4. Diskussion
Da die maximale Amplitude schmerzevozierter Potentiale am Vertex abzuleiten ist, wird das Aktivitätsmaximum in der Vertex-Ableitung Cz als Maß für die Schmerzhaftigkeit eines nozizeptiven Reizes genutzt (Bromm und Treede 1981). Aus den in Cz gemessenen Latenzdifferenzen ergeben sich bei der Annahme einer Entfernung von 80 cm vom Handrücken zur Schläfe Nervenleitgeschwindigkeiten zwischen 11,7 m/s und 18,1 m/s (14,9 ± 3,2 m/s). Diese Werte stehen in guter Übereinstimmung mit den Leitgeschwindigkeiten für Ad -Fasern. Der Beitrag der C-Fasern ist in der vorliegenden Studie nicht abzuschätzen, da die C-Fasern ultraspäte Potentiale nach über 1000 ms verursachen (Bromm und Treede 1987).
Die Nozizeptoraktivierungszeit ist definiert als Zeitintervall vom Beginn des Reizes bis zum Erreichen der maximalen Temperatur am Nozizeptor. Bei Reizung des Handrückens durch den Thulium-YAG-Laser tritt die schmerzevozierte Negativität 44 ms früher auf als im bei Stimulation mit einem CO2-Laser. Für den CO2-Laser ist eine Nozizeptoraktivierungszeit von 40 bis 50 ms bekannt (Bromm und Treede 1991). Daher muß für die schmerzhafte Hitzereizung durch den Thulium-YAG-Laser eine vernachlässigbar kurze Nozizeptoraktivierungszeit angenommen werden. Dieses Ergebnis ist plausibel, weil die vom Thulium-YAG-Laser an das Gewebe abgegebene Leistung etwa zehnmal größer ist als die des CO2-Lasers: Beim CO2-Laser wurden bis zu 400 mJ in 20 ms appliziert, während mit dem Thulium-YAG-Laser in nur 2 ms bis zu 400 mJ übertragen wurden.
Das Ziel der vorliegenden BESA-Analyse war es, Unterschiede der zerebralen Generatoren hinsichtlich Lokalisation, Stärke und Orientierung im Vergleich der beiden Reizorte zu beschreiben. Dem Modell von Bromm und Chen (1995) folgend, wurden vier Dipole als Generatoren des gesamten Wellenverlaufes angenommen: Erstens ein Dipolpaar 1/2 , das spiegelsymmetrisch zur Ebene des Interhemisphärenspalts etwa mittig in okzipitorostraler Richtung liegt. Zweitens ein frontal liegender Dipol 3, der in der Nähe des Interhemispärenspalts lokalisiert wurde. Weiterhin ein zentraler Dipol 4, der in kraniokaudaler Richtung in einer Entfernung von 0,36 r (= 30,6 mm) vom Kugelmittelpunkt gefunden wurde und der in lateraler Richtung nahezu stets zentral lag (r: Radius der BESA-Kugel). Die z-Komponente dieses Dipols betrug 31,0 ± 5,4 mm.
Die probeweise Annahme eines fünften Dipols verbesserte die Aufklärungsgüte nur unwesentlich: Mit vier Dipolen betrug die residuale Varianz 6,2 ± 1,4 %, mit fünf Dipolen 5,0 ± 1,1 %. Der fünfte Dipol, der nach der von Berg und Scherg (1994b) empfohlenen Methode der regionalen Quellen als Test-Dipol gesetzt worden war, zeigte eine große interindividuelle Variabilität in seiner Lokalisation: Kontralateral frontal (3 Probanden), kontralateral temporal (2 Probanden), kontralateral parietotemporal, kontralateral parietal und ipsilateral zentrofrontal (je einmal). Da es hierfür keine physiologisch plausible Hypothese gibt, wurde auf die Annahme eines fünften Dipols verzichtet.
Die Daten selbst zeigten teilweise erhebliche Unterschiede im
Signal-Noise-Verhältnis. Für die Trigeminusreizung betrug die SNR
zwischen 5,9 und 16,1; für die Radialisreizung 2,6 bis 4,0.
Im intraindividuellen Vergleich läßt sich aufgrund der
unterschiedlichen Samplegrößen erwartete Unterschied um den
Faktor
größenordnungsmäßig bestätigen.
Die mit Hilfe des vorliegenden Modells erreichten residualen Varianzen erreichen nicht das theoretisch aus der SNR abzuschätzende mögliche Optimum. Mit einer mittleren RV von 6,2 % (für das Intervall 70 bis 300 ms) sind die residualen Varianzen in derselben Größenordnung wie die von Bromm und Chen (1995).
Aus der Betrachtung der Dipolstärken und den Wellenformen ist sichtbar, daß der zentrale Dipol 4 und das Dipolpaar 1/2 wesentlich zur schmerzrelevanten Komponente N150 beitragen. Wenn beispielsweise zu Testzwecken im Grand Mean der zentrale Dipol abgeschaltet wird, so steigt die RV im Intervall 141 bis 159 ms (150 ± 9) von 1,86 % auf 28,0 %. Werden andererseits die bilateral symmetrischen Dipole abgeschaltet, so steigt die RV in derselben Größenordnung auf 31 %. Hiermit wird die Annahme untermauert, daß sowohl der zentrale Dipol 4 als auch das Dipolpaar 1/2 wesentlich zur schmerzrelevanten Komponente N150 beitragen.
Die Aktivitätsmaxima der Dipole koinzidieren jedoch nicht mit dem Cz-Aktivitätsmaximum, das daher als aus der Aktivität aller drei dieser Dipole zusammengesetzt gelten muß. Signifikante Unterschiede bestanden nur zwischen den Peaklatenzen für jeweils Dipol 1 im Vergleich mit Dipol 4 und im Vergleich mit Dipol 2. Diese Beobachtung stützt die Vermutung, daß es sich bei diesen Dipolen um verschiedene Generatoren handelt, daß also keiner dieser Dipole als (redundante) Linearkombination der jeweils anderen angesehen werden kann. Im jeweiligen Vergleich der Peaklatenzen der Dipole 1, 2 und 4 mit den Aktivitätsmaxima in Cz und in der MGPP waren keine signifikanten Effekte festzustellen. Wenn jedoch die Latenzen für die Dipole 1 und 4 signifikant voneinander verschieden sind, ist bei einer grösseren Stichprobe ein statistisch bedeutsamer Unterschied der Dipollatenz des Dipols 1 von der Cz-Latenz zu erwarten, da der Peak in Cz die schmerzbedingte Aktivität des evozierten Potentials repräsentiert.
Vor einer Zuordnung der hier gefundenen Dipole zu anatomischen Strukturen werden die in der Literatur beschriebenen Quellenlokalisationen mit BESA referiert. Allen Arbeiten ist gemeinsam, daß neuroanatomische Zuordnungen nur dann erfolgten, wenn weitere Argumente, die nicht von BESA geliefert wurden, hinzugezogen wurden.
Plendl et al. (1993) lokalisierten Dipole für visuelle Reize in den verschiedenen Oktanten der Einheitskugel. Es wurden verschiedene Generatoren für die Verarbeitung von Bewegungsinformation und von Mustern aufgrund des differenten Zeitverhaltens dieser Generatoren identifiziert. Die neuroanatomische Zuordnung folgte einer Plausibilitätsüberlegung.
Bötzel et al. (1993) untersuchten Generatoren für das Bereitschaftspotential mit Hilfe von BESA und fanden eine Quelle im Motorkortex aufgrund der engen zeitlichen Assoziation mit dem zugehörigen EMG.
Ponton et al. (1993) beschrieben Quellen für den auditorischen Kortex für Normalpersonen und berichteten in derselben Arbeit kasuistisch über Dipollokalisationen für Patienten mit Cochleaimplantaten. Franssen et al. (1992) beschrieben Patienten mit kleinen subkortikalen Infarkten, bei denen eine Attenuation oder ein Totalverlust dipolarer Aktivität im Nervus-medianus-SEP zu finden war.
In der Studie von Srisa-an et al. (1996) wurden die somatosensorisch evozierten Potentiale mittlerer Latenz (N60) mit Hilfe von BESA untersucht. Während einer von vier Dipolen aufgrund einer Zuordnung zu stereotaktischen Koordinaten im Thalamus zu liegen schien, wurde für die anderen Dipole auf eine neuroanatomische Korrelation verzichtet.
Hari und Kaukoranta (1985) berichten in einer zusammenfassenden Arbeit über verschiedene Experimente mit elektrischer Stimulation des Nervus medianus oder des Nervus peronaeus. Die Lokalisation erfolgte nicht mit BESA. Für den Nervus medianus wurde eine Zuordnung zu SI gefunden, für die Experimente am Nervus peronaeus entsprach die Lokalisation eher dem sekundären somatosensorischen Kortex (SII). Die neuroanatomischen Zuordnungen basierten auf einer simulierten Vorwärtsrechnung, in der jeweils Dipole in diejenigen Areale in einer Einheitskugel gesetzt worden waren, die vermutlich SI beziehungsweise SII entsprechen. Die Äquipotentialkarten ("Maps") der simulierten Dipole waren dann mit den Maps verglichen worden, die aus dem gemessenen Signal errechnet worden waren.
Durch Einsatz von subtraktiver Positronenemissionstomographie (PET) in Verbindung mit kernspintomographischen Aufnahmen fanden Talbot et al. (1991) vier offenbar schmerzrelevante Areale. Das berechnete PET-Signal war die Differenz zwischen nicht schmerzhafter und schmerzhafter Reizung. Die schmerzhafte Reizung erfolgte über einen Hitzereiz über eine Thermode. Die anatomische Zuordnung erfolgte nach Aufsuchen der entsprechenden Areale auf der Basis stereotaktischer Koordinaten (Talairach und Touloux 1988). Es konnten schmerzrelevante Areale im anterioren Gyrus cinguli, in posterioren Bereichen des anterioren Gyrus cinguli, im kontralateralen primären somatosensorischen Kortex und im kontralateralen sekundären somatosensorischen Kortex beschrieben werden.
Tarkka und Treede (1993) untersuchten mit Hilfe von BESA die Generatoren laserervozierter Potentiale anhand der gemessenen Grand Means. Sie fanden einen in SI lokalisierten Generator aufgrund des folgenden Arguments: Beim Übergang vom Stimulationsort Hand zum Stimulationsort Fuß bewegte sich ein Generator etwa entlang des Gyrus Postcentralis in somatotoper Weise. Zusätzlich plazierten diese Untersucher einen Generator in einer Region, die einer Abbildung des sekundären somatosensorischen Kortex (SII) auf der Einheitskugel entsprechen dürfte. Hiermit erreichten sie eine befriedigende residuale Varianz; jedoch wurde das für die RV relevante Zeitintervall nicht angegeben. Eine statistische Auswertung wurde ebenfalls nicht gegeben, da alle Quellenlokalisationen auf der Basis des Grand Means erfolgten.
Spiegel et al. (1996) applizierten den Hitzereiz eines Infrarotlasers an beide Füße von Probanden und fanden, daß die temporal kontralateral zum Reiz abgeleitete N1-Negativität (bei etwa 160 ms) in der entsprechenden Ableitung T3 (bzw. T4) signifikant früher als die Vertex-Negativität begann (156 ms vs. 200 ms). Die Stimulation des Fußes war gewählt worden, weil die Repräsentationen des Fußes in SI und SII den maximal möglichen Abstand voneinander haben. Da ein ähnliches Muster kontralateral temporal auch für den Fall der Hitzestimulation der Hand abzuleiten war, schlossen die Untersucher auf eine Zuordnung zu SII. Aufgrund der geringen Anzahl der EEG-Ableitungen enthielt diese Studie keine rechnerische Quellenlokalisation.
Xu et al. (1996) analysierten Vielkanalableitungen von schmerzevozierten Potentialen und berechneten die zugehörigen Äquipotentialkarten jeweils für die Handreizung und die schmerzhafte Reizung des Fußes. Im Vergleich der Reizorte fanden sie eine Zuordnung zum primären somatosensorischen Kortex.
Mauguière (1997a) untersuchte die Quellenlokalisation für schmerzhafte Laserstimuli im Vergleich mit intrazerebralen Ableitungen bei ausgewählten Patienten und fand eine gute Übereinstimmung zwischen berechneter Quellenlokalisation und invasiven Messungen, die beide eine Beteiligung des sekundären somatosensorischen Kortex zeigen.
Valeriani et al. (1996) beschrieben eine Quellenlokalisation mit BESA für die schmerzhafte Stimulation der Hand durch CO2-Laser. Die Lokalisation der Quellen erfolgte zunächst auf der Basis des Grand Mean. Anschließend wurde das so gefundene Modell für jeden einzelnen Probanden getestet. Es ergaben sich dabei erhebliche interindividuelle Unterschiede in der RV, weiterhin wurden inakzeptable individuelle Quellenlokalisationen beschrieben. Sowohl die schlechte RV als auch die unsinnigen Quellenlokalisationen wurden auf die schlechte SNR für einzelne Probanden zurückgeführt. Für die BESA-Analyse des Grand Mean fanden Valeriani et al. ein bilateral symmetrisches Dipolpaar in der Nähe der Sylvanischen Fissur (SII entsprechend), einen fronto-zentralen Dipol in der Nähe des Interhemisphärenspalts (dem Gyrus cinguli entsprechend) und zwei anterior-medial-temporale Dipole, die am ehesten dem Hippocampus und der Amygdala entsprachen.
Bromm und Chen (1995; Chen und Bromm 1995) beschrieben das Modell, auf dem die hier vorgestellte vergleichende Analyse aufbaut. Durch eine Abschätzung der intrazerebralen Reizleitungszeiten wurde gefunden, daß die Dipole 1 und 2 parallel durch thalamo-kortikale Projektionen und nicht durch kortiko-kortikale Verbindungen aktiviert wurden. Da bekannt ist, daß die Neurone von SII Signale auf dem Thalamus erhalten, schlossen Bromm und Chen auf eine wahrscheinliche Aktivität im sekundären somatosensorischen Kortex, die durch das Dipolpaar 1/2 repräsentiert wird.
Der in der vorliegenden Arbeit gefundene zentrale schmerzrelevante Dipol 4 hat die kartesischen Koordinaten (-3,1 ± 0,6 mm, 8,5 ± 5,3 mm, 31,0 ± 5,4 mm); der Abstand vom Kugelmittelpunkt ist im Mittel 30,6 mm. Geometrisch liegt dieser Dipol für die untersuchte Probandengruppe auf einer Zylinderschale, deren Mittelpunkt im BESA-Kugelmittelpunkt liegt und deren Zylinderachse mit der transversalen x-Achse koinzidiert. Unter Zuhilfenahme des stereotaktischen Atlas von Talairach und Tournoux (1988) findet man, daß diese Lokalisation gut vereinbar mit einer Zuordnung zum Gyrus cinguli ist.
Während der stereotaktische Atlas die anatomischen Verhältnisse eines einzigen Gehirns zeigt, wird in der Arbeit von Paus et al. (1996) eine magnetresonanztomographische Lokalisation des Gyrus cinguli für 247 Probanden vorgenommen. In stereotaktischen Koordinaten lag der Gyrus cinguli in kraniokaudaler Richtung zwischen 40 mm und 60 mm kranial der Nullinie, die die vordere und die hintere Kommisur verbindet. Da auch in den von Talairach und Tournoux definierten stereotaktischen Koordinaten der Abstand von Nullpunkt zum Vertex und zum Hinterhaupt etwa gleich ist, ist anzunehmen, daß sich der Nullpunkt der BESA-Kugel ohne einen erheblichen Fehler auf die okzipitorostrale Nullinie der stereotaktischen Koordinaten abbilden läßt.
Daher ist der hier gefundene zentrale schmerzrelevante Dipol 4 im Gyrus cinguli zu lokalisieren. Die hier gefundene signifikante Verschiebung des Dipols 4 nach okzipital ist mit der Topographie des Gyrus cinguli vereinbar und kann einer Aktivität in mehr anterior gelegenen Anteilen im Falle der Trigeminusreizung entsprechen.
Für das bilateral symmetrische Dipolpaar 1/2 wurden signifikante Veränderungen nur hinsichtlich des Azimuthwinkels der Dipolorientierung gefunden. Im Mittel sind die Azimuthwinkel dieses Dipolpaares größer für den Fall der Radialisreizung. Diese Änderung der Dipolorientierung ist mit einer Lokalisation in SII, aber nicht in SI vereinbar, da für SI und SII verschiedene somatotope Zuordnungen bestehen.
Abbildung 9 zeigt die Organisation des sekundären somatosensorischen Kortex beim Primaten (nach Dong et al. (1989)). Eine somatotope Organisation des SII bei Säugetieren wurde von Craner und Ray (1991), von Nelson et al. (1979) und von Krubitzer et al. (1986) beschrieben. Der sekundäre somatosensorische Kortex liegt an der Basis des Gyrus postcentralis und schließt sich direkt an SI an. Beim Primaten liegt das Projektionsareal für den Kopf lateral, das Areal für die Hand weiter medial.
Der primäre somatosensorische Kortex besteht aus den Brodmann-Arealen 3, 1 und 2. Damit befindet sich SI im Gyrus postcentralis. Von lateral nach medial verläuft der Gyrus postcentralis in kaudokranialer und frontookzipitaler Richtung. Lateral befinden sich die Projektionsareale für Eingeweide und Pharynx, gefolgt von denen für Zähne, Mund, Lippen, Gesicht, Nase und Augen. Es schließen sich an die Projektionsareale für Finger und Hand, Unterarm, Oberarm, Schulter, Hals, Rumpf, Beine und Füße. Abbildung 10 zeigt den "sensiblen Homunculus" (nach Penfield und Rasmussen (1950)).
Abbildung 9: Somatotope Areale im sekundären somatosensorischen Kortex beim Primaten
Legende zu Abbildung 9: Durch invasive Messungen
gefundene Projektionsareale im sekundären somatosensorischen
Kortex von Macaca fascicularis (nach
Dong et al. 1989). Die lateralen Areale,
bezeichnet mit "7b" sind die Projektionen nozizeptiver
Reize im Gesicht, Areale für die Handstimulation sind medial
lokalisiert.
1, 2, 3a, 3b, 4, 5, 7b bezeichnen die entsprechenden
cytoarchitektonischen Brodmannschen Rindenfelder.
SII: Sekundärer somatosensorischer Kortex.
CS: Sulcus centralis.
LS: Sulcus lateralis.
Abbildung 10: Somatotope Areale im primären somatosensorischen Kortex beim Menschen
Legende zu Abbildung 10: Sogenannter "sensibler Homunculus": Darstellung der Projektionsfelder des primären somatosensorischen Kortex beim Menschen nach Penfield und Rasmussen (1950).
Im Vergleich zwischen Trigeminusreizung und Radialisreizung wäre für die Projektionsareale von SI eine Abnahme des Azimuthwinkels der Dipolorientierung zu erwarten, während für SII umgekehrt eine Zunahme dieses Azimuthwinkels beobachtet werden müßte. Für die Trigeminusreizung zeigt ein im sekundären somatosensorischen Kortex liegender Dipol nach lateral und etwas nach kranial. Er steht senkrecht auf dem Gyrus, der in Abbildung 9 mit "7b" bezeichnet ist. Das Projektionsareal für die Radialisreizung liegt etwas weiter nach medial. Die Dipolorientierung, senkrecht zur Begrenzung des kortikalen Areals, zeigt dann deutlich mehr nach kaudal. Daher sprechen die vorliegenden Daten für eine Lokalisation des Dipolpaares 1/2 im sekundären somatosensorischen Kortex.
Für alle hier berechneten Quellenlokalisationen bestand das frei wählbare Optimierungskriterium (vgl. Abschnitt 2.3) aus folgender Gewichtung:, 20% Energieminimierung (Minimierung der Interaktion von Quellen), 40% räumliche Separierung, 40% Optimierung der residualen Varianz. Das Kriterium der räumlichen Separierung war nach den in dieser Arbeit gemachten Erfahrungen insbesondere für die Stabilität des Modells bei schlechter SNR wichtig. Die Wahl des Optimierungskriteriums erfolgte empirisch, insbesondere war dieses Kriterium nicht systematisch variiert worden.
Die Methode der Brain Electric Source Analysis ist auch aufgrund der Freiheiten bei der Berechnung der Quellen als untersucherabhängig kritisiert worden. Miltner et al. (1994) präsentierten eine Simulationsstudie, in der sie ein "vorwärts" berechnetes Signal zehn Untersuchern zur Quellenanalyse mit BESA vorgelegt hatten. Diese simulierten 32-Kanal-Daten enthielten zusätzlich artifiziell hinzugefügtes Rauschen. Alle Untersucher waren über den Simulationscharakter der Studie aufgeklärt; drei von zehn Untersuchern wurden als "erfahren" (hinsichtlich der BESA-Methode) beschrieben, drei als "etwas erfahren", und vier als "kaum erfahren". Neun von zehn dieser Versuchspersonen hatten gute Kenntnisse evozierter Potentiale. Die Lokalisationen der zehn unterschiedlichen Modelle hatten mittlere Abweichungen von initialen Dipolen, die zwischen 0,81 cm und 2,78 cm in einer Kugel vom Durchmesser 17 cm lagen. Die physiologische Fragestellung war den zehn Untersuchern in groben Zügen bekannt. Die Autoren schlossen, daß selbst auf der Basis eines Kugelmodells die Lokalisation der Dipole einer erheblichen Ungenauigkeit unterliegt. Aufgrund dieser Simulation sei zu postulieren, daß eine neuroanatomische Zuordnung der in BESA gefundenen Quellen durch zusätzliche Messungen oder zusätzliche physiologische Randbedingungen untermauert werden müsse.
Die Annahme eines Kugelmodells stellt eine Vereinfachung dar, bei der die folgenden Aspekte ignoriert werden: Die Geometrie des menschlichen Kopfes ist nur unzureichend durch eine Kugel beschrieben, die Haut und Kalotte sind ebenfalls keine Kugelschalen, und die Leitfähigkeit des Gehirns ist nicht isotrop. Schon die Annahme einer nicht berücksichtigten Anisotropie innerhalb eines Kugelmodells führt zu Lokalisationsfehlern von 5 bis 13 mm in radialer Richtung für einen radialen Dipol (Peters und de Munck 1991). Eine exakte Lokalisation von Quellen scheint daher ein individuelles und anatomisches Kopfmodell zu erfordern (Buchner et al. 1996; 1997; Roth et al. 1993).
Wenn ein systematischer Lokalisationsfehler im BESA-Kugelmodell von bis zu 2 cm anzunehmen wäre (der Argumentation von Miltner et al. (1994) folgend), würde dieser systematische Fehler sowohl für die Trigeminusreizung als auch für die Radialisreizung auftreten. Auch dann ist eine Untersuchung auf signifikante Lokalisationsdifferenzen noch statthaft. Die Differenz der hier gefundenen Dipolkoordinaten zu denen von Bromm und Chen (1995) liegt für alle Koordinaten und alle Dipole unterhalb dieser Grenze. Ein systematischer Lokalisationsfehler kann beispielsweise durch die unterschiedliche Wahl des Optimierungskriteriums (vgl. Abschnitt 2.3) oder durch unterschiedliche Zeitintervalle für die sog. Fit-Prozedur entstehen.
Die Zuordnung des bilateralen verschobenen Dipolpaares 1/2 zu SII erfolgt in der vorliegenden Arbeit nicht aufgrund einer Abbildung dieser Areale auf die BESA-Kugel. Eine derartige Abbildung ist aufgrund der geometrischen Verzerrungen fehlerträchtig und dürfte eine hohe interindividuelle Variabilität bieten, so daß dafür eine höhere Fallzahl zu fordern wäre.
Das Argument für SII basiert hier auf der signifikanten Differenz von Dipolparametern, im vorliegenden Fall der Änderung des Azimuthwinkels. Grundsätzlich ist auch eine signifikante Lokalisationsdifferenz zu fordern, die bei einer größeren Anzahl von Probanden auch zu erwarten wäre. (Diese Lokalisationsdifferenz wäre zu beobachten, wenn das Dipolpaar 1/2 in Wirklichkeit im primären oder aber im sekundären somatosensorischen Kortex läge. Aufgrund der Vorzugsrichtung der Verschiebung wäre dann eine Entscheidung über SI oder SII auch aufgrund der kartesischen Koordinaten möglich).
Mauguière (1997a) fand eine gute Übereinstimmung zwischen berechneter Quellenlokalisation und invasiven Messungen, die beide eine Beteiligung des sekundären somatosensorischen Kortex zeigen. Die Aktivität im sekundären somatosensorischen Kortex hängt offenbar auch von der Vigilanz des Probanden ab und auch davon, wie sehr ein schmerzhafter Stimulus erwartet wird: Die SII-Aktivität war signifikant größer, wenn schmerzhafte Reize mit langem und zufälligen Interstimulusintervall appliziert wurden (Mauguière 1997a).
Die schmerzevozierte Aktivität in SII ist bilateral zu finden und zumindest im kontralateralen sekundären somatosensorischen Kortex somatotop organisiert. Sie hängt von der Vigilanz und vom Aufbau der Stimuluswiederholung (zufällig oder deterministisch, lange oder kurze Interstimulusintervalle) ab. Die schmerzevozierte Aktivität in SII beschreibt daher die sogenannte sensorisch-diskriminative Komponente experimentellen oder klinischen Schmerzes (Bromm und Lorenz 1998).
Der frontale Dipol (Dipol 3) ist bereits von Bromm und Chen (1995) beschrieben und diskutiert worden. Seine Existenz ist vereinbar mit der willentlichen Unterdrückung motorischer Aktivität, die einem Augenzwinkerreflex nach schmerzhafter Stimulation des Nervus trigeminus entsprechen würde (sog. Blinkreflex, vgl. Ellrich et al. (1997a; 1997b)). Gegen dieses Argument spricht die hier gemachte Beobachtung, daß auch für die Handreizung frontale Dipole gefunden wurden. Frontale Dipole werden auch in Quellenlokalisationen evozierter Potentiale nach elektrischer Reizung des Nervus medianus gefunden (Mauguière 1997b; 1997c). Die Bedeutung dieser Dipole für schmerzhafte und nicht-schmerzhafte Stimulation ist jedoch noch unklar. Aufgrund der auch in dieser Arbeit gefundenen interindividuellen Variabilität des frontalen Dipols wird auf eine neurophysiologische Interpretation verzichtet.
Aufgrund seiner Latenzen und seiner Wellenform des Dipols 4 erklärt dieser Dipol das schmerzrelevante evozierte Potential am Vertex. Die topische Zuordnung dieses Dipols zum Gyrus cinguli erfolgte auch in der vorliegenden Arbeit durch einen Vergleich der BESA-Koordinaten mit stereotaktischen Koordinaten des Gyrus cinguli, die in einer großen Studie gefunden worden waren. Da der schmerzrelevante Dipol mit geringer Schwankungsbreite zentral liegt, ist eine Lokalisation im Gyrus cinguli sicher. Beide Komponenten des am Vertex abgeleiteten schmerzevozierten Potentials korrelieren signifikant mit der subjektiv berichteten Schmerzhaftigkeit des Stimulus, und beide Komponenten werden durch Analgetika und unter Narkose stark abgeschwächt. Der schmerzrelevante Generator im Gyrus cinguli beschreibt daher den aversiv-emotionalen Anteil experimentellen oder klinischen Schmerzes (Bromm und Lorenz 1998).