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3. Rede- und Pressefreiheit unter ideologischem Vorbehalt

 

Art. 50 Abs. 1 der Verfassung von 1977 gewährleistete den Staatsbürgern der Sowjetunion die Rede- und Pressefreiheit. Dieses Grundrecht sollte jedoch keine staatsfreien Räume eröffnen, in denen die Bürger vor staatlicher Bevormundung geschützt werden. Die Verfassung bestimmte ausdrücklich, dass die Rede- und Pressefreiheit den Interessen des Volkes und der Festigung und Entwicklung der sozialistischen Ordnung zu dienen habe.[1] Die möglichen Inhalte dieses Gemein­schaftsvorbehaltes konnten nicht in der Verfassung definiert werden, sondern sie waren von Fall zu Fall durch die Staatspartei festzulegen. Deshalb lautete der Verfassungstext kurz und bündig:

Artikel 50 (Rede-, Presse-, Versammlungsfreiheit)

 

(I) In Übereinstimmung mit den Interessen des Volkes und zur Festlegung und Entwicklung der sozialistischen Ordnung wird den Bürgern die Freiheit des Wortes, der Presse, der Versammlungen, der Kundgebungen, der Straßenumzüge und Demonstrationen garantiert.

(II) Die Ausübung dieser politischen Freiheiten wird den Werktätigen und ihren Organisationen durch die Bereitstellung öffentlicher Gebäude, Straßen und Plätze sowie durch eine umfassende Informationsverbreitung und die Möglichkeit der Nutzung von Presse, Fernsehen und Rundfunk gewährleistet.[2]

 

Im zweiten Absatz gewährte das sozialistische Grundrecht zugunsten der Werktätigen und ihrer Organisationen materielle Garantien, die seine Zweckbestimmung als kollektiv auszuübendes politisches Mitgestaltungsrecht offenbarten. Die Freiheit, ein Massen­medium zu gründen, blieb unerwähnt, denn sie existierte ebenso wenig wie ein Verbot der Vorzensur. Im ganzen Ostblock fungierten die kommunistischen Parteien und staatlichen Ein­richtungen als Herausgeber der Massenmedien.[3]  Art. 49 Abs. 1 der Verfassung gewährte den Bürgern der Sowjetunion noch zusätz­lich zur Rede- und Pressefreiheit das Recht, Verbesserungsvorschläge und konstruktive Kritik anzubringen:

 

Artikel 49 (Vorschlags- und Eingaberecht)

 

(I) Jeder Bürger der UdSSR hat das Recht, den staatlichen Organen und gesellschaftlichen Organisationen Vorschläge für die Verbesserung ihrer Tätigkeit zu machen und Mängel in ihrer Arbeit zu kritisieren.

(II) Die Amtsträger sind verpflichtet, innerhalb festgelegter Fristen die Vorschläge und Eingaben der Bürger zu prüfen, zu ihnen Stellung zu nehmen und notwendige Maßnahmen zu treffen. (III) Die Verfolgung wegen Kritik ist verboten. Personen, die jemanden wegen geübter Kritik verfolgen, werden zur Verantwortung gezogen.[4]

 

Das Detail durfte der Kritik unterzogen werden, nicht aber die bestehende Ordnung an sich.[5] Das Partizipationsrecht des Art. 49 ist ebenso wie der erwähnte Gemeinschaftsvorbehalt des Art. 50 Abs. 1 ein Zeichen dafür, dass die Rede- und Pressefreiheit wie die meisten anderen Grundrechte auch ein kollektives Recht sein sollte, das der Arbeiterklasse an sich zustand, also jedem von ihnen als Mitglied der sozialistischen Gemeinschaft, und keinem einzigen von ihnen als Privatperson. Von den Grund­rechten sollte, so legte es schon die Verfassung unmißverständllich fest, auf keinen Fall in Opposition zur offiziellen Parteilinie Gebrauch gemacht werden dürfen. Noch deutlicher hätte die Verfassung auch bestimmen können, dass die umfassende Kontrolle der Massenmedien durch die Partei der Arbeiterklasse zum Aufbau der sozialistischen Ordnung unerlässlich ist und dass die gewissenhafte Ausübung der staatlichen Vorzensur daher ein legitimes Mittel der Parteikontrolle ist.

 

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[1] Die ausdrückliche Wiederholung und zugleich Verschärfung der bereits in Art. 39 Abs. 2 festgelegten, für alle Grundrechte geltenden Schranke der Interessen der sozialistischen Gemeinschaft stellte eine Besonderheit dar. Sie betonte den Klassencharakter des politischen Grundrechts, das lediglich eine sachorien­tierte, systembejahende Kritik erlaubte. Vgl. A. Blankenagel (1983), Kommen­tierung zu Art. 50, Rd.-Nr. 7, 10, 13, 30, in: Handbuch der Sowjet­verfassung, Bd. I, S. 581 ff.

[2] Übersetzung von Art. 49 und 50 Verf UdSSR 1977 aus: Handbuch der Sowjetverfassung, Bd. I, S. 574 und 579.

[3] Vgl. D. Blumenwitz (1988), Einzelne Menschenrechte - Meinungs- und Informationsfreiheit, in: Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Paktes, S. 76.

[4] Dieses 1977 neu eingeführte Grundrecht war außerdem im Zusammenhang mit dem Recht auf politische Mitgestaltung und Beteiligung der Bürger bei Wahlen, in öffentlichen Organisationen und lokalen Einrichtungen zu sehen (vgl. Art. 48).

[5] Vgl. K. Westen (1983), Kommentierung zu Art. 49, Rd.-Nr. 13, in: Handbuch der Sowjetverfassung (1983), Bd. I, S. 576.