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6. Revisionsfestigkeit der Grundrechte

 

Das erste Verfassungskapitel, das die Grundlagen der Staatsordnung enthält, und das Grundrechtskapitel können nicht im Wege der gewöhnlichen Verfassungskorrektur abgeändert werden.[1] Zuständig für die Revision des ersten oder zweiten Verfassungskapitels wäre nämlich nicht die "Föderale Versammlung" oder Bundesversammlung, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, sondern die Verfassungsversammlung. Auf dem Weg zur Einberufung dieser besonderen Versammlung sind einige Hürden zu nehmen. Das Vorschlagsrecht für eine Verfassungsrevision haben der Präsident, die Regierung, die beiden Kammern der Föderalen Versammlung sowie eine Gruppe von mindestens 1/5 der Abgeordneten der Staatsduma oder der Mitglieder des Föderationsrats (Art. 134 Verf RF). Der Vorschlag muss dann in beiden Kammern des Parlaments bei einer Stimmenmehrheit von jeweils 3/5 der Gesamtzahl der Abgeordneten bzw. Mitglieder Unterstützung finden. Erst danach beschäftigt sich die Verfassungsversammlung mit dem Änderungsvorschlag. Sie kann ihn mit einer Stimmenmehrheit von 2/3 ihrer Mitglieder annehmen oder aber zur Volksabstimmung stellen (Art. 135 Abs. 2 und 3 Verf RF).

 

Art. 29 Verf RF weist also nahezu die gleiche "Revisionsfestigkeit"[2] auf wie die im ersten Kapitel verkündeten Grundlagen der Staatsordnung. Im Hinblick auf den Inhalt der Verfassungsbestimmungen begründet Art. 16 Abs. 2 Verf RF außerdem die Vorrangstellung des ersten Verfassungskapitels.[3] Hieraus lässt sich zum Beispiel schließen, dass sich jede Auslegung des Art. 29 Verf RF an das Gebot ideologischer Neutralität des Staates (Art. 13 Abs. 1 - 3 Verf RF) zu halten hat. Die Auslegung der übrigen Verfassungskapitel muss dagegen mit den grundrechtlichen Gewährleistungen des zweiten Kapitels übereinstimmen (vgl. Art. 18 Verf RF). Dem dritten bis achten Verfassungskapitel und den föderalen Verfassungsgesetzen kommt lediglich einfacher Verfassungsrang zu. Man kann somit von einer dreistufigen Verfassung sprechen: Erstes Kapitel - zweites und neuntes Kapitel - drittes bis achtes Kapitel).[4]

 

Schließlich verfügt das zweite Verfassungskapitel im Vergleich zu den übrigen noch über einen "zweifachen Schutzmechanismus",[5] denn die seitens der RF eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen, insbesondere die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die beiden internationalen Menschenrechtspakte und die EMRK, erlauben es den Bürgern der RF, sich auf sie zu berufen. Art. 46 Abs. 3 Verf RF berechtigt die Bürger der RF dazu, "in Übereinstimmung mit den internationalen Verträgen der RF zwischenstaatliche Organe zum Schutz der Rechte und Freiheiten des Menschen anzurufen, wenn alle vorhandenen innerstaatlichen Mittel des Rechtsschutzes ausgeschöpft sind."

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[1] Vgl. zur gewöhnlichen Verfassungskorrektur Art. 108 Abs. 2, 136 Verf RF: Voraussetzung ist wie im Fall der "föderalen Verfassungsgesetze" die Stimmenmehrheit von 2/3 der Staatsduma und 3/4 des Föderationsrates.

[2] B. Wieser (1998), Ausgewählte Fragen zur Hierarchie verfassungsrechtlicher Normen im System der Verfassung der Russischen Föderation, in: Osteuropa Recht Heft 2 (Juni 1998), S. 97 (100).

[3] Vgl. V. V. Oksamytnyj (1996), Kommentierung zu Art. 16, S. 64: Erstes Kapitel als "Verfassung in der Verfassung"; in: Kommentarij k Konstitucii RF, glav. red. L. A. Okun´kov.

[4] a. A. B. Wieser, aaO. S. 100.

[5] S. A. Pjatkina (1996), Kommentierung zu Art. 64, S. 270, in: Kommentarij k Konstitucii RF, glav. red. L. A. Okun´kov.