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1. Einleitung

Die Untersuchung schmerz-induzierter evozierter Potentiale beim Gesunden oder Kranken ist eine etablierte Methode zur Darstellung normaler oder gestörter Schmerzempfindung. Dabei handelt es sich um reizbedingte Veränderungen im spontanen Elektroenzephalogramm, nachfolgend mit EEG abgekürzt, die durch geeignete, möglichst selektiv das Schmerzsystem aktivierende Reize induziert werden. In der Schmerzforschung werden vor allem sogenannte "späte" Komponenten des somatosensorisch evozierten zerebralen Potentials herangezogen, die etwa 100 ms nach Reizapplikation auftreten, ein Maximum über dem Vertex aufweisen und bilateral symmetrisch sind (zur Übersicht siehe Bromm und Lorenz 1998; Bromm 1989, 1995; Chen 1993 a, b).

Voraussetzung zum Nachweis evozierter zerebraler Potentiale ist die Anwendung von kurzen und steilen Reizen, um den Aktivierungszeitpunkt des gereizten afferenten Nerven möglichst exakt zu bestimmen. In der Schmerzforschung werden hierfür eine Reihe verschiedener Reize herangezogen: Elektrische Impulse, appliziert an Zahnpulpa (Spreng und Ichioka 1964; Chapman et al. 1979; Chen et al. 1979), an der Lippe (Dalessio et al. 1990), an der Fingerbeere, insbesondere nach Perforation der elektrisch isolierenden Hornhaut (Bromm und Meier 1984); weiter chemische Reizung, z.B. der Nasenschleimhaut (Reeh und Steen 1996; Hummel et al. 1994), mechanische Reize (Nakahishi 1974), und ganz besonders kurze Strahlungshitzeimpulse, ausgelöst durch Infrarot-Laser-Stimulatoren. Gerade die sogenannten Laserreize eignen sich gut zur Untersuchung normaler und gestörter Schmerzempfindung, da sie intra- und inter-individuell relativ gleiche Schmerzempfindungen auslösen. Langwellige Hitzereize werden aufgrund ihrer langen Wellenlänge nahezu vollständig in den oberflächlichsten Hautschichten absorbiert, wo die nozizeptiven schmerzaufnehmenden Nervenfasern enden (Bromm und Treede 1983). Kurze steile Laserreize evozieren typische schmerzrelevante Komponenten, sogenannte Laserreiz-evozierte Potentiale, nachfolgend mit LEP abgekürzt. Diese werden über dem Vertex mit Einzelelektroden abgeleitet und zeigen unter gleichen experimentellen Bedingungen sehr konstante Werte (Kazarians et al. 1995; Beydoun et al. 1993). Es gibt mittlerweile eine große Zahl von Publikationen, die LEPs zur Quantifizierung von experimentell ausgelösten Schmerzempfindungen heranziehen, am Gesunden (Scharein und Bromm 1998; Bromm 19951993; Kazarians 1996; Kunde und Treede 1993; Bromm und Treede 1991; Bromm et al. 1991) und am Patienten (Lorenz et al. 1997, 1996; Casey et al. 1996; Darsow et al. 1996; Hansen et al. 1996; Hansen und Treede 1995; Yamamoto et al. 1995; Gibson et al. 1994, 1991; Bromm et al. 1991; Treede und Bromm 1991; Treede et al. 1991).

In neuerer Zeit werden reizbedingte Änderungen des EEGs nicht nur durch einzelne, auf der Kopfhaut befestigte Elektroden gemessen, sondern durch einen ganzen Satz solcher Elektroden, die auf definierten Stellen des Skalps angebracht werden. Üblich sind heute Vielkanalableitungen mit 24 bis zu 32 Elektroden, doch gibt es besondere Anordnungen, mit bis zu 124 Elektroden (Gevins et al. 1990). Diese Vielkanal-Elektroden-Ableitungen erlauben die Bestimmung von Potentialverteilungen auf der Kopfhaut, die in jedem Zeitpunkt nach Reizapplikation anders aussehen können und durch sogenannte Gehirn-Landkarten, oder Brain-Maps dargestellt werden. Es existiert eine große Anzahl von Daten und Publikationen, die die reizbedingten Potentialverteilungen in Form farbiger Brain-Maps darstellen (Chen 1993a; Lopez da Silva 1990; Duffy 1988, 1986; Gevins und Bressler 1988).

Mittlerweile wird allgemein angenommen, daß die in den Gehirn-Landkarten dargestellten Potentialverteilungen Projektionen von zerebralen "Aktivitätszentren", "Stromdipolen" oder "Generatoren" wiedergeben, die durch den Reiz aktiviert werden. Bei der Identifizierung oder Lokalisation solcher Generatoren stößt man auf das Problem, aus gemessenen Potentialverteilungen auf deren Ursprung zu schließen. Dies ist das sogenannte "inverse Problem", das grundsätzlich nicht eindeutig lösbar ist (Helmholtz 1853). Im Unterschied zur eindeutig bestimmten "Vorwärts-Berechnung" (Wilson und Bailey 1950; Fender 1987; van Oosterom 1991b) einer Potentialverteilung aus einem gegebenen elektrischen Generator bei bekanntem Umfeld, die zu einer eindeutigen Lösung führt, ist das inverse Problem der Berechnung eines oder mehrerer Generatorpotentiale aus einem gemessenen elektromagnetischen Feld nicht eindeutig lösbar.

Um das inverse Problem in ein wohldefiniertes Problem zu überführen, bedarf es daher der zusätzlichen Festlegung von physiologisch sinnvollen Randbedingungen (Scherg und Berg 1991; Scherg 1990; Fender 19911987; Peters und de Munck 1991; van Oosterom 1991a,b; Kavanagh et al. 1978; de Munck et al. 1988). Durch die hochauflösenden bildgebenden Verfahren (insbesondere die Kernspintomographie) lassen sich heute Zuordnungen zu den neuroanatomischen Strukturen finden (Buchner et al. 1997; Buchner et al. 1996; Roth et al. 1993).

Ein erstes Verfahren zur Abschätzung zerebraler Quellen wurde von Henderson (1975) angegeben. Henderson benutzte einen Stromdipol an willkürlicher Stelle als Anfangsbedingung und ließ den Ort dieses Dipols in einem iterativen Verfahren so variieren, daß das mittlere Abweichungsquadrat zwischen "vorwärts" berechnetem Signal und gemessenem Signal minimal wurde. Die Validierung erfolgte dann anhand eines In-Vitro-Modells, bestehend aus einem kugelförmigen homogenen Volumenleiter.

Grundsätzlich wird davon ausgegangen, daß das elektroenzephalographisch gemessene Signal durch kortikal aktivierte Neurone generiert wird. Die Aktivierung eines räumlich zusammenhängenden Neuronenverbandes wird durch einen Stromdipol modelliert. Die kortikale Aktivität nach sensorischer oder schmerzhafter Stimulation ist beschränkt auf umschriebene Areale, die jedoch im Zeitverlauf ortsveränderlich sein können. In dieser Arbeit werden daher die Begriffe "Dipol", "Stromdipol" und "Generator" synonym verwendet werden (van Oosterom 1991 a, b; de Munck et al. 1988; Fender 1987; Scherg und von Cramon 1986; Nunez und Katznelson 1981). Jeder Dipol wird durch die sechs Parameter (x, y, z, Dipolrichtung, Dipolstärke) beschrieben, wobei x, y, z die kartesischen Koordinaten des Dipols bezeichnen. Dipolrichtung und Dipolstärke zusammen werden durch einen Vektor im dreidimensionalen Raum beschrieben, so daß diese Größen zusammen durch insgesamt drei Zahlen repräsentiert werden können. Beispielsweise kann die Dipolrichtung durch einen Azimuthwinkel und einen Polarwinkel in Kugelkoordinaten (s.u.) angegeben werden, die Dipolstärke läßt sich durch einen einzigen Parameter beschreiben.

In dem von Scherg (1984, 1989, 1990, 1991, 1992, 1993) angegebenen Verfahren der Brain Electric Source Analysis (BESA), das in der vorliegenden Arbeit benutzt wird, können mehrere Generatoren als Anfangsbedingung gesetzt werden. In einem Computerprogramm wird dann mit Hilfe von physiologisch sinnvollen Randbedingungen eine optimale raumzeitliche Verteilung dieser Generatoren berechnet. Die numerische Prozedur findet ein Minimum der Differenz zwischen berechnetem und experimentell ermitteltem Signal. Ob es sich hierbei um wahre Generatoren handelt, ist innerhalb des BESA-Verfahrens nicht zu entscheiden, sondern muß nach physiologischer Plausibilität beurteilt werden.

Der Brain Electric Source Analysis liegt ein Mehrschalenmodell zugrunde, in dem die Volumenleitereigenschaft des menschlichen Kopfes durch drei konzentrische Kugeln modelliert wird. Die innere Schale repräsentiert das Gehirn und den Liquor cerebrospinalis (die mit identischer elektrischer Leitfähigkeit, nämlich der für Wasser, angenommen werden). Die mittlere Schale beschreibt das elektrische Verhalten der Schädelkalotte, mit hohem elektrischen Widerstand, die äußere die der Kopfschwarte, etwa mit der Leitfähigkeit von Wasser.

Durch Vergleich von gemessenen und berechneten Potentialen lassen sich die vorgegebenen Dipolpositonen prüfen und verbessern. Die sogenannte residuale Varianz beschreibt den mittleren quadratischen Abstand zwischen gemessenen und berechneten Potentialen. Dies führt zu einem iterativen Algorithmus, indem die Dipolparameter variiert werden, bis eine bestmögliche Übereinstimmung zwischen berechnetem und gemessenem Potential vorliegt.

Die ersten Anwendungen von BESA betrafen Untersuchungen der Generatorpotentiale für visuelle und auditive Reize (Scherg 1984, 1991; Plendl et al. 1993; Ponton et al. 1993). In der ersten Arbeit, in der die Brain Electric Source Analysis auf schmerzevozierte Potentiale angewandt worden war, untersuchten Bromm und Chen (1995; siehe auch Chen und Bromm 1995) zwei Modelle für die schmerzhafte Laser-Reizung des oberen Astes des Nervus trigeminus: Dargestellt wurden die Ergebnisse unter Annahme eines einzigen ortsveränderlichen Dipols ("single moving dipole approximation") und in einem Vier-Dipol-Modell ("multiple spatiotemporal dipole modelling").

In der vorliegenden Arbeit wird ein Mehr-Dipol-Modell für das schmerzevozierte Potential für zwei experimentell untersuchte Reizorte (Schläfe, Handrücken) entwickelt. Dadurch wird ein Vergleich der Quellen für verschiedene Reizorte möglich. Da das Modell auf die evozierten Potentiale jedes einzelnen Probanden angewandt wurde, lassen sich Signifikanzgrenzen für interindividuelle Veränderungen von Quellen für schmerzhafte Reizungen verschiedener Körperareale angeben.

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