Erinnerungsspuren: Aspekte personaler und sozialer Erinnerung
Die dunklen und die goldenen Zeitalter - Flower Power und Jurassic Park
Herstellung gegenwärtiger Interaktion
die Zeit der Raum die Gruppe
Katastrophen und Paradiese: technologisierte Utopien
Dialektik der Veränderung und Statik der Kontinuität
Die Erinnerung an die Vergangenheit, die Produktion der Gegenwart und die Antizipation der Zukunft bilden drei Perspektiven auf das Phänomen der Zeit. Aus der Perspektive der Jugendlichen ist dies der Blick auf die vergangene Kindheit, auf die Situation der Gegenwart und auf den zukünftigen weiteren Lebensweg. Lefebvre spricht vom Altern als einer Entwicklung vom Kind über die Jugend zum alternden Jugendlichen, vom unreifen Wesen, das nach Reife strebt270.
Marx war der Ansicht, erst als Erwachsener könne der Mensch seinen Anfang, vielleicht seinen reicheren und komplexeren Entwurf das Kind als Wesen und als etwas Wirkliches verstehen.271
Aus dem Alltagsverständnis heraus würde man die Zeit linear anordnen (Vergangenheit, Gegenwart und Zunkunft) und ihr eine Richtung zuschreiben. Gleichzeitig macht man auch die Alltagserfahrung, dass das Konzept der Zeit selbst erst mit dem Entwicklungsprozess entsteht. Für das Kind ist Zeit etwas anderes als für den Jugendlichen. Für den Jugendlichen etwas anderes als für den alternden Jugendlichen. Wie zeigen sich die Aspekte der Zeit als ein Bewusstseinsphänomen in den Aussagen unserer Jugendlichen?
Wenden wir uns zunächst der Erinnerung an die Vergangenheit zu. Die Herkunft der hier untersuchten Jugendlichen steht mit der eigenen, persönlichen und den sozialen Vorstellung von Vergangenheit in Verbindung. Uur hatte im vorherigen Abschnitt seine persönliche Vergangenheit mit einer allgemein vorherrschenden Vorstellung von Geschichte konfrontiert.
Es ist ja auch meistens so, viele denken, viele Neonazis: "Ach, die Ausländer, die sind hierher gekommen und haben unsere Jobs gestohlen." Das liegt eigentlich daran, die Ausländer haben zu seiner, zu der Zeit sehr viel gearbeitet; Deutschland überhaupt mit aufgebaut. Deutschland wäre vielleicht nicht an dem Punkt, wo es jetzt wäre. Da haben sehr viele mitgehalten, es aufzubauen.
(Uur, Schule C, 27-Uf., 27-Yu.) 1.9.95
Er heftet, um mit Georg Simmel zu sprechen, an eine bestimmte Stelle innerhalb des Zeitsystem seinen Wirklichkeitsinhalt und macht ihn damit zu einem historischen.
Ein Wirklichkeitsinhalt ist dann ein historischer, wenn wir ihn innerhalb unseres Zeitsystems an eine bestimmte Stelle geheftet wissen - wobei diese Bestimmtheit mannigfache Genauigkeitsgrade haben mag. Dieses Selbstverständliche und Triviale wird sich gegenüber tiefer und weiter scheinenden formalen Definitionen des Geschichtlichen doch als die entscheidendere zeigen.272
Um die Beziehung der einzelnen Personen zu den sozialen Aspekten zu fassen, hatte wir das personale Sprechen und die soziale Sprache geschieden. Hier zeigt sich ein ähnliches Bild. Die Wahrnehmung des persönlichen Aspekts der Vergangenheit widerspricht dem sozial wahrgenommenen Aspekt der Vergangenheit. Um diese Differenz zu markieren wollen wir analog die Unterscheidung zwischen »personaler« und »sozialer« Erinnerung einführen. Die Zeit, welche die Jugendlichen als »Früher« bezeichnen, die Vergangenheiten aus denen die Jugendlichen berichten, gestalten einen Hintergrund, vor dem sich die Gegenwart, das Jetzt abhebt. Durch diese Vorder/Hintergrund-Differenz zeigen sich Aspekte einer Gestalt der Zeit.
Ein Aspekt ergibt sich aus der Differenz zwischen einer Vergangenheit die als positiver Hintergrund für eine negativ konturierte Gegenwart dient. Draganas Erinnerungen kreisen um dieses positive »Früher«, welches für sie im ehemaligen Jugoslawien territorialisiert ist.
INTERVIEWER/IN: Wie sieht es dort aus (in Kroatien, d. I.)?
Ja, wohl vor zehn Jahren noch gut, ne? Weiss ich nicht. Also besser als jetzt auf alle Fälle. Also, ich war vor zehn Jahren da und, ich meine, damals fand ich es gut, und ich glaube, ich würde dann da lieber leben als hier.
(Dragana, Schule C, 20-Dr.) 1.9.95
Für sie ist es das Damals, welches an jenem anderen Ort das Positve darstellt. Die vergangene Zeit ist verknüpft mit einen anderen Raum. Ihre Vergangenheit zeigt einen zeit-räumlichen Aspekt den wir als heterotopisch fassen können. Konstantin, der in Lodz geboren wurde, verbindet mit seinen Erinnerungen Positives an die Ferien im letzten Jahr. Der frühere Ort ist für ihn verknüpft mit Erinnerungen an die an diesem Ort gemachte Erfahrungen.
Also, ich würde dann wahrscheinlich meine Freundin aus dem letzten Jahr mitnehmen. Sie heisst Luisa, ist aus Polen. Und würde halt ein Jahr zurück reisen in einen Ferienort in Polen. Das war wirklich die schönste Zeit meines Lebens.
(Konstantin, Schule C, 24-Kn.) 1.9.95
Auch Nena hat positive Erinnerungen an Früher. Sie reichen in die Zeit der Auflösung der Sowjetunion zurück.
Ich würde in die Zeit fahren, wo ich noch in Russland war, also bevor das alles so ging, mit Politik und so; wo alles noch gut war und hatte noch keine Probleme, und ich hatte da viele Freunde. Also, als ich noch zehn war oder elf, da hatte ich viele Freunde, waren wir immer zusammen, in meiner Heimat.
(Nena, Schule A, 14-Nat.) 15.8.95
Über das Negativbild, eine Verdrehung der Vorder/Hintergrund-Differenz, können wir etwas über ihr »Jetzt« erfahren. Sie scheint heute wenig Freunde zu haben und selten Zusammengehörigkeit zu erfahren. In diesem vergangenen, jenseitigen Ort, den sie Heimat nennt, schimmert etwas von der Vorstellung eines verlorenen Paradieses hervor. Dieses verlorene Paradies zeigt auch Aspekte ganz anderer Art. Das »Früher« wird durch unsere Jugendliche nicht nur als eine andere Raum-Zeit wahrgenommen, sondern auch als ein getrennter Lebensabschnitt erinnert. Diese Erinnerung an die Kindheit, von der wir wissen, dass sie zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt entstanden ist, verweist uns auf einen gesellschaftlich-historischen Aspekt der Zeit. Für Bettina und Jutta, zwei Mädchen mit deutschsprachigem Hintergrund, ist es die Kindergartenzeit, welche sie als positiv kennzeichnen.
BETTINA: Das habe ich mir schon einmal überlegt, wohin ich zurück gehen würde. Auf jeden Fall so Kindergarten, so...
JUTTA: Ja, noch einmal das erleben.
BETTINA: Oder vielleicht als ich so zwei war, oder als meine Schwester geboren wurde.
INTERVIEWER/IN: Wie wäre das denn? Beschreibe das doch mal ein bisschen.
BETTINA: Das wär
Jutta: Richtig schön. {lacht}
(...)
BETTINA: So im Kindergarten bei uns, das war so ganz, ganz, ganz gut da. So nur so ein paar Leute, zwölf Leute insgesamt oder so. Wir haben halt irgendwie total gute Sachen gemacht, also waren ganz frei irgendwie und konnten machen, was wir wollten und haben auch zwischen durch so Reisen gemacht und uns mit allen Kindern gut verstanden. Also, jedenfalls in dem Kern, wo wir waren. Als dann Neue dazukamen, war es nicht mehr so gut, als ich schon älter war. Als ich drei, vier war, und meine Schwester kam auch dazu, da war es total schön; weil wir uns mit allen gut verstanden haben, mit Jungs und Mädchen.
(Bettina, Jutta, Schule C, 25-Ba., 25-Ju.) 1.9.95
Die beiden unterscheiden sich in der Bezugnahme auf die Vergangenheit von Nena dadurch, dass zwar ihre personale Erinnerung ebenfalls durch eine andere Zeit gekennzeichnet ist, aber der Ort an den diese Erinnerungen gebunden sind, eigentlich kein anderer Ort ist. Der Kindergarten, an den sie sich erinnern, befindet sich in ihrem Geburtsort an dem sie heute noch leben und in dem Raum und Zeit eine gewissen kontinuierliche Struktur aufweisen. Der Geburtsort von Nena ist dagegen weit entfernt. So erscheint die Raum-Zeit durch die Migrationsbewegung von Ort A nach B als diskontinuierlich. Die kontinuierliche Raum-Zeit des Kindergartens, den Bettina als schön erinnert, ist für sie durch eine begrenzte Anzahl von Personen, durch die Freiheit, dass zu tun was man möchte und durch das gegenseitige Verständnis der Kinder untereinander gekennzeichnet. Dies änderte sich, als Neue hinzukamen und sie älter wurde. Der Kontinuität der Kindheit, die von ihr als geschlossen und verbindend beschrieben wird, steht hier der Bruch und die Diskontinuität durch das Neue und die Zeit gegenüber. Ein ähnlich Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität beschreibt auch Nena für die Kindheit in Jugoslawien und die Zeit danach. Der personalen Erinnerung dieser Mädchen an ihre Kindheit, als ein Zustand der Freiheit und durch die Erfahrung der Zugehörigkeit beschrieben, stellt sich die komplizierte, hässliche, beschwerliche und gestresste Gegenwart, das Jetzt, entgegen.
JUTTA: Ich mein', da war das alles noch total unkompliziet und, ich weiss nicht. Das war halt schön.
Lotte: Unbeschwert.
JUTTA: Im Moment ist das so kompliziert.
BETTINA: Ja und gestresst.
(Bettina, Jutta, Lotte, Schule C, 25-Ba., 25-Ju., 25-Li.) 1.9.95
Der positiven Vergangenheit steht eine negativ empfundene Gegenwart gegenüber. Das Fortschreiten der Zeit und die Positionsveränderung im Raum trennen die Gegenwart von der Vergangenheit und setzen sie einander entgegen. Die positive Erinnerung versus der negativen Situation von heute. Die personale Erinnerung umfasst eine andere Zeit und einen anderen Ort. Yakup verweist auf einen weiteren Aspekt der personalen Erinnerung. Er hat die Generation seiner Grosseltern, besonders die weibliche Seite, nie kennengelernt.
Ich würde in die Vergangenheit reisen, um meine Grosseltern kennen zu lernen, weil die sind leider alle schon gestorben, als ich noch Baby war.
INTERVIEWER/IN:Hm.
Und nur meine Oma, das würde mich einfach interessieren, sie kennen zu lernen.
(Yakup, Schule C, 27-Yu.) 1.9.95
Die Beziehung zu der anderen Zeit wird über andere Generationen vermittelt. Ist diese Beziehung zu den vorhergehenden Generation möglich, so scheint die Reichweite der personalen Erinnerung mit einer Art der sozialen Erinnerung der vorhergehenden Generationen verknüpft und erweitert. Manche der Jugendlichen berichteten von diesen erinnerten Erfahrungen, anderen fehlt sie. Recep beschreibt einen Aspekt seiner personalen Erinnerung, der das Früher mit dem Heute verbindet.
Weiss ich nicht. 90 oder 85, dann muss ich nie gross werden, immer da nur leben.
INTERVIEWER/IN: Wo du klein warst?
Ja. Etwas gross musst du ja sein, damit du auch Taschengeld bekommst. Wenn du klein bist, kriegt man ja kein Geld.
(Recep, Schule A, 4-Ri.) 15.8.95
Er unterscheidet zwischen dem früheren klein sein, in dem man einfach nur lebt und dem heutigen etwas gross sein, was gleichbedeutend mit Taschengeld bekommen ist. Gross sein heisst für ihn, sein eigenes Geld zu haben. Der Unterschied zwischen Kind und Jugendlicher erscheint als einer zwischen von der Geldzirkulation Ausgeschlossenen oder Eingeschlossenen. Während das Kind einfach lebt, bekommt der Jugendliche zugriff auf den Geldkreislauf. Geld wird einigen Jugendlichen in Form des Taschengeldes, ein von Lohnarbeit unabhängiges Einkommen, zugewiesen. Der Wunsch von Recep, in diese eigene »personale Vergangenheit« zurückzukehren, erweist sich als eine Art Gegenbild zur gegenwärtigen Gesellschaft in der erlebt. Sie hat etwas von einer rückprojezierte Utopie. Diese positive Fassung der Kindheit lässt sich als »soziale Vergangenheit« lesen. Sie verweist auf eine Welt die nicht aktiv Teil des Geldzirkulation ist. Bei Jutta schlägt dieser Wunsch nach dem Wiedererleben positiver »personaler Vergangenheit« sofort um in Bedenken.
JUTTA: Ich würde jetzt, da zurück oder zu dem Zeitpunkt, wo es mir Spass gemacht hat. Zum Beispiel in unserem Wochenendhaus in den Ferien oder so, wenn das ganz toll war.
BETTINA: Ja, genau dahin.
JUTTA: Irgendwie ein bestimmter Zeitpunkt, nicht jetzt, dass ich das alles noch einmal erlebe diese ganzen Jahre, sondern nur so einen Zeitpunkt oder eine ....
(Bettina, Jutta, Schule C, 25-Ba., 25-Ju.) 1.9.95
Der Kontinuität der realen Zeit und des Erlebens, stellt sie die Diskontinuität der Erinnerungen entgegen. Diesen Erinnerungspunkten, die man vielleicht als Ablagerungen vergangener Erfahrungen bezeichnen könnte, stellt sie ihr kontinuierlich erfahrenes Leben, welches sich ihr als wenig wiederholenswert zeigt, gegenüber. Während die kontinuierlichen Erfahrungen ihr manchmal wenig schön erscheinen, haben sich in ihrer personalen Erinnerung die positiven Momente abgesetzt. Ihre positive personale Erinnerung erscheint als Ablagerung bestimmter Erfahrungen. Diesen positiven Aspekten der Vergangenheit in der Erinnerung von Jutta stehen immer auch negative Fassungen der Vergangheit anderer Jugendlicher gegenüber.
Sanna, ein Mädchen mit deutschsprachigem Hintergrund, sieht die Vergangenheit als negativ an.
INTERVIEWER/IN: Und du Sanna? Wohin würdest du fahren wollen?
Ich weiss nicht. Ich muss mir erst länger überlegen, weil ich nicht so viel, ich würde das dann auch nur für kurze Zeit machen. Ich meine, so was, was man hört von früher und überhaupt von woanders, da glaube ich, ist das hier echt am besten, auch in Sachen so gegen Frauen und so. (...) Und dann würde ich gar nicht woanders hinwollen. Vielleicht für einen kurzen Augenblick, um das zu sehen. Dann würde ich auch, könnte ich mich jetzt nicht so schnell entscheiden.
(Sanna, Schule C, 21-Sv.) 1.9.95
Sanna spricht nicht von ihrer personalen Vergangenheit, sondern meint eine Vergangenheit jenseits ihrer eigenen Existenz. Wir wollen sie die soziale Vergangenheit nennen. Diese war vorallem für Frauen schlechter. Sie möchte gar nicht woanders hin, denn hier und heute erscheint es ihr am besten. Für Sanna scheint diese soziale Erinnerung einer Entwicklungslinie zu folgen; weg von einer negativen Vergangenheit, hin zu einer positiven Gegenwart. Auch Andreas, dessen Eltern aus Jugoslawien kamen, kennzeichnet die soziale Vergangenheit als negativ.
Zukunft, weil in der Vergangenheit gab es ja immer so viele Kriege, Seuchen, was weiss ich nicht alles. Da stirbt man so schnell an irgendeiner Krankheit.
(Andreas, Schule A, 2-A.) 15.8.95
Krankheiten und Kriege sind Teil seiner sozialen Erinnerungen. Für ihn ist ein positiver Zustand nicht der gegenwärtige, sondern erst ein zukünftiger.
Daniela zeichnet eine entgegengesetzte Entwicklungslinie, die von der positiven Erinnerung zur negativen Gegenwart reicht.
(...) Ich denke mal, dass in einer anderen Zeit jeder mit jedem Kontakt hatte, haben sich alle getroffen in der Gruppe.
INTERVIEWER/IN: So stellst du dir das in einer anderen Zeit vor? Beschreibe mal noch ein bisschen.
Man ist vielleicht eine Clique mit zehn Leuten. Dann ärgert man so ein paar Jungs, und die sagen nicht gleich: "Kriegst was auf die Schnauze!" Sondern die machen das mit und so. Ich stell mir das offener vor, dass man nicht wegen der Hautfarbe oder so, naja da war das vielleicht. Das war bestimmt schöner, so freundschaftlicher.
INTERVIEWER/IN: Sind da auch Jungs in der Zeit, wo du hinwillst?
Ja, da sind so, jeder hat so einen Freund mit sich, bummelt man mit dem. Das ist irgendwie witziger. Da sagt man nicht: "Kuck mal, der ist mit der zusammen. Das gibt es doch nicht. Kuck dir den mal an!" Sondern dass man sich nicht für den anderen Freund schämen muss. Da kann der noch so schlimm aussehen, und man kann mit ihm durch die Strasse gehen. Das kann man hier nicht. Wenn zum Beispiel einer aus meiner Klasse mit mir zusammen ist, dann sagen die: " Oh, kuck mal, der ist mit der zusammen."
(Daniela, Schule B, 17-Di.) 17.8.95
Bestimmte, für Daniela offensichtlich gegenwärtige Probleme, wie Rassismus oder das Reden über andere auf der Strasse gab es ihrer Meinung nach früher nicht. Sylvia sieht das Positive in einer vergangenen Ordung, an dem jeder seinen Platz hat.
Damals war das noch nicht so doll, dass hier so viele Leute aus anderen Ländern gewohnt haben, in Ländern, wo sie eigentlich gar nicht hingehören - sage ich jetzt mal. Dass die Leute mehr in ihren eigenen Ländern waren und nicht für immer irgendwo hingezogen sind, in ein anderes Land, wo sie nicht aufgewachsen sind
(Sylvia, Schule C, 21-St.) 1.9.95
Der vergangene Ort des Aufwachsens und der heutige Ort treten für sie auseinander. In ihrer sozialen Erinnerung gehört die vergangene Zeit, als die man das Aufwachsen fassen kann und der Raum, der Ort an dem sie heute lebt zusammen. Die Ordnung von Zeit und Raum erscheint ihr früher als stabiler. Diese positive Vergangenheit wird von Nina als offener gegenüber ihrer Gegenwart gekennzeichnet.
Offener. Ich weiss nicht, jetzt ist das auch offen, aber durch Peace und Flower-Power, dass da alle so zusammen waren. Ich meine, das ist jetzt auch, aber da war das anders.
(Nina, Schule C, 28-Ni.) 1.9.95
Ähnlich der personalen Erinnerung von Jutta, ist die soziale Erinnerung von Nina als eine Zeit der Zugehörigkeit abgelagert. Gehörte man früher einer Gruppe oder Gemeinschaft an, so war diese in Ninas Vorstellung offen und verbindend. Lolo stellt ein anderes Verhältnis zur sozialen Erinnerung her.
Ja, ich glaub, jetzt wie sie damals mit den Ausländern umgegangen sind und so. Die ganze Politik und so, das würde mich interessieren. Wie die Leute, was sie damals gedacht haben über Leute, die aus einem anderen Land kamen.
(Lolo, Schule C, 20-Li.) 1.9.95
Sie stellt Fragen an die soziale Vergangenheit. Es scheint fast so, als wäre Lolo`s soziale Erinnerung ein Reservoir aus dem Antworten für dem Umgang mit Fragen der Gegenwart geschöpft werden könnte. Dies scheint auch für Karen ähnlich.
INTERVIEWER/IN: Was würdest du dort machen in dieser Zeit?
Ich weiss nicht, ich finde das einfach interessant, das Mittelalter, oder auch andere Zeit, vielleicht noch früher. Dann irgendwie, was weiss ich, bei den Ägyptern, wie sie die Pyramiden gebaut haben, das zum Beipiel kucken, und wie das wirklich war, weil das kann sich ja keiner richtig erklären, wie die da hoch gebaut haben. Im Mittelalter, wie die da gelebt haben. Auch wenn man da gleich als Hexe angeklagt wird {lacht} und da auf den Scheiterhaufen soll, ich finde das schon ganz anders als Heutzutage.
(Karen, Schule C, 22-Kr.) 1.9.95
Die soziale Erinnerung, und hier wird deutlich, dass diese mit dem Begriff der Geschichte Ähnlichkeiten aufweist, stellt hier ein Kontrastbild zur Gegenwart dar. Das Gegenbild erscheint aber nicht als eines der Gegenwehr, sondern als eines, welches Wissen und Erfahrungen der Vergangenheit speichert. Dieses Wissen und Erfahrung erscheint Karen zum Grösstenteil als verloren und muss erst wiederentdeckt werden. Ein Zeitpunkt der sich in den sozialen Erinnerung mehrerer Jugendlicher abgelagert hat, sind die sechziger und siebziger Jahre, die Jugendzeit ihrer Eltern.
Nina hat schon über die Sechziger Jahre und die Faszination der Power-Flower Bewegung berichtet. Dieser Zeit werden Attribute der Offenheit zugeschrieben. Nina berichtet zusammen mit Claudette, aus deutschsprachigem Elternhaus und Veronica, aus ungarischsprachigem Elternhaus, dass sie fasziniert sind von den Pop-Ikonen der sechziger und siebziger Jahre. Jimmy Hendrix, The Doors und Bob Marley würden sie gerne in einem gemeinsamen Konzert erleben.
Claudette: Da, wo Bob Marley noch gelebt hat. {lacht}
INTERVIEWER/IN: Bob Marley?
Claudette: Ja.
INTERVIEWER/IN: Nach Jamaica oder wo würdest du da hin?
Claudette: Weiss ich nicht. Vielleicht auf ein Konzert von ihm.
INTERVIEWER/IN: Was würdest du denn da sprechen? Wenn du mit Bob Marley auch sprechen könntest, was würdest du überhaupt auf dem Konzert sprechen?
Claudette: Auf englisch.
INTERVIEWER/IN: In englisch?
Claudette: Ja.
Veronica: Ich wüsste gar nicht, wo ich hinwollte.
Claudette: Doch das wäre cool, wenn ich Bob Marley und Jimmy Hendrix und so sehen würde. Wäre cool.
INTERVIEWER/IN: Ihr auch? Oder wo würdest du gerne hinfahren?
Veronica: Weiss ich nicht.
INTERVIEWER/IN: In welche Zeit?
Nina: Die Zeit von The Doors. Vielleicht die ganze Zeit da.
Veronica: Genau, die ganzen Zeiten. Woodstock und so, würde ich gerne sehen.
INTERVIEWER/IN: So Sechziger / in die Sechziger?
Nina: Ja.
Veronica: Ja.
INTERVIEWER/IN: So die Hippie-Zeiten?
Veronica: Nein, nicht gleich Hippie. {lacht} Wo die halt noch alle gelebt haben.
Nina, Veronica, Claudette, Schule C, 28-Ne., 28-Vi., 28-Co.) 1.9.95
In der sozialen Erinnerung von Suzan sind es die siebziger Jahre, die mit Amerika als Ort und dem Rockn Roll als Musik repräsentiert sind.
In die Siebziger. {lacht} So eine auf Rock'n Roll oder so. {lacht}
INTERVIEWER/IN: Wohin?
Nach Amerika oder so, das ist egal.
(Suzan, Schule C, 30-Si.) 1.9.95
In den sozialen Erinnerungen der Jugendlichen sind aber nicht nur die Idole des Musikmarktes repräsentiert. So sind für Remzi die fünfziger und sechziger Jahre dieses Jahrhunderts aus einer ganz anderen Perspektive spannend.
INTERVIEWER/IN: Wo würdest du denn hinreisen?
Am liebsten so in die Fünfziger oder Sechziger.
INTERVIEWER/IN: Also in die Vergangenheit?
Genau.
INTERVIEWER/IN: Dieses Jahrhunderts?
Genau.
INTERVIEWER/IN: Wieso dort, wie sah es da aus? Was ist gut daran?
Ich glaube, die Menschen, die jetzt die Reichen sind und so, die es geschafft haben; ich glaube, das waren die, die in den Fünfzigern studiert haben. Ich glaube, die Fünfziger oder Sechziger, dass das die Jahrzehnte waren, wo die besten Chancen für ein Studium oder Universität, ich glaube, dass diese Menschen am meisten Glück hatten. Heute ist das ja nicht mehr der Fall. Da haben es alle geschafft.
(Remzi, Schule C, 23-Rz.) 1.9.95
Kennzeichnend für die damalige Zeit sind die Bildungschancen, welche in diesen Jahren aus seiner Sicht vorhanden waren. Die Leute, die in dieser Zeit studieren konnten haben es geschafft eine höhere Position in der Gesellschaft zu erreichen. Diese Menschen sind für ihn die Reichen von heute geworden. Diese Chance gibt es heute seiner Meinung nach nicht mehr. In den sozialen Erinnerungen der Jugendlichen sind Teile der personalen Erinnerungen des Bildungsaufstiegs der Elterngeneration mit abgelagert. Einen weiteren Aspekt der sozialen Erinnerung an die Hippie-Zeit betont Else.
INTERVIEWER/IN: Und du, Else? Wohin würdest du fliegen wollen?
ELSE: In die Hippie-Zeit. Ich weiss nicht, Hippies finde ich interessant. Oder in die Steinzeit. {lacht}
INTERVIEWER/IN: Wen würdest du mitnehmen?
ELSE: Auch einen Freund oder Freundin.
INTERVIEWER/IN: Was machen die Leute da? Kannst du das beschreiben?
ELSE: Sie feiern. {lacht}
INTERVIEWER/IN: Was machst du dort?
ELSE: Mitfeiern.
(Else, Schule C, 22-El.) 1.9.95
Interessant an der Vorstellung von Else erscheint ihre Verknüpfung der Hippie-Zeit mit der Steinzeit und dem Aspekt des Feierns. Die Art und Weise wie sie die soziale Erinnerung an die Nachkriegszeit und die Zeit des »Kalten Krieges« konstruiert hat, erweist sich als eine Art romantische Gegenkonstruktion zur unromantischen Gegenwart, in der keine Gemeinschaft mehr besteht, es keine Bildungschancen mehr gibt, die einen sozialen Aufstieg sichern und in der das Feiern, die rituelle Unterbrechung des Alltags, keinen Platz mehr findet.
Auch Erdem sieht in einer sozialen Vergangenheit, welche noch weiter von seiner Gegenwart entfernt ist, positivere Verhältnisse.
Interviewer/in: Wo würdest du denn hinreisen, Erdem?
In die Vergangenheit. Da sind die Menschen viel höflicher.
Interviewer/in: In welches Jahr ungefähr?
Ja, so 1910 oder so.
Interviewer/in: 1910. Beschreib mal! Wie stellst du dir das vor, wie das da wäre?
Friedlich.
(Erdem, Schule A, 2-E.) 15.8.95
Erdem verbindet mit dem 1910 höflichere Menschen und eine friedlichere Situation. Er kreiert eine Gegenkonstruktion zu seiner Gegenwart, der solche Aspekte fehlen. Ömer greift noch weiter in eine Vergangenheit zurück, die als Gegenkonstruktion zur technisierten Gegenwart erscheint.
Interviewer/in: Und welches Jahr?
Tja, 1500.
Interviewer/in: 1500?
Ja.
Interviewer/in: Wie stellst du dir das vor? Beschreibe mal ein bisschen. Wie wäre das, wenn du da ankommen würdest?
Weiss ich nicht.
Interviewer/in: Versuche es doch mal auszumalen.
So alles grün, keine Autos, so alles schön.
(Ömer, Schule A, 4-Öz.) 15.8.95
Diese Gegenkonstruktionen verweisen auf die Romantik, die der beginnenden Industrialisierung ein Naturbild entgegensetzte, welches von Technik unberührt war. Andreas geht zurück in die Steinzeit und thematisiert noch grundlegender den Aspekt der Gegenkonstruktion zur Gegenwart.
Steinzeit.
Interviewer/in: Du würdest in die Steinzeit reisen?
Ja, da gibt es keine Kleider. Da kann man alles sehen.
(Andreas, Schule A, 2-A.) 15.8.95
Er geht zurück in eine Vergangenheit, in der selbst die letzten Attribute sogenannter menschlicher Zivilisation wegfallen. Von dieser Art von paradiesischem Zustand vor dem Sündenfall, als Adam und Eva sich ihrer Nacktheit noch nicht bewusst waren, berichtet auch Aslan.
Da, wo noch nicht die Waffen entdeckt, entwickelt worden waren. (...)
Also das, man hat da mehr mit Natur zu tun und nicht so mit selbst gebauten Sachen und Maschinen, gibt es noch nicht. Einfach mit Natur.
(Aslan, Schule B, 9-As.) 17.8.95
Diese soziale Vergangenheit, die Andreas und Aslan beschreiben, erinnert an den »edlen Wilden« bei Rousseau. In dieser romantischen Vorstellung des »edlen Wilden«, ist es die Zivilisation, die dem Menschen Gewalt antut und ihn zu dem macht, als was er im »Heute« erscheint. Der nackte Mensch ohne Werkzeug. Dieses Bild ähnelt dem Kind und auch dem Tier. Piet imaginiert sich in eine Zeit zurück, als der Mensch noch nicht aufrecht gehen konnte, also eine Art Übergangswesen zwischen Mensch und Tier.
Steven Spielberg mitnehmen und ich würd ihm zeigen, wie ein richtiger Dinosaurier aussieht. In der Steinzeit.
Interviewer/in: Du würdest in die Steinzeit zurück fliegen?
Ja.
Interviewer/in: Beschreib doch mal, wie sieht das denn dort aus?
Nur Felsen, viele. Wälder auch. Pflanzen.
Interviewer/in: Wie ist es mit Menschen?
Die nicht aufrecht gehen können.
(Piet, Schule B, 8-Pa.) 17.8.95
In der Vergangenheit von Piet gibt es neben den richtigen Dinosauriern auch Menschen die nicht aufrechtgehen. Die Gegenwart in der Gestalt von Steven Spielberg (er drehte den Film Jurassic Park, der die Beschäfftigung mit Sauriern zum Massenphänomen werden lies.) mit seinen falschen Sauriern wird mit der Vergangenheit konfrontiert. Den Schein der Gegenwart verknüpft er mit seiner Wahrheit der Vergangenheit. Den richtigen Saurieren und dem nicht aufrechtgehenden Menschen. In Debby`s Vergangenheit gibt es gar keine Menschen mehr, ausser sich selbst, der als Beobachter der Zeit reist. Er stellt sich eine vormenschliche Natur vor, bevölkert mit grossen Dinosauriern.
Nein, Menschen gibt es da noch nicht. Da würde es ja höchstens nur Tiere geben. Da würde ich mit denen sprechen, mit denen ich dorthin gefahren bin. Oder einfach mal sehen, wie es da war, weil ich mir das schwer vorstellen kann. Diese grossen Dinosaurier dann und...
(Debby, Schule C, 26-De.) 1.9.95
Hier ist das Übergangswesen nicht mehr vorhanden. Stattdessen ist diese vormenschliche Zeit bevölkert mit Ungeheuern, die als Dinofiguren heute in den meisten Kinderzimmern stehen. Sie sind das vertraute Unvertraute.
Die personalen Erinnerungen enthielten Ablagerungen aus der eigenen Kindheit, die als Konstruktionsfläche für die heutige Situation als Jugendliche dient. Die abgelagerten Erinnerungsgestalten der soziale Vergangenheit erschienen uns unter den Aspekten der Popikonen ihrer Eltern (50er, 60er oder 70er), des edlen Wilden, des Übergangsmenschen und der vormenschlichen Natur. Aber auch die Aspekte einer für bestimmte soziale Gruppen negativen Erfahrungen (Hexenverfolgung, Krieg, Seuchen) wurden sichtbar. Diese Erinnerungsgestalten können als ein Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart in einer je spezifischen negativ-positiv Anordnungen positioniert werden. Unter der Fragestellung In welcher Sprache sprechen diese Erinnerungsgestalten? werden wir diese Anordnungen nun weiter betrachten.
Auch die Vergangenheit der Sprachen werden durch die Jugendlichen in zweifacher Weise angeordnet: zum einen als Projektion heute existierender Nationalsprachen in die Vergangenheit; zum anderen werden Sprachen der Vergangenheit als anders gekennzeichnet und den heutigen Sprachen entgegengesetzt. Dies ist auch ein Gegensatz zwischen eher statischen Sprachvorstellungen und den Vorstellungen einer eher dynamischen Entwicklung von Sprachen. Konstantin geht selbstverständlicherweise davon aus, dass früher schon Polnisch in Polen gesprochen wurde.
INTERVIEWER/IN: Wie wäre das denn mit der Sprache?
Natürlich Polnisch.
INTERVIEWER/IN: Das wäre Polnisch.
Weil das war auch in Polen. Da haben wir halt die Zeit dann schön verbracht.
(Konstantin, Schule C, 24-Kn.) 1.9.95
Das verwundert auch nicht, da er uns personale Erinnerungen« an eigene Erfahrungen mitteilt. Auch Dragana berichtet darüber wie im früheren Jugoslawien die Menschen gesprochen haben.
INTERVIEWER/IN: Welche Sprache oder Sprachen sprechen die dort?
Kroatisch, Serbokroatisch.
(Dragana, Schule C, 20-Dr.) 1.9.95
Wir haben schon an mehreren Stellen herausgearbeitet, wie über die Aufspaltung des jugoslawischen Staates und der Etablierung neuer Nationalstaaten, gerade die Sprachpolitik und die Durchsetzung neuer Sprachen teil eines gewälttätigen Konstruktionsprozesses neuer nationaler Einheiten ist. Gerade in den Aussagen der Jugendlichen mit Hintergründen aus Ex-Jugoslawien zeigen sich ihre Unsicherheiten in der Bezeichnung ihrer Sprachen, wie dies bei Dragana sichtbar wird. Wie ist meine Sprache nun zu bezeichnen? Jugoslawisch? Kroatisch? Serbokroatisch? Bosnisch? Während es nur wenige Jahre dauerte, mit Gewalt die richtige Sprache einzuführen sieht Remzi Sprachentwicklung als einen langfristigen Prozess der Entwicklung.
Damals? Ich glaube nicht, dass die deutsche Sprache sich sehr unterschieden hat. Die Sprachen ändern sich ja nicht in vierzig Jahren, dazu gehören schon Jahrhunderte.
(Remzi, Schule C, 23-Rz.) 1.9.95
Sprache erscheint für Remzi als ein über Jahrhunderte festes und sich nur langsam veränderndes Gebilde. Auch in Erdem`s Kennzeichnung der Sprache von Menschen in der Vergangenheit enthält Momente .sozialer Erinnerung an die Entstehungsbedingungen der heutigen Sprache.
INTERVIEWER/IN: Was würden die Menschen dort für eine Sprache sprechen?
Ich glaub Türkisch oder Arabisch, wo ich herkomme.
INTERVIEWER/IN: Welcher Ort? Wo wärst du dann?
In der Türkei.
INTERVIEWER/IN: In der Türkei?
Alles grün, Landschaft.
(Erdem, Schule A, 2-E.) 15.8.95
Er stellt sich die Vergangenheit« als einen Ort vor, der durch Aspekte von Natur gekennzeichnet ist. Erdem ist sich nicht sicher ob Türkisch oder Arabisch gesprochen wird. Auch Deshrina erwähnt das Türkische« und das Arabische.
INTERVIEWER/IN: Dann hörst du Iranisch. Wie klingt das für dich?
So wie Arabisch, so Türkisch, gemischt.
(Deshrina, Schule A, 12-Da.) 15.8.95
Mit der Bezeichnung »Iranisch« homogenisiert die Interviewerin das Persische, das Farsi, in der gleichen Logik der Jugendlichen zur einheitlichen Nationalsprache. Der historische Zusammenhang, welcher zwischen dem Türkischen, Arabischen und Farsi bestand ist aufgelöst. In der sozialen Erinnerung einiger Jugendlicher scheinen diese Beziehungen noch vorhanden. Diese einzelnen Nationalsprachen sind Bestandteile des Osmanischen, der alten Hofsprache des Osmanischen Reiches. Wie wir schon dargelegt haben wurde das moderne Türkisch 1923 mit der Gründung der Türkischen Republik offiziell eingeführt. Diese fasst mathematisch anmutende Sprache wurde durch einen »Reinigungsprozess« von persischen und arabischen Elementen, die fast 80% dieser Hofsprache ausmachten und durch die Einführung neuer türkischer Begriffe, die aus den Sprachen der kaukasischen Turkrepubliken entlehnt wurden, konstruiert.
Auch andere Jugendliche beschreiben die Sprachen der Vergangenheit wie Deshrina als gemischt und anders. So hat für Karen die Sprache der Vergangenheit eine andere Form.
INTERVIEWER/IN: Welche Sprachen würden diese Leute dort in dieser Zeit sprechen?
Ich denke mal, in England Englisch, irgendwie glaube ich, dass das schon ein bisschen anders ist, als es heute ist.
(...)
Ja, denke ich, im Mittelalter, das hört sich alles ein bisschen anders an als heute. Ja, noch mehr so Geschwafel, gedichtmässig gesprochen.
(Karen, Schule C, 22-Kr.) 1.9.95
Ihr Bild erinnert an die mittelalterliche Minne. Auch Erdem hatte die Menschen in der Vergangenheit als höflicher gekennzeichnet. Beiden gemeinsam ist die Vorstellung einer höfischen Gesellschaft des Mittelalters.
Radeelat weiss zunächst nicht welchen Bezugsrahmen sie für ihre Sprache der Vergangenheit wählen soll.
INTERVIEWER/IN: Was für eine Sprache würdest du da sprechen?
Weiss ich nicht! {lacht} Ich weiss nicht, was für eine Sprache die damals gesprochen haben. Weiss ich nicht.
INTERVIEWER/IN: Englisch?
Ja, English, ich meine, das war damals noch nicht so das Englisch, sondern etwas Gemischtes.
(Radeelat, Schule C, 29-Re.) 1.9.95
Radeelat, die ihren yorubasprachiger Vater nie kannte, nimmt die vom Interviewer zur Sprache gebrachte Kolonialsprache Englisch als Sprache der Vergangenheit auf und stellt sie sich als etwas gemischtes vor. Auch hier erkennen wir die Vorstellung, dass die heutigen »reinen« Sprachen früher »gemischte« Sprachen waren. Für Radeelat besteht eher die Gefahr, dass sie die Sprache der Vergangenheit gar nicht verstehen könnte. Darin sieht sie aber keine Schwierigkeiten, die sie nicht lösen könnte.
INTERVIEWER/IN: Hm. Du meinst, du kannst dich da nicht verständigen? Würdest du nicht können?
Nein, würde ich nicht können.
INTERVIEWER/IN: Was würdest du dann machen?
Mit Händen und Füssen.
(Radeelat, Schule C, 29-Re.) 1.9.95
Radeelat greift bei Verständigungsproblemen auf andere Verständigungswege zurück. Sie verwendet ihren gesamten Körper, um sich ausdrücken. Auch Sylvia löst das Problem der Verständigung auf diese Weise.
Ja. Also, mindestens dass ich mich mit Händen und Füssen, also dass ich mich ausdrücken kann schon. Gerade, wenn ich woanders bin, wo ich mich nicht auskenne.
(Sylvia, Schule C, 21-St.) 1.9.95
Für Erdem ist klar, dass mit den Bewohnern seiner Vergangenheit nur über eine Sprache von Zeichen kommuniziert werden kann.
INTERVIEWER/IN: Die würden gar nicht sprechen?
Glaub´ schon. Zeichensprache.
INTERVIEWER/IN: Du meinst, dass sie Zeichensprache machen würden?
Oder malen da was hin und...
(Erdem, Schule A, 2-E.) 15.8.95
Diese Lösungen des Interaktionsproblems, weg von der gesprochenen Sprache hin zu Körper-und Zeichensprache, folgt derselben, oben herausgearbeiteten Anordnung von personaler und sozialer Erinnerung. Andreas macht dies deutlich, in dem er diese vorsprachliche Welt in die Steinzeit verlegen.
INTERVIEWER/IN: Welche Sprache würden die denn dort sprechen?
Uga-uga. Die haben damals doch nicht geredet.
(Andreas, Schule A, 2-A.) 15.8.95
Auch ¡smet verweist auf eine sprachlose Vergangenheit, in der nur Laute ausgestrossen werden.
INTERVIEWER/IN: In die Steinzeit? Wieso in die Steinzeit? Welche Sprache würden die da sprechen?
Was weiss ich? Bla bla bla, so.
(¡smet, Schule A, 5-Is.) 15.8.95
Auch für Debby und Oskar, hört die gesprochene Sprache, wenn man zeitlich nur weit genug zurückgeht, irgengwann auf. Dann ist sie nicht mehr als ausdifferenzierte Sprache zu erkennen, sondern wird zum primitiven Dialekt.
Debby: Bei den Dinosauriern, da würde ich dann eben keine Sprache sprechen.
Oskar: Einen primitiven Dialekt.
(Oskar, Debby, Schule C, 26-OR., 26-De.) 1.9.95
Der chronologischen Anordnung von Sprachen, den heutigen Nationalsprachen, die aus vergangenen gemischten Sprachen hervorgingen, den Körper-und Zeichensprachen und den primitiven Dialekten aus einer vergangenen Zeit, entspricht auch eine topologische Anordnung in der Gegenwart. Die Perspektive gegenüber bestimmten Sprachen und die Notwendigkeit der Interaktion mit, wie in verschiedenen Sprachen scheint bestimmt durch eine Wahrnehmunglinie vom Primitiven (Dialekt, Zeichen- und Körpersprache) zum Entwickelten (Nationalsprache). In der konkreten Interaktion spielt die Einschätzung der Sprache des Gegenübers eine wichtige Rolle für die Art und Weise der Fortsetzung der Interaktion. So wollen wir uns im folgenden Abschnitt die Strategien der Jugendlichen zur Herstellung von Interaktionsfähigkeit anschauen. Wie gehen sie mit Interaktionssituation um und wie lösen sie die Probleme, die sich ihnen in den vielsprachigen Lebenswelten stellen?
Die Frage nach der Sprache in der Zukunft bringt Antworten hervor, die weitere Aufschlüsse über das Verhältnis der Gegenwart zu der von ihnen vorgestellten Zukunft gibt. Eigene Lebenspläne und die Fragen nach der eigenen Verortung in der Zukunft geben der Gegenwart eine spezifische Ausrichtung. Wie werden die vielsprachigen Lebenswelten in einer zeitlichen Dimension wahrgenommen und wie verhält man sich in diesen Interaktionsordnungen? Cemal teilt die Vorstellung, dass sich sprachlich in 15 Jahren kaum etwas verändert mit anderen Jugendlichen und bennennt die Sprachen, die er für seine Zukunft als wichtig erachtet.
INTERVIEWER/IN: Welche Sprachen würden da gesprochen werden? Wie wäre es mit der Sprache?
Also ich würde gerne Deutsch und Englisch sprechen.
INTERVIEWER/IN: Das würden die Menschen im Jahre 2010 auch, das wäre kein Problem oder wie?
Glaub ich schon, kein Problem.
(Cemal, Schule A, 1-C.) 15.8.95
Cemals Wunsch Deutsch und Englisch in der Zukunft zu sprechen, spiegelt eine realistische Einschätzung sprachlicher Verhältnisse innerhalb und ausserhalb der Gesellschaft in der erlebt, der BRD, wider. Die Bedeutung des Deutschen für den nationalen und des Englischen für den internationalen Verkehr, wird auch in Zukunft so sein. Sanna findet es wichtig das Englische, ihre Sprache der Zukunft, zu beherrschen oder notfalls auch eine weitere zu erlernen. Die Beherrschung einer Sprache gibt ihr das Vertrauen andere Orte zu betreten.
Ich weiss nicht, vielleicht auch Englisch oder so. Wenn das eine andere Sprache wäre, dann würde ich die auch unbedingt vorher lernen wollen, sonst würde ich mich da gar nicht hintrauen.
(Sanna, Schule C, 21-Sv.) 1.9.95
Die Sprache nimmt Sanna die Angst. Nadja findet, dass wenn es schon eine Zeitmaschine gebe, das mit der Sprache auch kein grosses Problem mehr darstellen könne, weil es gleich mitgelöst wurde.
INTERVIEWER/IN: Welche Sprache sprechen die Leute dort in der Zeit?
Da kann man das ja so machen, dass man das auch kann.
INTERVIEWER/IN: Würdest du das dann auch sprechen?
Ja.
(Nadja, Schule A, 10-Na.) 15.8.95
Auch Susanne ist sehr pragmatisch um Umgang mit ihrer sprachlichen Welt: sie lernt die entsprechende Sprache um sich darin zu unterhalten.
INTERVIEWER/IN: Und du? In welchen Sprachen sprichst du mit den Leuten?
Kommt drauf an. Wenn sie Deutsch können, dann spreche ich gerne Deutsch, und wenn sie eben nur Türkisch, dann versuche ich, Türkisch zu lernen und mich Türkisch mit denen zu unterhalten.
(Susanne, Schule B, 18-Sa.) 17.8.95
Das Problem der Verständigung in der sprachlichen Interaktion wird von den Jugendlichen pragmatisch gelöst. Jedem Kontext kommt eine je eigene sprachliche Konstellation zu: lokal (z.B. türkisch, deutsch), national (deutsch) oder transnational (englisch). In diesen je eigenen Kontexten sind die Sprachen in einem Verhältnis zueinander, vergleichbar einem Vordergrund-Hintergrund-Verhältnisses, angeordnet. Je nach Kontext und Fixierung springt dieses Verhältnis um und zeigt ein anderes Bild. Welche Bilder ergeben sich, wenn man die eigene Gegenwart der Jugendlichen mit ihrer Vorstellung von Zukunft mit einbezieht?
Die gegenwärtige Gesellschaft der Bundesrepublik in der die Jugendlichen leben, das Hier, ist den Jugendliche bekannt. Für Fikriye ist klar, dass ihre Vergangenheit und die Gegenwart hier stattfand und stattfiindet.
Einerseits will ich hier bleiben, weil hier geboren und aufgewachsen bin. Hier habe ich die ganzen Leute kennengelernt. Hier habe ich gute Zeiten und schlechte Zeiten gehabt, aber ein bisschen will ich auch in der Türkei verbringen, die Zeit; und nicht bei meiner Beerdigung in der Türkei bin.
(Fikriye, Schule B, 15-Fi.) 17.8.95
Es ist der letzte Punkt ihrer Zukunft, der Tod, der dort in der Türkei sich befindet. Bevor sie als Fremde in derFremde begraben wird, möchte sie in dieser Fremde leben. Der Ort an dem man geboren wurde, an dem man aufwuchs ist für sie nicht identisch mit dem Ort an dem man begraben wird. Keiner weiss letztlich wo er begraben liegt, aber für Fikriye scheint dies vorherbestimmt. Für Fikriye erscheitn so das Verhältnis ihrer Gegenwart zur Zukunft als statisch.
Wie es jetzt ist, das bleibt auch so. Weil, es verändert sich nichts.
(Fikriye, Schule B, 15-Fi.) 17.8.95
Es scheint fast so als sei für sie ihre Zukunft eine ewigdauernde Gegenwart. Auch für Meltem ist ihre Zukunft eng mit der Gegenwart verknüpft, allerdings erscheint ihr ihre Gegenwart schon als Zukunft.
INTERVIEWER/IN: Und du, Meltem, wohin würdest du mit dieser Maschine hinfahren?
Ich will hier bleiben.
INTERVIEWER/IN: Du bleibst hier? Bist du in der Zukunft
Ich bin in der Zukunft.
INTERVIEWER/IN: In der Gegenwart kannst du ja auch sein.
Da ist mir die Gegenwart lieber.
INTERVIEWER/IN: Wie sieht das aus da, wo du hinfährst mit der Maschine? Kannst du das beschreiben?
Erstens: Was soll ich in der Türkei? Da ist nichts. Ist keiner von meiner Familie, und ich kann da auch nicht leben. Hier bin ich geboren, hier bin ich aufgewachsen. Ich kenne hier alles. Ich habe hier auch Freunde, in der Türkei habe ich nichts. Wenn ich irgendwann mal heiraten würde, dann heirate ich hier von Deutschland und nicht in der Türkei.
(Meltem, Schule B, 15-Ml.) 17.8.95
Die Zukunft ist für Meltem hier veortet und ist identisch mit ihrer Gegenwart. Der Ort der Gegenwart ist ihr bekannt und vertraut. Er ist bewohnt von ihrer Familie. Aus ihrer Gegenwart heraus, die fest verortet ist, kann sie auch gelöst ihre Zukunft, einer eventuellen Heirat hier, entgegensehen. Diese unbestimmte Zukunft verweist auf eine Dynamik der Veränderung und Bewegung. Dies kennzeichnet auch den zeitlichen Rahmen der in Cemal`s Erzählung als Zeitraum umwälzender Veränderung genannt wird.
Wie stelle ich mir das vor? Also wie ich das von meinen Eltern höre: Sie sagen, ja, als ich noch ein Kind war, gab`s noch kein Fernsehen und so. Jetzt bin ich auch ein Kind, heute gibt es Fernseher, aber vielleicht gibt es in 30 Jahren was ganz anderes.
(Cemal, Schule A, 1-C.) 15.8.95
Dem statischen Verhältnis von Gegenwart und Zukunft, der Vorherbestimmung, wie es bei Fikriye zum Vorschein kam, entspricht ein dynamisches Verhältnis von Gegenwart und Zukunft entgegen, wie bei Cemal deutlich wird . Der ewig andauernden Gegenwart steht die sich radikal transformierende und verändernde Gegenwart gegenüber. Dieses dialektische Verhältnis von Stillstand und Bewegung von Gegenwart und Zukunft, zeigt noch weitere Aspekte wenn wir der Beziehung von Vergangenheit Gegenwart Zukunft unter der Perspektive des Handelns weiter verfolgen.
Musa stellt ein Verhältnis zwischen seiner Vergangenheit und Gegenwart her, welches seinen gegenwärtigen Ort verändert.
Ich würde zurück nach 1990 fahren und hätte da jemanden umgebracht.
INTERVIEWER/IN: Was hätte das geändert?
Dann wäre ich nicht hier.
(Musa, Schule A, 6-M.) 15.8.95
Durch sein Handeln in der Vergangenheit könnte Musa seine Gegenwamrt beeinflussen, indem er seinen gegenwärtigen Ort oder Situation verändert. Paul nutzt die Möglichkeit einer Zeitreise um sich, ohne eine zeitliche Veränderung zu markieren, nur an einen anderen Ort zu imaginieren.
INTERVIEWER/IN: Und bei dir? Du wolltes überhaupt gar nicht, in keine Zeit reisen.
Nein.
INTERVIEWER/IN: Dir reicht ein normales Flugzeug?
Ja.
INTERVIEWER/IN: Und du würdest wohin fliegen?
Nach Florida.
INTERVIEWER/IN: Wieso nach Florida?
Schöner Strand. Delphine.
INTERVIEWER/IN: Warst du schon mal dort?
Ne.
(Paul, Schule B, 8-Pe.) 17.8.95
Die Zeit erscheint bei Paul als ein räumliches Phänomen, als blosse Ortsveränderung. Während Musa in der Vergangenheit handelt um die Gegenwart zu verändern, zielt Paul auf eine veränderte Gegenwart und erreicht sie durch einen Ortswechsel. Auch Uur würde in der Vergangenheit handeln, allerdings mit dem Ziel einer anderen Zukunft.
Naja, auf Anhieb kann man das jetzt nicht so sagen. Zum Beispiel Fehler, grosse Fehler, die man in der Vergangenheit gemacht hat.
INTERVIEWER/IN: Hast du ein Beispiel?
Zum Beispiel, ich weiss es jetzt nicht. Aus dem Stegreif ist das schlecht. Aber eben grosse Fehler, die man in der Vergangenheit gemacht hat und die man in der Zukunft dann, falls man sie verändert, dann zum Besseren werden könnten.
INTERVIEWER/IN: Hm.
So was verändern.
INTERVIEWER/IN: Ein Beispiel weisst du nicht aus dem Kopf?
Zum Beispiel Hitlers Geburt verhindern. {lacht} Also, naja, ich weiss es nicht; es ist schlecht, aus dem Stegreif etwas jetzt zu sagen. Eben so Fehler auskurieren.
(Uur, Schule C, 27-Uf.) 1.9.95
Im Gegensatz zu Musas Vorstellung einer Veränderung seiner personalen Vergangenheit, und damit seiner gegenwärtigen Situation, ist es bei Uur die gesellschaftliche (soziale) Vergangenheit, in welche er zu intervenieren gedenkt um die Zukunft zu beeinflussen. Auch für Lolo ist der Nationalsozialismus Gegenstand einer Reflexion über Zeit.
Ich weiss nicht, manchmal würde ich zum Beispiel in den Zweiten Weltkrieg, weil mich das alles interessiert. Also, das soll jetzt nicht falsch klingen, aber die Zeit mich halt interessiert.
(...)
INTERVIEWER/IN: Was machen die Leute dort, in der Zeit, in die du fliegst? Kannst du das beschreiben?
Ja, ich glaub, jetzt wie sie damals mit den Ausländern umgegangen sind und so. Die ganze Politik und so, das würde mich interessieren. Wie die Leute, was sie damals gedacht haben über Leute, die aus einem anderen Land kamen. Dann könnte man vielleicht zeigen, wie wir heute von ihnen denken, ganz anders halt.
(Lolo, Schule C, 20-Li.) 1.9.95
Sie imaginiert sich als eine Art Historikerin. Ihr Ziel einer Reise in die Vergangenheit, so scheint es, ist, eine konkrete Anschauung der damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen und der Umgang mit den Fremden, den Ausländern zu gewinnen. Durch die Zeichnung eines Kontrastes zwischen »Damals« und »Heute« gelingt es ihr der Gegenwart eine vollkommen andere Vergangenheit entgegenzusetzen. Das historisch-gesellschaftliche Wissen über diese Vergangenheit verknüpft sie mit der Gegenwart. Während sie einerseits die Gegenwart als das ganz andere zur Vergangenheit gestaltet, stellt sie andererseits durch die imaginäre Zeitreise eine Verknüpfung der Gegenwart mit der ganz anderen Vergangenheit wieder her.
Konstantin verweist uns auf ein weiteres Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit. Er würde gerne ins letzte Jahr nach Polen zurückfahren, um dort die Zeit mit seiner Freundin, die schönste Zeit in meinem Leben, nochmals zu erleben.
INTERVIEWER/IN: Wie wäre das dann? Würde sich die Zeit wiederholen?
Konstantin: Weiss ich nicht. Wahrscheinlich nicht. Trotzdem möchte man sich daran erinnern. Das bringt halt Erinnerungen hervor, vielleicht würde was draus werden, aber ich glaube nicht.
(Konstantin, Schule C, 24-Kn.) 1.9.95
Vergangenheit wiederholt sich für Konstantin nicht. Sie ist in seiner Gegenwart als Erinnerung präsent.
Wir haben nun mehrere Beziehungen der Gegenwart zur Vergangenheit herausgearbeitet: die Vorstellung, aus der Vergangenheit die Gegenwart zu verändern, die Veränderung der Gegenwart als blosse Ortsveränderung, die Verknüpfung der Anschauung der Vergangenheit mit dem Handeln in der Gegenwart und die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart als Erinnerung.
Die Vergangenheit wird aber nicht nur mit der Gegenwart verknüpft, sondern auch mit der Zukunft. Julia verbindet Zukunft mit Vergangenheit, wobei Handeln für sie zukünftiges Handeln ist. Die Gegenwart bleibt ausgespart.
Ich bin also in die Zukunft. Ich würde versuchen, die Zukunft zu sehen und versuchen, es besser zu machen als meine Vergangenheit; also aufzupassen. Also in der Vergangenheit gab es Dinge, die sie mitgenommen haben. Wenn ich das kann, dann würde ich in Zukunft fahren und versuchen, wie soll ich sagen, mein weiteres Leben zu verbessern, besser zu machen als meine Vergangenheit.
(Julia, Schule A, 13-Ja.) 15.8.95
Die Erfahrungen der Vergangenheit dienen Julia als Grundlage für die Veränderung der Zukunft. Während Julias Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft verflüchtigt ist, imaginiert Cemal seherische Fähigkeiten, die ihm durch eine Reise in die Zukunft zukommen würden.
Also ich würde gerne, wir sind jetzt in 1995, ich würde gerne so 2010. Weil, da kann ich sehen, was mit mir später passiert. Dann kann ich so Massnahmen vornehmen, falls etwas schlechtes passiert.
(Cemal, Schule A, 1-C.) 15.8.95
Er verbindet das Handeln in seiner Gegenwart mit der Antizipation der Zukunft. Die Folgen gegenwärtigen Handelns könnten vorhergesehen werden, sodass das gegenwärtige Handeln an zukünftigen Erfordernissen ausgerichtet werden könnte. Eine schlechte Zukunft könnte so vermieden werden. Edon sieht es ähnlich.
Nein. Ich würde in das Jahr 2015. Weil ich dann genau, warten Sie, jetzt haben wir 95, da wäre ich 45 Jahre alt. Ich wollte meine Familie da sehen. Wie ich lebe, ob ich reich bin, ob ich Kinder habe, wie ich mich entwickelt habe, und das würde ich dann sehen. Dann kann man auch kucken, was man falsch gemacht hat und damit das nicht falsch ist, kommt man dann wieder zurück in das Jahr 95 und dann...
INTERVIEWER/IN: Veränderst du das dann?
Ja.
(Edon, Schule A, 3-Ed.) 15.8.95
Seherische Fähigkeiten würden Orientierungspunkte für das Handeln in der gegenwärtigen Alltagswelt liefern. Antizipation der Zukunft und Erinnerung der Vergangenheit konstituieren die Gegenwart der Jugendlichen. ¡smet verzichtet ganz auf das technische-imaginäre Hilfsmittel der Zeitmaschine und verweist auf sein Gehirn.
INTERVIEWER/IN: Gut. Lasst uns mal ein bisschen phantasieren. Stellt euch vor, wir hätten eine Zeitmaschine.
Ich habe keine Zeitmaschine.
INTERVIEWER/IN: Stell es dir vor.
Ich habe nur Gehirn.
(¡smet, Schule A, 5-Is.) 15.8.95
Für ¡smet erscheint die Zeitmaschine als das, was sie in unserem Forschungszusammenhang ist, nämlich ein Stimulus für die Imagination der Zeit. Die Begriff der Utopie scheint jetzt hier angebracht. Wir hatten die Utopien im Sinne von Henri Lefèbvre als vorgestellter, imaginierter Ort, als Ort des Bewusstsein einer Totalität gefasst273. Wie gestalten sich diese Utopievorstellungen, dem Ort des Anderswo?
Werner stellt sich die Zukunft mit fliegenden Autos vor.
Ja, was weiss ich. In das Jahr 3000 oder so. Da würde ich sehen, wie die Welt aussieht. Fliegende Autos oder was weiss ich, was es da gibt.
(Werner, Schule A, 3-W.) 15.8.95
Für Ercan ist die Zukunft losgelöst von der Erde.
Ja, fliegende Autos, alles umgeändert, ganze Welt. Als ob man keinen Boden hätte.
(Ercan, Schule B, 7-Er.) 14.9.95
Die Zukunft ist eine technisierte Welt.
Ja, kannst einen (Essen) aus dem Automaten ziehen.
(Hasan, Schule B, 7-Ha.) 14.9.95
Die Menschen sind von der Arbeit befreit, da alles von Maschinen erledigt wird.
Was machen die Leute dort?
Bestimmt gar nichts mehr, sind ja alles Maschinen da.
(Sylvia, Schule C, 21-St.) 1.9.95
Anton stellt sich die Zukunft als eine Fortschreibung der Gegenwart vor. Zukunft ist für ihn ein schnellere Gegenwart mit mehr Technologie.
Genau das Selbe, was sie heute auch machen, nur alles ein bisschen schneller; also diese Verkehrsmittel und so was. Alles mit Computern, an jeder Ecke.
(Anton, Schule B, 8-At.) 1.9.95
Auch Olivier sieht eine bessere, modernere Zukunft durch die Ersetzung alter Technik durch Computer.
Ja, ich hoffe, besser. Es wird auch viel durch Computer ersetzt, das kommt ja jetzt schon langsam. Alles moderner. Das fände ich auch toll irgendwie.
(Olivier, Schule C, 24-OK.) 1.9.95
So interessiert Oskar sich für die Technologie der Zukunft.
Mich würde natürlich die Technologie interessieren.
(Oskar, Schule C, 26-OR.) 1.9.95
Günther sieht letztlich die Zukunft als eine verbesserte Gegenwart.
So technisch wird wahrscheinlich alles viel besser sein und so weiter. Ich glaube so Städte und so werden wahrscheinlich so bleiben.
(Günther, Schule C, 23-Gu.) 1.9.95
Diese verbesserte Technologie wird auch auf den Menschen Auswirkungen haben.
20. Jahrtausend oder so. Da gibt es bestimmt, entwickeln sie was gegen Krankheiten gegen Krebs oder so. Vielleicht irgendwie länger leben.
(Albert, Schule B, 9-Ar.) 17.8.95
Die Jugendlichen beschreiben eine technisierte Utopie. Die zukünftige Gesellschaft, welche sie entwerfen, erinnert an die Gegenwart, deren Probleme durch modernisierte und erweitere Technologie gelöst sind. Diese zukünftige Welt ist losgelöst und abgehoben. Der Mensch ist von der Arbeit befreit und heutige körperlich-gesundheitliche Grenzen und Probleme sind zukünftig überschreitbar und lösbar. Sanna kennzeichnet diese technologischen Utopien durch eine eigene Ästhetik und durch den Kontrast zur Natur.
Stelle ich mir auch so vor. Keine Bäume mehr, ganz glatt, alles so eckig und glatt.
(Sanna, Schule C, 21-Sv.) 1.9.95
Die Welt, die Sanna vorstellt ist denaturiert, glatt und eckig. Edon sieht die Zukunft der Welt in der Zerstörung ihrer Grundlagen .
Edon: Gar keine Welt, Mann. 3000 gibt es (keine) Welt mehr.
Werner: Natürlich, Mann, was denn?
Edon: Der Ozonloch platzt, Mann.
(Werner, Edon, Schule A, 3-W., 3-Ed.) 15.8.95
Auch Ramesch sieht kaum eine positive Zukunft
Nein, Zukunft finde ich nicht so toll.
Interviewer/in: Warum?
Ich möchte nicht wissen, was da alles irgendwie ist, wahrscheinlich nur noch ein Grashalm. Nein, habe ich keine Lust zu.
(Ramesch, Schule C, 29-Ra.) 1.9.95
Anton und Piet schreiben die gegenwärtigen Prozesse der Zerstörung fort.
Anton: Weiss ich nicht. Wahrscheinlich noch schlimmer als heutzutage schon.
Piet: Alles kaputt.
(Anton, Piet, Schule B, 8-At., 8-Pa.) 17.8.95
Olivier hofft zwar auf eine Veränderung in der Zukunft, sieht aber die Gefahr in einem alles zerstörenden Krieg.
Ich hoffe, besser als heute. Hoffentlich kein Atomkrieg oder sowas, was Chirac jetzt testen will.
(Olivier, Schule C, 24-OK.) 1.9.95
Für Oskar besteht das Problem der Zukunft in der Frage, ob es gelingt mit Überbevölkerung umzugehen.
Sagen wir mal 2050. Mich würde auch interessieren, was dann mit der Überbevölkerung ist, ob das dann gelöst wird.
(Oskar, Schule C, 26-OR.) 1.9.95
Die »zerstörte Natur«, »Krieg« und »Überbevölkerung« sind negative Utopien. Sie bilden die Kehrseite der technologisierten Utopien. Diesen Fortschreibungen der Gegenwart in die Zukunft, stellen Cemal und Sanna eine andere Perspektive entgegen, die wir als »offen« kennzeichnen können.
Ich meine, ich kann mir das nicht vorstellen, weil - das kommt mir irgendwie komisch vor, weil nach 30 Jahren kann man nicht wissen, was auf die Welt kommt.
(Cemal, Schule A, 1-C.) 15.8.95
Interviewer/in: Wie würde es dort aussehen?
Weiss ich nicht. Deswegen fahre ich da ja hin.
(Sanna, Schule C, 21-Sv.) 1.9.95
Die technologisierte Utopie mit ihrem Gegenstück, der Katastrophe, fasst Zukunft als die lineare Fortschreibung der Gegenwart, dem gegenüber steht eine Vorstellung von Zukunft, die prinzipiell offen ist und den Ort des Anderswo denkbar macht. Hier wird in den Aussagen der Jugendlichen eine Dialektik von Kontinuität und Veränderung deutlich.
Ercan formuliert dieses Verhältnis von Kontinuität und Veränderung, im Rahmen eines offenen Prozesses, für zukünftige Sprache.
Selbe Sprache bestimmt. Vielleicht wird sich ja auch etwas ändern, wissen wir ja nicht. Können wir jetzt nicht sagen.
(Ercan, Schule B, 7-Er.) 17.8.95
Die Voraussage in diesem offenen Prozess, also ob eine Sprache sich verändert oder nicht, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Aber es lassen sich Richtungen der Entwicklung angeben. So beschreibt Olivier eine Veränderung hin zu einer Sprache, die alle Menschen gemeinsam sprechen.
Ich könnte mir vorstellen, dass irgendwann alle Menschen eine Sprache sprechen werden, dass das irgendwann beschlossen wird: So, das wird jetzt...
(Olivier, Schule C, 24-OK.) 1.9.95
Er sieht in der Zukunft die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Beschlusses. Dieser Beschluss führt eine einheitliche Sprache ein, die von allen Menschen gesprochen wird. Solch eine Sprache kann laut Konstantin eine bereits existierende Sprache sein.
Auf jeden Fall eine der Weltsprachen: Entweder Englisch, Deutsch oder Spanisch. (Konstantin, Schule C, 24-Kn.) 1.9.95
Während Piet von einer einzigen Sprache als Weltsprache ausgeht, sieht Anton eher eine Anordnung mehrerer Sprachen.
Interviewer/in: Wie wäre das denn mit der Sprache in der Zeit? Welche Sprache würde man, oder...
Anton: Ich schätze, dass Englisch sich noch mehr einbürgern würde.
Piet: Nur Englisch.
Anton: Hm.
Interviewer/in: Du meinst, dass denn da alle Englisch sprechen würden?
Anton: Nicht alle, dass aber die Sprache ziemlich weit herum geht. Also, dass sie mehr Englisch reden als ihre Hauptsprache.
(Anton, Piet, Schule B, 8-At., 8-Pa.) 17.8.95
Die sprachlichen Verhältnisse der Zukunft werden in Richtung einer Vereinheitlichung beschrieben. Zwei Varianten dieser Vereinheitlichung werden formuliert: Homogenisierung: eine Sprache, die alle gleich sprechen und verstehen, setzt sich durch und verdrängt alle anderen. Dominanz: eine Sprache ist als Hauptsprache gegenüber anderen Sprachen hegemonial. Während der einen Variante eine monolinguale Vorstellung von Weltsprache zugrunde liegt, beruht die andere Variante trotz Hierarchie auf einer multilingualen Vorstellung. Gemeinsam ist beiden die Vorstellung einer einheitlichen Universalsprache.
Oskar sieht verschiedene Möglichkeiten, welche Gestalt diese Universalsprache annehmen könnte.
... man wird, entweder man bleibt bei den Standardsprachen, die es hier jetzt auch gibt; jeder behält seine. Oder man wird eine allgemeine Sprache entwickeln, die wirklich jeder sprechen und verstehen kann.
Interviewer/in: Wäre das eine neue Sprache? Oder würde man da die, die es schon gibt, auf die aufbauen?
Ich würde sagen, vielleicht bauen die von jeder Sprache etwas, damit auch alle daran beteiligt sind.
(Oskar, Schule C, 26-OR.) 1.9.95
Fortschreibung der gegenwärtigen Standardsprachen auch für die Zukunft ist eine Möglichkeit, die Oskar benennt. Eine weitere Möglichkeit sieht er in der Entwicklung einer neuen Sprache, die demokratisch strukturiert sein sollte. »Rezeptivität« und »Expressivität« für alle sollten das Ziel dieser Sprachentwicklung sein und gleichzeitig sollten existierende Sprachen darin repräsentiert sein. Für Olivier ist das Deutsche weniger als Weltsprache geeignet.
Vielleicht eine, die wirklich ganz simpel ist, die einfach ist. Also, Deutsch ist ja zum Beispiel ziehmlich schwer.
(Olivier, Schule C, 24-OK.) 1.9.95
Eine Weltsprache sollte einfach und von jedem leicht erlernbar sein, fordert Olivier.
So, dass es wirklich ganz einfach ist. Jeder, Grammatik, Aussprache - ganz einfach. Dass das wirklich jeder leicht lernen kann.
(Olivier, Schule C, 24-OK.) 1.9.95
Oben hatte Oskar schon die sprachlichen Verhältnisse der Gegenwart für die Zukunft fortgeschrieben. Auch Anton schreibt die Vielfalt der heutigen Sprachen für die Zukunft fort, ohne aber, wie Olivier, auf andere sprachliche Entwicklungsmöglichkeiten einzugehen.
Interviewer/in: Entschuldige. In welcher Sprache würden die Leute dort sprechen?
Genau wie heute auch, denke ich mal.
Interviewer/in: Welche Sprache ist das? Oder welche Sprachen?
Deutsch, Englisch, Französisch oder Isländisch, Dänisch, Finnisch; wo die gerade sind. Tschechisch.
(Anton, Schule B, 8-At.) 1.9.95
Anton setzt, in der uns schon bekannten Art und Weise, »Sprache« und »Nationalität« auch für die Zukunft gleich und sieht auch dann noch nationale Normsprachen am Werk. Susanne beschreibt die Sprachen in denen die Interaktionen der Zukunft stattfinden, auch als Fortsetzungen der gegenwärtigen sprachlichen Verhältnisse von Herkunftssprache und Normsprache der Bundesrepublik.
Interviewer/in: In welcher Sprache sprechen die Leute dort?
Verschieden, also Deutsch, Türkisch, verschieden.
(Susanne, Schule B, 18-Sa.) 17.8.95
Serpil verortet sich selbst in der zukünftigen Türkei und beschreibt das Verhältnis von Herkunftssprache und Normsprache, ebenfalls als eine Verlängerung der Gegenwart hinein in die Zukunft.
Interviewer/in: In die Zukunft. Kannst du auch den Ort sagen?
Türkei.
Interviewer/in: Wen nimmst du mit?
Den ich mitnehmen will, der ist ja schon da. {lacht}
Interviewer/in: Welche Sprache würden sie dort sprechen?
Kurdisch.
Interviewer/in: Kurdisch?
Ja.
Interviewer/in: Oder welche Sprachen?
Kurdisch. Die Mädchen sprechen da meistens Türkisch. Die wollen nicht mehr so Kurdisch sprechen, die wollen Türkisch lernen. Die da in der Türkei, die in unserer Stadt.
(Serpil, Schule B, 15-Se.) 17.8.95
In den bisher herausgearbeiteten Perspektiven der Jugendlichen über die zukünftigen sprachlichen Verhältnisse wurde bisher das Fortschreiben der gegenwärtigen Verhältnisse deutlich. Allgemeine Verständigung wurde durch die Einsetzung einer einheitlichen Sprache (Homogenisierung), durch die Vorherrschaft (Dominanz) einer Sprache oder durch die Produktion einer neuen Sprache erreicht. Im folgenden bieten uns die Jugendlichen noch andere Strategien an, um Verständigung herzustellen. Albert zum Beispiel bietet uns folgende Lösung an.
Kriegt man eine Maschine um den Hals, tippt man auf die Sprache, und dann spricht man sie.
(Albert, Schule B, 9-Ar.) 17.8.95
Auch Edon und Werner lösen das Verständigungsproblem durch diese Art der Technologie.
Interviewer/in: Wie wäre das denn mit der Sprache in der Zeit? Wie würdest du das mit der Sprache?
Edon: Mit der Sprache, dann würde ja jede Sprache, dann würde das kompatibel sein. Das ist so wie Computer. Kompatible Teile, dann wäre die Sprache auch kompatibel.
Werner: Ich glaube, dort würde es auch eine Maschine geben, die kannst du so in deinen Kopf hineintun, dann kannst du alle Sprachen sprechen.
(Werner, Edon, Schule A, 3-W., 3-Ed.) 15.8.95
Das Verständigungsproblem stellt sich auf Grundlage einer sprachlichen Vielheit, während sprachliche Einheit die Vorstellung hervorruft, das Verständigungsproblem sei gelöst. Während die sprachliche Vielheit die gegenwärtigen sprachlichen Verhältnisse reflektiert, ist die sprachliche Einheit ein zukünftiges Verhältnis. Die gegenwärtige Vielheit und die zukünftige Einheit bilden ein sich gegenseitig erzeugendes Gegensatzpaar. Das gegenwärtige Problem der Kommunikation wird in die Zukunft projeziert, in der entwickelte Technologie zur Lösung des Problems vorhanden ist. Die Herstellung sprachlicher Verständigung, also die Produktion einheitlicher Kommunikation wird in die Technologie verlagert. Homogenisierung, Dominanz, Produktion neuer Sprachen und technologisch hergestellte Verständigung beschreiben so immer wieder die Beziehungen zwischen sprachlicher Gegenwart und Zukunft. Im letzten Abschnitt werden wir das Verhältnis von Gegenwart, Zukunft und Utopie in Bezug auf die Vorstellungen der untersuchten Jugendlichen von Gemeinschaft und Individuum betrachten.
Meltem, Fikriye und Selma schildern eine Zukunft, die durch das Eingebundensein in eine Gruppe, durch Geschlossenheit und Statik gekennzeichnet ist. Auch hier treffen wir wieder auf eine Vorstellung von Zukunft, die als unveränderbar erscheint, als in die Zukunft statisch verlängerte Gegenwart.
Interviewer/in: Was würdest du da tun? Was tun die Leute da, in dieser Zeit?
Serpil: Gesichter darf man nicht sehen, lange Röcke; die dürfen da nicht so raus vor die Tür. Die müssen ganz vernünftig sein, nicht die Jungs so ankucken und nicht vom Fenster rauskucken...
Meltem: {lacht}
Serpil: Und nicht vor der Tür sitzen und die Leute immer ankucken und nicht immer so viel draussen rumgehen und nicht immer Brot kaufen gehen und so. Firin [Türkisch: "Ofen"], was heisst das? Wo man da frisches Brot rausholt. Genauso wie beim Bäcker. Da dürfen die Mädchens nicht hingehen, nur die Jungs.
Interviewer/in: In dieser Zeit, in die du fliegen würdest? In der du dich jetzt befindest?
Serpil: Das ist die Zukunft.
Fikriye: Ja, ja, Zukunft. Das ist jetzt so, und das bleibt auch so.
Serpil: Das ist die Zukunft.
Fikriye: Wie es jetzt ist, das bleibt auch so. Weil es verändert sich nichts. Wenn sich etwas verändert hätte, dann hätte es sich schon bei meiner Schwester verändert. Nichts hat sich verändert, und ich glaub' auch nicht, dass sich noch irgendwas verändert. Weil, bei uns im Dorf ist das so, die gehen allen vier oder fünf Mal nach Mekka.
(Meltem, Fikriye, Serpil, Schule B, 15-Se.) 17.8.95
Die Schilderungen von Meltem, Fikriye und Serpil beschreiben ihrDorf als einen Ort der ewigen Gegenwart. Die Veränderung in Richtung einer anderen Zukunft findet nicht statt. Diese utopielose Gegenwart finden wir bei Lale nicht. Obwohl sie sich ebenso auf den ländlich strukturierten Osten der Türkischen Republik bezieht, schildert sie die Vorstellung eines Anderswo, jenseits der gegenwärtigen Verhältnisse.
Ich würde in die Zukunft fahren. Wenn unser Land wieder, wenn wir unser Land haben, da will ich gerne. Ich will ein einziges Mal sehen, wie Kurdistan befreit wird und wir in unser Land zurück kehren.
Interviewer/in: Und wie
Wenn wir unter unseren Menschen leben können.
Interviewer/in: Wen würdest du mitnehmen?
Meine Geschwister, Mutter, Bekannte.
Interviewer/in: Was würdet ihr dort machen? Was würdest du dort machen? Was würden die anderen dort machen?
Normal wie ein Mensch in seinem Land wohnt; was die alles machen.
(Lale, Schule B, 16-Le.) 17.8.95
Lale formuliert eine Utopie der nationalen Selbstbestimmung, ein Leben unter »ihres/seinesgleichen«. Die zukünftige Identität von Sprache (der kurdischen) und Nation, stellt sie sich als die einer einheitlichen Gruppe vor. Auch Susanne thematisiert diese harmonische Gruppe, aber in einem anderen Kontext.
Ich würde in die Zukunft fliegen, und zwar auf einen Bauernhof.
Interviewer/in: Wen würdest du mitnehmen?
Ich würde erstmal meine Familie und meinen Freund mitnehmen.
Interviewer/in: Was tun die Leute? Kannst du das beschreiben, wie stellst du dir das vor?
Also, ich möchte am liebsten eine ganz grosse Familie, dass die ganze Familie zusammen ist, und dass es keinen Streit gibt und überhaupt keinen Krieg und so. Das wäre schön.
Interviewer/in: Was tun die Leute da, wo du hinfliegst, und was tust du?
Wir unternehmen sehr viel. Es können ja auch andere dasein. Also ich würde da auch andere Leute kennenlernen, die auch so Vertrauen zu sich haben und nicht gleich verprügeln oder so.
(Susanne, Schule B, 18-Sa.) 17.8.95
Diese von Abwesenheit von Gewalt sowie Streit und die Anwesenheit von Vertrauen sind mit der Vorstellung einer homogenen Gemeinschaft verbunden. Diesen Gemeinschaftsvorstellungen von einem sich freiwillig oder unfreiwillig unterordnenden Einzelnen, steht die Vorstellung von der eigenen personalen Zukunft der Jugendlichen gegenüber. Diese personale Zukunft ist nicht nur auf einen Ort des Anderswo, als das die Türkei für die Jugendlichen dient, beschränkt, sondern wirken, wie hier bei Fikriye, zerissen.
Wenn ich meinen Beruf in der Hand habe, wenn ich meine Ausbildung fertig habe, und dann würde ich erst in die Türkei fliegen. Weil fast meine ganzen Bekannten sind in der Türkei. Die Wichtigsten sind doch in der Türkei. Mein Vater ist zum Beispiel in der Türkei. Meine Mutter möchte auch später mal für immer in die Türkei. Sie sagt: "Hier kann ich nicht mehr leben. Ich glaub, ich schaffe das hier nicht mehr." Einerseits will ich hier bleiben, weil hier geboren und aufgewachsen bin. Hier habe ich die ganzen Leute kennengelernt. Hier habe ich gute Zeiten und schlechte Zeiten gehabt, aber ein bisschen will ich auch in der Türkei verbringen, die Zeit; und nicht bei meiner Beerdigung in der Türkei bin.
(Fikriye, Schule B, 15-Fi.) 17.8.95
Dieser personale Zukunftsentwurf, es ist Fikriyes Lebensentwurf, bezieht dieses Anderwo, diese Utopie als das die Türkei hier dient, mit ein. Ercan, Hasan und Koray beschreiben ebenfalls einen Lebensentwurf.
Interviewer/in: Was heisst alt? Wie alt möchtest du denn werden?
Hasan: 18.
Ercan: 20.
Kerem: Auch 18.
Interviewer/in: Ist besser, oder wie? Was ist besser daran, wenn man älter ist?
Hasan: Heiraten.
Ercan: Mit 18, 19 Armee machen, mit 20 wiederkommen; hast du schon einen Führerschein, heiraten, alles mögliche. Dann hast du alles hinter dir.
Interviewer/in: Und was kommt danach? Nach dem Heiraten?
Hasan: Kinder!
Ercan: Kinder! Dann werden sie erzogen, dann werden wir Jahr für Jahr älter. Und dann werden wir abkratzen, dann leben die für uns weiter.
Hasan: Erstmal bist Opa.
Ercan: Ich werd doch von Jahr zu Jahr älter!
Hasan: Kratzt du ab, ohne Opa zu werden?
Ercan: Ja.
(Ercan, Hasan, Kerem, Schule B, 7-Ko.) 17.8.95
Dieser Lebensentwurf von Führerschein, Armee, heiraten, Kinder zeugen, Grossvater werden und Tod gleicht aber nicht dem personalen Zukunftsentwurf von Fikriye, sondern weist verfestige soziale Qualitäten auf: einen sozialen Zukunftsentwurf, der wieder die Struktur und Erwartungen der gegenwärtigen Gesellschaft affirmiert. Das »Älter werden« wird begriffen als eine wachsende Teilhabe an nationalen und gesellschaftlichen Pflichten.
Zukunft ist aber auch durch den Wunsch nach individuellen Konsum und individueller Freiheit gekennzeichnet. So Alexa wünscht sich
Einkaufen, die neusten Sachen, und Discos, bis lange bleiben, bis vier. Alles erleben, was man erleben kann. Irgendwann würden wir wieder zurückfliegen und hätten die ganzen Klamotten und alles.
(Alexa, Schule B, 16-Al.) 17.8.95
Alexas Wunsch nach individueller Teilhabe an Konsum und Freiheit birgt auch immer noch eine andere Gefahr. Im Gespräch mit Canan artikuliert dies Alexa.
Canan: Ich weiss es jetzt: Zukunft. Welches Land? Nach Hollywood! {lacht}
Alexa: Ich wusste, dass du das sagtst! Macht sie immer, entweder ein Penner oder ein Star.
(Alexa, Canan, SchuleB, 16-Al., 16-Ce.) 17.8.95
Der Aufstieg als Star, in eine personale Zukunft, welche sie mit der sozialen Zukunft positiv verbindet oder der Abstieg in die Gosse und damit der personale Ausschluss aus der sozialen Zukunft. Diese Vorstellung von Zukunft zwischen personalem und sozialem Aufstieg oder Abstieg bringt Anton zu der hoffnungsvollen Bemerkung über die Zukunft, die durch das gegenwärtige Handeln bedingt ist.
Aber es könnte auch schöner werden, wenn die Leute jetzt mal vielleicht wieder einlenken würden
(Anton, Schule B, 8-At.), 17.8.95
270 Lefebvre, Henri (1990: 78)
271 Ebd.: 29
272 Simmel, Georg: Das Individuum und die Freiheit. (1993: 48)
273 Lefebvre, Henri (1990: 140)