Aspekte der Interaktionsordnung des Übergangs:
Sprechgemeinschaften der Strasse
Strasse und Vergemeinschaftung
(Ver)Trauen und homo(gene) Gemeinschaften
Von eigenen und fremden Geschlechtern
Gendered Talk: »Coolness« und »Höflichkeit«
(Ab)Trennungen: Körper-Sprache
Orte zwischen Institution und Strasse: Vereine, Jugendhäuser
Nachdem wir im vorherigen Abschnitt die soziale Konstitution von Sprechgemeinschaften innerhalb des Hauses, also in der Kernfamilie und mit der Verwandtschaft fokusiert haben, werden wir in diesem Abschnitt die Schwelle des Hauses durch die Tür verlassen. Wir begeben uns in den gesellschaftlichen Raum der als Strasse bezeichnet wird und werden dort die Sprechweisen und die damit verbundene Konstitution von Sprechgemeinschaften auf der Strasse näher betrachten.
Während, wie wir schon gesehen haben, die Schwelle vom Haus auf die Strasse eine Hürde für einige der befragten Mädchen darstellt, scheint dies für die interviewten Jungen nicht unbedingt der Fall zu sein.
Dann gehe ich ein bisschen Spazieren mit meinem Freund. Sonst nichts.
(Ömer, Schule A, 4-Öz.) 15.8.95
Auf der Strasse, so möchte ich nun die Ort und ihre Verbindungswege ausserhalb des Hauses nennen, finden sich die Jugendlichen in den unterschiedlichsten Formen zusammen und werden gemeinschaftlich tätig.
Ja, wenn ich nach Hause gehe, dann gehe ich raus, erst mal was essen. Danach Spielplatz, bisschen Fussball spielen.
(Erdem, Schule A, 2-E.) 15.8.95
Die Strasse mündet an Orten, an denen andere Jugendliche warten.
Albert: Ja, also, bei mir, Hakan,der auch eine Klasse, der wohnt bei mir. Der holt mich ab, dann gehen wir Fussball spielen auf den Spielplatz. Da sind auch Grössere, so Jungs, da spielen wir immer Fussball.
(Albert, Schule B, 9-Ar.) 17.8.95
Diese »Anderen«, die dort angetroffen werden, sind durch unterschiedliches Alter und Nationalitäten gekennzeichnet, berichtet Uur.
Manchmal mit Deutschen, manchmal nur mit Türken, manchmal nur mit anderen; oder meistens auch gemischt, unternehmen wir zusammen was, gehen spazieren.
(Uur, Schule C, 27-Uf.) 1.9.95
Das Spazieren erweist sich als häufige Tätigkeit der Jugendlichen. Der Begriff des »Spazierens« lässt sich etymologisch zunächst auf das italienische »spaziare«, also »sich ergehen«, »sich ausbreiten«, zurückführen. Dieses hat wiederum seine Wurzeln im lateinischen »spatium«, dem »Wegstück181«. So ergehen sich die Jugendlichen ein Stück des Weges, sie breiten sich in einem Gebiet aus. Mädchen haben, wie wir im Verlauf der Untersuchung noch sehen werden, eher Schwierigkeiten in diesen Gebieten Fuss zu fassen. Für die Jungen ist es dagegen eine Leichtigkeit sich auszubreiten und diese Orte, die durch Strassen und Wegstücke verbunden sind als ihre Domänen182 zu ergehen und in Besitz zu nehmen. So lässt sich die Strasse vorläufig als männliche Domäne kennzeichnen. Die Abwendung vom Haus, von der Mutter und die Hinwendung zur Strasse, zu den Freunden, hat für einige Jungen auch emotionale Aspekte. Davon berichtet uns Werner. Er bespricht Probleme nicht mit seiner Mutter, sondern wie auch Edon, mit Freunden, weil er ihnen "vertraut".
INTERVIEWER/IN: Mit wem würdet ihr über eure Probleme reden?
Edon: Mit Freunden am besten.
Werner: Ja.
Edon: Zum Beispiel mit ihm, Ali, Arkin; mit denen kann man reden, denen vertraue ich auch.
(...)
Ja. Also ich rede auch nicht so mit meiner Mutter über meine Probleme, das mag ich einfach nicht.
(Werner, Edon, Schule A, 3-W., 3-Ed.) 15.8.95
Es bilden sich geschlechtlich homogene Zusammenschlüsse auf der Strasse. Diese, zum Grösstenteils männliche, Zusammenschlüsse haben unterschiedliche Gestalten. Die Strukturen dieser sich konstituierenden geschlechtlich homogenen Sprechgemeinschaften der Strasse werden wir nun genauer betrachten.
Der Zusammenschluss der Jungen auf der Strasse erfolgt in Paaren, Freundesgruppen, Cliquen und Gangs. Die Jugendlichen berichten von bestimmten Formen der Vergemeinschaftung, die sie bevorzugen, von anderen grenzen sie sich ab.
INTERVIEWER/IN: Bei dir? Bist du in der gleichen Gruppe, oder bist du in einer anderen Gruppe?
Nuretin: Nein, nein. Ich geh mit so einem Typen herum.
INTERVIEWER/IN: Das ist so ein guter Freund?
Nuretin: Ja, ein Freund. Mit dem rede ich Türkisch.
INTERVIEWER/IN: Bist nicht in so einer grösseren Clique drin?
Nuretin: Nein. Da ((darf)) ich nicht rein.
Aslan: Wieso?
INTERVIEWER/IN: Du willst nicht oder du darfst nicht?
Nuretin: Ich will nicht.
INTERVIEWER/IN: Und warum nicht?
Nuretin: Ist alles Schwachsinn.
INTERVIEWER/IN: Gefällt dir nicht?
Nuretin: Ne. Mag ich nicht.
(Aslan, Nuretin, Schule B, 9-Ad., 9-Ne.) 17.8.95
Nuretin berichtet von kleinsten Zusammenschlüssen, der des Paares, der Freundschaft zwischen zwei Jugendlichen. Paul grenzt diese Freundschaft, das Paar von grösseren Gruppe ab.
INTERVIEWER/IN: Ihr seid in keiner grösseren Gruppe?
Wir nicht, aber so Freundschaft ja.
(Paul, Schule B, 8-Pe.) 17.8.95
Yakup und Uur vergemeinschaften sich in grösseren Freundesgruppen, die sie wiederum von Gangs abgrenzen.
INTERVIEWER/IN: Seid ihr in Gangs drin? In Jugendgruppen, Gangs?
Yakup: Nein
Uur: So nicht, aber unter Freunden, so Freundesgruppen.
(Yakup, Uur, Schule C, 27-Uf.) 1.9.95
Oskar grenzt die Gruppe von der Clique ab. Seine Gruppe ist gekennzeichnet durch den Gebrauch des Deutschen, gemeinsame Interessen und gemeinsames Handeln.
Zum Beispiel bei uns in der Schule, die, unsere Jungsgruppe , die würde ich als normale Gruppe bezeichnen, nicht unbedingt als Clique.
(...)
INTERVIEWER/IN: Was macht ihr denn so?
Da reden wir Deutsch miteinander. Ja, wir treffen uns, dann beschäftigen wir uns freizeitmässig. Manche von uns teilen auch die Interessen der anderen.
INTERVIEWER/IN: Hm.
Zum Beispiel ich und ein anderer, wir sind leidenschaftliche Computerfans. Wir treffen uns manchmal bei mir oder bei ihm und arbeiten oder spielen, oder irgendwas.
(Oskar, Schule C, 26-OR.) 1.9.95
Ähnliches berichten auch einige Mädchen. Else und Karen beschreiben ihre Art der Bindung innerhalb von Zusammenschlüssen. Sie grenzen ebenfalls ihre Art des Zusammenschlusses von dem einer Clique ab.
Interviewer/in: Ist das eine Art Clique, also eine feste Gruppe?
Karen: Nein, also das sind immer die selben Leute, weil bei mir ist das so, ich brauche immer ein bisschen länger, bis ich Leute so kennen lerne; aber wenn ich die Leute dann auch echt mag, dann versuche ich auch, eine feste Bindung zu denen zu haben. Die Freundinnen, die ich eben habe, die habe ich schon länger. Die Eine, die habe ich schon zehn Jahre, und die andere habe ich jetzt zwei Jahre. Mit denen mache ich das meist so.
Else: Ich mag keine Clique.
INTERVIEWER/IN: Wie würdest du die Gruppe oder die Leute, mit denen du fest zusammen bist, beschreiben?
Karen: Mit der einen, die ich schon seit zehn Jahren kenne, mit der bin ich jetzt seit fünf Jahren fest befreundet. Mit der rede ich echt über alles. Wenn ich irgenwelche Probleme habe, komme ich am ehesten zu ihr. Bei ihr ist das auch so, dass sie dann zu mir kommt, wenn sie Probleme hat, weil sie mit den Leuten, die sie trifft so oberflächlich, so im Small talk redet. Mit mir ist das eben so, dass wir richtig wichtige Sachen, die uns echt betreffen, reden. Die andere Freundin, mit der rede ich zwar auch, aber da machen ich mehr, wir unternehmen mehr als wir reden.
(Else, Karen, Schule C, 22-El., 22-Kr.) 1.9.95
Für die beiden Mädchen sind feste Bindung, langandauernde Freundschaften, oft seit frühester Kindheit kennzeichnend für ihre Form der Gruppe, die als rein weibliche erkennbar ist. Auch das Bereden eigener Probleme und gemeinsame Unternehmungen erscheinen ihrer Gruppe wichtig. Auch für Oskar und Konstantin ist die Dauer des Zusammenhalts wichtig. Sie kennzeichnen ihren Zusammenhang als Clique. Aus den Namen der Mitglieder geht hervor, dass es sich auch hier um einen männlichen Zusammenhang handeln muss.
Interviewer/in: Ist das eher eine Gang, wo ihr drin seid, oder ist das eher eine Gruppe, oder sind das eher Einzelfreundschaften? Wie ist das denn bei euch?
Konstantin: Wenn wir irgendwo hingehen, dann gehen wir meist mit Jan, Denny, O. und so.
Olivier: Genau. Das ist so eine Clique halt.
Konstantin: Das ist eine kleine Clique.
INTERVIEWER/IN: So eine kleine Clique dann?
Olivier: Das ist so eine Klassenclique sozusagen. Wir waren mal in der fünften Klasse alle zusammen.
Konstantin: Aber das hält immer noch.
(Olivier, Konstantin, Schule C, 24-OK, 24-Kn.) 1.9.95
Auffallend ist hier, dass ihre Gruppenzusammenhänge aus der schulischen Lebenswelt stammt. Klasse ist hier eine Einheit die durch übergeordnete Institutionen zusammengesetzt werden und die nicht freiwillig sind. Demgegenüber berichten Werner und Edon von ihrer Gang, der sie sich selbst zuordnen. Die Zuordnung erscheint freiwillig, da Werner entscheiden kann, ob er dazukommt oder nicht.
Edon: Wir treffen uns im Park. Da besprechen wir die Lage, checken wir durch, was abgeht. Dann gehen wir freitags, samstags in die Disco. Aber mit vielen Leuten, so mit 50 Mann gehen wir dahin.
INTERVIEWER/IN: Du bist in so einer richtigen Gang drin?
Edon: Ja.
INTERVIEWER/IN: Ihr trefft euch auch jeden Tag?
Edon: Ja.
INTERVIEWER/IN: Wie ist das bei dir?
Werner: Ja, das bin ich auch. Ich treffe mich nicht so oft mit ihnen, aber ja.
INTERVIEWER/IN: Beschreibe mal, was du den ganzen Tag machst.
Werner: Hab´ vorhin schon gesagt. Entweder treffe ich mich mit denen oder ich gehe zum Training oder gehe raus, was weiss ich - Fahrradfahren.
(Werner, Edon, Schule A, 3-W., 3-Ed.) 15.8.95
Werner und Edon kennzeichnen ihre Gang durch einen gemeinsamen Treffpunkt und gemeinsame Unternehmungen, sowie eine grössere Anzahl von Personen. Während Edon angibt sich jeden Tag mit ihnen zu treffen, scheint Werner nur gelegentlich Teil der Gang zu sein. Über gemeinsame Unternehmungen berichten die beiden.
Edon: Das sind normale Leute.
INTERVIEWER/IN: Sind das alles Jugendliche?
Edon: Ja, Jugendliche, zwischen 14 und 18. Wir heissen O.-Strasse.
INTERVIEWER/IN: Das ist der Name der Gang?
Edon: Ja. Wenn wir Probleme haben / also wir haben was auf die Fresse gekriegt, dann gehen wir zu den Älteren und sagen das. Dann machen wir einen Termin und dann gehen wir uns streiten.
INTERVIEWER/IN: Mit den Älteren dann, oder wie? Mit wem streitet ihr euch dann?
Werner: Nein. Also /
Edon: Nicht mit Älteren, mit anderen Gangs.
INTERVIEWER/IN: Mit den älteren Gangstern, die grösser sind?
Edon: Nein, die uns angemacht haben.
Werner: Dann gehen wir hin, dann bekommen die auch eine auf´s Maul.
(Werner, Edon, Schule A, 3-W., 3-Ed.) 15.8.95
Die Gang ist durch eine bestimmte Altersgruppe und einen bestimmten Ort gekennzeichnet. Gleichzeitig stellt sich über das Alter auch eine Hierarchie her. Die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gangs haben ihre Ursache in dieser Altershierarchie und der Zugehörigkeit zu einem anderen Ort, einem anderen Territorium. Die Älteren der Gang bieten den Jüngeren Schutz.
Im Folgenden werden wir den Weg der graphischen Darstellung des bisher berichteten gehen. Es lassen sich unterschiedlichen Formen der Zusammenschlüsse in denen sich die Jugendlichen organisieren graphisch darstellen:
Diese Graphik soll uns als heuristisches Hilfsmittel dienen. Kleine Zusammenschlüsse scheinen durch engere Bindungen, eine gemeinsame Zeit gekennzeichnet zu sein. Sie sind aber eher relativ schutzlos. Grössere Zusammenschlüsse bieten zwar Schutz auf einem Territorium, also im Raum, sind aber dann eher durch lose Bindungen gekennzeichnet. Wir möchten damit nicht ausschliessen, dass in grossen Zusammenschlüssen keine engen Bindungen hergestellt werden können. Wir vermuten jedoch, das grössere Zusammenschlüsse sich durch die Verknüpfung kleinerer Zusammenschlüsse ergeben. Zieht man etwa die Studie "Street Corner Society183« aus dem Jahre 1943 über Gruppenstrukturen in einem Einwandererquartier einer amerikanischen Grossstadt zu Rate, so wird dort ein komplexes Gefüge der Vermittlung innerhalb männlicher Zusammenschlüsse, aber auch zu anderen sozialen Gruppen beschrieben.
Wenden wir uns zur weiteren Klärung der weiblichen Perspektive auf das Gruppengeschehen zu. Lolo beschreibt, aus ihrer weiblichen Perspektive, die Kontakte die über die engere Freundschaft zu ihrer Freundin hinausgehen. Sie sind lose, man kennt die Leute nur noch "vom Namen" her.
INTERVIEWER/IN: Und wie würdest du die Gruppe beschreiben, oder die Leute, mit denen du dich triffst?
Ja, nicht Clique. Ich bin halt mit ihr befreundet, und dann lernt man halt manchmal neue Leute kennen. Man lernt sie kennen, und dann kennt man sie nur vom Namen. Also, ich bin nicht so mit denen befreundet.
(Lolo, Schule C, 20-Li.) 1.9.95
Kadriye lenkt die Aufmerksamkeit auf die Differenz zwischen Mädchen die "Reden", denen es kaum gelingt sich in grösseren Zusammenhängen zu organisieren und Jungen, die sich in gleichgeschlechtlichen Gemeinschaften zusammenschliessen, wenn äussere Konfliktsituationen auftauchen. Durch die Spiegelung an »Jungencliquen« berichten Kadriye und Nadja von ihren eigenen, weiblichen Schwierigkeiten mit der Bildung von Cliquen.
INTERVIEWER/IN: Habt ihr eine Clique?
Nadja: Ja, wir hängen immer mit so Leuten rum, das sind aber viele.
Kadriye: Aber wir sind nicht in einer richtigen Clique, ne. Wir wollten nämlich eine Clique machen, aber zu einer richtigen Clique braucht man auch richtige Freunde; und nicht Freunde, die gleich ((aufsteht und geht)), richtigen Freunde. Wir wollten machen, aber da wir keine haben, so richtig, denen man vertrauen kann, bleiben wir so in einer normalen Freundschaft.
(...)
Nadja: Mit denen klappt es auch mit der Clique und so, nicht so wie bei uns. Die haben so eine ganz grosse Clique, und es klappt auch alles besser.
Kadriye: Ich weiss nicht, die Jungs haben eine bessere Freundschaft zueinander als die Mädchen. Die Mädchen müssen immer Vertrauensbruch machen, - ich weiss nicht, wie das jetzt heisst - über andere schlecht labern, lästern hinterher. Aber bei den Jungs ist das voll okay. Die lästern nicht - ich mein, es gibt auch dumme Jungs - die lästern nicht, sind voll okay. Lassen sich gegenseitig nicht im Stich und wenn, dann haben sie Streit oder so. Die Jungs haben viel mehr / bessere Freundschaft als die Mädchen. Die können sich ....
(...)
Kadriye: Eigentlich könnten die Mädchen viel bessere ((Freunde sein)), wenn sie bloss den Kopf benutzen würden, aber sie tun das nicht.
(Kadriye, Nadja, Schule A, 10-Ka., 10-Na.) 15.8.95
So beschreiben sie ihr Bild von den männlichen Zusammenschlüssen als gekennzeichnet durch Quantität ("grosse Clique"), Funktionalität ("klappt besser"), durch Intimität/Loyalität ("bessere Freundschaft", "nicht im Stich", Vertrauen) und durch bestimmte Kommunikationsregeln ("lästern nicht", "schlecht labern"). Die folgende Graphik soll dies veranschaulichen.
Bevor wir nun übergehen von der geschlechtlich homogenen Vergemeinschaftung zum Verhältnis von Jungen und Mädchen werden wir die bisherigen Ergebnis, die im obigen Graph dargestellt sind, nochmals kurz zusammenfassen. Jugendlichen organisieren sich in Zusammenhängen, die wir auf eine Art Kontinuum anordnen können: vom »Paar« über die »Freundschaftsgruppe« bis zur »Gang«. Mit der Grösse des Zusammenhanges nimmt seine Fähigkeit Schutz zu gewähren zu. Dieser Zunahme der eigenen Sicherheit ist gleichzeitig mit der Unterordnung unter eine Altershierachie verbunden. Auch erscheinen die egalitären Bindungen untereinander als lockerer. Gleichzeitig erscheint dies bei den Mädchen merkwürdig verkehrt. Sie berichten von der Schwierigkeit grössere Zusammenhänge zu bilden. Für sie sind die grösseren Zusammenhänge der Jungen durch Vertrauen, Freundschaft und gegenseitigen Schutz gekennzeichnet. Die Strasse stellt sich zunächst als männliche Domäne dar. Mädchen halten sich dennoch auf der Strasse auf und behaupten ihren Platz dort. Wie ist dieses Verhältnis von Mädchen und Jungen auf der Strasse. Zur Klärung dieser Frage wenden wir uns weiteren Aussagen über die Beziehungen der Geschlechter unter den untersuchten Jugendlichen zu.
Andreas und Erdem kennzeichnen ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht durch ein funktional-mechanisches Bild, in dem Frauen die »Energiespender« für den männlichen »Motor« darstellen.
Interviewer/in: In eurer Gang, sind da Mädchen drin oder ist das getrennt?
Andreas: Was Mädchen?
INTERVIEWER/IN: Das ist ganz getrennt? Und wenn, dann ist das eine Freundin, aber die zieht nicht mit euch rum, oder?
Andreas: Die gehört nicht dazu. Die ist nur als Batterie da, zum ((Aufladen)). {lacht}
Erdem: ((Aufladen)) {lacht}
(Erdem, Andreas, Schule A, 2-E., 2-A.) 15.8.95
Cemal beschreibt den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen so:
Weil, einen Freund kann man nicht so schnell verlieren. Zum Beispiel wenn ich mich jetzt mit ihm streite, er haut mir einen Zahn weg und ich haue ihm die Nase weg. Nach ein paar Stunden sind wir wieder normale Freunde, weil wir sind schon so gute Freunde. Aber ein Mädchen, eine Freundin kann man sehr schnell verlieren und vielleicht kennst du das; Liebeskummer. {lacht}
(Cemal, Schule A, 1-C.) 15.8.95
Die Möglichkeiten mit den Mädchen eine Beziehung aufzubauen, erscheinen hier als fragil, als zerbrechlich. Verhalten, wie es die Jungen unter sich kennen und worunter die Freundschaft untereinander nicht leidet, kann bei Mädchen schnell zum Abbruch der Beziehung führen. Ahmet beschreibt ein Nicht-Verhältnis von Kontaktlosigkeit mit Mädchen. Für ihn gibt es eine strikte Trennung der Geschlechter.
INTERVIEWER/IN: Wie ist das bei dir Ahmet?
Ahmet: Ich habe keinen Kontakt zu Mädchen.
INTERVIEWER/IN: Hast´ keinen Kontakt zu Mädchen.
Musa.: Ich habe Kontakt, aber ich habe noch keine Freundin.
(...)
INTERVIEWER/IN: Redest du dann mit Mädchen, in der Klasse oder?
Ahmet: Nein.
INTERVIEWER/IN: Überhaupt nicht dann?
Ahmet: Nein.
(Ahmet, Musa, Schule A, 6-Ad., 6-M.) 15.8.95
Ordnet man diese Beziehungen der Jungen zu den Mädchen wieder wie oben auf einer Art Kontinuum an, so würde Ahmet einen Pol der Kontaktlosigkeit auf diesem Kontinuum markieren. Dieses Kontinuum könnte über das "Reden" mit den Mädchen hin zu "Ärgern" und aggressiver "Anmache" weiter geführt werden, wie die folgenden Aussagen von Erdem, Werner und Ercan belegen.
Dann geh ich raus zu meinen Freunden. Wenn wir noch Lust haben, spielen wir Fussball. Ja, dann noch mit den Mädchen reden wir etwas. Dann gehen ein paar Freunde mit den Wagen rum. Das ist mein Tag, was ich erzählen kann. Mehr mach ich nicht.
(...)
Über den Unterricht. Manchmal kommen die und fragen "Wie geht das da?" Reden wir so. Dann haben wir Pause, ärgern wir sie manchmal.
(Ercan, Schule B, 7-Er.) 17.8.95
Ja, wenn ich nach Hause gehe, dann gehe ich raus, erst mal was essen. Danach Spielplatz, bisschen Fussball spielen. Danach Weiber anmachen. Und danach rumspazieren, nach Hause, Glotze, Essen und Schlafen.
(Erdem, Schule A, 2-E.) 15.8.95
Fussballtraining. Fahrradfahren oder was weiss ich; Mädchen klarmachen. {lacht}
(Werner, Schule A, 3-W.) 15.8.95
Aus der Sicht der Mädchen erscheint dies Verhalten als unberechenbar und widersprüchlich.
INTERVIEWER/IN: Wie ist es mit Freunden, also Jungs? Beschreibt mal eure Freunde.
Kadriye: Einige so Klassenkameraden.
INTERVIEWER/IN: Mit denen ihr rumhängt auch?
Nadja: Die denken nur an das Eine. Nein, nicht nur.
INTERVIEWER/IN: Und in welcher Sprache denken sie das?
Kadriye: {lacht} Wir verstehen uns schon mit den Jungs gut, weil manche sind richtig korrekt aber es gibt auch Tadellose, zum Beispiel an einem Tag sind die voll okay, aber am nächsten Tag denkst du wieder, dass es okay ist, aber da machen sie dumme Sprüche und so. An einem Tag sind sie wie Bruder und Schwester und am nächsten Tag wie Feinde. Die ändern sich öfter. Das ist nie klar. Aber sonst, manchmal versteht man sich gut, aber wenn sie die Macken kriegen, ist das doof.
(Kadriye, Nadja, Schule A, 10-Ka., 10-Na.) 15.8.95
Man könnte vom Pol Ahmets (der Geschlechtertrennung) über den Kampf zwischen den Geschlechtern zum desexualisierten Geschwisterverhältnis das Kontinuum fortführen. Erdem und Andreas geben den Hinweis, welche Funktion die Anmache für den eigenen männlichen Zusammenhang hat.
INTERVIEWER/IN: Habt ihr nur Kontakt mit Jungs?
Erdem: Nein, bin ich schwul, oder was!
Andreas: Nein. Auch mit Mädchen.
(Erdem, Andreas, Schule A, 2-E., 2-A.) 15.8.95
Mädchen erscheinen als legitimes Objekt sexueller Begierde. Sexualität wird nach ausserhalb der männlichen Gruppe verlagert. Sie dienen als Demonstrationsobjekt für die Herstellung einer entsexualisierten Gruppensolidarität nach innen. Folgende Beobachtungen sollen weitere Klarheit bringen.
Zum verabredeten Zeitpunkt treffe ich an der Schule ein. Am Eingang zum Schulhof spricht mich einer aus einer Gruppe von drei auf eine Zigarette an. Ich biete ihm und den beiden anderen eine Zigarette an und rauche selbst eine. Ich werde gefragt wer ich sei und wir stellen uns gegenseitig vor. Bülent, Zafer und ein Namen, der mir entfallen ist. Die Gruppe nahm auch gestern beim Grillfest teil. Ich erzähle von mir und dem Projekt.
Die Jungen scherzen untereinander und beschimpfen sich gegenseitig als "¡bne". Im Hintergrund befindet sich eine Gruppe von Mädchen. Die Gruppe der Jungen verweisen auf die Mädchen und sagen mir sie seien "Kurden", ein anderer ergänzt lachend "Bergtürken". Alle, Mädchengruppe und Jungengruppe, lachen. Dann erzählen sie mir, dass die Mädchen auf der "Schmuckstrasse" und auf der "Reeperbahn" arbeiten und das sie das Geld abkassieren. Alle lachen. Ich steige in das Scherzen mit ein und sage zu einem der Jungen, dass ich ihn von der Schmuckstrasse kennen würde, er hätte doch immer eine blonde Perücke auf, zu einem anderen gewendet sage ich, dass ich ihn wohl vom Hauptbahnhof kenne. Alle brüllen vor Lachen los.
(Beobachtung vom 12.5.1995, Schule A)
In dieser Beobachtung sehen wir wie sich ein Sprachduell zwischen dem Autor dieser Arbeit und einigen Jugendlichen entwickelt. Ziel ist es das Gegenüber auf sprachliche Weise in eine illegitime und erniedrigende Position zu bringen. Gelingt es dem Gegenüber , diesen Angriff intelligent abzuwehren und den Angreifer verbal in die erniedrigte Position zu drängen, so gilt dies als Erfolg und ein Lachen ist sicher. Hier sehen wir einen spielerischen Umgang mit Homosexualität. Die aus der Türkei stammende Gestalt des »¡bne« ist eine gängige Figur der Beschimpfung von männlichen Erwachsenen und Jugendlichen untereinander184.
Die zweite Beobachtung wirkt aggressiver.
Während Ufuk weitersprüht, sitzen R., der Sozialpädagoge und Bülent auf der Bank und ich stehe vor ihnen. Unvermittelt sagt Bar¢º zu R., dass er Schule hassen würde. Dies verstehen R. und ich zumindestens zunächst. Daraufhin fragt er mich ob ich schwul sei. Ich frage ihn warum und ob er denn mit mir schlafen möchte. Bar¢º gibt darauf keine Antwort. R. fragt irritiert, was denn das eine mit dem anderen zu tun hätte. Daraufhin stellt sich heraus, dass er zu Anfang sagte, dass er Schwule hassen würde. Nachdem das Missverständnis aufgeklärt ist, fragt er R. ob er Schwule kennen würde. R. sagt, dass er zwar nicht schwul sei, dass er aber nichts gegen sie hätte. Darauf ist zunächst Stille. Auf Nachfragen zum Thema reagiert er zunächst nicht. Später frage ich ihn ob er denn schon mal angemacht worden sei und warum er Schwule hassen würde. Er gibt mir zur Antwort, dass er sie hassen würde, weil er nicht verstehen könne, dass man "arschficken" mache, obwohl es hier doch so viele "Muschis" gäbe. Weiteren Nachfragen über Schwule weicht er aus.
(Beobachtung vom 12.5.1995, Schule A)
Bülents Begründung für seinen Hass auf »Schwule«, so berichtet er, ist nicht in der eigenen Erfahrung begründet. Dies erzählt er zumindest. Er verknüpft »Homosexualität« mit einer sexuellen Praktik. Er findet aber nicht diese sexuelle Praktik an sich verwerflich, sondern er findet sie verwerflich, weil sie »Hier« nicht notwendig sei, da der Zugriff auf weibliche Sexualobjekte nicht beschränkt sei. Daraus lässt sich schliessen, dass wenn der Zugriff beschränkt ist, auch diese gleichgeschlechtliche Praktik legitim sei. Die Gestalt, der diese sexuellen Praktik unterstellt wird, nennt man in der türkischen Gesellschaft »¡bne«. Er wird als »verweiblichter« Mann aus der Männerwelt ausgeschlossen und als Sexualobjekt unterworfen. Er ist Teil der weiblichen, als passiv vorgestellten, Welt. Der »Transvestit«, eine prominente Gestalt in der städtischen Gesellschaft der Türkei, übernimmt auch äusserlich die Rolle als Frau. Zeki Müren185 und Bülent Ersoy186, ein »Impersonator187« und ein »Transsexueller188« besetzen einen prominenten und erfolgreichen Platz auf dem Musikmarkt der Türkei.
Auch die Art und Weise wie Jungen mit Mädchen sprechen unterscheidet sich. Veli und Cemal berichten davon.
Veli: Ähm, bei mir ist das so: Wenn ich mit Jungs spreche, spreche ich anders, und bei den Mädchen spreche ich auch anders.
INTERVIEWER/IN: Kannst du das / oder ein Beispiel bringen?
Veli: Bei den Mädchen bin ich höflicher.
Cemal: Genau. Das ist immer so.
INTERVIEWER/IN: Bei den Jungs bist du nicht so höflich?
Veli: Nein, wir kennen uns ja, aber bei den Mädchen kennen wir uns auch gut. Bei denen können die nicht so reden.
(Veli, Cemal, Schule A, 1-V., 1-C.) 15.8.95
Offenbar ist die Art und Weise des Sprechens vom Geschlecht der Person abhängig an welche die Rede gerichtet ist. Debby und Oskar geben den Hinweis, dass das Motiv, also warum man mit dem Mädchen spricht, wichtig ist. Ebenso erscheint ihm seine eigene Inszenierung als "cool" am Herzen zu liegen.
Oskar: Die Klasse sehe ich schon als einen grossen Freundeskreis an. Die Mädchen auch. Ich glaube nicht, dass sich beim Sprechen mit Mädchen unbedingt viel ändert. Es sei denn, man will was von einer, aber ...
D.: Spricht man auf deutsch.
INTERVIEWER/IN: Wie aber würde man da ...
Oskar: Dann versucht man ja, einen auf cool zu machen.
D.: Ja.
INTERVIEWER/IN: Man würde cool reden dann?
Oskar: Ja, aber ansonsten reden wir mit den Mädchen ganz normal, wie unter Jungs.
(Debby, Oskar 1.9.95, Kfu 26)
Spielen "sexuelle" Interessen keine Rolle, so wird mit den Mädchen wie mit Jungen gesprochen. Die Kontaktaufnahme zwischen den Geschlechtern erfolgt von beiden Seiten. Edon schildert wie er Kontakt aufnimmt.
INTERVIEWER/IN: Gut. Wie ist das denn mit Mädchen, mit Freundinnen? Welche Sprachen sprechen die, mit denen ihr Kontakt habt? In welcher Sprache würdet ihr sie ansprechen?
Zuerst würde ich sagen, auch wenn ich Nichtraucher bin, "hast du mal 'ne Zigarette für mich?" So kann man am besten klarmachen. Dann gibt sie dir eine, dann kommt man ins Gespräch, aber auch türkisch, so "versene bir tane sigara". [türkisch: "Kannst du mir mal eine Zigarette geben?"]
INTERVIEWER/IN: Das würdest du auf türkisch sagen?
Das würde ich sagen. Dann würde ich noch sagen "lütfen" [türkisch: "Bitte"], das bedeutet "Bitte", und dann wird es klappen.
INTERVIEWER/IN: Wird es klappen? Wie würdest du das Gespräch weiterführen, wenn du auf türkisch anfängst?
Wenn das so beim Schwimmen wäre, so Wedel, im Freizeitbad wäre, wenn sie auf der Decke sitzen, dann sag ich "gib mir mal ´ne Zigarette"; dann sag ich das auf deutsch. Dann gibt sie mir eine. "Hast du Feuer?" Und dann frage ich: "Kann ich mich zu dir setzen?" Dann entwickelt sich das Gespräch weiter.
(Edon, Schule A, 3-Ed.) 15.8.95
Aslan und Nuretin berichten, wie die Kontaktaufnahme von Seiten der Mädchen erfolgt.
Aslan: Ja, manche kommen zu uns rüber, die wollen mit uns Kontakt haben. Manche sind da, die kommen zu uns. Wenn wir längere Zeit Freunde sind, dann fragt das Mädchen: "Willst du mit mir gehen?" Ich war auch mit vielen Mädchen zusammen.
Nuretin: {lacht}
Aslan: Ja, sind wir ins Kino gegangen und so.
(Aslan, Nuretin, Schule B, 9-Ad., 9-Ne.) 17.8.95
Erst die Kontaktaufnahme durch die Mädchen schafft hier die Grundlage für die Initiative der Jungen.
Wir haben die Rolle der Mädchen auf der Strasse, sowie ihre Schwierigkeiten der Gruppenbildung erkundet. Lolo und Jutta sind einige der wenigen Mädchen, die sich in einer ausschliesslich für Mädchen zugängigen Gruppe zusammengeschlossen haben.
INTERVIEWER/IN: In der AntiFa-Gruppe seid ihr beiden?
Jutta: Ja.
Lolo: Wir beiden.
INTERVIEWER/IN: Was macht ihr da so?
Lolo: Also, das war bisher noch nicht so erfolgreich. Das war immer so ...
Jutta: Gerade Gestern waren wir wieder da, und da haben wir erstmal besprochen, wie es jetzt weiter geht. Also wir gehen jetzt / also wir kommen jetzt in eine rein, wo gerade was gutes läuft.
Lolo: Ja, das ist eine reine Mädchen-AntiFa.
INTERVIEWER/IN: Hm.
Lolo: Da sind nur Mädchen. Also, das scheint ganz gut zu laufen.
Jutta: Also, zuletzt haben wir was wegen Gorleben gemacht.
(Lolo, Jutta, Schule C, 25-Ju.) 1.9.95
Auch Meltem und Ayºe haben keine Probleme weg vom Haus auf die Strasse zu gehen und sich mit Freundinnen zu treffen und als Gruppe auf der Strasse aufzutreten.
Ich unternehme viel mit meinen Freunden, lerne mehrere Leute kennen. Wenn der Dom ist, dann sind wir auf dem Dom, sonst sind wir draussen oder unterwegs.
(Ayºe, Schule A, 12-Ay.) 15.8.95
Meltem weiss aber, dass dies für andere Mädchen durchaus ein grosses Problem sein kann.
Die Beiden, die können nicht so oft raus. Wir treffen uns nicht so oft mit denen. Ich gehe raus und treff mich mit anderen Freunden, die ich ausserhalb der Schule hab. Naja, ich gehe nach Hause, leg mich hin, esse was, und dann gehe ich raus und komme abends wieder, gegen neun. Dann kucke ich Fernsehen und lege mich hin.
(Meltem, Schule B, 15-Ml.) 17.8.95
Auch Steffie und Melanie bewegen sich frei in diesem öffentlichen Raum Strasse.
Ich kenne eine ganze Menge Leute vom Bauwagenplatz in A., der G.-Platz. Da kenne ich ganz viele Leute, das ist der eine Bereich, wo ich immer rumhänge. Dann hänge ich mit ganz vielen Leuten in der Schanze rum, das Schanzenhaus. Das besetzte Haus, da sind auch die ganzen Punker. Das ist so der andere Kreis, mit denen ich ganz viel mache. Dann habe ich auch meine Freunde, die gar nicht wie Punker aussehen, die so ganz normal sind, mit denen ich dann hin und wieder etwas mache.
(Steffi 1.9.95 Kfu 21)
Treffe ich mich mit T. und anderen Freundinnen. Gehen wir irgendwo hin. Schwimmen, rumhängen.
(Melanie 15.8.95, Ths 8)
Aus der Perspektive von Oskar und Debby ist das Zusammengehen von Jungen und Mädchen in einer gemischten Gruppe eher sporadisch.
INTERVIEWER/IN: Macht ihr auch gemeinsam mit Mädchen etwas? Oder ist das eher getrennt, dass Jungs auf der einen Seite was machen und, Mädchen auf der anderen?
Debby: Teils.
Oskar: Wenn ich so an den Kuchenverkauf von Gestern denke, das war ja alle zusammen. Aber ausserschulisch?
Debby: Ja, manchmal.
Oskar: Ja, machen wir manchmal in den Sommerferien zum Beispiel ein Treffen. Da treffen sich ein paar Jungs und ein paar Mädchen und machen was. Aber ansonsten ist da auch nicht viel.
(Debby, Oskar, Schule C, 26-OR.) 1.9.95
Sind Mädchen Teil einer gemischten Gruppe, erscheinen sie ehe als Anhängsel von Jungen, welche die Gruppe zahlenmässig dominieren.
INTERVIEWER/IN: Wie würdest du die Gruppe, mit der du zusammen bist, beschreiben, Sanna?
Das ist voll schwer, bei mir ist das eigentlich genauso wie bei ihr, nur dass ich halt nicht so aussehe. Das ist genau das gleiche. Also, jeder kommt, jeder trifft sich in der Gruppe, weil man sich halt langweilt. Dann überlegt man, "was kann man machen". Je mehr von den Leuten wir dabei haben, wenn also alle da sind, dann überlegt man eben, jeder macht so Vorschläge. Einfach nur: Alle treffen sich, weil sie sich sonst zu Tode langweilen würden. Aber jeder hat in der Gruppe auch noch andere Freunde. Das ist nicht so eine Gruppe, die immer zusammen hängt. Das sind alles Freunde von anderen, die sich dann mal treffen.
INTERVIEWER/IN: Gibt es auch Jungs in der Gruppe?
Hauptsächlich besteht die aus Jungs.
(Sanna, Schule C, 21-Sv.) 1.9.95
Meltem und Suzan berichten von ihrer Clique. Diese besteht auch aus älteren Jungen, die nicht mehr in ihre Schule gehen.
INTERVIEWER/IN: Ihr habt also eine Clique. Könnte man das so sagen, dass ihr eine Clique habt?
Meltem: Ja, könnte man so sagen.
INTERVIEWER/IN: Sind da Mädchen und Jungen?
Meltem: Ja.
INTERVIEWER/IN: Gut. Wie würdest du eure Gruppe, eure Clique beschreiben?
Meltem: Wie würde ich sie beschreiben?
Suzan: Dass wir gute Freunde sind.
Meltem: Wie meinen sie jetzt damit, beschreiben?
INTERVIEWER/IN: Was weiss ich: Wieviele ihr seid, versteht ihr euch gut, streitet ihr?
Meltem: Ja wir streiten auch und verstehen uns auch gut. Also manchmal verstehe ich mich gut, manchmal kann ich mich überhaupt nicht verstehen. Naja, wieviele wir sind: Düppelstrasse sind viele Leute, in der Eisenpark auch. Manche Leute kennen sich gar nicht. Das ist eine grosse Clique. Wie soll ich das beschreiben? Bir az da sen anlat, lan. [Türkisch: "Erzähl du doch auch etwas, Mensch."]
Suzan: Iyi anlasiyoruz, bir az geziyoruz. [Türkisch: "Wir verstehen uns gut, gehen ein bisschen Spazieren."]
Meltem: Machen wir doch sowieso auch. Erzähle weiter.
Suzan: Die kommen manchmal vor die Schule, und dann unterhalten wir uns.
Meltem: Obwohl sie schon von der Schule raus sind.
Suzan: Ja, die kommen trotzdem her. Besuchen uns und so. Verstehen uns eigentlich gut.
INTERVIEWER/IN: Da gibt es in der Gruppe Mädchen und Jungs?
Meltem: Ja.
Suzan: Ja.
(Meltem, Suzan, Schule C, 30-Me., 30-Si.) 17.8.95
Die Ein- und Ausgrenzungsprozesse entlang der Geschlechterdifferenz sind diejenigen Prozesse, die sehr offen unter den Jugendlichen beobachtbar sind.
Körperliche Merkmale sind eine weitere Differenzmarkierung, entlang der andere ausgegrenzt werden. Susanne berichtet über ihr körperliches Zeichen, das Stigma.
In der Schule, naja, mich mögen nicht so viele, kommt auch durch das Schielen. Also ich weiss nicht, vielleicht mögen sie mich nicht, oder vielleicht wollen sie das auch nicht zeigen. Also, mir ist das eigenlich egal, Hauptsache ich bin mit Freunden und habe auch Freunde und bin froh.
(Susanne, Schule B, 18-Sa.) 17.8.95
Ihr Stigma des "Schielens" kann, im Sinne von Goffman, als »personale« Differenz bezeichnet werden, welche die Gruppe der »Normalen«, also diejenigen die nicht schielen, stabilisiert. Auch »soziale« Differenzen, wie die der Zugehörigkeit zu einer als "feindlich" definierten sozialen Gruppe, kann als Ausschlussmerkmal und zur Stabilisierung der eigenen Gruppe dienen.
Also, wir haben fast alle das gleiche Schicksal. Wir sind alle von Serben vertrieben worden. Irgendwo haben wir eine gemeinsame Wut, also was unsere Situation angeht, fast alle hassen wir Serben, das ist also als erstes, weil die uns ja so viel angetan haben. Irgendwie ist unser ganzes Leben, also wie soll ich sagen, irgendwo ist das alles das gleiche, wir sind her gekommen, haben ein Leben, alle wollen zurück, also fast alle, wieder nach Bosnien, wenn der Krieg aufhört.
(Maren, Schule A, 13-Me.) 15.8.95,
Der oder die Angehörige einer feindlichen Gruppe, wird als Gestalt des »satanischen Bösen«, des feindlichen »Serben« ausgeschlossen.
JULIA: Soll ich anfangen? Also, ich heisse JULIA und komme aus Bosnien. Ich bin seit drei Jahren in Deutschland, seitdem wohne ich hier, mit meinen Eltern, in Hamburg seit zwei Jahren. Ich finde die Leute hier sehr nett. Es gibt viele Leute aus meinem Land. Wir treffen uns und tun was gemeinsames. Die Deutschen sind meistens nett zu mir, also mit denen habe ich keine Probleme und allgemein auch mit anderen, bloss mit Serben vielleicht. Und sonst ist okay.
(...)
INTERVIEWER/IN: Und wie würdest du eure Clique beschreiben?
JULIA: Ganz normal, wie soll ich sagen...?
INTERVIEWER/IN: Sind da auch Jungs dabei?
Maren: Ja.
JULIA: Also, solange die anderen Nationalität, wenn die zu uns nett sind. Also Problem lösen wir gemeinsam; zum Beispiel wenn ein Serbe kommt, wenn der etwas mit uns anfängt, dann sagen wir, er soll weggehen. Wenn er was will, dann wird das auf eine andere Weise gemacht.
Maren: Also weil, die haben so viel angetan, man kann das nicht einfach über Nacht vergessen; sie haben so viel umgebracht, das geht einfach nicht.
(Julia, Maren, Schule A, 13-Ja., 13-Me.) 15.8.95
Die Widersprüchlichkeit der Zuschreibung solcher sozialen Merkmale verdeutlichen Anton und Piet.
Piet: Ich glaub, hier wird bisschen mehr Türkisch als Deutsch gesprochen.
Anton: Ja, aber nur bei den Ausländern.
(...)
Wir sind mehr Ausländer hier an der Schule als Deutsche.
(....)
Piet: Ich glaub, die ausländischen Leute verreisen immer eine Woche früher und ((kommen)) also später.
Anton: Hm.
Paul: Und wenn wir das machen dann ...
INTERVIEWER/IN: Was passiert dann, wenn ihr das macht?
Paul: Dann wird ...
Anton: Wird nicht so schnell eingewilligt, als wenn das die Ausländer machen,weil die ja ihre Heimatstadt ...
(Anton, Piet, Paul, Schule B, 8-An., 8-Pa., 8-Pe.) 17.8.95
Der Eindruck von Piet, dass in seiner Klasse Türkisch sehr präsent ist, trügt ihn nicht unbedingt. Dies führt bei ihm aber nicht zu der Überlegung, dass dieses Türkisch-sprechen eine Eigenschaft von "Türken" ist, sondern eine von "Ausländern". Im gleichen Gespräch setzt er sich nicht den "Ausländern" entgegen, sondern schliesst sich selbst mit ein in das gemeinsame »Wir«, das den "Deutschen" entgegensteht. Es gibt "Ausländer" und "Deutsche". "Ausländer" haben in der Schule »Privilegien«, die von den "Deutschen" nicht beansprucht werden können. Zum Schluss dieses Interviews ergab sich noch folgender Dialog.
Interviewer/in: Gut. Das war es eigentlich. Fällt euch noch etwas ein, was ihr gern erzählen wollt zu dem Thema? Was ich vergessen habe zu fragen? Was ihr denkt, was wichtig ist? Zu Sprache allgemein.
Piet: Wir sind mehr Ausländer hier an der Schule als Deutsche.
Interviewer/in: Hm.
Piet: Drei Viertel Deu / eh Ausländer und Deutsche ungefähr.
Interviewer/in: Wie fühlt man sich da?
Paul: Bedrückt.
Anton: Abgestossen, so ausgestossen.
Piet: Als runter...
Paul: Konflikt. Man fragt sich "bist du noch Deutscher hier?"
(Paul, Piet, Anton, Schule B, 8-Pe., 8-Pa., 8-At.) 17.8.95
Piet und Anton, beide sind neu in der Klasse, bilden mit Paul zusammen eine relativ isolierte Gruppe in ihrer Klasse, was sie auch hier thematisieren. Das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit ist in ihrer Klasse umgekehrt zum Verhältnis in der Mehrheitsgesellschaft. Paul, Piet und Anton würden gerne gut »Englisch« und »Türkisch« können um ihre Isolation zu überwinden.
Interviewer/in: Gut. Stellt euch mal vor, es gäbe eine ganz neue Methode. Du setzt dir über Nacht einen Walkman auf, und am nächsten Morgen wacht ihr auf und könnt jede Sprache, die ihr wollt, perfekt reden und verstehen. Welche Sprache würdet ihr denn da wählen?
Paul: Englisch.
Interviewer/in: Englisch? Was würdest du denn?
Piet: Ja, Türkisch auch, damit ich versteh, was die anderen ...
Anton: Türkisch und Englisch. Ja, auch die beiden.
Interviewer/in: Was kann man denn mit diesen beiden Sprachen machen, mit Türkisch und Englisch?
Paul: Einmal, weil Englisch die Weltsprache ist.
Anton: Eben. Da kommt man überall mit durch.
Piet: Und für die Schule.
Anton: Und Türkisch jetzt wegen diesen, damit man die auch mal mit ihnen reden kann, und so was. Nicht dass die einen so ausschliessen.
(Paul, Piet, Anton, Schule B, 8-Pe., 8-Pa., 8-At.) 17.8.95
Das Sprechen des Englischen und des Türkischen scheint bei ihnen auf die Teilnahme an zwei Sprechgemeinschaften gerichtet: zum einen nach aussen, auf die Sprechgemeinschaft des Englischen als universale Weltsprache, um mit der »Welt« zu kommunizieren. Zum anderen nach innen, auf die Sprechgemeinschaft des Türkischen in der Klasse, um damit den anderen die Möglichkeit des sprachlichen Ausschlusses zu nehmen.
Mit Paul, Piet und Anton haben wir die Strasse im eigentlichen Sinne längst verlassen. Bevor wir endgültig zur Schule als Teil des staatlichen Gefüges gelangen noch ein kurzer Blick auf Einrichtungen, welche eine Mittelding zwischen Strasse und Institution bilden. Denn ein Teil der Jugendlichen ist in vielfältige andere Aktivitäten eingebunden, die ihre Tageszeit strukturieren. Elses Aktivitäten sind organisiert und nehmen eine grossen Teil ihrer freien Zeit in Anspruch.
Ja, ich gehe auch viel zur Schule, also ich habe vier Nachmittagskurse in der Woche, und dann habe ich dreimal in der Woche Volleyball und einmal Chor. Ja, und Klavier spiele ich, und am Wochenende mache ich meistens was mit meinem Freund und verabrede mich mit Freunden und so.
(Else, Schule C, 22-El.) 1.9.95
Es sind sportliche oder musische Aktivitäten die sie mit anderen ausserhalb der Schule und weg von der Strasse zusammen bringt. Auch Albert und Aslan sind in einem Bereich aktiv, der ausserhalb dem bisher genannten liegt, sie sind in einem Sportverein organisiert.
Albert: Ich bin auch in einem Verein. Man nennt mich Campos.
Aslan: Campus!
Albert: Ja. Also der Flieger.
Nurettin: {lacht}
Albert: Weil ich Torwart bin. Wir haben auch zwei Mal in der Woche Training und ein Mal Laufen und so. Und, naja, das war`s, gut.
(...)
Also, in meiner Freizeit spiele ich Fussball. Ich geh dabei noch in eine Mannschaft. Wir haben zwei Mal in der Woche Training, und am Wochenende spielen wir Fussball gegen andere Mannschaft.
(Aslan, Nurettin, Albert, Schule B, 9-Ad., 9-Ne., 9-Ar.) 17.8.95
Paul ist ebenso eingebunden. Er ist in einem Handballverein organisiert.
Donnerstags und freitags gehe ich spät nachmittags zum Handballtraining. Sonst mache ich Hausaufgaben.
(Paul, Schule B, 8-Pe.) 17.8.95
Andere Jugendliche nutzen Jugendzentren um sich zu treffen. Auch sie sind sportlich aktiv ohne aber einer festen Organisationsstruktur, wie einem Verein zugehörig zu sein. Diese Aktivitäten sind freiwillig und nicht verpflichtend, wie dies in einem Verein der Fall wäre.
Interviewer/in: Was ist CaJu*189?
Kamil: Das ist ein Jugendzentrum.
¡smet: Lotte* meint er.
Kamil: In der Lotte* gibt es auch / auch einen Jugendbereich.
¡smet: Bisschen lauter, Mann!
Interviewer/in: Das geht schon. Was machst du denn? Erzähl doch mal ein bisschen.
Kamil: Beim Jugendbereich mache ich, wir spielen einfach Billard, Kicker und draussen Fussball.
(¡smet, Kamil, Schule A, 5-Is., 5-Ke.) 15.8.95
Jugendhäuser dienen, neben der Strasse und der Schule, als Treffpunkt um sich mit anderen Gleichaltrigen zu treffen. Auch Meltem und Serpil treffen dort Freunde.
Wir treffen uns manchmal, es gibt Tage, montags und donnerstags, es ist genauso wie Haus der Jugend, da treffen wir uns. Wenn nicht, dann Ochsenpark* oder Dürrelstrasse*, da sind die meisten Leute.
(...)
Ja, wenn ich meisten, ich darf ja nicht immer raus, aber selten. Wenn ich dann eine Stunde oder so raus gehe, dann gehe ich auch so, ab und zu mal bei den Jugendclub da mit Freunden. Sonst bin ich immer zu Hause. Manchmal gehe ich zu meiner Schwester oder zu meiner Schwägerin. Sitzen wir da oder gehen Spazieren. Sonst bin ich immer zu Hause.
(Serpil, Meltem, Schule B, 15-Se., 15-Ml.) 17.8.95
Für andere Jugendliche sind Jugendhäuser Orte die eher Gefahr signalisieren und gemieden werden.
Jugendzentrum mag ich nicht, da geh ich nicht rein. Ich mag das nicht. Da will ich auch nicht rein. Also auf der Strasse oder auf dem Fussballplatz.
(¡smet, Schule A, 5-Is.) 15.8.95
Über Vereine und Jugendhäuser berichten die Jugendlichen unserer Untersuchung nicht sehr viel. Aber das Jugendhaus ist, wie die Strasse auch, ein zunächst wenig strukturierter Ort. Diese Art von Orten, so zeigen unsere Daten, werden eher von Jugendlichen aus einem nicht-deutschem Hintergrund besucht. Jugendliche aus einem deutschen Hintergrund sind eher in Vereinen anzutreffen und organisiert und scheinen strukturierteren Zeitplänen zu folgen.
181 Mackensen: Vom Ursprung der Wörter. (1985: 361)
182 Die Begriffe »Domäne« (deutsch), »Domaine« (französisch) und »Dominion« (englisch) haben den gleichen lateinischen Wortstamm »dominium« (Herrschaft), »dominus« (Herr), »domus« (Haus) (Mackensen: 103).
183 Whyte, William Foote: Street Corner Society. The Social Structure Of An Italian Slum. (1943: 275 ff.)
184 In: Dundes, Leach & Özkök, Alan, Jerry W. & Bora: The Strategy of Turkish Boys' Verbal Dueling Rhymes. (1970) Dort wird diese Art von Rededuellen als kulturelle Form analysiert.
185 Ein Künstler, der sich, wie Bülent Ersoy der türkischen Kunstmusik zurechnen lässt. Er trat in Frauenkleidern auf und verstarb im letzten Jahr.
186 Ebenfalls ein Sänger der aus der Kunstmusik kam. Er ging 1980 nach dem Militärputsch ins Exil nach Frankreich und liess sich dort endgültig zur Frau umoperieren.
187 »Impersonator«: Ein Künstler, der als Frau auftritt.
188 »Transsexueller« ist, im Gegensatz zum »Transvestiten«, der physiologisch männliche Attribute besitzt und als soziale Frau auftritt, ein Mann, welcher der Ansicht ist als Frau in einem falschen Körper sich zu befinden. Bülent Ersoy hatte sich im Exil nach dem Militärputsch vom Mann zur Frau umoperieren lassen.
189 Mit * gekennzeichneten Orte sind anonymisiert.