4.
Unmittelbare Geltung der Verfassung
Der
Verfassungstext bietet viele Anhaltspunkte für die inhaltliche
Auslegung und die Bestimmung der zulässigen Einschränkungen der
Grundrechte. Die Verfassung enthält eine ganze Reihe von Vorschriften,
die einer Verengung des Schutzbereichs des Art. 29 Verf RF
entgegenwirken, sei es, dass sie der Redefreiheit benachbarte Rechte wie
die Gewissens-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit oder die Freiheit
des künstlerischen Schaffens gewährleistet, oder sei es, dass sie
bestimmte Forderungen zur Sicherung der demokratischen Grundordnung
aufstellt. Neben dem Gebot ideologischer Neutralität des Staates (Art.
13 Abs. 1 und 2 Verf RF), der Geltung der allgemein anerkannten Normen
und Prinzipien des Völkerrechts (Art. 15 Abs. 4 Verf RF), dem Gesetzesvorbehalt
und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art. 55 Abs. 3 Verf RF) ist noch
auf zwei weitere Verfassungsartikel hinzuweisen, die für die
Verwirklichung der Grundrechte von Bedeutung sind: Art. 2 und Art. 18
Verf RF verstärken den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und stellen
zugunsten der Rechte und Freiheiten des Menschen einen allgemeinen
Auslegungs- und Anwendungsgrundsatz auf, der die absolute Priorität der
individualrechtlichen Grundrechtsverbürgungen gegenüber den übrigen
Verfassungsgütern herausstellt. Art.
2 Verf RF lautet: "Der Mensch, seine Rechte und Freiheiten sind
die höchsten Werte. Die Anerkennung, die Einhaltung und der Schutz der
Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers sind Pflicht des
Staates." Art.
18 ergänzt diesen Ansatz, der wie Art. 17 Abs. 2 Verf RF die
universale, vorstaatliche und staatsbestimmende Geltung der Grundrechte
zum obersten Verfassungsprinzip erklärt, und führt weiter aus: "Die
Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers gelten unmittelbar. Sie
bestimmen den Sinn, den Inhalt und die Anwendung der Gesetze, die Tätigkeit
der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt und der örtlichen
Selbstverwaltung und werden durch die Rechtsprechung gewährleistet."
Der
Verfassungsrichter N. V. Vitruk schreibt hierzu im Hinblick auf den
gerichtlichen Rechtsschutz: "Die in Art. 18 formulierten
Prinzipien finden in einer Reihe von Verfassungsvorschriften ihre
Unterstützung, z.B. in denjenigen über die unmittelbare rechtliche
Wirkung der Verfassung,[1]
über den gerichtlichen Schutz der Rechte und Freiheiten,[2]
und über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze in den Fällen,
in denen die verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten der Bürger
verletzt worden sind.[3]
Die unmittelbare rechtliche Wirkung der Verfassungsvorschriften
hinsichtlich der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers haben
dagegen die Richter der allgemeinen Rechtsprechung und der
Arbitragegerichte zu verteidigen. Hierauf richtet sich insbesondere der
Beschluss des Plenums des Obersten Gerichtshofs der RF vom 31. Oktober
1995 "Über einige Fragen der Anwendung der Verfassung der RF durch
die Richter bei der Ausübung ihrer Rechtsprechung", die sich
gerade auf die Verfahren bezieht, die Klagen gegen Entscheidungen und Maßnahmen
(oder Unterlassungen) betreffen, die von staatlichen Exekutivorganen, örtlichen
Organen der Selbstverwaltung, öffentlichen Vereinigungen, Beamteten und
staatlichen Bediensteten ausgingen und bei denen die Rechte und
Freiheiten des Menschen und Bürgers verletzt wurden." [4] In
dem genannten Beschluss stellt der Oberste Gerichtshof der RF ausdrücklich
fest, dass die Richter die Verfassung unmittelbar anzuwenden haben,
falls föderale oder regionale Gesetze sowie andere Rechtsakte,
insbesondere Präsidialdekrete, im klaren Widerspruch zur Verfassung
stehen. Vorkonstitutionelle Gesetze der RF sollen schon dann nicht
angewendet werden, wenn sie überhaupt mit der Verfassung unter
irgendeinem Gesichtspunkt nicht übereinstimmen, nachkonstitutionelle
Gesetze der RF müssen sich hingegen im direkten Widerspruch zu
entsprechenden Verfassungsbestimmungen befinden, um verworfen werden zu
können. Regionale Gesetze und andere Rechtsakte der Subjekte der RF
weichen wiederum schon dann der unmittelbaren Anwendung der Verfassung,
falls sie nicht mit ihr übereinstimmen und kein entsprechendes föderales
Gesetz vorhanden ist. Lässt sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit
eines Gesetzes nicht eindeutig klären, ist es aber dennoch
entscheidungserheblich, so ist jedes Fachgericht dazu verpflichtet, im
Wege der konkreten Normenkontrolle das Verfassungsgericht der RF
anzurufen (vgl. Art. 125 Abs. 4 Verf RF, Art. 101 - 104 VerfGG RF). Die unmittelbare rechtliche Wirkung der Verfassung und die unmittelbare Geltung der Grundrechte bedeuten für die Verwirklichung der Freiheitsrechte des Art. 29 Verf RF einen großen Vorteil. Erstens hängt die Durchsetzung der verfassungsrechtlich verbürgten Rechte nicht davon ab, ob entsprechende Gesetze, Verordnungen oder Anordnungen existieren. Diesen grundlegenden Unterschied zur sowjetischen Verfassungspraxis betonen V. A. Krjakov und L. V. Lazarev: "Die in den sowjetischen Verfassungen enthaltenen Normen hatten keine vergleichbare Wirkung, denn sie waren nicht realisierbar, wenn nicht zugleich auch ein entsprechendes Gesetz, eine Partei- oder Regierungsverordnung oder eine behördliche Instruktion erlassen wurde. In der Praxis wendete man gerade letztere an, nicht aber die Verfassungsbestimmungen." [5] Zweitens ist es damit möglich, sich gegenüber verfassungswidrigen Rechtsakten oder ihrer verfassungswidrigen Auslegung und Anwendung direkt auf den Wortlaut der Verfassung zu berufen. Die Freiheitsrechte der Verfassung der RF haben gemäß Art. 4 Abs. 2 Verf RF auf dem gesamten Territorium der RF Vorrang vor regionalen Normen. Im Falle des Widerspruchs zwischen einem föderalen Gesetz und einem anderen in der RF erlassenen Rechtsakt gilt das föderale Gesetz (Art. 76 Abs. 5 S. 2 Verf RF). [1]
Art. 15 Abs. 1 Verf RF. [2]
Vgl. Art. 45 - 47 Verf RF. [3]
Art. 125 Abs. 4 Verf RF. [4]
N. V. Vitruk (1997), Kommentierung zu Art. 18 Verf RF, in: Naučno-praktičeskij
kommentarij k Konstitucii RF, Kollektiv avtorov / pod red. V. V.
Lazarev (Übers. d. Verf.). [5]
V. A. Krjažkov / L. V. Lazarev (1998), Konstitucionnaja justicija,
S. 9.
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