
Schwächung der Sowjetmacht voraus. [4]
G. von Rauch (1990), Geschichte der Sowjetunion, S. 543. [5]
Der im Russischen verwendete Ausdruck "inakomysljaščij"
bzw. das entsprechende lateinische Wort "dissident"
(beiseite sitzend, anders denkend, außerhalb der Gemeinschaft
stehend und von der herrschenden Meinung abweichend) bezeichnete
rein formal schon jeden, der sich durch Kundgebung seiner persönlichen,
systemkritischen Meinung in Widerspruch zur offiziellen Parteilinie
setzte. Der Ausdruck ist deshalb etwas irreführend, weil viele
"Dissidenten" die sozialistische Ordnung an sich befürworteten
und einfach die Wahrung der Menschenrechte einklagen wollten. [6]
R. P. Ovsepjan (1996), Istorija novejšej otečestvennoj žurnalistiki,
S. 156 (Übers. d. Verf.). [7]
Vgl. allerdings die Autobiographie von J. Orlow (1992), Ein
russisches Leben, der als Mitglied der "Öffentlichen Gruppe
zur Förderung der Erfüllung der Verträge von Helsinki in der
Sowjetunion" zu sieben Jahren Lagerhaft und fünf Jahren
Verbannung verurteilt wurde und 1986 durch einen Gefangenenaustausch
in die USA gelangte.
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