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V. Vorschläge zur Erneuerung des Gesetzes "Über die Massenmedien"

 

1. Einleitung: Zur Gesetzgebungstätigkeit der Staatsduma

 

Das Gesetzesprojekt "Über Änderungen und Ergänzungen des Gesetzes der RF `Über die Massen­medien´" des parlamentarischen "Komitees für Informationspolitik und Fernmeldewesen"[1] wurde von der Staatsduma in erster Lesung am 14. Januar 1998 angenommen und als Grundlage zur weiteren Ausarbeitung der beabsichtigten Gesetzesänderung gebilligt.[2] Obgleich dieser erste Entwurf weniger wichtig ist als der Text, der für die zweite Lesung vorgelegt wurde, lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, zumal die zweite, für gewöhnlich entscheidende Lesung dieses Mal erfolglos verlief. Der erste Entwurf lässt am besten die ursprünglichen Motive für die Gesetzesänderung erkennen, und mit ihm wurden die Weichen gestellt. Die Unzulänglichkeiten des ersten Änderungsentwurfs zum Gesetz "Über die Massenmedien" liefern außerdem auch eine Erklärung dafür, warum es so viele Gesetzesprojekte und so wenige verabschiedete Gesetze gibt:

 

"Das Komitee der Staatsduma für Informationspolitik und Fernmeldewesen, der hauptsächliche Hervorbringer von Neuigkeiten für Rechtsregelungen in unserem Land, arbeitet schon seit einigen Jahren im Leerlauf. Gesetzesprojekte werden vorbereitet, länger erörtert und erleiden dann eine Blamage oder fallen dem Vergessen anheim.[3] Aber die Zahl der im Umlauf befindlichen Gesetzesentwürfe verringert sich nicht. Darüber hinaus schalten sich in die Arbeit der Vervollkommnung der rechtlichen Basis der Tätigkeit rußländischer Massenmedien auch andere parlamentarische Komitees ein, in denen ständig neue Gesetzesprojekte entstehen".[4]

 

Zu den weiteren parlamentarischen Komitees zählt insbesondere das Komitee für Kultur, das u.a. die Einrichtung des höchsten Rates für den Schutz der Sittlichkeit des Fernsehens und Rundfunks vorgeschlagen hat. Zur Kritik ist zu ergänzen, dass es nicht allein an der Staatsduma der RF lag, dass viele Gesetzesentwürfe im Sande verliefen. In der ersten und zweiten Legislaturperiode (1993-95 und 1995-99) legten abwechselnd der Föderationsrat und der Präsident der RF den Gesetzgebungsprozess lahm, indem entweder der erstere den von der Staatsduma angenommenen Gesetzen die Zustimmung versagte oder aber der letztere sein präsidiales Vetorecht geltend machte.[5] Auch wurde die Regierungsbildung in diesen Jahren maßgeblich vom Präsidenten der RF bestimmt, ohne auf die Mehrheitsverhältnisse in der Staatsduma besondere Rücksicht zu nehmen. Schaubild 3 zeigt die Zusammensetzung der Staatsduma der zweiten Legislaturperiode.

 

Die Masse der jedes Jahr eingebrachten Gesetzesentwürfe stellt eine klare Überforderung der Abgeordneten und der zuständigen Komitees dar - die Regelungsaufgaben des postsowjetischen Rußland sind mit den vorhandenen Kapazitäten und angesichts der in Gesellschaft und Parlament zu beobachtenden Uneinigkeit schlechthin nicht zu bewältigen. Zwischen 1938 und 1988 verabschiedete der Oberste Sowjet der UdSSR lediglich 90 Gesetze. Von 1993 bis 1995 wurden in der RF 500 Gesetze verabschiedet, 342 davon traten in Kraft.[6] Die Zahl der präsidentiellen Dekrete - ein Gradmesser für den tatsächlichen Gesetzesbedarf des Landes - geht derweilen in die Tausende.

 

Dennoch fragt es sich, weshalb weiterhin wichtige Gesetze von zentraler Bedeutung für das Gemeinwesen fehlen. In der Sitzungsperiode von Januar bis Juni 1999 gelang es wieder nicht, über das langersehnte und bereits mehrmals zur Verabschiedung vorgesehene Gesetz "Über Fernsehen und Rundfunk" eine Einigung zu erzielen. Die Lesung wurde am 13. Januar 1999 "auf eine andere Plenarsitzung verschoben", nachdem sich abermals große Differenzen zwischen den Fraktionen gezeigt hatten. Und die zweite Lesung über den Entwurf zur Änderung des Gesetzes "Über die Massenmedien"  endete am 17. Februar 1999 ausdrücklich damit, den Text "zur Überarbeitung an das zuständige Komitee zurückzugeben." In beiden Fällen konnte offenbar schon in der Staatsduma selbst keine Übereinstimmung erzielt werden. Was geht also vor in der Staatsduma? I. Serkov zog in der "Literaturnaja gazeta" die Bilanz für die erste Sitzungsperiode des Jahres 1999. Der Artikel illustriert den Hintergrund, vor dem das - zumindest vorläufige - Scheitern der Änderungsentwürfe zum Gesetz "Über die Massenmedien" zu sehen ist. Er soll deshalb an dieser Stelle wiedergegeben werden, noch bevor auf die Änderungsentwürfe im einzelnen eingegangen wird.

 

" `Von Januar bis Juni wurde eine noch nie dagewesene Anzahl an Plenarsitzungen durchgeführt - 50. Davon 16 zusätzliche und eine außerordentliche. 367 Gesetzesprojekte wurden verhandelt, 205 föderale Gesetze angenommen. 91 wurden vom Präsidenten der RF unterschrieben und traten in Kraft. Die meiste Zeit mussten wir unter extremen Bedingungen arbeiten. Daher rührt auch die Rekordzahl der Beschlüsse über gesellschaftlich-politische Fragen - mehr als 150.´ - Mit diesen Zahlen skizzierte der Vorsitzende der Staatsduma Gennadij Seleznev die Ergebnisse der gerade erst zu Ende gegangenen Sitzungsperiode der ersten Jahreshälfte. Es gibt noch weitere, gleichfalls beeindruckende Rekorde. Am 16. Juni zum Beispiel sah man 43 Gesetzesprojekte durch, am 18. Juni schon 62 und am 23. Juni sogar 67. Auch blieb den Beobachtern nicht die außerordentliche Gutmütigkeit verborgen, die die Duma bei der Arbeit der letzten Tage bewies. Als ob die Abgeordneten nur eines im Sinn hatten - wie man es dem Kreml, der Regierung, dem Internationalen Währungsfonds (IMF) recht machen könne. Fast alle Gesetze des berühmten IMF-Paketes nahmen sie an, die neue Hymne rührten sie nicht mehr an ... Das war nicht mehr die Duma, sondern die "in jeder Beziehung angenehme Dame", wie Gogol´ sich ausdrückte.

 

Kann man das für eine Überraschung halten? Erinnern wir uns an die Heldentaten der Duma-Abgeordneten während des Frühlings. Erst schworen sie, die Regierung Primakov bis zum Äußersten zu verteidigen - und weinten ihm dann kaum eine Träne nach. Sie versprachen, El´cin dem impeachment zu unterziehen, koste es, was es wolle - und ließen es dann ohne viel Aufhebens durchfallen. Sie sprachen davon, dass die gegen das Volk gewandten Gesetze des IMF unter keinen Umständen durchkommen würden - und nahmen sie einfach so an. Und freilich darf man auch nichts anderes von der Arbeit einer Staatsduma erwarten, die weder die politische Kraft, noch die moralische Autorität besitzt, weder allgemein anerkannte Führer, noch einigende Vorstellungen. Gerade deshalb gibt es für alle Fälle des Lebens eine Rechtfertigung: das wichtigste ist, die Duma vor der Auflösung zu bewahren. Und dass die Parlamentswahlen in der dafür vorgesehenen Zeit stattfinden, dass beim Wahlgesetz nicht die Parteilisten gestrichen werden. Der Präsident hat dieses Wahlgesetz am letzten Arbeitstag des Parlaments unterschrieben, was demonstrativ den Eindruck vermittelte: gewährt aufgrund guter Führung.

 

Bei jenem Teil der Staatsduma, der dazu in der Lage ist, nicht nur an Abgeordnetenprivilegien zu denken, an die Früchte des Lobbyismus, die Reize politischer Verantwortungslosigkeit, reifte schon lange das Verständnis, dass die Duma bei dem gegenwärtigen politischen System dazu verurteilt ist, die Rolle des schrillen, begriffsstutzigen und allen auf die Nerven gehenden Haufens zu spielen. So wird es auch bleiben - ohne das Recht, aus der Mehrheit des Parlaments die Regierung zu formen, wovon man bei den Fraktionen "Unser Haus Rußland", "Rußländische Regionen", "JaBLoko" immer spricht...

 

Und für den Herbst haben die Abgeordneten für sich ein besonderes Reglement beschlossen, wonach sie weniger Zeit für Gesetze verwenden, dafür aber umso mehr für Maßnahmen zur Vorbereitung des Wahlkampfes. Auf Kosten der Wähler, versteht sich. Dabei versprechen sie, wie Gennadij Seleznov sagt, `alle Kräfte zusammenzunehmen´ für die Verhandlung des Haushaltes des Jahres 2000. Sollen sie sich anstrengen. Was kommt dabei heraus, als Ergebnis einer solchen Anstrengung? Es werden so inspirierte Zeilen geboren, wie im Gesetzesprojekt über das Rauchen: `Das Rauchen von Tabak ist die verbreitete schädliche Gewohnheit, den Rauch brennender Papirossen, Zigaretten, Zigarillos, Zigarren, Machorkas und des Tabaks mittels eines Röhrchens (Pfeifchens) einzuatmen.´ Mit dieser Gesetzgebung, werden sie zustimmen, ist unsere parlamentarische Sache - Tabak." [7]

 

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[1] Statt "Fernmeldewesen" kann auch "Kommunikationsmittel" übersetzt werden. Dieses für die Mediengesetzgebung zuständige Komitee der Staatsduma (Komitet Gosudarstvennoj Dumy po informacionnoj politike i svjazi) zeichnet verantwortlich für die meisten Gesetzesprojekte der letzten Jahre im Bereich der Massenmedien. Das betreffende Änderungsprojekt wurde eingebracht von O. A. Finko (Vorsitzender des Komitees, Kandidat der Geschichtswissenschaft, LDPR), R. G. Gabidullin (Stellvertr. Vors., KPRF), V. E. Coj (Stellvertr. Vors., Abgeordnetengruppe "Rußländische Regionen"), Ju. M. Nesterov (Stellvertr. Vors., Kandidat der technischen Wissenschaften, JaBLoko), S. V. Sucharev (Mitglied des Komitees, Kandidat der Geschichtswissenschaft, KPRF), sowie O. A. Šenkarev (z. Zt. nicht Mitglied des Komitees). - G. K. Volkov, der vierte stellvertretende Vorsitzende des Komitees, der nicht als Mitarbeiter des Projektes genannt wird, ist Mitglied der Partei "Unser Haus Rußland" (UHR).

[2] No. postanovlenija GD 2094-II GD. 

[3] Die zahlreichen Gesetzesinitiativen der Staatsduma im Bereich der Massenmedien weisen eine hohe "Flop-Rate" auf: Gesetzesprojekt "Über Fernsehen und Rundfunk", Gesetzesprojekt zur Änderung des Gesetzes "Über die Massen­medien", Gesetzesprojekt "Über das Recht auf Information", Gesetzesprojekt "Über den höchsten Rat in Fragen der Ethik und der Sitten für die Bereiche Kino, Fernsehen und Hörfunk" usw.

[4] A. Richter (1998), Kolonka redaktora, in: ZiP 51 (Nov. ´98, Übers. d. Verf).

[5] Vgl. den Überblick über das Verfahren der Verabschiedung föderaler Gesetze (Art. 104 ff. Vef RF) am Schluß dieses Kapitels.

[6] E. Schneider (1999), Das politische System der Russischen Föderation, S. 97.

[7] I. Serkov (1999), Duma, prijatnaja vo vsech otnošenijach, in: Literaturnaja gazeta No. 26 (5749), 30.7. - 6.7.99, S. 2 (Übers. d. Verf.).