3.
Eingriffsvoraussetzungen, Verhältnismäßigkeitsprinzip
Andere
Beschränkungen der Freiheitsrechte des Art. 29 Verf RF, die nicht als
Vorzensur einzustufen sind, können nicht in jedem Fall ausgeschlossen
werden. Wie der Umkehrschluss aus Art. 56 Abs. 3 Verf RF ergibt, dürfen
vielmehr einzelne Rechte des Art. 29 Verf RF während des gesetzlichen
Ausnahmezustandes vorübergehend außer Kraft gesetzt werden. Im übrigen
sollen Eingriffe in die Freiheitsrechte des Art. 29 Verf RF jedoch nur
dann verfassungsmäßig sein, wenn sie aufgrund eines Gesetzes
vorgenommen werden und verhältnismäßig sind. Die Verfassung sagt
hierzu zunächst, es dürfen grundsätzlich "keine Gesetze
erlassen werden, welche die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers
aufheben oder schmälern" (Art. 55 Abs. 2 Verf RF).[1]
Die dennoch erforderlichen, im Interesse anderer wichtiger Verfassungsgüter
gemachten Einschränkungen unterliegen nach Art. 55 Abs. 3 Verf RF in
besonderem Maße dem Gesetzesvorbehalt und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip: "Die
Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers können durch föderales
Gesetz nur in dem Maße eingeschränkt werden, wie dies für den
Schutz der Grundlagen der Verfassungsordnung, der Moral, der Gesundheit,
der Rechte und rechtmäßigen Interessen anderer Personen sowie für die
Sicherung der Landesverteidigung und der Staatssicherheit notwendig
ist." [2] Vor
allem die Sicherheit der Bürger und der Schutz der Verfassungsordnung können
im Ausnahmefall die Beschränkung bestimmter, insbesondere politischer
Grundrechte notwendig machen. So dürfen nach der Verhängung des
Ausnahmezustandes "in Übereinstimmung mit einem föderalen
Verfassungsgesetz" zeitlich begrenzte und inhaltlich genau
festgelegte Beschränkungen einzelner Freiheitsrechte wie zum Beispiel
der Presse- und Medienfreiheit eingeführt werden (Art. 56 Abs. 1 Verf
RF). Bis zur Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes gilt gemäß
der Schluss- und Übergangsbestimmungen des Zweiten Abschnitts der
Verfassung das Gesetz "Über den Ausnahmezustand" vom 17. Mai
1991, das die vorübergehende Einführung der Vorzensur und die
zeitweilige Einstellung der Presseproduktion vorsieht (vgl. Art. 23
Punkt b) dieses Gesetzes).[3]
Bei jeder anderen, außerhalb des Ausnahmezustandes erfolgenden
Einstellung oder vorübergehenden Aussetzung der Tätigkeit eines
Massenmediums sind dagegen die allgemeinen Einschränkungsvoraussetzungen
des Art. 55 Abs. 3 Verf RF strikt zu beachten.[4]
Das Merkmal der Erforderlichkeit oder Notwendigkeit des Eingriffs in die
Freiheit des Wortes und die damit verbundenen Freiheitsrechte ist ebenso
in den internationalen Menschenrechtspakten und -konventionen enthalten.
Gesetzliche Einschränkungen müssen für den Schutz bestimmter anderer
Rechts- und Verfassungsgüter erforderlich sein (Art. 19 Abs. 3 IPBPR)
bzw. "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein
(Art. 10 Abs. 2 EMRK).[5]
Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte führte hierzu aus: "Der
Gerichtshof hat in seiner früheren Rechtsprechung bereits dargelegt,
dass das Adjektiv `notwendig´ in Art. 10 Abs. 2 der Konvention nicht
gleichbedeutend ist mit `unbedingt erforderlich´ (`indispensable´),
dass es aber andererseits auch nicht so flexibel ist wie die Ausdrücke
`zulässig´ (`admissible´), `normal´ (`ordinary´), `nützlich´
(`useful, utile´), `vernünftig´ (`reasonable, raisonable´) oder
`zweckmäßig´ (`desirable, opportun´). Vielmehr verweist dieser
Ausdruck auf ein `dringendes soziales Bedürfnis´ (`pressing social
need; besoin social impérieux´). Die Vertragstaaten haben diesbezüglich
einen Ermessensspielraum, der jedoch mit der europäischen Überwachung
einhergeht, deren Umfang von den Umständen abhängt. Die Entscheidung,
ob ein bestimmter Begriff einem sozialen Bedürfnis entspricht, ob er
`gemessen an dem verfolgten Ziel verhältnismäßig´ ist und ob die von
den staatlichen Behörden gegebene Begründung `zutreffend und
ausreichend´ ist, obliegt letzten Endes dem Gerichtshof (...)."[6] Der
Gerichtshof prüft also, ob hinsichtlich des Erfordernisses `notwendig
in einer demokratischen Gesellschaft´ schon ein europäischer
(Konventions-)Standard besteht und ob sich der Staat noch innerhalb des
Einschätzungsspielraums ("margin of appreciation")[7]
bewegt, der ihm für den Erlass von Rechtsnormen und ihre Anwendung
zugestanden wird. Das Erfordernis der gesetzlichen Eingriffsgrundlage und der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs bedeutet zum Beispiel für das Rechtsverhältnis der verschiedenen staatlichen Aufsichtsbehörden zu den Massenmedien, dass die Schließung einer Zeitung oder die Stillegung eines Senders nicht aus weiteren als den im Gesetz genannten Gründen und insbesondere nur durch Gerichtsentscheidung verfügt werden darf (Art. 16 des Gesetzes "Über die Massenmedien"). Im übrigen muss die Maßnahme auch ein geeignetes, notwendiges und angemessenes Mittel sein, um den Missbrauch der Freiheit der Massenmedien zu unterbinden.[8] Die Missbrauchstatbestände des Art. 4 des Gesetzes "Über die Massenmedien" sind vielfältiger und weiter als die des speziellen Verfassungsvorbehalts des Art. 29 Abs. 2 Verf RF. Die Anforderungen an die auf Art. 4 des Gesetzes "Über die Massenmedien" gestützte Begründung der Schließung eines Massenmediums sind daher hoch. Im Hinblick auf den Zweck des speziellen Verfassungsvorbehalts, eine pluralistische Gesellschaftsordnung zu sichern (Art. 13 Verf RF) und die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung und den Wettstreit der Meinungen zu ermöglichen, kann nicht jede strafrechtliche Handlung und nicht jede radikal vertretene politische Meinung staatliche Maßnahmen gegen ein Massenmedium rechtfertigen. Im Kampf mit dem politischen Extremismus in der RF ist Art. 4 des Gesetzes "Über die Massenmedien" bisher sehr zurückhaltend angewendet worden.[9] [1]
Vgl. Art. 19 Abs. 2 deutsches Grundgesetz: "In keinem Falle
darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden." [2]
Vgl. Art. 19 Abs. 3 IPBPR: "Die Ausübung der in Absatz 2
vorgesehenen Rechte ist mit besonderen Pflichten und einer
besonderen Verantwortung verbunden. Sie kann daher bestimmten,
gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die
erforderlich sind a) für die Achtung der Rechte und des Rufs
anderer; b) für den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen
Ordnung, der Volksgesundheit und der öffentlichen
Sittlichkeit." [3]
Das Verfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 31. Juli 1995
über die Verfassungsmäßigkeit der Verhängung des
Ausnahmezustandes auf dem Territorium der Republik Tschetschenien
durch den Präsidenten der RF unter anderem entschieden, daß die
Regierungsverordnung Nr. 1360 vom 9. Dezember 1994 insofern
verfassungswidrig gewesen ist, als sie die Ausweisung von
Journalisten aus der Konfliktzone und den Entzug ihrer
Akkreditierung vorsah. Für diese freiheitsbeschränkenden Maßnahmen
habe eine föderale gesetzliche Grundlage gefehlt, so daß ein
Verstoß gegen Art. 29 Abs. 4 und 5 sowie Art. 55 Abs. 3 Verf RF
festzustellen sei. - Insbesondere hatte sich der Präsident der RF
zur Anordnung der besonderen Maßnahmen zur Wiederherstellung der
verfassungsmäßigen Ordnung nicht auf das Gesetz "Über den
Ausnahmezustand" berufen, weil dann die Zustimmung des Föderationsrates
erforderlich gewesen wäre. [4]
Vgl. zum Verhältnismäßigkeitsprinzip, das in der Formulierung der
"notwendigen Einschränkung" enthalten ist: N. V. Vitruk
(1997), Kommentierung zu Art. 55, S. 251 ff., in: Naučno-praktičeskij
kommentarij k Konstitucii RF, otv. red. V.
V. Lazarev. [5]
Die Übersetzung "in einer demokratischen Gesellschaft
notwendig" entspricht den Formulierungen "necessary in a
democratic society" und "mesures nécessaires dans une
societé démocratique". [6]
Urteil vom 25.03.1985 (Fall Barthold), in: EuGRZ 1985, 171 (175
ff.). [7]
Vgl. zur dogmatischen Konzeption und zur Ausfüllung des
"margin of appreciation" D. Uwer (1998),
Medienkonzentration und Pluralismussicherung im Lichte des europäischen
Menschenrechts der Pressefreiheit, S. 171 ff. [8]
Vgl. D. Uwer (1998), aaO. S. 169: Die Verhältnismäßigkeitsprüfung
des EGMR läßt sich "als eine unmittelbare Abwägung
zwischen dem Eingriff in das betroffene Menschenrecht und dem durch
den Eingriff verfolgten Ziel beschreiben. Eine der dreitsufigen
Kontrolle deutscher Prägung entsprechende Methode ist dies nicht
(...)", d.h. das Erfordernis des mildestmöglichen
Eingriffs besteht nicht, wohl aber das der Angemessenheit bzw. des
vernünftigen Verhältnisses zwischen Mittel und Zweck (sog. Verhältnismäßigkeit
im engeren Sinne). [9]
Vgl. P. Hübner (1993), Medienpolitik in Rußland nach dem Oktober
1993, S. 9 ff., insbes. S. 11 / 12. Vgl. auch M. Fedotov (1996), SMI
v otsutstvii Ariadny, S. 182 (215 und 218 ff.); O. Luchterhandt
(1998), "Rechtsstaat Rußland", Beachtliche Fortschritte -
schwere Defizite - ungünstige Perspektiven, in: Internationale
Politik 10/98, S. 12 (16): "Weite Freiräume der
Meinungsfreiheit bis hin zur Duldung aggressiver
Nazipropaganda".
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