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4. Lenins und Stalins bolschewistische Pressekonzeption

 

Eine nicht klassengebundene Meinungsfreiheit wurde somit überhaupt in Abrede gestellt. Die Grundrechte der Staatsbürger wurden auf kollektiv auszuübende Rechte beschränkt. Dieses Ergebnis wirft die Frage nach dem Sinn eines solchen Ausmaßes an Unfreiheit auf. Der Publizist und Redakteur der "Rheinischen Zeitung" Karl Marx, der selbst gegen die preußischen Zensurinstruktionen zu kämpfen hatte, erblickte in der zensierten Presse "das charakterlose Unwesen der Unfreiheit, ein zivilisiertes Ungeheuer, eine parfümierte Missgeburt." [1] Ganz entgegen der späteren Funktions­bestim­mung der Massenmedien im System des Marxismus-Leninismus trat er dafür ein, dass sich der Volkswille unverfälscht ausdrücken könne. Nur wenn die Presse nach ihren eigenen Gesetzen lebe, könne sie zum "öffentlichen Wächter" und "unermüdlichen Denunzianten der Machthaber" werden. Marx schrieb: "Demoralisierend wirkt die zensierte Presse. Das potenzierte Laster, die Heuchelei, ist unzertrennlich von ihr, und aus diesem ihren Grundlaster fließen alle ihre anderen Gebrechen, denen sogar die Anlage zur Tugend fehlt (...) Die Regierung hört nur ihre eigene Stimme, sie weiß, dass sie nur ihre eigene Stimme hört und fixiert sich dennoch in der Täuschung, die Volksstimme zu hören, und verlangt ebenso vom Volke, dass es sich diese Täuschung fixiere."

 

Die klaren Worte von Karl Marx lesen sich im nachhinein wie eine vergebliche Warnung an die Chefideologen der kommunistischen Partei. Die sowjetischen Sozialisten trieben die Einrichtung der Gesinnungs- und Parteipresse auf die Spitze, indem sie alle Ereignisse und geschichtlichen Abläufe anhand ihrer wissenschaftlich fundierten marxistisch-leninistischen Doktrin deuteten und der Presse aufgaben, sich an diese Interpretation der Dinge strikt zu halten. Im Grunde wurde gerade durch die penibel befolgte Geschlossenheit und Einheitlichkeit der Parteidarstellung das ganze System immer wieder der Lächerlichkeit preisgegeben, und nicht etwa durch Redaktionsversehen oder unerwünschte aufmüpfige Bemerkungen. Jede Abweichung von der einmal vorgegebenen Parteilinie wurde unterbunden oder - verbum volat - mit Lenin´scher Polemik missbilligt. Die Erneuerung des Sozialismus, die M. S. Gorbačev unter anderem mit dem Schlagwort "Glasnost`" (dt. Offenheit, Transparenz) einleitete, wandte sich vor allem gegen starre Dogmatik und Heuchelei. Die Regierung sollte gerade nicht mehr nur ihre eigene Stimme hören. Die notwendige Reform des Systems verlangte nach konstruktiver Kritik, und ohne eine Lockerung der Parteikontrolle und der Vorzensur schienen die reformerischen Ziele unerreichbar zu sein. Da also schließlich im Jahre 1986 sogar die Parteiführung selbst das Maß der erlaubten Kritik für viel zu gering hielt und als eine der Ursachen der Stagnation der letzten Jahre der Sowjetunion ansah, fragt es sich in der Tat, wie es zu einem solchen System durchgängiger staatlicher Bevormundung hatte kommen können. Weder die marxistischen Grundlagen des Kommunismus noch die Bedürfnisse der sozialistischen Gesellschaft erklären, weshalb es notwendig war, die gesamte Presse des Landes zum ausführenden Organ der Partei zu machen.

 

Eine Erklärung hierfür bietet jedoch die Revolutionstaktik Lenins, der in der Presse eines der wichtigsten Kampfmittel der bolschewistischen Partei sah. Im Stadium des vorrevolutionären Klassenkampfes diente ihm das Massenmedium als Aktionsmittel zur Unterminierung der zaristischen und bürgerlichen Ordnung Rußlands, als Fahne, um die sich seine Organisation scharen konnte, obgleich sie ständig von der Auflösung bedroht war. Er begründete eine Propaganda- und Agitationslehre, die man nach der Festigung der Macht der Bolschewiken in den Rang einer Wissenschaft erhob. Danach war die tagespolitische Agitation zur Manipulation der Öffentlichkeit und zur Mobilisierung der Massen eine unabdingbare Ergänzung zur längerfristig angelegten Parteipropaganda, der es mehr um die sachliche Vermittlung der theoretischen Grundlagen und Glaubens­inhalte des Marxismus gehen musste.

 

Nach den ersten Erfolgen setzten die Bolschewiken ihre Erfahrungen im Bereich der Massenmedien nicht nur zu dem Zweck ein, den Klassenkampf voranzutreiben, sondern auch ihre politischen Gegner auszuschalten, insbesondere die anfangs noch zahlenmäßig überlegenen Menschewiken. Richtete sich Lenins erstes Pressedekret vom 10. November 1917 noch ausdrücklich gegen die Presse der Bourgeoisie und bezeichnete die Schließungsverfügungen gegen bürgerliche Zeitungen als vorüber­gehende Maßnahme, so dienten die folgenden Maßnahmen der Unterdrückung jeglicher politischen Opposition.

 

Das Dekret "Über das Revolutionstribunal der Presse" vom 28. Januar 1918[2] stattete dieses Organ mit der Vollmacht aus, Zeitungen zu schließen, ihr Eigentum zu konfiszieren und Freiheitsstrafen zu verhängen. Sogleich wurde die menschewistische Zeitung "Vperëd" verboten.[3]  Seit der Mitte des Jahres entwickelte sich zudem der Bürgerkrieg. Es wurde die Kriegszensur verhängt[4] und schon bald blieb von der Presse der oppositionellen sozialistischen Parteien nichts mehr übrig. Anfang 1918 gab es noch 154 Herausgeber, im September etwa 50 und im Jahr 1919 nur noch drei.[5] Schließlich wurde mit der Verordnung "Über die Hauptverwaltung in Angelegenheiten der Literatur und des Verlagswesens" vom 6. Juni 1922 die Zensurbehörde "Glavlit" geschaffen, welche an zentraler Stelle die Vorzensur ausüben und die Genehmigungen für die Gründung und Herausgabe eines Massenmediums erteilen sollte.[6] Zu ihren Aufgaben gehörte nicht nur der Schutz der Staatsgeheimnisse, sondern sie hatte den konkreten Auftrag, die Herstellung und Verbreitung von Presseerzeugnissen und allen anderen Druckwerken zu untersagen, die eine "Agitation gegen die sowjetischen Staatsorgane" enthielten oder die "die öffentliche Meinung mit erfundenen Nachrichten beunruhigen" konnten. Nur bestimmte Ausgaben der kommunistischen Staats- und Parteipresse wurden von dieser umfassenden politischen Vorzensur ausgenommen.[7]

 

Nachdem "auf dem Sektor des Pressewesens bereits in der Anfangsphase des Sowjetstaates eine radikale Umwälzung eingetreten" war[8] und sich das Einparteiensystem mit seiner vollständigen Kontrolle über sämtliche Presseorgane zu entwickeln begonnen hatte, gingen Lenin und seine Parteigenossen dazu über, die Ergebnisse ihrer agitatorisch-propagandistischen Vorarbeit zu vertiefen und auszubauen. Zum Zweck der Presse als politischem Kampfmittel trat die Erziehungsaufgabe hinzu. Die Zeitungen waren in Werkzeuge der ökonomischen Umerziehung der Massen zu verwandeln. Gemäß der Leninschen Pressekonzeption hörten die Massenmedien niemals auf, ein fester Bestandteil des fortwährenden Klassenkampfes zu sein. Die Mittel der Propaganda, der Agitation und der scharfen Polemik gegen die inneren und äußeren Feinde des sozialistischen Systems waren ohne Unterbrechung anzuwenden. Der neue Zeitungsstil wurde als Errungenschaft der revolutionären Praxis gefeiert und wie die unbedingte Ausrichtung an der Parteilinie zu den "revolutionären Normen der Publizistik" gezählt.[9] Die kompromißlose Haltung, die pragmatische List, die Kampflust und der Eifer Lenins galten auch nach seinem Tod (1924) als ewiges Vorbild für die Pressearbeit der Partei. Eine Kostprobe dieses politischen Stils bietet ein Brief Lenins vom 7. August 1921 an das Volkskomitee für Landwirtschaft und an den Staatsverlag:

 

"Von den neuen Büchern erhielt ich vom Staatsverlag `Der landwirtschaftliche Betrieb´ von Sem.  Maslov aus dem Jahr 1921, fünfte Auflage (oder vierte). Bei der Durchsicht ist augenfällig, dass es sich um eine durch und durch spießbürgerliche, niederträchtige Schwarte handelt, die das Bäuerlein mit aufgesetzter spießbürgerlicher Gelehrtheit und Lüge ganz benommen machen wird. Fast 400 Seiten und nichts über den sowjetischen Aufbau und die neue Politik, - über unsere Gesetze und Maßnahmen für den Übergang zum Sozialismus usw. Nur ein Dummkopf oder ein böswilliger Saboteur konnte dieses Buch durchgehen lassen. Bitte ermitteln Sie und nennen Sie mir alle Personen, die für die Redaktion und Herausgabe dieses Buches verantwortlich zeichnen."[10]

 

Die Person Lenins, dessen Erbe Stalin antrat, wurde zum bestimmenden Element der russischen Journalistik. Anders als zum Beispiel die polnischen Publizistikwissenschaftler, die zu Lenins pressepolitischen Weisungen nach und nach auf Distanz gingen, verstand man in der sowjetischen Fachliteratur die Pressekonzeption Lenins als Pressedoktrin. Im Kernland des Sozialismus wurden Lenins schriftliche und mündliche Äußerungen wie wissenschaftliche Reliquien verehrt. Auch in den sechziger und siebziger Jahren dienten die Lenin-Jubiläen noch dazu, die Verpflichtung des Sowjetjournalismus auf das von Lenin hinterlassene Erbe zu beschwören:

 

"Die Sowjetpresse wahrt die ruhmreichen Traditionen Lenins als heilig und bereichert sie. Das heißt vor allem die konsequente Verwirklichung der Lenin´schen Grundsätze der kommunistischen Parteilichkeit und Volksnähe, eine aktive Haltung zum Leben, Prinzipientreue und Leidenschaft in der Propaganda und Durchsetzung in der Parteipolitik." [11]

 

So ist es nicht zuletzt Lenins Verdienst, dass sich die Publizistik auch beim weiteren Aufbau der sozialistischen Gesellschaft im ständigen Ausnahmezustand befand. Während der 73 Jahre sowjetischer Staatlichkeit ist es niemals bis zur Verabschiedung eines Pressegesetzes gekommen. Sämtliche Entwürfe verschwanden wieder in den Archiven. Verbindlich waren vielmehr die "Beschlüsse der KPdSU bezüglich der Presse", eine Textausgabe, die schon im Jahr 1961 fast 800 Seiten umfasste und neben den Beschlüssen der Parteikongresse und Konferenzen auch die Erlasse, Instruktionen und Briefe des Zentralkomitees der KPdSU enthielt. Die beiden ersten Abschnitte der Sammlung trugen die Titel: "I. Die Presse als die wichtigste Waffe im Kampf für die revolutionäre Neugestaltung der Gesellschaft, II. Die Presse als die schärfste Waffe bei der ideologischen Arbeit der Partei." In diesen Texten wurden nicht nur allgemeine Vorschriften bezüglich des Arbeitsprogramms der Presse gemacht, sondern auch detaillierte Anweisungen für Stil und Gestaltung einer Zeitung gegeben.[12]

 

Lenins radikales Freund-Feind-Denken übertrug sich auf alle Bereiche der Informationsvermittlung. Sachliche und neutrale Berichterstattung war nicht so wichtig. Die Forderung an die Journalisten, Kritik und Selbstkritik zu üben, machte sie zu aktiven Parteigängern, die an der vorderen ideologischen Front für die Sache des Kommunismus in die Schlacht zogen. H. Koschwitz schreibt hierzu: "Marx gestand der Presse Eigengesetzlichkeit zu, Lenin aber unterwirft sie der Sache, dem politischen Programm".[13] Nach Lenin vollzog Stalin noch einen weiteren Schritt und ordnete die Presse nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell und organisatorisch den Partei- und Staatsorganen vollständig unter. Er wies den Massenmedien für die Phase des nachrevolutionären Staatsaufbaus die Rolle des kollektiven Organisators in den Händen der Partei und der Sowjetmacht zu. Die Massenmedien sollten das Mittel sein, die werktätigen Massen des Landes um die Partei und die Sowjetmacht zu sammeln, und dementsprechend wurde die Presse bald als "Transmissionsriemen" zwischen der Partei und den werktätigen Massen dargestellt. Diese Sichtweise hatte nichts mehr mit dem Bild der Presse als einem verbindenden Glied zwischen der Regierung und der Bevölkerung gemein, sie rechtfertigte vielmehr die Gleichschaltung der Medien mit dem Willen der Partei und ihre Auslieferung an die bürokratischen Strukturen der kommunistischen Parteiorganisation. Über Lenin und die nachfolgende Zeit des Stalinismus, in der die Revolutionäre zu Beamten wurden, schreibt D. Volkogonov zusammenfassend:

 

"Lenin war befähigt, in einigen wenigen Jahren so viel zu tun, wie man es einem einzelnen Menschen kaum zutraut. Die Partei war zu einem Staat im Staate geworden, ihre Diktatur war Tatsache geworden. Die Religion war ersetzt worden durch die scharfe bolschewistische Ideologie des Leninismus. Parteiabsolutismus war an die Stelle der zaristischen Autokratie getreten. Der Befehlszwang wurde zum Grundmuster. Demokratie und Bürgerrechte betrachtete man als "Manifestationen der Bourgeoisie", das menschliche Leben wurde zu einer seelenlosen statistischen Einheit. Sogar einige aus Lenins eigener Umgebung erschraken über das Wachstum der Verwaltungsgebäude und der bürokratischen Unterabteilungen." [14] 

 

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[1] Dieses und die beiden folgenden Zitate von Karl Marx stammen aus H. Koschwitz (1971), Pressepolitik und Parteijournalismus in der UdSSR und in der VR China, S. 14 / 15.

[2] Beide Dekrete aus: T. M. Gorjaeva (1997), Istorija sovetskoj političeskoj cenzury. Dokumenty i kommentarii, S. 27 / 28.

[3] R. P. Ovsepjan (1996), Istorija novejšej otečestvennoj žurnalistiki, S. 18.

[4] Položenie o voennoj cenzure gazet, žurnalov i vsech proizvedenij pečati povremennoj, 21. ijunja 1918.

[5] R. P. Ovsepjan (1996), aaO. S. 25.

[6] Die Behörde unterstand formell dem Volkskommissariat für Bildung / Volksauf­klärung, und obgleich der zuständige Volkskommissar A. V. Lunačarskij von einer einstweiligen Einrichtung sprach, blieb sie bestehen und wurde am 06. Juni 1931 durch den Rat der Volkskommissare der RSFSR durch einen Erlaß offiziell bestätigt (Postanovlenie SNK RSFSR ob utverždenii položenija o glavnom upravlenii po delam literatury i izdatel´stva i ego mestnych organach).

[7] Vgl. Položenie o glavnom upravlenii po delam literatury i izdatel´stva (GLAVLIT), 6 ijunja 1922 (Zitate: Übers. d. Verf.).

[8] H. Koschwitz (1971), Pressepolitik und Parteijournalismus in der UdSSR und in der VR China, S. 20.

[9] H. Koschwitz (1971), aaO. S. 21.

[10] Aus: T. M. Gorjaeva (1997), Istorija političeskoj cenzury. Dokumenty i kommentarii, S. 33 / 34 (Übers. d. Verf.).

[11] Zitiert aus: H. Koschwitz (1971), aaO. S. 61. Im Russischen lauteten die Schlüsselbegriffe `idejnost´, partijnost´, principial´nost´. Vgl. zu diesen Begriffen auch: B. McNair (1991), Glasnost, Perestroika and the Soviet Media, S. 19 ff.

[12] Vgl. hierzu A. Buzek (1965), Die kommunistische Presse, S. 137 ff. Der erste Abschnitt der betreffenden "Beschlüsse der KPdSU" beinhaltet Dokumente seit der Gründung der ersten bolschewistischen Zeitung durch Lenin bis zur Oktober­revolution, der zweite u. a. Resolutionen und Beschlüsse über die Presse vom 7., 11., 12. und 13. Parteikongreß, Dekrete des Zentralkomitees über die Aufgaben der Partei, der Presse und über einzelne Presseorgane sowie Parteibeschlüsse der Nachkriegszeit.

[13] H. Koschwitz (1971), aaO. S. 22.

[14] D. A. Volkogonov (1998), Autopsy for an Empire, S. 78 (Übers. d. Verf.).