5. Urbanes Sprechen: Magma und Struktur des Zukünftigen

5.1. Der Raum zwischen vagabundierenden Bildern und Begriff

5.2. Der Doppelcharakter der Sprache

5.3. Imaginäre Institutionen

5.4. Sprechgemeinschaften in der Zeit

5.5. Sprachmagma und Prozesse der Sprachentwicklung

5.6. Das Liminoide

5.7. Soziale Konstruktionsprozesse


5.1. Der Raum zwischen vagabundierenden Bildern und Begriff

Wir haben im Laufe der Untersuchung vielfältige Aspekte der Beziehung zwischen dem Persönlichen und dem Sozialen, zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Teil und Ganzem herausgearbeitet. Der bisher dargestellte Forschungsprozess folgte einer bewussten Bewegung die vom Sprechen hin zum Schreiben führte. Der Forschungsgegenstand, die Beziehung zwischen Sprache und Gesellschaft, ist nicht nur eine Konstruktion und Reflexion der im Feld erhobenen empirischen Daten, sondern auch die Rekonstruktion unseres Verständnisses der Beziehungen der eigenen Sprache zur Gesellschaft in der wir leben. Die Verwirrung, die aufgrund der Vielzahl von solchen "subjektiven" Sprach-und Weltverständnissen nun beim Leser entstanden sein könnte, soll, denn das ist die Aufgabe der wissenschaftlichen Methode, im Sinne des Begründer des symbolischen Interaktionismus George H. Mead, entwirrt werden.

In Wirklichkeit ist natürlich so vieles sowohl von der Wahrnehmung als auch von der Information mit reflektierter Konstruktion und Rekonstruktion durchsetzt, dass es schwerfällt, die beiden auseinanderzuhalten. Es ist jedoch ein Teil der wissenschaftlichen Methode, diese Entwirrung zu vollbringen.274

In den Stadtlandschaften von Sankt Pauli und Altona fanden wir sprachliche Verhältnisse vor, die für innerstädtische Gebiete heutiger Grossstädte als charakteristisch bezeichnet werden können. Diese vielfältigen sprachlichen Verhältnisse sind flüchtig und in den jeweiligen Sprechsituationen verhaftet. Diese Vielheit, so erinnert uns Henri Lefebvre, verweist im Gegenzug auf den Aspekt der Einheit275. Mit einem Blick auf Baudelaire, bezeichnet er diese Beziehung von Vielheit und Einheit als die "wandelbaren Bilder der ewigen Unwandelbarkeit"276. Die Suche nach der den einzelnen flüchtigen Sprechsituationen zugrundeliegenden Struktur (Struktur verstanden als Relation) des in der Zeit Stabilen, führt uns zur Frage nach der Struktur der historisch gewordenen Stadtlandschaften Sankt Pauli und Altona, die den Kontext der Sprechsituationen darstellen. Die Kontextualisierung der vielsprachigen Sprechsituation geschieht in bestimmten Alltagsperspektiven über die Dekontexualisierung der wahren Entstehungsbedingung dieser Sprechsituationen. Diese Sprechsituationen werden als fremd, als nicht zugehörig wahrgenommen. In der Wahrnehmung der Beobachter wird dann Türkisch gesprochen, oder sie sprechen kein "richtiges" Deutsch (bzw. Türkisch), oder sie können kein Sprache "richtig". Diese Deutung der Wirklichkeit sind selbst wieder historisch geworden. Marx erinnert uns an den Zusammenhang von Trennung und Abspaltung des Privatlebens und der Entwicklung eines allgemeinen Formalismus der bürgerlichen Gesellschaft, der in die gesellschaftliche Praxis eindringt. Der historisch entstandene Formalismus der "richtigen deutschen Sprache" dringt in die Sprechpraxis ein, spaltet die gesellschaftlichen Produktionsbedingung der Sprechsituationen ab und lässt bestimmte Sprechsituation als Defekte der Sprecher erscheinen. Das in dieser Arbeit herausgearbeitete Verhältnis von personalem Sprechen und sozialer Sprache kann als ein entfremdetes begriffen werden. Wie sind nun diese Verhältnisse historisch geworden? In den Zeitkonstruktionen der Jugendlichen fanden wir unterschiedliche Beziehungen, die zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hergestellt wurden. Wie können wir uns diese Beziehung vorstellen? Einen Zugang zu diesem "historisch Gewordenen" eröffnet uns die geschichtswissenschaftliche Schule der Annales, die sich um die 1929 von Lucien Febvre und Marc Bloch gegründete Zeitschrift "Anales d'histoire économique et sociale" entwickelte. Für Febvre sind die Geschichtswissenschaften mit der Aneignung der Vergangenheit durch die Gegenwart beschäftigt.

... die Geschichtswissenschaft ist eine besondere Art und Weise nicht der Rekonstruktion, sondern der Aneignung der Vergangenheit durch die Gegenwart.277

Er sieht die Geschichtswissenschaft als

Gegenstand einer permanenten Neuerarbeitung und Rekonstruktion, denn die Geschichtswissenschaft produziert, wie das Gedächtnis, die Wahrheiten der Vergangenheit ausgehend von denen der Gegenwart. (...) Von der Vergangenheit bleibt nur das bestehen, was wir mit einem Sinn versehen.278

Vergangenheit entsteht also aus der Gegenwart heraus. Individuen und Gruppen konstruieren ihre jeweiligen Vergangenheiten. Diese macht klar, dass

es keine Tätigkeit oder Struktur gibt, die nicht durch die widersprüchlichen und aufeinanderprallenden Vorstellungen (représentations) erzeugt werden, mit denen Individuen und Gruppen ihrer Welt einen Sinn verleihen.279

Diese Repräsentationen, bilden die "umstrittenen Zeichen", deren Ort, so Lefebvre, die Strasse ist.

Auf der Strasse und durch sie manifestiert sich eine Gruppe (die Stadt selber), bringt sich zum Ausdruck, macht sich die Örtlichkeit zu eigen, setzt sich eine Raum-Zeit-Beziehung in die Wirklichkeit um."280

Das Verhältniss von Individuum zur Gesellschaft wird so selbst zu einem historisch erzeugten Produkt der bürgerlichen Gesellschaft.

Die Individualisierung ist ein sich langsam, aber stetig herausbildendes Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung, mitnichten ist die Gesellschaft ein Produkt des Individuums.281

Die Strasse, auf der die Sprechsituationen des "gemischt Sprechens" am deutlichsten zu beobachten sind, erscheint so nicht mehr als das Defizit von Individuen, die keine Chancen hatten sich den allgemeinen Formalismus des Deutschen anzueignen, sondern als das Gegenteil: die Repräsentation der Raum-Zeit-Beziehung einer sozialen Gruppe in der Wirklichkeit. Dies bedeutet, wenn man dies auf die Beziehung des personalen Sprechens zur sozialen Sprache überträgt, dass die soziale Sprache und das personale Sprechen erst unter einer bestimmten Perspektive der Trennung zu einem individuellen Defizit wird. Die Abspraltung der konkreten, vielfältigen Teile vom imaginären Ganzen, des flüchtigen Augenblicks von der imaginären Ewigkeit, bildet eine besondere Wahrnehmungsform dessen aus, was wir hier die soziale Sprache nennen. Die Wahrnehmungsformen der (sozialen) Sprache durch die Sprachphilosophie oder die Sprachwissenschaft haben sich seit Ende des 19. Jahrhunderts geändert. Lefebvre stellt eine Verschiebung fest. Die Aufmerksamkeit wendete sich ab von der Musik hin zur Sprache, die ins Zentrum der Kultur rückte. Sprache bildete die generalisierte Struktur, nach der sich selbst die Künste als technisch spezialisierte Teilsprache begreifen282. Da die (soziale) Sprache als absolut gesetzt wird, trennt sie sich von der (personalen) Sprechweise in den Lebenswelten. Dort erweist sie sich als mangelhaft, der lebendigen Rede äusserlich. Dieses Verhältnis kann man als verdinglicht und entfremdet bezeichnen. Der konkreten Kommunikation tritt die ästhetische Sprache als ihr fremd und äusserlich entgegen.

In den konkreten vielsprachigen Lebenswelten der Jugendlichen gibt es eine Pragmatik des personalen Sprechens. Je nach Sprechsituation gibt es ein Repertoire an Sprechweisen auf die zurückgegriffen werden kann. Einer dieser Sprechweisen war das gemischte Sprechen. Bemühen wir nochmals die Analogie zur Gesellschaftsgeschichte. Marc Bloch, aus dem Kreis der Annales, verweist schon früh auf Bedeutung der "Reinheit" für die Grundlagen der Sprachwissenschaft.

Diese gefürchtete Hypothese einer »Vermischung«, die, wenn sie sich auf dem Gebiet der Sprache als zutreffend erweisen würde, Verwirrung in diese selbstsicherste der Humanwissenschaften brächte, wird nun der Gesellschaftsgeschichte (histoire des société) jeden Augenblick durch die Fakten aufgedrängt.

Blochs Bemerkung zeigt die Problematik der Sprachwissenschaften nach der pragmatischen Wende283 in einem neuen Licht. Die Vorstellungen von "Reinheit" und "Vermischung" mit denen die (Sprach-)Wissenschaften hantiert, verweisen uns vom Feld der Sprache auf das Feld der Ethnographie. In dieser mit ethnographischen Methoden arbeitenden Untersuchung folgten wir einer Methodologie, welche es ermöglichte, die einzelnen Schritte einer Bewegung, von den konkreten Erlebnissen bis hin zu abstrakteren intersubjektiven Erkenntnissen unter wissenschaftskritischen Gesichtspunkten zu reflektieren. Wir vermuten, dass die vielgestaltigen Alltagssprechweisen und die sozialen Sprachen bis hin zur Schrift einen zeitlichen Aspekt der Entwicklung von Gesellschaftsgruppen darstellen. Um dies zu verdeutlichen, möchten wir nochmals näher das von uns erfasste Verhältnis von personalem Sprechen und sozialer Sprache betrachten.

5.2Der Doppelcharakter der Sprache

Mit den Begriffsbildungen des personalen Sprechens und der sozialen Sprache haben wir versucht dem Verhältnis von Konkretem und Abstraktem, von Individuum und Gesellschaft, von Flüchtigem und Ewigem eine neue Perspektive hinzuzufügen. Wie sieht diese neue Perspektive aus? Sie hat ihren Ausgangspunkt im Alltag. In der Alltagswelt bezeichnen wir die Varietät, in der ein Kind aufwächst im Allgemeinen als Muttersprache. Doch was meinen wir damit? Die Sprache in der die Mutter mit uns spricht? Die Sprache in der wir Aufwachsen? Was ist die Muttersprache in vielsprachigen Lebenswelten? In unserer Untersuchung haben wir herausgearbeitet, dass von Muttersprache in einem nationalsprachlichen Sinne nicht gesprochen werden kann und haben deshalb den Begriff der Herkunfssprache oder -varietät gewählt. In der sogenanntern Sapir-Whorf-Hypothese284 der linguistischen Ethnologie werden Person, (Mutter)Sprache und Kultur als ein einheitliches System gefasst, welches nur in den eigenen Begriffen verstanden werden kann. Kultur ist für Sapir die symbolische Interaktion zwischen Person und Gesellschaft285. Whorfs Interesse gilt der Beziehung von Sprache und Weltsicht (worldview)286. Wenn Sprache diese in sich geschlossene Qualität eines einheitlichen Systems hat, so muss eine unter mehrsprachigen Bedingungen sozialisierte Person eine andere Weltsicht haben, als eine unter einsprachigen Bedingungen aufgewachsene. Diese Weltsicht haben wir in der Begriffsbildung der Mehrweltler und der Einweltler reflektiert. Wir können das personale Sprechen der Einweltler als einen Sonderfall der Sprechweise der Mehrweltler fassen. Diese Sichtweise wird bestätigt durch Untersuchungen, die der Auffassung sind, dass jeder Mensch mehrsprachig ist, weil es in jeder Sprache mehrere Varietäten287 gibt. In diesem Sinne wäre die Gestalt des Einweltlers eine Kunstfigur, die in der Alltagswelt als solche nicht anzutreffen ist.

Für den Fortgang der Analyse bleiben wir bei den gedankenexperimentellen Figuren der Ein- und Mehrweltler. Einweltler und Mehrweltler bilden ein symbolisches Verhältnis, welches ihre gesellschaftliche Beziehung darstellt: die Mehrheitsgesellschaft begreift sich als Einweltler, die Minderheit sind Mehrweltler. Dieses Verhältnis wollen wir nun unter dem Aspekt der Beziehung zwischen etablierten Einweltlern und mehrweltlichen Aussenseitern betrachten. Norbert Elias und John L. Scotson288 arbeiten in ihrer Untersuchung von 1960 über Etablierte und Aussenseiter in einer englischen Gemeinde die Struktur "alter" und "neuer" Gruppen heraus. Für sie können soziale Gruppen "altern",

wenn sie sich über die niedrigeren Kreise erhoben, die keinen oder wenig Besitz zu vererben hatten.289

Damit sind diese Netzwerke "alter" Familien in der Lage, Machtquellen zu vererben, die zu Monopolbildungen führen. Während diese "alten" Gruppen mit der Vorstellung von vorindustriellen, stabilen und immobilen Gemeinden in der Vergangenheit verknüpft werden, wird die gegenwärtige Situation als industriell gekennzeichnet, die durch hohe soziale Mobilität bestimmt sei.

»Alte« Arbeiterfamilien dagegen scheinen ein Charakteristikum unserer Zeit zu sein. (...) Weil in ihrem Fall soziologisches »Alter« nicht erkennbar mit der Vererbung irgendeines Besitzes zusammenhängt, treten hier andere Machtbedingungen , die normalerweise auch sonst vorhanden, aber weniger auffällig sind, klarer hervor.290

Diese Differenz zwischen soziologisch alten und neuen Gruppen bildet, so Elias und Scotson, eine Grundfiguration. Die Beziehung zwischen alten und neuen Gruppen stellt weniger eine zeitliche als ein Machtbeziehung dar.

Man kann Varianten derselben Grundfiguration, Zusammenstösse zwischen Gruppen von Neuankömmlingen, Zuwanderern, Ausländern und Gruppen von Alteingesessenen überall auf der Welt entdecken.291

Während man manche Eltern der Jugendlichen vielleicht tatsächlich als (Ein)Wanderer bezeichnen könnte, trifft diese Vorstellung für die hier geborenen Jugendlichen kaum mehr zu. Eher ist die von Simmel eingeführte Unterscheidung zwischen Wanderer und Fremden zutreffend.

Wenn das Wandern als die Gelöstheit von jedem gegebenen Raumpunkt der begriffliche Gegensatz zu der Fixiertheit an einem solchen ist, so stellt die soziologische Form des »Fremden« doch gewissermassen die Einheit beider Bestimmungen dar - freilich auch hier offenbarend, dass das Verhältnis zum Raum nur einerseits die Bedingung, andererseits das Symbol der Verhältnisse zu Menschen ist. Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt - sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.292

Der Fremde symbolisiert so die "Einheit von Nähe und Entferntheit"293. Diese Einheit fasst Lefebvre als Utopie. Für ihn ist die Utopie der Ort des Bewusstseins, ein vorgestellter Ort. Die Utopie vereinigt die nahe (Isotopie, Ort des Gleichen, gleiche Orte) und die ferne (Heterotopie, Ort des Anderen, der andere Ort) Ordnung. Der Fremde als Symbol der Einheit von Nähe und Entferntheit verweist darauf, dass Wanderungen mehr sind als nur geographische Vorgänge.

Was geschieht, scheint dann nur zu sein, dass Menschen sich physisch von einem Ort zum anderen bewegen. In Wirklichkeit wechseln sie immer von einer Gesellschaftsgruppe in eine andere über.294

Und diese Gesellschaftsgruppen produzieren ihre je spezifischen Bedeutungen, die sich aus ihren je eigenen Perspektiven auf und Beziehungen zum Gesamtzusammenhang ergeben. Elias und Scotson weisen auf die verschiedenen Merkmale hin, an der Bedeutungen konstruiert werde.

Wenn die Neuankömmlinge derselben »Rasse« angehören, aber eine andere Sprache und andere nationale Traditionen haben, firmieren die Probleme, vor die sie und die älteren Einwohner sich gestellt finden, in Untersuchungen als Problem »ethnischer Minoritäten«. Wenn sie weder einer anderen »Rasse« noch einer anderen »ethnischen Gruppe«, sondern nur einer anderen »sozialen Klasse« angehören, werden die Probleme sozialer Mobilität als »Klassenprobleme« und oft genug als Probleme der »sozialen Mobilität« in einem engeren Sinne des Wortes erörtert.295

Je nach Wahrnehmung der Merkmale "Rasse", "Sprache", "nationale Tradition" und "soziale Klasse" erscheinen die Probleme von (sozialer) Mobilität für die Etablierten als Probleme ethnischer Minoritäten oder als Klassenprobleme. Diese sozialen Gruppen sind immer auch Sprechgemeinschaften, d.h. sie haben eine spezifische Art und Weise miteinander zu kommunizieren. Unter der Perspektive, dass die Abgrenzung einzelner Varietäten selbst schon einen Hinweis auf die soziale Positionierung dieser Gruppen darstellt, verraten uns die begrifflichen Abtrennungen von Dialekten, Soziolekten, Fachsprachen und Hochsprachen etwas über das Machtverhältnis innerhalb einer Gesellschaft. Elias und Scotson nennen diese soziale Anordnung »Figuration«296.

Kommen wir zurück zur Beziehung des personalen Sprechens und der sozialen Sprache. Dieser Doppelcharakter der Sprache verweist einseits auf die individuelle Produktion von Sprache, die aber andererseits wieder zurückgebunden ist an die kollektive Sprechgemeinschaft. Der Fremde/Wanderer verlässt eine Sprechgemeinschaft und kommt in einer anderen Sprechgemeinschaft an. Dort muss er sich einer doppelten Differenz stellen; der zwischen seinem personalen Sprechen und dem personalen Sprechen der "Etablierten" und seiner inkorporierten sozialen Sprache und der dominierenden sozialen Sprache der neuen Sprechgemeinschaft. Das Loslösen von einem Ort ist verbunden mit der Loslösung von einer spezifischen Sprechgemeinschaft. Das Ankommen an einem Ort ist verbunden mit dem Kontakt zu einer anderen spezifischen Sprechgemeinschaft. Den Charakter dieser, sich daraus ergebenden spezifischen Figuration von Heterotopien, Isotopien und Utopien, um die Begriffe Lefebvres wieder aufzugreifen, wollen wir etwas genauer zu fassen versuchen.

5.3Imaginäre Institutionen

In der gegenwärtigen Gesellschaft zeigt sich, dass räumlich-sprachliche Verknüpfungen der Beziehung von "nah" mit "verstehen/sprechen" und "fern" mit dem Gegenteil keine "objektiven" Tatsachen sind. In bezug auf den Raum formuliert es Simmel so:

Nicht der Raum, sondern die von der Seele her erfolgende Gliederung und Zusammenfassung seiner Teile hat gesellschaftliche Bedeutung.297

Der Raum ist schon bei Simmel nicht mehr an ein Territorium gebunden, vielmehr können voneinander getrennte Territorien durch Personen zu einem Raum zusammengefasst werden und

der Raum bleibt immer die an sich wirkungslose Form, in deren Modifikationen die realen Energien sich zwar offenbaren, aber nur, wie die Sprache Gedankenprozesse ausdrückt, die allerdings in Worten, aber nicht durch Worte verlaufen.298

"Raum" kann so in Anlehnung an Cornelius Castoriadis als eine »imaginäre Institution299« gefasst werden. "Imaginär" wird dort nicht als Gegensatz zu "wirklich" gefasst, sondern:

Die tiefgreifenden und undurchsichtigen Beziehungen zwischen Symbolischem und Imaginärem lassen sich ahnen, sobald man folgendes in Erwägung zieht: Das Imaginäre muss das Symbolische benutzen, nicht nur um sich »auszudrücken« - das versteht sich von selbst -, sondern um überhaupt zu »existieren«, um etwas zu werden, das nicht mehr bloss virtuell ist.300

In diesem so gefassten »Raum« können auf einem Territorium beliebig viele gleich beschaffene soziale Gebilde nebeneinander bestehen. François Simiand erhellt den Unterschied zu anderen Formen der geistigen Tätigkeit.

Der Unterschied zwischen Traum, Halluzination, Einbildung, Erinnerung und der Wahrnehmung (dieser »wahren Halluzination«) besteht allein darin, dass sich uns im Fall der Wahrnehmung ein Zusammenhang zwischen den wahrnehmbaren Dingen zeigt, der nicht von uns abhängt, der sich uns aufzwingt, und dass im Gegensatz dazu in den anderen Fällen unsere eigene Spontaneität massgeblich beteiligt ist?301

Wichtig für die vorliegende Arbeit erscheint mir der Zusammenhang von gegenseitiger Erzeugung des Betrachters und des Betrachteten. Simmel bemerkt (in Bezug auf die historischen "Zünfte") dazu:

Sie stiessen sich nicht im Raume, weil sie als soziologische Gebilde nicht räumlich, wenn auch örtlich bestimmt waren. (...) Ihrer Form nach aber konnten unzählige Gebilde dieser Art widerspruchslos denselben Raum erfüllen.302

Die in der »Stadtlandschaft« gleichzeitig präsenten »imaginären Institutionen« des Raumes, der Zeit, der Sozialstruktur und der Sprache bilden jeweils den wissenschaftlichen Gegenstand der Geographie, der Geschichte, der Soziologie und der Linguistik. Mit der hier vorliegende Erforschung einer konkreten »Stadtlandschaft« haben wir einen Schritt vollzogen, den Marc Bloch in Bezug auf benachbarte Gesellschaften forderte, nämlich die

parallele Untersuchung von Nachbargesellschaften in derselben historischen Epoche, die sich ununterbrochen gegenseitig beeinflussen, die in ihrer Entwicklung aufgrund der räumlichen Nähe und der Zeitgleichheit dem Wirken derselben Hauptursachen unterworfen sind und die, zumindest teilweise, auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen.303

Es geht also nicht um die getrennte Betrachtung einzelner Gruppe, wie der "Ausländern" oder der "Deutschen", sondern vielmehr um die Erforschung einer Struktur, die durch ununterbrochene gegenseitige Beeinflussung gekennzeichnet ist. Es geht um die Erforschung dessen, von dem Jaques Le Goff sagt, dass es sich

am Kreuzungspunkt des Individuellen und des Kollektiven, der Langzeit und des Alltags, des Unbewussten und des Absichtlichen, der Struktur und der Konjunktur, des Marginalen und des Allgemeinen ansiedelt304.

5.4. Sprechgemeinschaften in der Zeit

Ein solcher Kreuzungspunkt bildet der ethnographische Ort des Hauses. Das Haus, in der Soziologie eng mit dem Begriff der »Gemeinschaft« verwoben, wird gerne in der Tradition von Tönnies, der »Gesellschaft« gegenübergestellt. Solche Arten der Dichotomisierung sind in der Soziologie nicht unüblich und auch vielen soziologischen Klassikern eigen. Bei genauerer Betrachtung stellt sich dann allerdings heraus, dass sie nicht allgemeingültige Modelle darstellen, sondern Modelle spezifischer Gesellschaftsformationen. So charaktierisiert Lefebvre diese Formen der Abtrennung als ein Kennzeichen bürgerlicher Gesellschaften. Douglas Kellner sieht darin ein Charakteristikum "westlicher" Gesellschaften.

On this model, modern Western societies were characterized by social differentiation, by the development of seperate spheres of existence developing their own logic and structures - such as economy, polity, society, culture."305

Diese jeweils eigene Logik und Struktur getrennter Sphären trifft man ebenso wieder im Durkheim'schen Gegensatz von mechanischer und organischer Solidarität, wie auch im Gegensatz von Massen- und Hochkultur der Frankfurter Schule. Dieser modellhaften Entwicklung von abgeschlossenen Einheiten mit eigener Logik steht aber in Verbindung mit seinem Gegenteil: der gegenseitigen Durchdringung und Beeinflussung. Um diese dichotomisierten Vorstellungen zu überwinden, will ich versuchen den Begriff der "Gemeinschaft"soziologisch genauer zu fassen. Beziehung wir uns für einer erste Annäherung auf den Begriff der "Gemeinde", wie er bei Elias und Scotson auftaucht.

Unter »Gemeinde« verstehen wir offenbar das Netzwerk der Beziehungen von Menschen, die als eine Wohneinheit organisiert sind - entsprechend dem Ort, wo sie normalerweise leben.306
(...)
Gemeinden sind im wesentlichen Organisationen von Zuhauselebenden, von home-makers, wie man im Englischen aktiv sagen kann - Wohneinheiten wie städtische Nachbarschaften, Dörfer, Weiler, Hütten- oder Zeltsiedlungen. Man kann sich Gemeinden kaum ohne Frauen und Kinder vorstellen, wohl aber fast ohne Männer.307

In diese Anordnung der Häuser als Wohneinheiten einer Gemeinden ist die verwandtschaftliche Struktur eine Möglichkeit von mehreren. Zeitgenössischen Grossstädte kennen auch andere Möglichkeiten, wie den Einpersonenhaushalt, die Wohngemeinschaften oder das Heim. Bleiben wir zunächst bei dem verwandtschaftlichen Strukturierungsprinzip des »Hauses«. Seit Durkheim wird der Zusammenhalt solcher Gruppen durch die Vorstellung einer »mechanischen Solidarität« erklärt.

Diese Form der Solidarität beruhte "auf einer Homogenität der Werte und des Verhaltens, auf starken sozialen Zwängen, auf Traditionsgebundenheit, Verwandtschaftsbindungen und darauf, dass die Regeln des Zusammenlebens allgemein bekannt und akzeptiert sind."308

Vor dem Hintergrund der Um- und Neugestaltung sozialer Formen, der sich verändernden Organisierung »verwandtschaftlicher« Beziehungen und der Schaffung neuer Einbindungen des »Hauses« in einen Gesamtzusammenhang, stellt sich hier die Frage nach der Bedeutung der »Herkunft«, die eng mit dem Konzept der Verwandtschaft in Beziehung steht, neu. Herkunft und Verwandtschaft verweisen uns wieder auf die Vergangenheit der Gruppe. Wir wissen aber, das die Deutung der Vergangenheit selbst ein Struktur besitzt, die eng verflochten ist mit der Gegenwart und Zukunft der Gruppe. Die "Tradition" steht für diesen Deutungsvorgang. "Tradition" weist eine Ähnlichkeit zum Phänomen der Zwangshandlung in der modernen Psychotherapie auf. Sie liegt im Prinzip der Wiederholung, welches eine Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellt309.

In einem noch zu prüfenden Sinn wendet die Wiederholung die Zukunft in die Vergangenheit zurück, während sie aus der Vergangenheit heraus die Zukunft gestalten.310

In der Anthropologie gelten Gruppen mit mündlicher Überlieferung als sehr traditionsgeprägt und alt. Aber letztlich

können sie nicht beweisen, dass die von ihnen beobachteten »traditionalen Praktiken« mehr als einige Generationen lang Geltung haben.311

Die "Bewahrung von Vergangenheit", mit der die "Tradtion" verbunden ist, sagt also weniger über das Alter und die Vergangenheit aus, als dass sie Auskunft gibt, unter welchen Bedingungen der Gegenwart die Vergangenheit konstruiert wird.

Das Vergangene wird nicht bewahrt, sondern fortwährend von der Gegenwart umgestaltet. Teilweise ist diese Rekonstruktion ein individueller, im wesentlichen aber ist sie ein sozialer oder kollektiver Prozess.312

Für den hier untersuchten Zusammenhang, heisst dies, dass die personale und die soziale Vergangenheit sich durchdringen und sich gegenseitig herstellen. "Tradition" ist so

notwendigerweise ein aktiver interpretatorischer Prozess

und die Wiederholung ist als

Ritual (...) ein praktisches Instrument zum Erhalt des Vergangenen.313

Die Beziehung der eigenen personalen Vergangenheit zur sozialen Vergangenheit der Gruppe wird über die Erfahrungen der personalen Vergangenheit anderer Generationen hergestellt. Diese Beziehung scheint bei vielen der Jugendlichen zerbrochen. Dafür fanden wir in den Interviews eine Entgegensetzung von vormoderner und moderner Welt, die im Sinne Lefebvres eine "doppelte Utopie"von "absoluter Natur" und "reiner Künstlichkeit"314 darstellen. Wir erinnern uns: die Jugendlichen konstruierten diese "doppelte Utopie" als vormenschliche Vergangenheit und technologische Zukunft. Für Lefebvre ist das Sinnbild eines solchen "Anderswos" der städtische Park und der Garten.

Greifen wir nun nochmals die Frage nach der "Tradition" von mündlichen, also schriftlosen Gruppen auf. Die von uns untersuchten Sprechgemeinschaften ähneln zunächst diesen mündlichen, schriftlosen Gruppen. Dennoch können sie nicht einfach als vormoderne Gesellschaften behandelt werden, da sie ja in modernen Gesellschaften entstanden sind. Greifen wir diese "doppelte Utopie" auf und folgen wir zunächst Victor Turner. Er verweist zunächst auf die

... wesentliche Unterscheidung (...) zwischen Symbolsystemen und -gattungen, die vor und solchen, die nach der industriellen Revolution entstandenen Kulturen angehören.315

Die "vorindustriellen", "schriftlosen" Gesellschaften kennzeichnet er folgendermassen:

In »tribalen«, »schriftlosen«, »einfachen«, »kleinen« Gesellschaften jedoch werden Rituale und bis zu einem gewissen Grad auch der Mythos als »Arbeit« aufgefasst.316

Die nach der industriellen Revolution entstandenen Gesellschaften, kennzeichnet er dagegen als:

In Gesellschaften, in denen die Freizeit scharf von der Arbeit getrennt ist, und vor allem in Gesellschaften, die von der industriellen Revolution geprägt worden sind, rückt diese Fähigkeit zur Variation und zum Experiment stärker in den Vordergrund.317

Dieser abtrennende, zerteilende Aspekt der bürgerlichen Gesellschaft lässt »Arbeit« und »Muse« auseinandertreten. Damit, so Turner, verlieren auch »Rituale« ihren allgemeinverbindlichen Charakter.

Gesellschaftliche Tätigkeiten unterliegen nicht mehr den für alle gültigen rituellen Pflichten. (...) Die Arbeit, mit der man seinen Lebensunterhalt verdient, wird von anderen Tätigkeiten getrennt (...). Muse ist hauptsächlich ein städtisches Phänomen.318

Das »Ritual« verlor neben seiner allgemeinen Verbindlichkeit auch seine "Ernsthaftigkeit". Der spielerische Charakter des »Rituals« bekam auch eine spezifischen biographischen Ort, nämlich die Jugend als Übergangsphase von der Kindheit hin zum Erwachsenen, dem "alternden Jugendichen"319.

Für solche "ludischen" Erfindungen eignet sich die Schwellenphase des Rituals, die Seklusionszeit, besonders gut.320

Ben Rampton verweist in seinen Untersuchungen über "language-crossing" in Grossbritannien auf die Wichtigkeit von »Ritualen« als Ort eines spielerischen Handelns von Jugendlichen

in circumstances where fundamental socio-cognitive categories have become the focus of uncertainty and dispute.321

5.5. Sprachmagma322 und Prozesse der Sprachentwicklung

Dieses Unsicherwerden von grundlegenden Kategorien wie die der »Sprache«, machen sie zum Thema von Auseinandersetzungen. Diese Verunsicherung ist auch in der vorliegenden Untersuchung deutlich geworden und zeigte sich als »Verflüssigung« fester Sprachgrenzen. Welche Veränderungen zeigt diese Verunsicherung an? Mit Lefebvre hatten wir uns auf den Weg gemacht, Verstädterung anhand von linguistischen Methoden zu betrachten323. Je mehr wir uns nun der »Sprache« in einer interdisziplinären Art und Weise annähern, desto mehr wird die »Sprache« selbst zum Problem324. Die Vorstellung von »Sprache« als einem vollendetem System wird durch den Gebrauch der »Sprache«, nämlich dem Gesprochenen, als äusserer Schein zerstört325.

Dieser Prozess, den ich als »Magmatisierung« bezeichne, der Verflüssigung einer einst als fest umgrenzte Institution »Sprache« gefassten Vorstellung, dringt tief in die Kommunikationsstruktur des »Hauses« vor. Im Verlaufe der Untersuchung hatten wir die Gestalten der »Einweltler« und der »Mehrweltler« herausgearbeitet. Hier ist nun der Ort, diese Gestalten genauer zu betrachten. »Einweltlern« waren jene, welche sich die Welt als monolithischen, homogenen, verfestigten Block vorstellten. »Mehrweltler« entwickelten dagegen eine Praxis, die auf eine Verflüssigung dieser monolithischen Vorstellung verwies. Diese Magmatisierung von quasi-natürlichen Sprachgrenzen richtete unseren Blick auf die Situation in der Gesprochen wurde. In der Soziolinguistik werden diese Situationen als "Sprechakte" bezeichnet. Ein Sprache sprechen stellt so, nach Searle, eine regelgeleitete Form des Verhaltens dar.

Sprechen bedeutet, in Übereinstimmung mit Regeln Akte zu vollziehen.326

Wenn dies zutreffen sollte, so wäre zu fragen, was für Regeln sind dies und wessen Regeln Geltung erhalten und welche nicht? Wir hatten festgestellt, dass Jugendliche auf verschiedene Formen von Sprache zurückgreifen können. Diese unterschiedlichen Varietäten boten ihnen die Möglichkeit durch die Wahl einer bestimmten Varietät andere Personen in die Kommunikationen ein- und auszuschliessen. Wir haben desweiteren festgestellt, dass sich im »Haus« zwischen den Generationen unterschiedliche Kommunikationsprofile entwickelt haben. Diese unterschiedliche Art der Kommunikation, wurde nicht nur für den Kontext von Einwandererjungendlichen festgestellt, sondern auch für die deutschsprachigen Jugendlichen.

Die Figuren der »Einweltler« und »Mehrweltler« lassen sich damit genauer bestimmen. Sie sind nicht durch ihre "Einsprachigkeit" oder "Mehrsprachigkeit" gekennzeichnet, denn die Vorannahme, dass alle deutschsprachigen »Einweltler« die gleiche Sprache sprechen, nämlich »Deutsch«, wurde im Verlauf der Untersuchung korrigiert. Auch die »Einweltler« benutzten verschiedene Varietäten in der Kommunikation mit ihrer Verwandtschaft. So löste sich das homogene »Deutsche« in unterschiedliche Varietäten auf327. Hier scheint die Erfahrung von Vielsprachigkeit und der magmatischen Qualität von Sprachgrenzen zeitlich weiter zurückzuliegen. Es scheint fast so, dass die Erstarrung des Sprechens zur Sprache, einem System von Zeichen, als historischer Prozess zu fassen ist. Magmatisierung und Erstarrung bezeichnen so vermutlich einen Prozess der permanenten Sprachbildung. Die Ausgrenzung des alltäglichen Sprechens und damit der Dominanz der abstrakten Sprache, als einem System von Zeichen, findet sich bei berühmten Sprachforschern wie de Saussure, Bühler328, Cassirer, Gomperz und Hymes.

Zunächst ist zu konstatieren, dass es hauptsächlich der Bereich des Sprechens ist, der vernachlässigt wurde, und nicht der der Sprache allgemein. Diese Ausschliessung ging von der Annahme aus, dass im Gegensatz zur Sprache (langue) dem Sprechen (parole) kein System inhärent wäre (de Saussure 1916). (...) Das Objekt der linguistischen Beschreibung wurde für mehr oder weniger homogen gehalten; es herrschte die Vorstellung von der Gleichheit und Identität einer Kultur und einer Sprache (one culture = one language, Hymes 1962)329

Dennoch war die Vorstellung von Sprache auch bei de Saussure nicht so fest.

De Saussure erkannte bereits, dass die Frage, wie sich eine Sprache ändert und welche Mechanismen zu ihrer Änderung führen, nicht alleine eine linguistische ist, sondern dass Sprachänderungen nur auf dem Hintergrund konkreter gesellschaftlicher Zustände und Entwicklungen begreifbar sind.330

Die Frage, wie sich Sprachen verändern und neue Sprachformen entstehen, ist für unseren Untersuchungszusammenhang zentral. Das »gemischte Sprechen«, diese Sprache, die unter den Jugendlichen noch keinen Namen hat, verweist auf diese Sprachänderungsprozessen.

Die Erneuerung von innen her erlangt ihre volle Stärke und Intensität erst dann, wenn die Sprache nicht lediglich der Vermittlung und Weitergabe eines festen Kulturbesitzes dient, sondern stattdessen zum Ausdruck eines neuen individuellen Lebensgefühls wird.331

Dieses etwas unpräzise "individuelle Lebensgefühl" bei Cassirer, soll in eine "Form" überführt werden.

Die Formsprache gewinnt eine solche Festigkeit, dass bestimmte Themata mit bestimmten Weisen des Ausdrucks fest verwachsen scheinen, dass sie uns immer wieder in denselben oder leicht modifizierten Formen begegnen.332

Anders ausgedrückt: das personale Sprechen muss in sozialen Sprache überführt werden. Der Frage der Verfestigung dieser sozialen Sprache zu einer Formsprache und daran geknüpft die Frage nach ihrer Standardisierung und Struktur, an der Cassirer interessiert ist, werde ich in anderem Zusammenhang nochmals aufgreifen. Wer stellt diese Beziehung zwischen dem personalen Sprechen und der sozialen Sprache her? Cassirer führt die Figur des »Künstlers« ein, der in der Auseinandersetzung mit dem »Sprachmagma« formend tätig wird.

Kein Künstler kann seine Sprache wirklich sprechen, wenn er sie nicht zuvor in dem steten Verkehr mit seinem Material erlernt hat333

In diesem Sinne ist die untersuchte Stadtlandschaft bevölkert mit Sprachkünstlern des Alltags, die formend tätig sind. Für Lefebvre ist "das Urbane" genau dieses:

Dem Formlosen, Verstreuten, dem Ungeordneten eine Form geben. Diese Form ist dann das Ende. Die Aufgabe der Erkenntnis ist es nun diesen Prozess zu beherrschen.334

Betrachten wir weitere Aspekte. Das »Kauderwelsch«, das »gemischte Sprechen« weist Ähnlichkeiten zu dem auf, was in der Linguistik als »Pidginisierung« bezeichnet wird.

Wie wir bereits gesehen haben, ist sie (Pidgin, AH) zum Zeitpunkt ihrer Entstehung und Entwicklung nicht sofort Muttersprache der sozialen Einheit, in der sie verwendet wird; sie kann diesen Stand aber in einer späteren Entwicklungsphase erreichen, und in ihr würde man sie dann, Hall (1962) folgend, eine Creole-Sprache oder kurz »Creole« nennen.335

Die Praxis des »gemischten Sprechens« innerhalb des »Hauses« legt die Vermutung nahe, dass wir es aber mit tieferliegenden Sprachänderungsprozessen zu tun haben. Das »gemischte Sprechen« scheint sich in bestimmten Kommunikationskonstellation dem Status einer "Muttersprache" anzunähern und hätte so die Qualität einer "Pidgin"-Sprache. "Pidgin"-Sprachen wird in der Linguistik folgende Eigenschaften zugeschrieben.

Bei der Verwendung einer bestimmten Sprache als »lingua franca« in einer anderen sozialen Einheit ist naturgemäss häufig eine Modifizierung dieser (die »lingua franca« konstituierende) Sprache zu beobachten. Das heisst, der soziale Prozess, in dem eine Sprache zur »lingua franca« wird, bringt im allgemeinen den Verlust von Teilen des Vokabulars oder Vereinfachung in der phonologischen Struktur sowie der Grammatik mit sich. Wenn die Struktur einer Sprache solche Modifikationen erfährt, dann nennt man sie »pidginisiert«. Wesentliches Kennzeichen des Pidgin ist, dass es nicht aus einem Konglomerat verschiedener natürlicher Sprachen besteht, sondern seine Wurzeln in einer natürlichen Sprache hat.336

»Creolisierung« und »Pidginisierung« beschreiben zeitlich unterschiedliche Zustände der "Magmatisierung" und der "Erstarrung" von Sprachen337.

Im Sprechen über die Veränderbarkeit von Sprachen in der Zeit finden sich analoge Vorstellungen in Aussagen von Jugendlichen, wie auch in denen von Sprachwissenschaftlern. Diese Vorstellung weisen Analogien zu der Vorstellung von Natur auf:

Es scheint fast so als würde unsere Jugendlichen, wie auch manche Sprachwissenschaftler den magmatische Ursprung der verfestigten Sprache mythologisieren, den Ursprung in eine tiefe Vergangenheit verlegen. Dagegen hebt sich eine Vorstellung von Sprache, die diese als prinzipiell veränderbar sieht, ab.

Aus unserer Untersuchung heraus könnte wir die Sprachpraxis der »Mehrweltler« als "dichter" dran am Sprachmagma beschreiben, während die »Einweltler« näher an der Sprachverfestigung dran sind. So beschreiben die Kategorien der »Ein- und Mehrweltler« auch eine zeitliche Dimension von "alten" und "neuen" sozialen Gruppen, wobei die »Mehrweltler« eine Bewegung in Richtung Zukunft und Verfestigung beschreiben, während die »Einweltler« die Vergangenheit als mythologischer Ursprung einer andauernden, unveränderbaren, statischen Gegenwart beschreiben.

5.6. Das Liminoide

Während sich die bisherigen Reflexion auf den ethnographischen Ort des »Hauses« fokussierten, wollen wir uns nun dem Übergang zur Strasse zuwenden. Das Überschreiten dieser Schwelle, die man im Lateinischen "limen" nennt, hat symbolische Bedeutung in mehrerlei Hinsicht. Diese Schwelle bildet nicht nur den Übergang von der privaten zur gemischten Dimension der Verstädterung338, sondern auch den Übergang von der Kindheit zur Jugend. Das »Haus« wird verlassen und neue Erfahrungen, können auf der »Strasse« gemacht werden. Elias und Scotson charakterisieren diesen Übergang.

Bei jedem Menschen ist der Übergang von der Identifizierung mit seiner Familie zu einer mehr oder weniger individuellen Identität eine kritische Phase seines Wachstumsprozesses.339

Die Veränderungen im Verhältnis von »Haus« und »Strasse«, spiegeln sich auch in einer veränderten »Reichweite« wider. Diese »Reichweite« kann auf dem einen Pol ein vollständiger Einschluss in das »Haus« bedeuten, wie es bei manchen Mädchen unserer Untersuchung der Fall war, bis zum anderen Pol, dem vollständigen Ausschluss aus dem »Haus«, wenn der oder die Jugendliche auf der »Strasse« lebt. Dies scheinen gleichzeitig auch Pole der Freiheit und der Unfreiheit zu sein. Das Verhältnis von »Haus« und »Strasse« spielt sich aber beim Grösstenteil der Jugendlichen zwischen beiden Polen ab, wobei geschlechtsspezifische Aspekte jeweils den einen oder anderen Pol betonen. Bestimmt scheint diese »Reichweite« durch das was Elias und Scotson als »Figuration« bezeichnen.

Wenn man sich einfach die verfügbaren Belege ansieht, bleibt einem nur der Schluss, dass Figurationen die Reichweite individueller Entscheidung beschränken und in vieler Hinsicht eine zwingende Kraft haben - auch wenn ihre Macht nicht, wie es oft dargestellt wird, ausserhalb der Individuen liegt, sondern lediglich von der Interdependenz zwischen den Individuen herrührt.340

Das Überschreiten der Schwelle des »Hauses« wird in der Ethnographie auch als Übergang von einem früheren sozialen Status zu einem anderen gefasst. Lefebvre weist auf die Wichtigkeit der »Strasse« hin, den dort wird das urbane Leben erst erschaffen341. Sie ist der Ort der Begegnungen, Cafés, Theater und andere Versammlungsorte befinden sich dort; sie stellt eine privilegierte Öffentlichkeit dar, an dem Akteure und Zuschauer teil eines Schauspiels sind. Der Übergang von einem Ort, einer Lebensphase, einem sozialen Status zum nächsten, wird in der ethnographischen Forschung als "liminale Phase" bezeichnet und beginnt mit der Loslösung und Trennung. Ihr folgt ein Zwischenstadium, eine Phase der Umwandlung, welche durch Ambiguität gekennzeichnet ist. Abgeschlossen wird die "liminale Phase" durch die "Angliederung", die "Inkorporation". Es ist eine Rückkehr in die Gesellschaft zu neuen, relativ stabilen und genau definierten Positionen. Victor Turner unterscheidet zwischen industriellen und vorindustriellen Gesellschaften. Dies bringt ihn dazu, zwischen dem »Liminalen« der vorindustriellen und dem »Liminoiden«

(»-oid« leitet sich vom griechischen -eidos, Form, Gestalt, her und bedeutet »wie, ... artig, ähnlich; »liminoide« ähnelt den liminalen Phänomene, ohne ihnen ähnlich zu sein).342

der industriellen Gesellschaften zu unterscheiden.

Der Übergang von einem sozialen Status zum anderen ist oft mit einem Raumwechsel, einer geographischen Ortsveränderung verbunden.
(...)
Manchmal folgt auf die räumliche Symbolik ein tatsächlicher und permanenter Wohnortwechsel oder eine Veränderung der geographischen Handlungssphäre, (...).343

Die »Strasse« weist Qualitäten dieses »Liminoiden« auf. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung ist die »Strasse« durch eine merkwürdige symbolische Verdrehung gekennzeichnet. Sie bedeutet im Gegensatz zum »Haus« die Unordnung. Lefebvre weist uns daraufhin, dass diese Unordnung eine "höhere" Ordnung schafft344. Erst die Funktion der »Strasse« als Symbol, als Ort des Spiels, der Information und des Lernens macht sie zum zentralen Ort des Urbanen. Verstädterung, so Lefebvre, bedeutet eine Konzentration von Objekten und Symbolen. Dort kann jede Eigenart in den Rang von Unterschieden erhoben werden, die zum Brennpunkt werden: Unterschiede lokaler, "ethnischer", sprachlicher, ästhetischer oder ethischer Art345.

Schauen wir uns zunächst die spezifische Form des Zusammenhalts in kleinen, schriftlosen Gesellschaften an, als die wir das »Haus« in unserer Untersuchung gefasst haben.

Durkheim sah in der »mechanischen Solidarität« die Form des sozialen Zusammenhalts und des auf die Erreichung der Gruppenziele gerichteten kooperativen,kollektiven Handelns, die am besten zu kleinen, schriftlosen Gesellschaften mit einfacher Arbeitsteilung und sehr geringer Toleranz gegenüber Individualität passt.346

Die Freiheit und Selbstbestimmung der »Strasse« erscheinen als die Negation der Rigidität des »Hauses«. In unserer Untersuchung hatte wir festgestellt, dass die Bindung der »Strasse«, also "die Form des sozialen Zusammenhalts" der Personen untereinander sich mit der Grösse der Gruppen verändert. Der Intimität und Verletzlichkeit der Beziehungen kleiner Personengruppen steht die schutzgebende, auf Altershierachie beruhende Fähigkeit grosser Personengruppen gegenüber. Eher egalitäre Formen amalgamieren mit hierarchischen Formen und genau dieses

Verwischen und Verschmelzen von Unterschieden (charakterisiert) die Schwellen- bzw. Umwandlungsphase.347

Dabei werden auch die "Initianten", so nennt Turner die an einem Übergangsritus Beteiligten,

mit Gegensätzen solch allgemeiner Art wie Leben/Tod, männlich/weiblich, Nahrung/Exkremente in Verbindung [gebracht]. Die symbolische Umkehrung sozialer Eigenschaften charakterisiert die Trennungsphase...348

Diese Verkehrungen, Verwischungen und Verschmelzungen scheinen charakteristisch für die Schwellenphase der »Jugend« und der »Strasse« zu sein. »Jugend« und »Strasse« sind historisch betrachtet, daran erinnert uns Benedict Anderson, neue Erscheinungen des aufkommenden Nationalismus.

Both in Europe and in the colonies 'young' and 'youth' signified dynamism, progress, self-sacrificing idealism and revolutionary will.349

»Jugend« tritt als die Gemeinschaft von Gleichen auf, die Bewegung, Fortschritt, selbstaufopfernden Idealismus und einen Willen zur Veränderung darstellt. Diese imaginierten Gemeinschaften schaffen eine andere Form der Solidarität als die im »Haus« beschriebene. Die bürgerliche Klasse, so Anderson, sei historisch die erste Klasse, der es gelungen sei Solidarität auf einer im wesentlichen imaginierten Grundlage zu erreichen350. Auch die vorgestellte Gemeinschaft bei Zygmunt Baumann lassen sich dem »Haus« entgegensetzen.

Und dennoch kann die vorgestellte Gemeinschaft zuweilen weitaus mächtiger sein als der Tönniessche Typ der 'Gemeinschaft durch Trägheit' (Gemeinschaften, die durch blosse physische Nähe und die Abwesenheit von Bewegung kraftlos fortbestehen) es jemals war.351

Ins Zentrum rücken hier die unterschiedlichen Formen des »sozialen Kitts«, welche diese Gruppen der »Strasse« zusammenhält und wie sie diesen Kitt erzeugen.

Existieren heisst, dargestellt werden; ich werde gesehen, also bin ich - die vorgestellte Gemeinschaft mag dies als ihre ureigenste Version des cogito setzen.352

Der Begriff der »Darstellung« (representation/performance353) erscheint mir hier wichtig um die Rolle der »Strasse« als Ort einer privilegierten Öffentlichkeit besser zu verstehen.

Gerade durch den Prozess der Darstellung wird das, was normalerweise hermetisch in den Tiefen des soziokulturellen Lebens verschlossen, der Alltagsbeobachtung und dem Verstand nicht zugänglich ist, ans Licht befördert - Dilthey verwendet hier das Wort ausdrücken, im Sinne von "herauspressen".354

Die »Strasse« lässt sich so als "Theater", also als bürgerliche Öffentlichkeit par excellence fassen, in dem jeder sozusagen gleichzeitig als "DarstellerIn/AkteurIn" und als "Publikum/ZuschauerIn" tätig ist. Darstellen kann als expressive Tätigkeit gefasst werden, die auf die rezeptive Tätigkeit des Publikums angewiesen ist.

5.7. Soziale Konstruktionsprozesse

Nun werde ich versuchen die Strukturprinzipien dieser "privilegierten Öffentlichkeit" genauer zu fassen. Wie sind diese Interaktionen zwischen "DarstellerIn/AkteurIn" und "Publikum/ZuschauerIn" theoretisch zu konzeptionieren und welche Probleme treten bei diesem Versuch auf? Betrachten wir das symbolische Verhältnis von »Jugend« und »Strasse«, so fällt zunächst ein altbekannter Widerspruch auf. Der abstrakten Forderung nach der Gleichheit aller Menschen, stehen die konkreten Qualitäten der Ungleichheit und des Ausschlusses gegenüber. In der Frage nach der Bedeutung des Geschlechts für die Herstellung von Gruppenstruktur wird dies anschaulich. In unserer Untersuchung hat sich der Kontakt zwischen den Geschlechtern als schwierig erwiesen. Das grundlegendere Problem lag in der Art und Weise wie Geschlechter sozial hergestellt wurden. Es wurde deutlich, dass die Produktion von »Männlichkeit« unter den Jugendlichen über den Ausschluss von » Weiblichkeit« erfolgte. Eine besondere Rolle kam dabei der Gestalt des »Schwulen« zu, durch dessen Ausschluss erst eine Vorstellung von »Männlichkeit« innerhalb männlicher Jugendlicher produziert werden kann. Das Grundprinzip scheint ein bipolare Konstruktion zu sein. Aus der ethnographischen Forschung weiss man, dass das Modell einer auf zwei Geschlechtern beruhenden Konstruktion historisch nicht universal ist355. Die Herstellung eines bipolaren Geschlechterkonstrukts erweist sich so als charakteristisch für westliche Gesellschaften, aber nicht als universal. Entsprechend ist die Sprache, die beide Geschlechter miteinander sprechen, eine räumlich und historisch bedingte. Bonnie McElhinny356 stellt in ihrem Beitrag die feministischen Forschungen und Diskussionen zu der Frage, ob es so etwas wie eine »Frauensprache«gibt, dar. Sie erörtert die Frage anhand der Dichotomie von »öffentlicher« (public) und privater (privat) Sprache. Dies entspricht in etwa meiner Fassung des personalen Sprechens und der sozialen Sprache. Sie kritisiert die in den Sozialwissenschaften übliche Dichotomisierungen (z.B. Kultur versus Natur; Geist versus Körper; rational versus emotional; aktiv versus passiv357) in drei Punkten:

  1. Die Betonung der Teilung der Sphären, anstatt ihrer gegenseitigen Durchdringung (interpenetration)

  2. Die Theorie der sozialen Identität, die ihren Blick auf eine abstrakten Individualismus fokusiert.

  3. Die Idealisierung "brüderlicher" (fraternal) Interaktion358.

In diesem Zusammenhang verweist sie auf die historische Rolle, welche der Soziolinguistik und der linguistischen Ethnologie zukommt. Sie begreift sie als

systematic attempt to dismantle structuralist dichotomies that have oversimplified or distorted our understandings of language as social life.359

Der hier vorliege Versuch stellt sich dieser Kritik, hält aber dennoch an der heuristischen Verwendung von dichotomisierten Konstruktionen im Sinne der Idealtypen von Max Weber fest.

Der Idealtypus hat zwar für die Hypothesenbildung einen nicht zu verkennenden heuristischen Wert; er wird aber dann überstrapaziert, wenn man Generalisierungen auf seinem bis dahin relativ unspezifizierten Aussagenfeld vornimmt.360

Diese Vorgehensweise zielt auf den

Begriff als Produkt des dialektischen Denkens.361

Dabei darf die relationale Beziehung der Begriffe zueinander nicht zerstört werden. Das »personale Sprechen« an sich ist ebensowenig zu finden wie die »soziale Sprache«. Sie bilden eine Beziehung und durchdringen und bedingen sich gegenseitig. Entlehnt ist diese Begriffsbildung aus den Untersuchungen Goffmans über das »Stigma«362. Aus der Untersuchung von Stigmatisierungsprozessen entwickelte er die Begriffe der personalen und sozialen Identität363. Goffmann gibt uns dort einen Hinweis über den Vermittlungsprozess zwischen »Darsteller« und »Publikum«: die soziale Information.

Die Information, wie auch das Zeichen, durch das sie vermittelt wird, ist reflexiv und verkörpert; das heisst, sie wird durch eben die Person, von der sie handelt, vermittelt, und sie wird vermittelt durch körperlichen Ausdruck in der unmittelbaren Gegenwart derer, die die Äusserungen empfangen. Eine Information, die alle diese Eigenschaften besitzt, werde ich hier »sozial« nennen. Einige Zeichen, die soziale Information vermitteln, können häufig und sicher verfügbar sein, routinemässig gesucht und entgegengenommen; diese Zeichen sollen »Symbole« genannt werden.364

Auch in unserer Untersuchung verliefen Ein- und Ausgrenzungsprozesse entlang körperlicher Merkmale, aber auch über Zugehörigkeiten zu "nationalen" Gruppen. Diese Zeichen, die auch Victor Turner »Symbole« nennt, vermitteln »Informationen«. Was sind Informationen? George H. Mead scheidet den Begriff der »Information« von dem der »Erkenntnis«.

Ich nehme die genauere Darstellung dieser Theorie des Geistes vorweg, um meine Unterscheidung zwischen Information und Erkenntnis als Entdeckung durch Schlussfolgerung klarzumachen.
(...)
Die Verlässlichkeit der Beobachtung oder Information selbst verlangt jedoch eine bestimmte Art der Verifizierung, nämlich ihre Wiederholung entweder in der Erfahrung des Individuums oder in den Aussagen anderer Zeugen, und hier finden wir, wie oben angemerkt, die Quelle der Abbild-oder Korrespondenz- Theorie der Erkenntnis. Wäre Information nämlich Erkenntnis, dann spräche alles für die Abbild-Theorie der Erkenntnis.365

Die Wahrnehmung der »Symbole« durch das »Publikum« scheint zunächst nur der Informationsvermittlung über die Eigenschaften der betreffenden Person zu dienen. Die »Sichtbarkeit« dieser Zeichen, die Visibilität dieser »Symbole« ist bei Goffman aber an die rezeptiven Fähigkeiten des »Publikums« gebunden.

Im allgmeinen muss demnach die entziffernde Fähigkeit des Publikums spezifiziert werden, bevor man vom Visibilitätsgrand sprechen kann.366

Die »Sichtbarkeit« wird bei Goffman zu einem »Spiel« der "Verheimlichung" und "Enthüllung". Sich "auszudrücken" war auch eine Schwierigkeit der mehrsprachigen, wie auch einsprachigen Jugendlichen unserer Untersuchung. Diese "Ausdrucksschwierigkeiten" scheinen nicht unbedingt mit der Frage verbunden, ob man »Deutsch« sprechen kann, sondern betreffen die »Normsprache« wie auch die »Herkunftssprache«. Victor Turner hatte mit einem Verweis auf Dilthey den »Ausdruck« in Zusammenhang mit der »Darstellung« und der performance gebracht. Wir können diese »Ausdrucksschwierigkeiten« nun besser als eine Störung in der Beziehung von personalem Sprechen und sozialer Sprache begreifen. Die »verfestigten« Formen der »Normsprache367« lassen nur begrenzte Möglichkeiten zu, sich in dieser darzustellen. Man ist geneigt zu sagen, die Repräsentation ihres personalen Sprechens gelingt nur schwer und bleibt unsichtbar.

"Dabei ist es wichtig zu sehen, dass die Sprachökonomie einer Gruppe bei Hymes nicht von der Homogenität oder den geographischen Grenzen eines linguistischen Codes bestimmt wird, sondern direkt aus den gesellschaftlichen Bedingungen dieser Gruppe. Für ihn ist die Sprache ein Vorbereich im kulturellen Muster, d.h. nicht identisch mit der kulturellen Struktur einer Gruppe selbst. Dadurch können mehrere Sprachen in den Sprachgebrauch einer Kultur eingehen und innerhalb dieses kulturellen Rahmens funktional sein. Für ihn gilt nicht: eine Sprache = eine Kultur, sondern es erscheint ihm durchaus denkbar und funktional, dass mehrere Sprachen in einer einzigen Kultur integriert sind.368

Fishman macht diese "Variabilität des Sprachgebrauchs" zum seinem Forschungsgegenstand369. Ihn interessiert, warum es manchmal so oder so ist. "Sprachmuster" und "speech events" sind soziale Institutionen, oder zumindest normierte Verhaltensbereich und regeln die soziale Verteilung des Sprechens und des Nicht-Sprechens in einer Gemeinschaft. Um im Bild des Verhältnises von »Hintergrund« und »Vordergrund« zu bleiben, könnte man fragen, warum die Sichtbarkeit im hier untersuchten Kontext so eingeschränkt ist? Es ist die »Herkunftssprache«, die als problematisch und schwierig erfahren wird. Es scheint eher so, dass die »Ausdrucksschwierigkeit« der untersuchten Jugendliche eher als soziale »Sprachlosigkeit« zu fassen ist, die in der Unfähigkeit des Publikums begründet liegt, expressive und rezeptive Fähigkeiten, die für einen dialogische Erkenntnisfortgang notwendig sind, miteinander zu verknüpfen. Diese »Sprachlosigkeit«, so habe ich versucht herauszuarbeiteten, ist keine allgemeine, sondern es lassen sich die Situation genau beschreiben in denen gesprochen, geschwiegen und nach Ausdruck gerungen wird. Diese "Abweichungen" von der »Normsprache«, soziologisch würde man wohl »Devianz« sprechen, kann mit Berger und Luckmann unter dem Aspekt der "Beteiligung" betrachtet werden.

Deviance form the institutionally 'programmed' courses of action becomes likely once the institutions have become realities divorced from their original relevance in the concrete social processes from which they arose. To put this more simply, it is more likely that one will deviate from programmes set up for one by others than from programmes that one has helped establish oneself.370

274 Mead, George H.: Gesammelte Aufsätze. (1987: 44)

275 Lefebvre, Henri: Einführung in die Modernität. Zwölf Präludien. (1978: 199)

276 Ebd.: 199

277 Middell & Sammler: Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der ANNALES in ihren Texten 1929-1992.(1994: 349)

278 Ebd.: 350

279 Ebd.: 326

280 Lefebvre, Henri: Die Revolution der Städte. (1990: 25)

281 Ebd.: 183

282 Ebd.: 206

283 siehe dazu Kapitel 2

284 Duranti, Allessandro: Linguistic anthropology.(1997: 56)

285 Ebd.: 57

286 Ebd.: 58

287 vgl. Wandruszka, Mario: Die Mehrsprachigkeit des Menschen (1979).

288 Elias & Scotson: Etablierte und Aussenseiter. (1993)

289 Ebd.: 241

290 Ebd.

291 Ebd.: 247

292 Simmel, George: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band II. (1995: 764)

293 Ebd.: 765

294 Elias & Scotson: Etablierte und Aussenseiter. (1993: 248)

295 Ebd.: 249

296 Ebd.: 239

297 Simmel, George: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band II. (1995: 688)

298 Ebd.: 687/688

299 Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Instutition. Entwurf einer politischen Philosophie. (1990)

300 Ebd.: 218

301 Middell & Sammler: Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der ANNALES in ihren Texten 1929-1992. (1994:172/173)

302 Simmel, George: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band II. (1995: 692)

303 Middell & Sammler: Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der ANNALES in ihren Texten 1929-1992. (1994: 125)

304 Ebd.: 310

305 Kellner, Douglas in: Owen, David (Hrsg.): Sociology after Postmodernism. (1997: 138-157)

306 Elias & Scotson: Etablierte und Aussenseiter. (1993: 234)

307 Ebd.: 235

308 Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. (1995: 64)

309 Beck, Giddens & Lash: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. (1996: 129)

310 Ebd.: 123

311 Ebd.:

312 Ebd.: 124

313 Ebd.: 125

314 Lefebvre, Henri (1990: 142)

315 Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. (1995: 44)

316 Ebd.: 45

317 Ebd.: 42

318 Ebd.: 54/55

319 Lefebvre, Henri (1990: 78)

320 Turner, Victor (1995: 47)

321 Rampton, Ben: Crossing. Language and ethnicity among adolescents. (1995: 19)

322 Den Begrif des »Magmas« habe ich von Cornelius Castoriadis (Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie.) entlehnt. Castoriadis 1990: 398

323 Lefebvre, Henri (1990: 57)

324 Ebd: 62-63

325 Ebd: 184

326 Searle, John R.: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. (1983: 38). Den Begriff des »Sprechaktes« findet man auch schon bei Wittgenstein, Malinowski und Austin. In: Duranti, Allessandro: Linguistic anthropology (1997: 218-244) findet sich eine Darstellung der unterschiedlichen Konzeptionen und eine Kritik an der »Sprechakttheorie«.

327 Dies zeigen auch andere Untersuchungen, so z.B. Wandruszka, Mario: Die europäische Sprachgemeinschaft. Deutsch - Französisch - Englisch - Italienisch - Spanisch im Vergleich. (1990)

328 Bühler, Karl: Die Axiomatik der Sprachwissenschaften. (1969: 27/28)

329 Hartig & Kurz: Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik. (1971: 44/45)

330 Ebd.: 19

331 Cassirer, Ernst: Geist und Leben. Schriften. (1993: 122)

332 Ebd.: 125

333 Ebd.

334 Lefebvre, Henri (1990: 134)

335 Hartig & Kurz: Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik. (1971: 217)

336 Ebd.

337 Wie konkret diese neue "erstarrte" Form aussieht, war nicht Gegenstand dieser Arbeit. Dazu verweise ich auf die Forschungsarbeit von Peter Auer und Inci Dirim. Sie wenden sich konkreten Sprachdaten zu und untersuchen diese konversationsanalytisch. Diese Untersuchung wird Hinweise über Strukturbildungen geben, und die Frage der »Verfestigung« weiter beantworten. Die Untersuchung wird an der Universität Freiburg durchgeführt, da Prof. Dr. Auer seit dem Sommersemester 1998 dort eine Professur angenommen hat. Der Untersuchungsort wird Hamburg bleiben.

338 Lefebvre unterscheidet private, gemischte und globale Dimensionen. In der vorliegenden Arbeit sind diese Dimensionen als Haus, Strasse und Institution gefasst. Lefebvre, Henri (1990: 86)

339 Elias & Scotson: Etablierte und Aussenseiter. (1993: 266)

340 Ebd.: 267

341 Lefebvre, Henri (1990: 24)

342 Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. (1995: 49)

343 Ebd.: 36/37

344 Lefebvre, Henri (1990: 25)

345 Ebd.: 46-47

346 Ebd.: 63/64

347 Ebd.: 38

348 Turner, Victor (1995: 38)

349 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. (1991: 119)

350 Ebd.: 77

351 Bauman, Zygmunt: Ansichten der Postmoderne. (1995: 19)

352 Ebd.: 19/20

353 Eine performance ist eine kunstvolle Darbietung.

354 Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. (1995: 17)

355 Indigene Gesellschaften in den beiden Teilen Amerikas kennen durchaus Geschlechterkonstruktionen, die nicht bipolar konstruiert sind. Hinweisen möchte ich auch auf die Rolle des Transvestiten und Transsexuellen in den mediteranen Gesellschaften, die ja für ihren ausgeprägten »Machismo«bekannt sein sollen. Offensichtlich scheint die Betonung von Männlichkeit nicht nur mit der Trennung des weiblichen vom männlichen Geschlecht verbunden, sondern gleichzeitig mit der Figur des »Transsexuellen«. Da hier nicht die Konstruktion der Geschlechter das Thema ist, muss ich mich auf diese Hinweise begrenzen. Nur soviel: die Konstruktion des »Schwulen« oder modernen Homosexuellen wären in diesem Kontext zu erforschen.

356 McElhinny, Bonnie: Ideologies of public an private language in sociolinguistics. (1997: 106-139)

357 Ebd.: 127

358 Ebd.: 107

359 Ebd.: 127

360 Hartig & Kurz: Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik. (1971: 84)

361 Horkheimer & Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. (1989: 38)

362 Goffman, Erving (1996): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität.

363 Ebd.: 9/10

364 Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. (1995: 58)

365 Mead, George H.: Gesammelte Aufsätze. (1987: 43/44)

366 Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. (1996: 67)

367 »Deutsch« und »Türkisch« sind beides auch »Normsprachen« im Kontext eines Nationalstaates

368 Hartig & Kurz: Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik. (1971: 36/37)

369 Fishman, Joshua A.: Soziologie der Sprache. Eine interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Betrachtung der Sprache in der Gesellschaft. (1975: 26)

370 Berger & Luckmann: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge. (1966: 80)