4.2. Topologien urbaner Sprachen

Sprachliche Isotopien, Heterotopien und Utopien

Der andere Ort- der Ort des Anderen

Der Ort des Gleichen - gleiche Orte

Soziales Wissen der Sprech- und Schriftgemeinschaften

personales Sprechen, soziale Sprache und Schrift

Einwanderungen in das personale Sprechen

Die Nation als Sprech-und Schriftgemeinschaft

Diaspora-Erfahrungen

DDR-Sprache und Dialekte

Kultur-historische Aspekte der Sprech- und Schriftgemeinschaften

Sprachliche Isotopien, Heterotopien und Utopien

Wir haben im Kontext der bundesrepublikanischen Gesellschaft das Verhältnis von Herkunftsvarietät und Normvarietät als eines zwischen Minderheit und Mehrheit gefasst. Diese Beziehung besteht dann auch zwischen dem Deutschen und dem Türkischen. Um uns dem Türkischen weiter anzunähern, wollen wir nun eine Perspektivwechsel vornehmen und den Kontext des Türkischen verändern. Für die Gesellschaft der Türkischen Republik ist die türkische Sprache konstitutiv, also Normvarietät. Wollen wir ein ähnliches Verhältnis von Mehrheit und Minderheit in der Türkischen Republik untersuchen, so bietet sich die Herkunftsvarietät des Kurdischen, als grösste Minderheitengruppe an. So wenden wir uns im Folgenden den kurdisch-sprechenden Jugendlichen mit türkischer Nationalität in unserer Untersuchung zu. Suzan beschreibt die Beziehung zwischen dem Kurdischen und dem Türkischen so.

INTERVIEWER/IN: Kannst du sagen, welche Sprache du besser kannst, Türkisch oder Kurdisch?
Kurdisch.
INTERVIEWER/IN: Kannst du besser als Türkisch?
Ja.
INTERVIEWER/IN: Aber du verstehst alles, wenn sie Türkisch reden?
Ja, wir reden ganz gut untereinander Türkisch. Ich habe keine Schwierigkeiten.
(Suzan, Schule C, 30-Si.) 1.9.95

Suzan kann zwar Kurdisch besser sprechen, aber auch das Türkische ist für sie problemlos. Serpil dagegen spricht kein Kurdisch mehr, obwohl ihre Eltern diese Sprache noch können.

INTERVIEWER/IN: Und Serpil, jetzt habe ich das vergessen: Wenn du Kurdisch lernen würdest, wo, glaubst du, könntest du das anwenden? Wo könntest du das verwenden?
Serpil: In der Türkei.
INTERVIEWER/IN: Und hier?
Serpil: Hier? Mit meinem Vater, mit meiner Mutter; meine Mutter versteht das, aber sie kann nicht reden, nicht so gut reden.
(...)
INTERVIEWER/IN: Welche Sprache würden sie dort sprechen?
Serpil: Kurdisch.
INTERVIEWER/IN: Kurdisch?
Serpil: Ja.
INTERVIEWER/IN: Oder welche Sprachen?
Serpil: Kurdisch. Die Mädchen sprechen da meistens Türkisch. Die wollen nicht mehr so Kurdisch sprechen, die wollen Türkisch lernen. Die da in der Türkei, die in unserer Stadt.
(Serpil, Schule B, 15-Se.) 17.8.95

Serpil und Suzan machen auf die ambivalente Beziehung des Kurdischen zum Türkischen aufmerksam. Suzan ist in der Lage aufgrund ihres personalen Sprechens zur sozialen Sprache des Türkischen und des Kurdischen entsprechende Sprechgemeinschaften herzustellen. Serpil dagegen, obwohl ihre Eltern die Herkunftsvarietät des Kurdischen selbst noch sprechen, ist selbst nicht mehr in der Lage eine kurdische Sprechgemeinschaft herzustellen. Zwischen ihrer Generation und der Generation ihrer Eltern löst sich die Verbindung zwischen dem personalen Sprechen und der sozialen Sprache. Türkisch wird zu ihrer Herkunftsvarietät. Dies ist für Serpil nicht nur eine individuelle Erfahrung, sondern sie berichtet gleiches aus "ihrer" Stadt. Im Verhältnis der Normsprache Türkisch zur Herkunftssprache Kurdisch haben sich diese Menschen für den Weg der Anpassung entschieden, sodass für die künftige Generation Türkisch zur Herkunftssprache wird.

Das Kurdische als eine einheitliche Normvarietät und Schriftsprache existiert nicht. Was existiert sind die konkreten mündlichen Varietäten des »Zasa«, »Kurmanci«, »Sorani« und »Gorani«237, die als Dialekte des »Kurdi« aufgefasst werden. Die Beziehung des personalen Sprechens und der sozialen Sprache ist auf konkrete Sprechgemeinschaften bezogen, aber als einheitliche Struktur ist das Kurdische zunächst eine sprachwissenschaftliche Abstraktion. Wer einmal versucht hat Kurdisch zu erlernen, wird mit folgenden Fragestellungen konfrontiert sein. Soll »Kurmanci« gelernt werden, da dies die am weitesten verbreitete und gesprochene Varietät darstellt? Oder soll eine Hochsprache Kurdisch erlernt werden, eine neu zu schaffende Kunstsprache aus den vier am meisten verbreitesten Varietäten? In welcher Schrift soll Kurdisch geschrieben werden Arabisch oder Latein? Es gibt eine breite arabische Schriftkultur des Kurdischen. Wesentlichen Anteil an der Schaffung einer kurdischen Sprache haben auch Intellektuelle im »Kurdischen Institut« in Bonn. Wir werden weiter unten noch genauer auf den institutionellen Charakter von Schrift und Nationalsprachen eingehen. In diesem Zusammenhang ist uns nur die Tatsache wichtig, dass die Frage der einheitlichen kurdischen Normvarietät ein sehr umstrittenes Feld ist, in dem die verschiedensten Institutionen agieren, auch die PKK (Partiye Kerkeren Kurdistâne. Arbeiterpartei Kurdistans), welche die in Eurpa bekannteste Vertreterin kurdischer Interessen ist. Auch die Jugendlichen berichten davon. Erdem und Andreas berichten über den Konflikt, der auf dem Hintergrund der Differenz zwischen türkischer und kurdischer Sprechgemeinschaft ausgetragen wird. Der Dialolg beginnt mit der Frage des Interviewers nach einem Kettchen mit drei Halbmonden, welches Erdem um den Hals trägt. Folgender Dialog schliesst sich dem an.

INTERVIEWER/IN: Beschreib doch mal, weil das sieht man ja aus dem Mikrofon nicht.
Andreas: Nein, nicht, nicht. Gel, Gel! {flüstert} ["Gel" (Türkisch): Komm!]
Erdem: Eigentlich ...
Andreas: Nein! Das ist anonym.
Erdem: Anonym. Ist persönlich.
INTERVIEWER/IN: Hat das eine Bedeutung, oder ist das nur Schmuck?
Andreas: Für ihn selber. Halt´s Maul.
INTERVIEWER/IN: Erzähl doch mal, was das für eine Bedeutung für dich hat.
Erdem: Da sind graue Wölfe. Die sind gegen Dings da. Gegen PKK. Sie wissen ja, was PKK ist.
INTERVIEWER/IN: Was ist PKK?
Erdem: Die wollen ein Stück Land von der Türkei haben. Und wir sind dafür, dagegen meine ich.
Andreas: Ja, ja, dafür seid ihr! {belustigt}
INTERVIEWER/IN: Und das ist eine Musikgruppe?
Erdem: Nein, nein, das ist eine Partei. Eine türkische Partei, MHP heisst das. Milliyetci Hareket Partisi. [Türkisch: Partei der Nationalen Bewegung]
INTERVIEWER/IN: Was machen die für Politik? Für was stehen die ausser für den Kampf gegen die PKK?
Erdem: Nur das, glaube ich.
Andreas: Sie stehen für das Land Türkei.
Erdem: Ja. Sie wollen, dass Türkei moderner wird und nicht auseinander geht. Manche sind dagegen.
INTERVIEWER/IN: Sind da viele Jugendliche drin?
Erdem: Viele. Bei uns im Park sind nur Dinger.
(Erdem, Andreas, Schule A, 2-E., 2-A.) 15.8.95

Wir fragen nun danach, wie Erdem und Andreas die beiden Konfliktparteien kennzeichnen.

Anonym, Geheim Bekannt, öffentlich238

"graue Wölfe", MHP PKK

Zusammenhalt Wollen ein Stück Land von der Türkei

stehen für das Land Türkei gegen das Land Türkei

Modernisierung Rückständigkeit

viele jugendliche Mitglieder Ältere

In dieser Gegenüberstellung erhalten wir nun die Gestalt einer geheimen politischen Organisation, die für die territoriale Integrität und die Modernisierung der türkischen Nation steht und viele jugendliche Mitglieder hat. Wer sich etwas in der Geschichte des Osmanischen Reiches und der Türkischen Republik auskennt wird zum einen an die 1908 von den sogenannten »Jungtürken« gegründete »¡ttihat ve Terakki Cemiyeti«, der »Gesellschaft für Einheit und Fortschritt« erinnert. Diese bildeten den Kern der Modernisierungselite des Osmanischen Reiches und aus diesem Kreis wurde 1923 die Türkische Republik gegründet. Zum anderen erinnert es an die Gründung der »Grauen Wölfe« Ende der 60er Jahre, als geheime, jugendliche Killerkommandos, die sich an der Tradition der deutschen SA orientierten und für viele Massaker in den 70er Jahren in der Türkei verantwortlich gemacht werden können. Im Zusammenhang mit dem paradoxen Erfolg des "Oriental HipHop-Project - Cartel" sind uns diese geschichtlichen Zusammenhänge schon einmal entgegengetreten.

Der Gegner, welcher als öffentlich agierende separatistische Organisation von älteren Rückständigen konstruiert wird, kontrastiert dieses Bild. Die kurdischsprachigen Bewohner Südostanatoliens gelten dem Grossteil der Bevölkerung der Türkischen Republik als »Bergtürken« und werden als rückständiges »Eigenes« wahrgenommen, welches durch Modernisierungsprozesse diesem identisch werden wird. Die Bezeichnungen »K¢ro« und »Maganda«, wie wir sie im Zusammenhang der Arabesk-Musik erörtert haben, gehen in eine ähnliche Richtung. Da der Zusammenhang zwischen Nationalstaat und Nationalsprache erst später Gegenstand sein soll, so uns hier genügen, das Türkische als herrschende Normvarietät, der gegenüber andere Herkunftsvarietäten zum Schweigen gebracht werden, zu fassen. Lale berichtet uns aus einer anderen Perspektive.

Lale: Ich würde in die Zukunft fahren. Wenn unser Land wieder, wenn wir unser Land haben, da will ich gerne. Ich will ein einziges Mal sehen, wie Kurdistan befreit wird und wir in unser Land zurück kehren.
INTERVIEWER/IN: Und wie ...
Lale: Wenn wir unter unseren Menschen leben können.
INTERVIEWER/IN: Wen würdest du mitnehmen?
Lale: Meine Geschwister, Mutter, Bekannte.
INTERVIEWER/IN: Was würdet ihr dort machen? Was würdest du dort machen? Was würden die anderen dort machen?
Lale: Normal wie ein Mensch in seinem Land wohnt; was die alles machen.
INTERVIEWER/IN: In welcher Sprache würdet ihr dort sprechen?
Lale: Kurdisch. Das ist mein Traum eigentlich, irgendwann mal zurück zu kehren.
(Lale, Schule B, 16-Le.) 17.8.95

Lale erhebt auch Anspruch auf dasselbe Territorium und begreift es als "ihres". Der türkischen Nation steht ihr Ebenbild und Konkurrent, die kurdische Nation gegenüber. Die eine Nation »verteidigt«, die andere »befreit«. Im alltäglichen Umgang einiger Jugendlicher führt dies zur Vermeidung des Kontakts mit der als gegnerisch definierten Gruppe.

¡smet: Ich kenne kurdisch, so ein bisschen Deutsch und Englisch, Englisch nicht so gut. Ich habe meist deutsche Freunde und weniger Türken. Ich habe weniger Kontakt mit Türken. Ja, das war´s.
(¡smet 15.8.95, Ths 5)

Diese Distanzierung haben wir auch schon im Zusammenhang mit den Sprachen aus dem ehemaligen Jugoslawien angetroffen. In beiden Fällen scheint eine ähnliche Art von gewaltätigem Umarbeitungsprozess stattgefunden zu haben. Da zumindest im kurdisch-türkischen Krieg Sprache und Territorium zwei zentral umkämpfte Felder sind, erscheint es uns an dieser Stelle sinnvoll, die schon im Zusammenhang mit der Stadtlandschaft St. Pauli und Altona herausgearbeiten Ordnungen eines Raumes, wieder aufzunehmen und sie durch die sprachlichen Aspekte zu erweitern: die Isotopie und die Heterotopie. Die oben herausgearbeiteten Aspekte ähneln der Heterotopie Lefèbvres, der diese als eine ferne Ordnung beschreibt, die "ausgeschlossen und gleichzeitig einbezogen wird"239. Es scheint fast so als ob der Südosten der Türkei, das Gebiet namens Kurdistan, nie die Isotopie, also die nahe Ordnung der herrschenden Praxis war, die

"miteinander vergleichbare Teile des Raumes, die zueinander sprechen und auf eine Art lesbar werden, die es erlaubt, sie einander anzunähern."240

Die herrschende Praxis bemächtigt sich allerdings der heterotopischen Räume, welche, aus der Sicht der diese Praxis tragenden Klassen, jene anomischen Gruppen der "Kurden" formen241. Kann uns hier ein Analogiebildung helfen, diese Umarbeitungsprozesse besser zu verstehen? Was bedeutet dies für die hier untersuchten vielsprachigen Lebenswelten?

Der andere Ort- der Ort des Anderen

Diese heterotopen Räume, die eigentlich räumliche nahe Gruppen einer fernen Ordnung zuschreiben finden sich auch immer wieder in den Aussagen der Jugendlichen über ihre Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Werner, dessen Mutter aus Ghana kommt, und Erdem berichten:

Werner: Weil, ich würde sagen, meine meiste Freund sind Türken.
Edon: Meine meiste Freund! {lacht}
Werner: Freunde. {lacht} Sind ja Türken. Ich habe auch deutsche Freunde, aber nicht so viele wie Türken.
(Erdem, Werner, Schule A, 3-W.) 15.8.95

Ähnliche Erfahrungen hat auch Ömer.

Ömer: Ja. Ich habe nicht so viele deutsche Freunde.
(Ömer, Schule A, 4-Öz.) 15.8.95

Das schwierige Verhältnis zwischen "Türken" und "Kurden" in der Türkischen Republik hatte zur Folge, dass der Kontakt zueinander in der Bundesrepublik bei manchen Jugendlichen eher geringer wurde. Dies scheint auch für den Kontakt zwischen Deutschen und Türken zu zutreffen. Dabei scheint die Bezeichnung "Türke" als Gegensatz zum "Deutschen" irreführend, wie wir schon an der Aussage von Werner gesehen haben. Für Uur ist als Trennungslinie zwischen ihm und denen, die ihm feindlich gesonnen sind, das Gegensatzpaar des »Neonazis« und »Ausländers« kennzeichnend.

INTERVIEWER/IN: Meinst du, dass es förderlich ist, wenn sie (die Deutschen, AH) in die Türkei fahren, dass sie da auch Türkisch lernen, dass sie dann weniger ...
Uur: Also, das nicht. Ich meine nicht, die sollen da jetzt alle Türkisch lernen, aber dass sie eben mehr Kontakt mit anderen haben. Es ist ja auch meistens so, viele denken, viele Neonazis: "Ach, die Ausländer, die sind hierher gekommen und haben unsere Jobs gestohlen." Das liegt eigentlich daran, die Ausländer haben zu seiner, zu der Zeit sehr viel gearbeitet; Deutschland überhaupt mit aufgebaut. Deutschland wäre vielleicht nicht an dem Punkt, wo es jetzt wäre. Da haben sehr viele mitgehalten, es aufzubauen.
INTERVIEWER/IN: Hm.
Uur: Ich meine, heutzutage ist es ja auch nicht so, dass sehr viele Ausländer stark arbeiten. Dann werden sie auch bevorzugt. Es kommt auch auf die Arbeitskraft an.
INTERVIEWER/IN: Ja, aber die Leute an der Schule haben doch Kontakt mit euch zum Beispiel, mit euch zum Beispiel als Türken. Das reicht aber nicht aus, wahrscheinlich, dass sie nicht feindlich sind gegen Türken?
Uur: Naja
Yakup: Das ist eben nur der Freundeskreis.
Uur: Das kommt auf den Freundeskreis an.
(Uur, Yakup, Schule C, 27-Uf., 27-Yu.) 1.9.95

Uur präsentiert ein Bewusstsein über die historische Verortung des »Ausländers«, welches er mit der "deutschen" Nachkriegserzählung verwoben hat. Dies verweist auf eine bisher im Bewusstsein der Mehrheitsbevölkerung unbekannte Perspektive auf die geschichtliche Erzählung der Bundesrepublik, die als eine Geschichte der Migration gekennzeichnet wird.

Im Verlauf des Dialogs zwischen Uur, Yakup und dem Interviewer, der selbst aus türkischsprachigem Familienhintergrund kommt, werden auch unterschiedliche Gruppendefinitionen deutlich. Während der Interviewer aus der Perspektive des "Türken" fragt, antwortet ihm Uur aus der Perspektive des "Ausländers". Folgende Interviewpassage ist der obigen vorangestellt. Der Dialog dreht sich zunächst um das Gegensatzpaar "Türken" (bzw. "Türkisch") und "Anti-Türken".

INTERVIEWER/IN: Machen die Leute Witze über Sprache?
Uur: Das ist schon oft so.
INTERVIEWER/IN: Über Türkisch machen sie Witze?
Uur: Über Türkisch eigentlich vieles. Zum Beispiel an dieser Schule, ich will das jetzt nicht so direkt sagen, es gibt aber auch so Anti-Türken und so.
INTERVIEWER/IN: Was für Witze machen die denn über Türkisch?
Uur: Alles Mögliche. Ich meine die Witze; na gut, darüber denkt man nicht viel nach; "okay, das sind Spinner", sagt man dann. "Sollen die doch labern, sollen sie mich in Ruhe lassen."
INTERVIEWER/IN: Das sind Leute, die das Türkische eigentlich gar nicht können? Überhaupt auch brockenweise nicht können?
Uur: Meistens ja. Ja, das ist nämlich, weil sie keinen Kontakt zu Türken haben, gar nicht wissen, wie nett Türken eigentlich sein könnten.
INTERVIEWER/IN: Hm, klar.
Uur: Und, die machen alles, was sie wollen.
INTERVIEWER/IN: Was sagen sie zum Beispiel über Türkisch?
Uur: Ach, "Kümmeltürke" oder "Scheisstürke" oder so was. Da denke ich gar nicht drüber nach, aber dann ...
INTERVIEWER/IN: Das kommt daher, weil sie Türken nicht kennen?
Uur: Naja, die sollten erst Türken besser kennen lernen. Zum Beispiel ...
INTERVIEWER/IN: Oder auch Türkisch lernen?
Uur: Ja, naja, müssen sie ja nicht direkt, aber Kontakt mit Türken wäre besser. Zum Beispiel war das ja so, dass sie vor einigen Monaten so ein Projekt gemacht haben, Neonazis in die Türkei geschickt haben. Und die waren dort bei Familien untergebracht. Als sie zurück kamen meinten sie, "das war so wundervoll, so super" und so weiter. Da kann man ja sehen, was passiert.
(Uur, Schule C, 27-Uf.) 1.9.95

Der Konflikt zwischen "Türken" und "Anti-Türken" wird als ein Problem des Kontaktes und des mangelnden Wissens über "die Türken" gekennzeichnet. Um den "Türken" kennenzulernen muss man in "sein" Land fahren um dort Erfahrungen zu sammeln. Diese Art der Problemlösung und -bearbeitung wurde als sozialpädagogisches Handlungskonzept im Gefolge der Pogrome von Hoyerswerde, Mölln und Solingen im Umgang mit der, aus dieser Perspektive so definierten "Fremdenfeindlichkeit" entwickelt. Ein soziales Verhältnis wird so in eine Heterotopie umgearbeitet und exterritorialisiert. Das problematische soziale Verhältnis kann so unter dem Aspekt der »Völkerverständigung« bearbeitet werden. Während sich Uur zu Beginn des Dialogs als "Türke" exterritorialisieren lässt, stellt er zum Ende hin eine Isotopie dagegen, er kennzeichnet sich als "Ausländer". Damit gehört er nicht mehr dieser fernen Ordnung an, sondern ist Teil der nahen Ordnung, die zueinander spricht und die es erlaubt die Ordnungen einander anzunähern. Er legt Wert darauf in die Geschichte der Bundesrepublik verwoben zu sein. Er artikuliert seine Erfahrung als "Türke", dem Herrschaftssubjekt einer fernen staatlichen Ordnung und als "Ausländer", dem rechtlosen Herrschaftsobjekt der nahen staatlichen Ordnung der Bundesrepublik.

Der Ort des Gleichen - gleiche Orte

Wir haben nun gesehen, dass die Frage, ob eine Ordnung als heterotop oder als isotop wahrgenommen wird, eine Frage des Standpunktes ist. Uur erscheint als zerissen zwischen der ihm zugeschriebenen und von ihm angenommenen Heterotopie und der Isotopie seiner Erfahrung. Zur Erinnerung: Uur aus dem Gymnasium berichtete uns wie seine Herkunftsvarietät zum Schweigen gebracht wurde und wie er eine der jeweiligen Situation angemessene Sprechweise antizipiert. Die herrschende Praxis scheint das als "fremd" befundene in heterotopische Räume zu verbannnen. Die Absonderung dieser Heterotopie von der herrschenden Isotopie sieht Lefèbvre als die "Zerstörung des Städtischen"242. So erscheint die Umarbeitung der Heterotopie zur alternativen Isotopie als eine Gegen-Wehr des Individuums, auf der Suche nach dem Terrain, wo Widerstand möglich scheint243.

Wenden wir uns wieder den Jugendlichen zu. Es scheint fast so als sei die Gruppe der Gleichaltrigen, deren bevorzugter Versammlungsort die Strasse ist, der Ort an dem diese Heterotopien zu Isotopien umgearbeitet und beide in Beziehung zueinander gebracht werden. Als Ausdruck dieses Umarbeitens erscheint uns das Gemischt-Sprechen, in dem das Deutsche und das Türkische in ihrer Struktur umgearbeitet werden, wie uns Aslan mitteilt.

Wir reden manch... zu Hause Türkisch. Manchmal rede ich mit meinem Vater Deutsch. Unter Freunden reden wir so auch Türkisch und Deutsch, so gemischt.
(Aslan, Schule B, 9-As.) 17.8.95

Auch Uur verfährt so, wenn er ausserhalb der schulischen Ordnung unter "türkischen" Freunden ist.

Mit den Freunden, wenn es Türken sind, dann ist es meistens gemischt; mal Deutsch, mal Türkisch.
(Uur, Schule C, 27-Uf.) 1.9.95

Es müssen, wie wir schon wissen, nicht unbedingt nur "türkische" Freunde sei, wie uns Ayºe berichtet.

Also wir sprechen auch, also wir sind ja sowieso nur drei. Wir sprechen, also das sind so meine Freunde, mit denen spreche ich eigentlich gemischt, weil Deshrina kann auch Türkisch verstehen, und deswegen ist es eigentlich egal, ob ich Türkisch oder Deutsch rede, die verstehen mich.
(Ayºe, Schule A, 12-Ay.) 15.8.95

Deshrina und Ayºe gehen nun weit über die bisherigen Vorstellung über das Gemischt-Sprechen hinaus und formulieren eine sehr konkrete Vorstellung, wie "ihre" Sprache sein müsste.

Ayºe: Also ich wusste schon, dass wir Sprachen vielleicht alle Sprache lernen können, so dass wir uns überall verständigen können.
Deshrina: Ich hätte gern eine Sprache zwischen uns, so irgendwie selber bilden, so dass keiner es versteht. Aber so eine richtige, so wie Deutsch, so eine Sprache, sollte sie sein; nur wir drei, nur wir verstehen das, kein anderer sollte das verstehen.
(...)
Wir gehen wo hin, und dann fangen wir an zu reden. Sie redet gemischt, und ich verstehe das. Das hört sich so an, als ob das nur eine Sprache ist, wenn sie Deutsch und Türkisch redet. Das Gleiche mache ich auch. Und so verstehen wir uns, wenn wir gemischt reden, wir verstehen das ja. Das kommt, weil wir irgendwie ... . Wenn sie irgendwie in einen türkischen Satz ein deutsches Wort einfügt: Mir kommt das immer noch vor, als ob sie immer noch Türkisch redet. Mir kommt das vor, als ob wir eine Sprache sprechen; irgendwie nicht Deutsch und Türkisch.
(Gülºen, Ayºe, Deshrina, Schule A, 12-Gü., 12-Ay., 12-Da.) 15.8.95

Hier sehen wir ein utopisches Moment aufleuchten, welches das Gemischt-Sprechen nicht mehr nur als ein aus dem Deutschen und dem Türkischen Zusammengesetztes wahrnimmt, sondern ihm eine neue Qualität gibt: die Qualität einer neuen Sprache jenseits des Deutschen, jenseits des Türkischen und ihnen dennoch als "richtige" Sprache gleicht. Sie vereinigen im Sinne von Lefèbvre die nahe Ordnung (Isotopie) mit der fernen Ordnung (Heterotopie)244 als Utopie und formulieren damit das Bewusstsein einer Totalität. Mit der Utopie als Nicht-Ort, als Ort des Anderswo werden wir uns noch genauer beschäftigen.

Versuchen wir nun in einem weiteren Schritt, der Frage nachzugehen, welche Entwicklungchancen diesem utopischen Moment des Gemischt-Sprechen eingeräumt werden können. Gehen wir davon aus, dass wir beide "reinen" Formen des Türkischen und des Deutschen einander polar gegenüberstellen, mit einer Art Übergangsfeld, in der sie sich vermischen und also unrein sind. Es bestehen zwei Möglichkeiten, wie sich dieser Bereich des Übergangs weiterentwickeln könnte: zum einen löst sich das »Unreine« der Gemischten Sprache in die »reinen« Gestalten des bisherigen Türkisch und Deutsch auf. Das hiesse mit dem Heranwachsen der Jugendlichen würde sich eine bilinguale Konstellation, in der Deutsch und Türkisch als getrennte "reine Systeme" nebeneinander existieren und sich so der Status quo reproduzieren würde, etablieren. Das Deutsche, als herrschende Normvarietät würde auf Dauer das Türkische verdrängen und es entstünde wieder eine monolinguale Situation. Die Mehrweltler würden sich in der Generationenabfolge wieder zu Einweltlern wandeln. Dies könnte man als statische Reproduktion des immer gleichen beschreiben und stellt im eigentlichen Sinne keine Möglichkeit dar, sondern Wirklichkeit. Damit bleibt die zweite Möglichkeit, die Entwicklung einer mulitilingualen Konstellation, in der unterschiedliche Sprachen nebeneinander existieren und neue Sprachformen entstehen. Dies stellt unserer Meinung nach eine Möglichkeit in eigentliche Sinne dar. Wir haben gezeigt, dass eine Identität zwischen dem Türkischen oder dem Deutschen mit einer als ethnisch oder national definierten Sprechgemeinschaft zerbrochen ist. Die Eindeutigkeit der Zuordenbarkeit von Sprache, ethnisch definierter Sprechgemeinschaft und Territorium schwindet. Die Sprechgemeinschaften sind nicht mehr nur einem Territorium zugeordnet, sondern mehreren. Man könnte es auf die Formel bringen, nicht jeder der "Türke" ist spricht Türkisch und nicht jeder der Türkisch spricht ist "Türke".

Soziales Wissen der Sprech- und Schriftgemeinschaften

personales Sprechen, soziale Sprache und Schrift

Wir haben bisher die Varietäten der Jugendlichen immer nur unter dem Aspekt des Verhältnisses von personalem Sprechen und sozialer Sprache betrachtet. Die soziale Sprache war dabei immer das Repertoire einer Sprechgemeinschaft auf welches das personale Sprechen sich beziehen konnte. Wir wollen uns nun noch einem weiteren Aspekt der sozialen Sprache, nämlich dem Aspekt ihrer Fixierung als Schrift zuwenden. Jugendliche unserer Untersuchung weisen selbst diese beiden Aspekte der Sprache hin; das Reden und das Schreiben. Nennen wir es das »Mündliche« und das »Schriftliche«. Die Jugendliche haben in den verschiedenen Sprachen unterschiedliche mündliche und schriftliche Fähigkeiten. Wir wollen hier die Frage verfolgen, wodurch sich eigentlich das Mündliche vom Schriftlichen unterscheidet und in welcher Beziehung es zueinander steht?

Die Familie von Veronica kam als "Aussiedler" von Ungarn nach Hamburg und Veronica beschreibt ihr Verhältnis zum Ungarischen so:

INTERVIEWER/IN: Wie ist es mit Ungarisch? Würdest du das auch gerne perfekt können?
Ich meine, eigentlich kann ich es ja, nur so einige Wörter nicht.
INTERVIEWER/IN: Aber Schreiben auch?
Aber Schreiben, sie haben ja gesagt "Reden".
(...)
INTERVIEWER/IN: In der Schule hast du Ungarisch nicht gehabt?
Nein.
INTERVIEWER/IN: So lesen und Schreiben? Kannst du auch lesen und schreiben auf ungarisch?
Lesen kann ich.
INTERVIEWER/IN: Schreiben auch?
Schreiben nicht so gut. Aber wenn ich muss, dann versuche ich es.
(Veronica, Schule C, 28-Vi.) 1.9.95

Für sie ist das Ungarische vorallem eine personale Sprechfähigkeit rezeptiver und expressiver Art. Die Schriftsprache beherrscht sie dagegen nur rezeptiv, sie kann sie lesen. Expressive Kenntnisse hat sie kaum erworben, d.h. sie kann Ungarisch nur schwer schreiben. Veronica ist zwar in der Lage eine rezeptive Beziehung zum Ungarischen herzustellen, kann aber nicht expressiver Teil dieser Schriftgemeinschaft sein. Diese Art der Trennung, nämlich der Unterbrechung des Beziehungsgefüges von rezeptiven und expressiven Tätigkeiten haben wir schon an der veränderten Mündlichkeit der Herkunftsvarietät beobachtet. Die Trennung ist bei Veronica noch nicht zur Absonderung im Sinne von Lefèbvre geworden245, aber die Beziehung ist einseitig. Das soziales Wissen fliesst von der Schriftgemeinschaft in das personale Sprechen hinein, ein Rückfluss vom personalen Sprechen hin zur Schriftgemeinschaft ist nicht möglich.

Cemal berichtet dagegen vom gegenläufigen Prozess. Er hat Kenntnisse anderer Sprachen erworben.

Ich unternehme auch viel mit meinen Freuden. Wir gehen dann entweder in die Stadt oder auf den Dom. Die reden Polnisch, Jugoslawisch, Türkisch.
INTERVIEWER/IN: Kannst du irgendwas von diesen Sprachen, die du in deiner Clique hörst?
Ja, so einzelne Wörter, aber so Sätze kann nicht.
(Cemal, Schule A, 1-C.) 15.8.95

Er hat zunächst "Wörter" aus diesen anderen Sprachen übernommen, findet sich selbst aber nicht in der Lage diese auf der höheren Stufe der "Sätze" zu integrieren. So erscheint es fast als ob die "Wörter" zunächst in das personale Sprechen einwandern. Der Aufbau einer Beziehung zur sozialen Sprache, die Wissen über die genauere Struktur und Anordnung dieser Einzelelemente enthält hat noch nicht stattgefunden. Bevor wir uns also weiter dem Verhältnis von Sprech-und Schriftgemeinschaft zuwenden, zunächst nochmals ein Blick auf das, was in das personale Sprechen der Jugendlichen "einwandert" und so die Möglichkeit einer höheren sprachlichen Integration bereithält.

Einwanderungen in das personale Sprechen

Diesen "Einwanderungen" in das Mündliche, in das personale Sprechen werden wir nun nachgehen. Paul und Piet erzählen von einer der einfachsten Möglichkeiten. Sie verstehen einzelne Ausdrücke.

INTERVIEWER/IN: Versteht ihr irgendwas Türkisch?
Paul: Einzelne Worte.
Piet: Ja.
Paul: Die schimpfen manchmal.
INTERVIEWER/IN: Zum Beispiel?
Paul: So "siktir lan"246.
(Paul, Piet, Schule B, 8-Pe., 8-Pa.) 17.8.95

Im Türkischen werden solche Beschimpfungsformen dem »Argo« zugeschrieben. Der Begriff des Argo ist aus dem Französischen entlehnt und bezeichnet soetwas wie eine Umgangssprache. Im »Büyük Argo Sözlüü247«, einem türkischen Argo-Wörterbuch, wird es unterschiedlichen sozialen Orten, wie Militär, Schulen, Gefängnisse und Gruppen die auf interne Solidarität angewiesen sind, zugeordent248. Das Duden-Fremdwörterbuch249 versteht darunter eine Bettler- und Gaunersprache und verweist auf das schon im Zusammenhang des Kauderwelsch erwähnte »Rotwelsch«. Aber auch »Jargon« und »Slang« sind als Bedeutung aufgeführt.

Schimpfwörtern sind diejenigen Sprachelemente die am schnellsten in das personale Sprechen der Jugendlichen einwandern.

Erdem: Häufig Türkisch und manche Wörter auf deutsch. So Schimpfwörter, wie ... .
INTERVIEWER/IN: Das kommt auf deutsch dann?
Erdem: Ja.
Andreas: Sikerim oglum250, das ist doch auch Türkisch, Alter.
(Erdem, Andreas, Schule A, 2-E., 2-A.) 15.8.95

Schimpfwörter werden dabei nicht nur aus dem Türkischen übernommen, sondern lassen sich den vielfältigsten Sprachen der Lebenswelt der Jugendlichen zuordnen, wie uns Barabara und Lotte schildern.

Bettina: Und dann kann ich ein paar griechische Wörter und ein paar italienische Wörter.
Lotte: Ja, so einzelne.
Bettina: Ein paar Schimpfwörter. {lacht}
Lotte: {lacht}
INTERVIEWER/IN: Zum Beispiel?
Bettina: Schimpfwörter. {lacht}
Lotte: Jetzt fällt mir nichts, wie heisst das "kule".
Bettina: Französisch, "cretin".
(Lotte, Bettina, Jutta, Schule C, 25-Li., 25-Ba., 25-Ju.) 1.9.95

So scheint die Beschimpfung des "Fremden" in seiner "seiner" Sprache, die einfachste Form der sprachlichen Interaktion zu sein. Aber die Kenntnisse des Türkischen sind nicht nur auf Schimpfworte begrenzt, sondern gehen darüber hinaus, wie Veli und Cemil berichten.

INTERVIEWER/IN: Und wo haben die Türkisch gelernt?
Cemal: ((Von uns.))
Veli: ((Von uns.))
INTERVIEWER/IN: Auf der Strasse?
Veli: Ja, mit türkischen Kindern rumgegangen und dann haben sie es gelernt.
INTERVIEWER/IN: Und was reden die so, wenn die Türkisch reden?
Veli: Das, was wir reden. Sie verstehen nicht alles, aber die reden so, die sagen so "komm her" und so. "Lass uns Fussball spielen" oder so.
(Veli, Cemal, Schule A, 1-V., 1-C.) 15.8.95

Formen der Anweisung und Aufforderung zum gemeinsamen Handeln, scheinen eine weitere Stufe der sprachlichen Interaktion zu sein. Lotte, Bettina und Jutta berichten neben den Schimpfwörtern auch von Begriffen die Zuneigung ausdrücken.

INTERVIEWER/IN: Habt ihr da Wörter gelernt? Versteht ihr was auf türkisch?
Jutta: Türkisch jetzt, warte mal.
Lotte: "Esek" oder sowas heisst "Esel".
INTERVIEWER/IN: Was heisst das? Esel.
Lotte: Das ist ein Schimpfwort.
Jutta: Oder Ungarisch. "Serlek" heisst irgendwie "ich liebe dich". Oder warte ...
Lotte: "Jek es ka tü" oder so.
Bettina: "Jek eks ka dik" heisst ...
Jutta: Das ist ...
INTERVIEWER/IN: Das ist auch Ungarisch?
Jutta: Nein, das ist Dänisch.
Lotte: Und "iku banje" oder so was, das ist ...
Jutta: Holländisch.
Lotte: Holländisch und heisst "ich liebe dich"! {lacht}
Jutta: Ja. {lacht}
(Lotte, Jutta, Bettina, Schule C, 25-Li., 25-Ju., 25-Ba.) 1.9.95

Von Albert, der selbst während des Interviews in Türkisch agiert, berichten seine Freunde, dass er nicht nur Einzelelemente beherrscht, sondern Türkisch sogar sprechen kann.

INTERVIEWER/IN: Wie ist das bei dir?
Albert: Bei uns nur Deutsch. Sus lan!251
Nurettin: {lacht}
INTERVIEWER/IN: Verstehst du Türkisch?
Albert: Ja, natürlich
INTERVIEWER/IN: So ein paar Wörter oder so was?
Albert: Ja, ein paar.
INTERVIEWER/IN: Zum Beispiel?
Albert.: Ja, kann ich nicht sagen!
Nurettin: {lacht}
Albert.: Sus lan!
Aslan: Er spricht auch Türkisch.
(Albert, Aslan, Nurettin, Schule B, 9-Ar, 9-Ad., 9-Ne.) 17.8.95

Hier hat sich dann tatsächlich eine Sprechgemeinschaft des Türkischen konstituiert, deren einzelne Mitglieder nicht mehr qua Herkunft(svarietät) aus einer anderen Nation, in der gängigen Terminologie wird dies als "ethnisch" gefasst, bestimmt sind, sondern ihre Herkunft(svarietät) ist die Lebenswelt die sie bewohnen.

Die Nation als Sprech-und Schriftgemeinschaft

Die Gleichsetzung von Sprache mit Nationalität, wie wir sie in den Diskursen der Institutionen beobachtet haben (wir erinnern uns an die Schule C, das Gymnasium), ist auch Teil der Alltagsdiskurse der von uns befragten Jugendlichen. Für die lebensweltliche Orientierung dient die Nationalität des Gegenübers als erster Hinweis für eine der Situation angemessene Wahl der Sprache. Nationalität manifestiert sich in der Bundesrepublik Deutschland dabei als Staatsangehörigkeit, die den Zugang zu Privilegien regelt. ¡smet folgt dementsprechend einer einfachen Entscheidungslogik, die sozusagen als Faustregel für die meisten Fälle gültig ist.

Meistens Deutsch. Wenn Türke ist, dann Türkisch, meistens. Wenn Deutsche, dann Deutsch.
(¡smet, Schule A, 5-Is.) 15.8.95

Auch Kamil formuliert diese unhinterfragte Selbstverständlichkeit der Gleichsetzung von Staatsangehörigkeit und Sprache, aber erweitert die Gruppe derjenigen von denen er annimmt, dass sie Türkisch sprechen.

Na klar! Jeder Türke versteht Türkisch. Jeder Türke, Kurde.
(Kamil, Schule A, 5-Ke.) 15.8.95

Ebenso ist für Cemal zunächst die antizipierte Staatsangehörigkeit seines Gegenübers ausschlaggebend.

Eh, zu den Sprachen: Ehm, mit deutschen Freunden kann ich mich gut mit Deutsch unterhalten, also mit Deutschen Freunden kann ich mit der Sprache Deutsch besser sprechen als mit türkischen, weil sie können ja kein Türkisch. Also kommt drauf an, was für eine Staatsangehörigkeit der, mein Freund hat. Zum Beispiel, wenn wer Türke ist, dann kann ich mich besser verstehen mit der Sprache Türkisch. Zum Beispiel wenn er Araber ist, dann rede ich Arabisch; oder Engländer, vielleicht Englisch - nicht so gut, aber so gut ich kann. Ja.
(Cemal, Schule A, 1-C.) 15.8.95

Seine Gleichungen lauten: Deutsche reden Deutsch, kein Türkisch. Türken reden Türkisch und Engländer reden Englisch. Hier sehen wir schon, dass diese Art der Gleichsetzung sehr schnell an ihre Grenzen kommt. Denn ausser den Engländer gibt es ja noch viele andere Nationalitäten, welche Englisch reden. Dies wird offensichtlich in der Gleichung Araber reden Arabisch, da es kein Staat, keine Nation gibt, deren Angehörige Arabisch, im Sinne des Hocharabisch und Schriftarabisch sprechen. So entzieht sich auch das Arabische dieser einfachen Gleichsetzungsstrategie.

Wir hatten im ersten Abschnitt dieses Kapitels herausgearbeitet, wie die Verwandtschaft diese Grundannahme der eindeutigen Gleichsetzbarkeit von Sprache und Nationalität durchsetzt. Rede Türkisch, Du bist ja keine Deutsche, war die Aufforderung an Kadriye. Im Zusammenhang mit der Zerschlagung von Jugoslawien ist diese Gleichsetzung und die damit verbundenen gewalttätigen Konsequenzen deutlich geworden. Die Sprache Jugoslawiens wurde lange als Jugoslawisch oder Serbokroatisch bezeichnet. Mit der Zerschlagung Jugoslawiens und der Schaffung neuer territorialer Einheiten entstanden auch "neue" Sprachen.

Naja, wenn ich nach Bosnien fliege, dann Bosnisch.
(Maren, Schule A, 13-Me.) 15.8.95
... aber wenn wir unter Kroaten sind, auch Kroatisch.
(Dragana, Schule C, 20-Dr.) 1.9.95

Serbisch, Bosnisch und Kroatisch als die Zerfallsprodukte des Serbokroatischen unterscheiden sich kaum durch das Sprechen, sondern im wesentlich durch die Schrift. Serbisch wird in kyrillischer und Kroatisch in lateinischer Schrift geschrieben. Bosnisch wird, gemäss der neu gebildeten territorialen Einheit als eigenständige Sprache konstruiert und gereinigt. Dies ist die Stunde der selbsternannten Sprachpuristen, die jegliche Erinnerung an das gemeinsame Serbokratisch durch Gewalt zum Verstummen bringen. Hier wird deutlich, was im Laufe unserer Untersuchung schon des öfteren thematisiert wurde. Die Vorstellung einer Gleichsetzung von Staatsangehörigkeit, Nation und Sprache verknüpft natürlich auch die Sprache mit einem bestimmten Territorium. Dieser Vorstellung einer Identität von homogener Sprech- und Schriftgemeinschaft und Staat wird uns noch weiter beschäftigen. Doch zunächst bleibt festzustellen, dass dies für die Jugendlichen in den hier untersuchten vielsprachigen Lebenswelt brüchig ist. Dies formuliert Veli aus seiner Erfahrung heraus.

Deutsch, Türkisch. Mit meinen Freunden spreche ich Türkisch. Mit Deutschen Deutsch, Türkisch bisschen mal.
(Veli, Schule A, 1-V.) 15.8.95

Während für die authochtonen Staatsbürger, die als Deutsche sich definierenden, eine scheinbar "natürliche" Identität zwischen Herkunft(svarietät), Norm(varietät), Staat und Territorium imaginiert wird, ist dieser scheinbare Zusammenhang für die Eingewanderten zerissen. Für sie ergibt sich eine Differenz zwischen Herkunft(svarietät), Norm(varietät), Staat und Territorium. Diese Differenzerfahrung findet aber ihre Vorstellung von Identität an jenem Ort an dem die "eigene" Gruppe nicht mehr Minderheit, sondern selbst Mehrheit ist. Dies wollen wir "Diaspora-Erfahrung" nennen.

Diaspora-Erfahrungen

Als "Diaspora" werden in der anglo-amerikanischen Diskussion, diejenigen Sprechgemeinschaften bezeichnet, die als Minderheiten in anderen Gesellschaften leben. Der Begriff ist aus aus einem religiösen Kontext entnommen und bezeichnet hier in der Bundesrepublik zum Beispiel die Situation der Katholiken in Norddeutschland oder die der Protestanten in Bayern. In solch einer Diaspora lebt Konstantin, dessen gesamte Verwandtschaft in Polen sich befindet und die er häufig besucht.

Nein, ich bin ein Einzelkind. Ich habe in Polen eine sehr grosse Verwandtschaft, aber halt in Polen. In Deutschland habe ich praktisch (keine) ...
Interviewer/in: Gehst du sie besuchen ab und zu mal?
Nein, ich war, ich bin jedes Jahr dort. Mindestens zwei Mal.
Interviewer/in: Wie redet ihr dort?
Nur auf polnisch, (...)
(Konstantin, Schule C, 24-Kn.) 1.9.95

In Polen redet er mit seiner Verwandtschaft Polnisch. Dort löst sich für ihn die Vordergrund/Hintergrund-Differenz zwischen der Normvarietät der Mehrheit und der Herkunftsvarietät als Minderheit auf. Dort macht er die Erfahrung, dass es keine Differenz mehr gibt zwischen seiner Herkunftsvarietät und der Sprache der Mehrheit, der Normvarietät.

Debby berichtet von der gegenteiligen Erfahrung, als er seine Tante in der Diaspora besucht.

Ja, ich spreche mit allen Verwandten eigentlich Deutsch. Ja, also im Urlaub, da haben wir eine, was war denn das? Eine Cousine meiner Mutter besucht. Und, naja, die spricht halt nur Englisch, obwohl, also, sie kann auch Deutsch eben sprechen. Dann haben wir eben meistens Deutsch mit der gesprochen.
Interviewer/in: Wo wohnt sie? Wo wart ihr?
In Australien.
Interviewer/in: In Australien?
Und, naja, sie ist da schon ziehmlich lange. Man hat eben gemerkt, dass sie einige Wörter nicht mehr konnte, aber wir haben die meiste Zeit mit ihr Deutsch gesprochen.
(Debby, Schule C, 26-De.) 1.9.95

In Australien spricht seine Tante die Normvarietät des Englischen. Das Deutsche, als ihre Herkunftsvarietät, geht mit längerer Aufenthaltsdauer langsam verloren und sie nimmt die Normvarietät an. Die Diaspora-Erfahrung ist so auch unter einigen der deutschen Jugendlichen vorhanden. So wie Konstantins Familie sich am Ort der Herkunft versammelt, trifft sich auch die Verwandtschaft von Lolo zu bestimmten gemeinsamen Festtagen.

Meine ganzen Verwandten wohnen weiter weg. Die wohnen so in Harburg und Meckelfeld und so. Die sehen wir ganz selten. Die sehen wir nur an so Festen. Ich habe eine Tante aus Schweden und einen Onkel aus Frankreich. Mein Onkel kommt manchmal zu mir und fragt mich etwas auf französisch. Verstehe ich, aber ich antworte immer auf deutsch. Aber er kann auch ganz gut Deutsch. Meine Tante aus Schweden auch. Wenn wir uns also treffen, dann reden wir halt über die Familie, weil wir uns so selten sehen; oder auch über Gott und die Welt sozusagen.
(Lolo, Schule C, 20-Li.) 1.9.95

Die Verwandtschaft spricht in der Normvarietät Deutsch. Dem passen sich auch die aus Frankreich und Schweden kommenden Verwandten an. Anton berichtet auf die Frage, wie seine Verwandtschaft spricht, folgendes.

Nur Deutsch. Eine ist in die Türkei ausgewandert, also nicht richtig ausgewandert, lebt jetzt da, weil sie einen türkischen Freund hatte. Da ist der Freund gestorben, dann bleibt sie in der Türkei.
(Anton, Schule B, 8-At.) 17.8.95

Migrations- und Diaspora-Erfahrungen sind also nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt, sondern lassen sich bei eingeborenen und eingewanderten Familien nachweisen. So dürfte die Erfahrungen der Vordergrund-Hintergrund-Differenz von Herkunftsvarietät und Normvarietät durchaus weiter verbreitet sein als nur in Einwandererfamilien.

DDR-Sprache und Dialekte

Wir hatten schon im ersten Abschnitt dieses Kapitels auf die sprachlichen Differenz innerhalb des Deutschen, am Beispiel des Verschwindens des Plattdeutschen hingewiesen. Aslan berichtet über seinen Kontakt mit Dialektsprechern.

Aslan: Ich habe eine Schwester. Sie wohnt in München. Da reden sie auch ganz anders, manche Wörter verstehe ich nicht.
Interviewer/in: Verstehst du nicht?
Aslan: Ne.
Interviewer/in: Verstehst du jemand, der aus Süddeutschland kommt?
Aslan: Ja, Bayern so. Da kann man es einigermassen verstehen.
(Aslan, Albert, Schule B, 9-Ad., 9-Ar.) 17.8.95

Die Fiktion einer einheitlichen homogenen sozialen Sprache, einer Normvarietät tritt hier durch die Differenzen innerhalb des Deutschen, den Dialekten offen zu Tagen. Aus den schon zu Beginn benannten Gründen, werde können wir die Dialekte, wie alle bisher behandelten Sprachen, als Varietäten fassen. So können wir auch für das Deutsche selbst ebenfalls ein Verhältnis von Herkunftsvarietät und Normvarietät in Gestalt des regionalen Dialektes und dem nationalen Hochdeutsch annehmen. Piet überträgt die Gleichsetzung von Sprache und Nationalität/Staatsbürgerschaft auf das Deutsche selbst und kommt zu folgender Sprachdefinition.

Interviewer/in: Wie ist das denn mit anderen Sprachen, also Platt oder sowas?
Piet: Wir haben gebrochenes Deutsch.
Interviewer/in: Was meinst du?
Piet: Gebrochenes Deutsch.
Interviewer/in: Gebrochenes Deutsch?
Piet: Die nennen das alles "DDR-Sprache".
Interviewer/in: DDR-Sprache. Was ist die DDR-Sprache?
Piet: "Icke" und so was.
Interviewer/in: Das ist DDR-Sprache? Du kommst daher?
Piet: Hm.
Interviewer/in: Neuruppin ist Brandenburg, oder? Seit wann bist du hier?
Piet: Seit fünf bis sechs Jahren.
(Paul, Piet, Schule B, 8-Pe., 8-Pa.) 17.8.95

Piet verweist nun auf ein Prinzip welches im Falle Jugoslawien als mit »jede Sprache hat ihren Staat« umschrieben werden kann und formuliert dem entgegensetzt »jeder Staat hat seine Sprache«. Der Staat schafft sich seine Staatssprache. In den Lebenswelten der Jugendlichen tauchen immer wieder Sprachen auf die noch keine Bezeichnung gefunden haben, weil eben keine "natürlliche" Identität zwischen Nation und Sprache existiert, sondern diese erst geschaffen werden muss. Konstantin, aus polnischsprachigem Hintergrund berichtet von seinen Erfahrungen, die solche Sprachen als ihm unbekannte erscheinen lassen.

Ich unterhalte mich auch auf deutsch, obwohl ich viele internationale Freunde habe. Einer kommt aus Marokko, der kann dann auch Französisch sprechen und irgendwie auch, was weiss ich, afrikanischen Slang auch noch. Ich weiss nicht, wie das heisst. Auf jeden Fall nicht Marokkanisch. Ich habe ihn gefragt: "Sprichst du Marrokanisch?" Dann hat er gesagt: "Das heisst anders." Da hat er mir einen ganz komischen Namen genannt, konnte ich mir gar nicht merken. Auf jeden Fall gibt es ein paar Leute, die Sprachen kennen, die ich nicht kenne. Beispielsweise O., der spricht ja Kroatisch. Sonst spreche ich mit allen auf deutsch.
(Konstantin, Schule C, 24-Kn.) 1.9.95

Konstantin weiss das es Nationen gibt, aus denen Menschen seiner Lebenswelt kommen, die Gleichsetzung von Nation mit Sprache hat aber als problematisch erfahren. Er ahnt, dass dies kein universeller Zusammenhang ist und er nicht ohne weiteres von der Nationalität auf die Sprache seines Gegenübers schliessen kann.

Kultur-historische Aspekte der Sprech- und Schriftgemeinschaften

Eric Hobsbawn252 hat im Zusammenhang mit dem Krieg der NATO im ehemaligen Jugoslawien auf den spezifisch europäischen Kontext der Vorstellung einer Identität von Nation und Sprache hingewiesen. In diesem Zusammenhang verweist die vermutete "Entkopplung" von Sprache und Nationalität eher auf einen Anpassungsprozess an einen weltweiten "Normalzustand", als auf einen Wertezerfall. Wenn die Vorstellung einer Identität von Nation und Sprache also eine spezifisch moderne Erscheinung im Europa des 20. Jahrhunderts ist, so müssten sich unserer Vermutung nach noch Fragmente eines historisch früheren oder anderen Verhältnis in den untersuchten Lebenswelten finden lassen.

Konstantin, aus polnischem Familienhintergrund und Olivier, aus kroatischem Familienhintergrund sind sich der Gemeinsamkeiten des Polnischen und des Kroatischen bewusst. Zwar ist eine fliessende Unterhaltung schwierig, aber nicht unmöglich.

Konstantin: Ja. Natürlich, die ganzen Begriffe, was was heisst und so weiter. Sonst spreche ich immer Deutsch, also fast immer. Sehr selten Polnisch. Ich versuche, mich mit meinem kroatischen Kumpel auf polnisch zu unterhalten. {lacht}
Olivier: Das klappt auch manchmal. Ab und zu mal so.
Interviewer/in: Ist das ähnlich?
Konstantin: Ja, das ist ziehmlich ähnlich.
Olivier: Ja, manchmal versteht man schon was.
Interviewer/in: Sind das nur so Begriffe oder ganze Sätze?
Olivier: So einzelne Wörter.
Interviewer/in: Einzelne Wörter.
Konstantin: Die ähnlich klingen. Versucht man zu raten.
Olivier: Was es bedeutet.
Interviewer/in: Könntest du einer Unterhaltung in Kroatisch oder einer Unterhaltung in Polnisch soweit folgen, dass du ungefähr mitkriegst, worum es geht?
Olivier: Soviel ist es dann doch nicht, aber einzelne Wörter dann doch schon. Dass man vielleicht ...
Interviewer/in: So raten dann?
Konstantin: Ja. So ganz einfache Wörter, wie beipielsweise "gehen" und "sein", oder so was, das kriegt man wahrscheinlich hin, das ist ähnlich.
(Konstantin, Olivier, Schule C, 24-Kn., 24-OK.) 1.9.95

Die Ähnlichkeiten des Polnischen und des Kroatischen verweisen auf eine strukturelle Verwandtschaft dieser beiden Sprachen. Wie allen slawischen Sprachen liegt diesen beiden das sogenannte Kirchenslawisch zugrunde. Den daraus entwickelten slawischen Sprachen sieht man heute nicht mehr ihren religösen Kontext an, zumal Polnisch und Kroatisch nicht im religiös-orthodoxen Kontext entwickelt haben, sondern im Kontext der römisch-katholischen Religion. Diese gesellschaftliche Erinnerung scheint in diesen Sprachen gespeichert und findet sich als Ähnlichkeit im lebensweltlichen Alltagsbewusstsein der Jugendllichen wieder. Auch Cemal formuliert in diesem Sinne eine Art von historischer Erinnerung an einen anderen Kontext.

(...) Und ich hab auch einen Jungen kennengelernt. Der kommt aus Afrika, kann auch Türkisch. Weil, dort sind ja Türken - hab ich gehört von dem Jungen und Mädchen -, dass da in Afrika und Jugoslawien auch Türken sind. Von denen haben sie auch ein bisschen Türkisch gelernt.
INTERVIEWER/IN: Hier in Deutschland oder ...
Sie sind hier in Deutschland.
INTERVIEWER/IN: Und wo haben sie das Türkisch gelernt?
In Afrika und Jugoslawien.
INTERVIEWER/IN: Also nicht hier?
Nein, nein nicht hier.
(Cemal, Schule A, 1-C.) 15.8.95

Zunächst scheint die Erklärung Cemals für das Sprechen des Türkischen durch andere als Türken etwas überrraschend. Bezieht man aber den Kontext des Osmanischen Reiches und seiner Ausbreitung über den Balkan bis nach Afrika hinzu, so ist dies keineswegs mehr überraschend. Da in diesen Gebieten auch immer noch türkische Sprechgemeinschaften vorhanden sind und neue im Rahmen der Arbeitsmigration (z.B. Bauindustrie) entstanden sind, so macht es Sinn, dass dort auch andere Personen Türkisch lernen. Auch für Meltem sind Albaner kaum Fremde.

Nein, Deutsche sind da nicht dabei, nur Türkische und die aus Albanien kommen. Aber die sind auch genauso wie Türken, wenn man was sagt, dann versteht man das auch. Wenn wir was sagen auf türkisch, dann verstehen die das auch.
(Meltem, Schule B, 15-Ml.) 17.8.95

Auch Julia, deren Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien kommt und die ihre Herkunftssprache mit Bosnisch bezeichnet, verweist auf solche historischen "Fundstücke".

Interviewer/in: Verstehst du was vom Türkischen?
Ja, also, vielleicht die Worte, die unsere Opas und Omas früher verwendet haben, vielleicht ein paar Wörter, aber ganz ganz wenig.
Interviewer/in: Deine Oma und dein Opa haben ...
Ja, also, die alten Wörter, vielleicht so 50 oder 100 Jahre alt, die man so selten hört.
Interviewer/in: Und die hörst du manchmal wieder?
Ja.
(Julia, Schule A, 13-Ja.) 15.8.95

Julia hat nie eine Schule in Jugoslawien besucht, in der ihr ein kohärentes nationales Geschichtsbild vermittelt wurde. Sie weiss aber, dass diese Art des Sprechens ein Kennzeichen der Generation ihrer Grosseltern ist, kann diese Fragmente aber in kaum einen Bezug zur historisch gewordenen Lebenswelt ihrer Grosseltern setzen. Diese Erzählung ist kein Bestandteil der nationalen Erzählung des Geschichtsunterricht der nationalen Bildungsinstitutionen. Sie weiss nichts über die historische Rolle der bosnischen, der türkischen und der osmanischen Sprechgemeinschaften in der Welt des Osmanischen Reiches.

Für Cihat bieten Sprachen auch einen Zugang zu einer anderen Welt, die nationale Grenze überschreitet und andere Grenzen setzt.

Interviewer/in: Welche Sprache würdest du lernen, oder Sprachen?
Ahmet: Arabisch.
Cihat: (...)
Interviewer/in: Wieso Arabisch? Was kann man mit Arabisch machen?
Ahmet: Zum Beispiel in den Dings gehen, wenn du nach Arabien gehst.
Cihat: Irak.
(...)
Cihat: Also, zum Beispiel in Arabien. Da dürfen nur Moslems rein, die lassen nicht Christen oder so rein, oder andere Religionen. Wenn man die Religion nicht kennt, dann kann man da nicht rein. Das ist jetzt nur ein Beispiel.
(Ahmet, Cihat, m, 1981, türkisch, Schule A, 6-Ci.) 15.8.95

Während Ahmet noch der nationalen Sprachgleichung »in Arabien spricht man Arabisch« folgt, scheint bei Cihat die Verbindung des Arabischen zur Religion auf. Der Zugang nach Arabien ist nicht über das Sprechen des Arabischen möglich, sondern man muss Moslem sein. (Saudi-) Arabien verweist für Cihat auf das religiösen Zentren des Islam und die Bedeutung der Pilgerstädte Mekka und Medina für die islamische Welt. Uur und Yakup verweisen auf einen weiteren Aspekt des Arabischen, der nationale Grenzen weit überschreitet.

Uur: Vielleicht auch andere Sprachen, Arabisch.
Interviewer/in: Warum gerade diese Sprachen?
Uur: Weil ich bin Moslem, die Sprache, ich lese Koran, die Sprache interessiert mich auch.
(...)
Yakup: Sonst auch Arabisch. Vielleicht, ich lese auch Koran, es würde einen interessieren, was das bedeutet.
(Uur, Yakup, Schule C, 27-Uf., 27-Yu.) 1.9.95

Das Sprechen des Arabischen genügt nicht um die Bedeutung der Religion zu erfassen, sondern dazu ist die Schrift des Korans von Bedeutung. (Hoch-)Arabisch ist die »heilige Schrift« des Korans. Mit Benedikt Anderson können wir nun einen weiteren Aspekt der sprachlichen Ordnung benennen, der die Gleichung von Nation=Sprache relativiert. Arabisch, das oben erwähnte Kirchenslawisch, das Lateinische, aber auch das Hebräische bilden sogenannte »Wahrheitssprachen253«. Diese Schriftgemeinschaften sind gleichzeitig religiöse Einheiten, in deren Zentrum die jeweilige Schriftsprache als das Medium göttlicher Botschaften steht. Diesen Schriftsprachen entsprechen im eigentlichen Sinne keine gesprochenen Sprachen, im Sinne unseres personalen Sprechens. Wenn sie gesprochen wurden, dann von kleinen Sprechgemeinschaften, die zugleich auch ´Schriftexperten waren. Anderson bringt die Erfindung des Buchdrucks in Europa mit dem Niedergang des Lateinischen als Wahrheitssprache und dem Entstehen nationaler Schriftgemeinschaften als Lesegemeinschaften in Verbindung. Auch heute sind manche unserer Jugendlichen noch in Kontakt mit dem Latein. Remzi schildert die angebotene Fremdsprachen in seiner Schule.

Doch, in der Schule ja. In die andere Klasse geht einer. Es wird nur Deutsch gesprochen, ausser in den Fremdsprachen. Das sind Französisch, Englisch und Latein.
(Remzi, Schule C, 23-Rz.) 1.9.95

Hassan findet auch noch eine Gebrauchtswert des Lateinischen für seine Alltag.

Hasan: Lateinisch würde auch gehen.
Interviewer/in: Lateinisch würde auch jeder verstehen?
Hasan: Nein, in der Apotheke ist alles auf lateinisch.
Interviewer/in: Ach so, wenn du in die Apotheke gehst?
Hasan: Ja.
(Hasan, Schule B, 7-Ha.) 17.8.95

Das Lateinische ist für ihn einer bestimmten Berufsgruppe zugeordnet. Es ist eine Art von Fachsprache, die durchaus ihren Nutzen für bestimmte Alltäglichkeiten haben kann. Edon, dessen Familie, wie schon Julias Familie, aus dem ehemaligen Jugoslawien kam, artikuliert wie sie, ohne das es ihm bewusst sein dürfte, historische Zusammenhänge.

Edon: Ich würde Latein nehmen.
Wilfried: Latein nehmen! {lacht}
Edon: Weil Latein ist eine gute Sprache, also die muss man, die kennt nicht jeder, aber wenn man die Sprache beherrscht, dann ist das ganz gut, weil die meisten deutschen Wörter kommen ja aus dem Lateinischen. Das ist ja so. Ja, und dann nehme ich Latein.
(Edon, Werner, Schule A, 3-W.) 15.8.95

Edon formuliert eine Entwicklungslinie vom Lateinischen zum Deutschen und verweist auf den historischen Entstehungsprozess einer Sprache, dem Deutschen. Er zieht daraus den Schluss, dass er über das Erlernen des Lateinischen eine bessere Kenntnis des Deutschen erreichen kann. Das Lateinische, da es nicht jeder kennt, hat den Charakter der Exklusivität und liefert, so könnte man nun fast vermuten, eine Art Geheimwissen über das Deutsche.

Diese Wahrheitssprachen scheinen die Eigenschaft zu haben, enge sprachliche Grenzen zu überwinden und einen Zugang zu einer Sprech- und Schriftgemeinschaft zu ermöglichen, die jenseits der eigenen Grenzen liegt. Diese Grenzen sind zeitlicher Art, da diese Wahrheitssprachen einer vergangenen Welt angehörigen. Dieser zeitliche Aspekt wird uns im dritten und letzten Abschnitt dieses Kapitels genauer beschäftigen.

237 Khan, Emir Djeladet Bedir & Roger Lescot: Kurdische Grammatik. Kurmanci-Dialekt. (1986)

238 Die kursiv unterstrichenen Ergänzungen stammen vom Autor und stellen die Negationen der Aussagen dar.

239 Lefèbvre (1990: 138)

240 Ebd.: 138

241 Ebd.: 139

242 Ebd.: 142

243 Lefèbvre (1978: 208-209)

244 Lefèbvre (1990: 140)

245 Ebd.: 142

246 Türkisch: "Verpiss dich, Alter!" wörtlich bedeutet »Sik« Penis.

247 Aktunç, Hulki: Büyük Argo Sözlüü. (1990)

248 Ebd.: 351

249 Der kleine Duden: Fremdwörterbuch. (1991)

250 türkischer Schimpfausdruck. "Ich ficke Dich, mein Sohn".

251 Türkisch: Sei ruhig, Mann!

252 In: Die Zeit, Nr. vom 5. Mai 1999, S. xxx

253 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. (1991)