2. Betrachtungen der urbanen Wirklichkeit und das Problem der Methodologie





2.1. Urbane Wirklichkeit und Sprache

2.1. Urbane Wirklichkeit und Sprache

Die Stadt hat ihren eigenen Lärm. Wer mit geschlossenen Augen an einer belebten Strasse diesem Lärm lauscht, wird verschiedene Muster dieses Klangteppichs erkennen können. Den Geräuschen eines Autos, welches über Kopfsteinpfaster rast, mischen sich Stimmen unterschiedlicher Klangfarbe unter. Öffne ich die Augen so bin ich mit optischen Reizen konfrontiert. Richte ich meine Aufmerksamkeit noch weiter auf meine anderen Sinne und rieche, schmecke und taste die Stadt, so tritt mir die Stadt als komplexe Wirklichkeit entgegen. Im Alltag hat jeder von uns Strategien entwickelt sich in dieser komplexen Wirklichkeit zurecht zufinden. So tritt uns diese Wirklichkeit als Ganzes, als Totalität entgegen. Diese urbane Wirklichkeit ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Nicht die urbane Wirklichkeit als Abstraktion, sondern als konkreter Ort in einem Gesamtgefüge names "Freie und Hansestadt Hamburg". Einen Teil dieses Gesamtgefüges stellen Sankt Pauli und Altona, zwei historisch gewordene Einwandererstadtteile, dar. Sie stehen in einer noch zu bestimmenden Beziehung zum Gesamtgefüge. Wie diese Beziehungen von Teil und Ganzem bestimmt werden kann, ist Gegenstand dieses Kapitels. Welche Verfahren, welche Methodologien sind geeignet die verschiedenen Aspekte dieser urbanen Wirklichkeit, dieser spezifischen Orte, zum Vorschein zu bringen? Der Soziologe wird andere Aspekte zum Vorschein bringen als die Architektin oder der Stadtplaner, die Linguistin wieder andere als der Ökonom. Diese Untersuchung möchte sich den Aspekten der urbanen Wirklichkeit widmen, die Kinder und Jugendliche hervorbringen, die Vielsprachigkeit als Alltagserfahrung meistern müssen. Diese urbane Wirklichkeit, die den hegemonialen Kräften unter dem Aspekt des Chaotischen, der Unordnung, des Anomischen, der Kriminalität, der Dissidenz und nicht zuletzt der Sprachlosigkeit entgegentritt, erscheint den Vorstellungen einer irgendwie gearteten Homogenität entgegengesetzt. So tritt uns die urbane Wirklichkeit als Ort entgegen an dem beständig umstrittene Zeichen und Bedeutungen produziert werden.


Henri Lefébvre8 macht in seinem Buch "Die Revolution der Städte" den Vorschlag, von einer Theorie der Zeichen auszugehen, um sich den verschiedenen Aspekten des verstädterten Raumes anzunähern und verweist auf die in der Linguistik neu entwickelten Methoden. Zur Erinnerung: "Die Revolution der Städte" ist 1970 erschienen, zu einer Zeit in der grosse Umbrüche in unterschiedlichen Wissenschaftsbereich stattfanden, auch in der Linguistik. Der Begriff des "Zeichensystems" von dem Lefébvre ausgeht, wurde innerhalb der neueren Linguistik als Modell zur Erklärung von Verständigung herangezogen. Diese Prozesse der Verständigung, ich möchte lieber von Interaktionen sprechen, bilden einen Fokus der vorliegenden Arbeit. Das Neue der hier vorliegenden Arbeit liegt darin, dass unsere Betrachtungen sich nicht auf ein "Zeichensystem" beschränkt, sondern versucht die Bedingungen eines urbanen Raumes zu erkunden in dem unterschiedliche Zeichensysteme gleichzeitig präsent sind. Linguistisch ist damit ein Bedeutungsfeld umrissen, welches Dialoge, Gespräche, Konversationen und Diskurse umfasst. In gewöhnlichen Untersuchungen werden diese Interaktionen innerhalb eines Zeichensystems, also auch innerhalb einer Sprache, untersucht.


Die Begriffe "Dialog", "Gespräch", "Konversation" und "Diskurs" bringen unterschiedliche Aspekte der Interaktionen zum Vorschein und verweisen auf verschiedene Wissenschaftstraditonen. Welche Aspekte und Wissenschaftstraditionen sind dies und wie können sie für die Klärung der Frage nach der methodischen Herangehensweise dienlich sein?

Um der Antwort auf diese Frage näher zu kommen, möchte ich sie in unsere"Werkstatt" einladen. Auf der textlichen Grundlage zweier gängiger Standardeinführungen in die Sprachwissenschaften und die Soziolinguistik, werden wir uns diesem Bedeutungsfeld nähern. Bei diesen Standardeinführungen handelt es sich zum einen um das Werk des DDR-Sprachwissenschaftlers Helbig9 aus dem Jahre 1988, zum anderen um eine Einführung in die Soziolinguistik der Freiburger Sprachwissenschaftlerin Schlieben-Lange10 aus dem Jahre 1973, in einer uns vorliegenden Überarbeitung aus dem Jahre 1991. Die Vorgehensweise verweist schon auf die, dieser Arbeit zugrundeliegende, methodologische Grundlage: beide Bücher werden als empirische Daten betrachtet, deren Auswahl zunächst als willkürlich erscheint. Ebenso willkürlich greife wir einen Begriff, wie den der "Konversationsanalyse", heraus. Im Verlauf der Darstellung der Methodologie und der angewendeten Methoden hoffen wir deutlich machen zu können, was hier hinter dieser scheinbaren "Willkür" steckt.


Wir betrachten diese Bücher im folgenden als eine Art "Extremgruppensample". Da der Autor und die Autorin in zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen jeweils Sprachwissenschaft betreiben, blicken sie sozusagen aus zwei "Extremen" auf den Forschungsgegenstand "Sprache". Desweiteren handelt es sich um geschlechtlich unterschiedene Personen, welches ebenso vermuten lässt, dass sie unterschiedliche Herangehensweisen entwickelt haben. Der Sinn dieser Operation liegt in der möglichst sinnvollen Variation, also in der Erzeugung von Differenz innerhalb der Datengrundlage. Wir gehen zunächst in das Stichwortregister der beiden Bücher. Dort schlagen wir unter dem Stichwort "Konversationsanalyse" nach und fragen nach dem Umfeld des Begriffes. Das Stichwort "Konversationsanalyse" verweist auf das Kapitel "Untersuchung zur Sprachproblematik von Arbeitsmigranten" (Schlieben-Lange, S.77) und auf das Stichwort "Gesprächsanalyse" (Helbig). Der "Gesprächsanalyse" ist ein eigenes Kapitel (Helbig, S. 228ff.) gewidmet. In diesem Kapitel finden sich die Abschnitte "Anliegen und Quellen", sowie "Wissenschaftsgeschichtliche Einordnung und Kritik". Dort wird auf die Begriffe der "Gesprächsanalyse", "Konversationsanalyse", "Diskursanalyse", sowie "Linguistik des Dialogs" (Helbig, S. 232ff) verwiesen. Wir erfahren nun folgendes darüber: im Mittelpunkt dieser Forschungsrichtungen steht die gesprochene Sprache des Dialogs und die Grundeinheit ist das Gespräch. Gemeinsam ist beiden der Bezug auf das Gesprochene. Während einerseits (in der BRD) das Gesprochene einer spezifischen sozialen Gruppe als Problem gefasst wird, steht andererseits (in der DDR) die wissenschaftliche Bedeutung des Gesprochenen im Vordergrund.


Ich nehme den Faden der "wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung auf und frage: welche zeitlichen Aspekte finden Erwähnung? Während Schlieben-Lange eine Periodisierung der Sprachwissenschaften ("bis 1965", "1965-75" und "seit 1975") einführt, betrachtet Helbig das Jahr 1970 als Einschnitt in die Sprachwissenschaft. Er bezeichnet diesen Zeitpunkt als "kommunikativ-pragmatische Wende". Darunter versteht er einen Wechsel weg von der "Systemorientierung", in der die internen Eigenschaften des Sprachsystems untersucht werden, hin zu der Frage nach der Funktion von Sprache im komplexen Gefüge gesellschaftlicher Kommunikation. Anstatt Sprache und Gesellschaft als getrennte Gegenstände zu betrachten, hatte man begonnen, Sprache in der Gesellschaft zu untersuchen. Dies ist die Veränderung, auf die sich Lefebvre Verweis auf die neuere Linguistik bezieht.

Während bei Helbig der Bruch hervortritt steht bei Schlieben-Lange die Kontinuität der historischen Entwicklung im Vordergrund. Sie zeigt eine historische Entwicklunglinie auf, die von der Sprachtheorie Herders bis zu der von Gehlen reicht; nämlich der "Gleichursprünglichkeit" von Gesellschaft, Sprache, Interaktion und Arbeit. Keines könne historische Vorangigkeit beanspruchen. Mit Bezug auf Marx (Deutsche Ideologie) bestimmt sie Sprache als Bewusstsein. Bei ihr bedingen sich Sprache und Gesellschaft. Keines existiert ohne das andere. Diese Gleichzeitigkeit von »Sprache« und »Gesellschaft« bedeutet, dass es kein historisch Früheres oder Späteres gibt. Diese gegenseitige Beziehung erweitert sie auf die Beziehung von einerseits Makrosoziologie, sozialen Strukturen und Institutionen/Systemen und andererseits Mikrosoziologie, dem sozialen und interpretieren Handeln von Individuen. Denoch gibt es für sie eine historische Entwicklung von Gesellschaften und Sprache. Diese führt von der Oralität (Mündlichkeit) zur Literalität (Schriftlichkeit), von Sprachverhalten zu Sprachbewusstsein und vom Anekdotischen zum Sozialen. Die Frage, die sie hier stellt und im Verlauf der Untersuchung präzisiert werden soll lautet: Wenn die "Gleichursprünglichkeit" von Sprache und Gesellschaft also kein historisches "früher" oder "später" zulässt, wie ist dann das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu begreifen. Sind zeitgenössische "mündliche" Formen historisch einer anderen Zeit zugeordnet als "schriftliche" Formen? Doch dazu später. Bei Helbig liegt das Augenmerk auf den epistemologischen Veränderungen der Sprachwissenschaften. Für ihn ist die "kommunikativ-pragmatische Wende" ein Paradigmenwechsel. Er besteht in der Abwendung von einer systemorientierten Sprachwissenschaft, die gekennzeichnet ist durch ein abstrahiertes, isoliertes und reduziertes Objekt, hin zu der Frage der Funktion der Sprache im komplexen Gefüge der gesellschaftlichen Kommunikation. Diese Hinwendung ist gekennzeichnet durch die Ausweitung des Gegenstandsbereich, einer methodologischen Präzisierung und methodischer Fundierung. Während Hilbig den historischen Bruch benennt, ist für Schlieben-Lange die Entwicklung der Sprachwissenschaft im 20. Jahrhunderts gekennzeichnet durch extreme Eingrenzung des empirischen und theoretischen Erkenntnisinteresses, ein geschärftes Methodenbewusstsein, eine gesteigerte Methodenreflexion, sowie der Entwicklung konkreter Fragestellungen und Projekte. Gemeinsam ist beiden Autoren, dass sie eine Veränderung des Gegenstandes der Sprachwissenschaften beschreiben, sowie die Frage der Methoden und der Methodologie ins Zentrum des Interesses rücken. Wir können nun nach den neuen linguistischen Methoden fragen, auf die Lefebvre sich bezieht.


Beide Autoren gemeinsam ist die Beschreibung einer wissenschaftsgeschichtlichen Bewegung weg vom "Abstrakten" hin zum "Konkreten". Es stehen sich so zwei unterschiedliche Wissenschaftkonzeptionen gegenüber: die der formalen Logik, die quantitativ orientiert ist und als eigentlich "wissenschaftlich" gilt und die, so Schlieben-Lange, soziolinguistische, welche pragmatisch orientiert ist, aber als "unwissenschaftlich" und hermeneutisch (deutend) gilt. Diese hermeneutische Konzeption lässt sich wiederum in eine deduktive, empirisch-quantitative Richtung und eine ethnomethodologisch und interaktionistische Richtung einordnen. Spätestens hier müssen diese zunächst unter dem Fokus der Sprachwissenschaften auftauchenden Veränderungen in Verbindung mit Veränderungen in anderen Wissenschaften, wie der Soziologie, gebracht werden und man erkennt in der Negation der Soziolinguistik sofort die Schnittstelle von systemorientierter Linguistik und systemorientierter Soziologie. Diese engen Verbindungen der Sprachwissenschaft mit der Soziologie, der Ethnographie und der von Lefebvre geforderten Verbindung zur Stadtforschung, der Urbanistik, verweisen auf die Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Sprachwissenschaften oder man könnte auch sagen auf die Ausweitung der Interdisziplinarität und eine Ausdifferenzierung der Methodologie. Helbig beschreibt die Unterschiede der Gegenstandsbereiche beider Forschungskonzeptionen so: einerseits der Strukturalismus, der sich einer generative Grammatik widmet. Beim Strukturalismus steht der Satz im Zentrum und er zielt auf ein abstraktes System der Sprache. Dem gegenüber steht die "Sprechakttheorie" bei der sogenannte "turns" und die konkrete Rede im Mittelpunkt stehen. Sie beschäftigt sich mit der konkreten Empirie, dem Gesprochenen. Wichtig ist ihr die "Authentizität" des Sprachmaterials. Während Helbig einerseits den Strukturalismus als "Abstraktes" der Sprechakttheorie als "Konkretes" gegenüberstellt, ordnet er beide andererseits als historische Entwicklungslinie an: von der Systemlinguistik über die Textlinguistik hin zur Sprechakttheorie und der Gesprächsanalyse. Diese Entwicklungslinie lässt als eine Pragmatisierung und Empirisierung der Gegenstandskonstitution kennzeichnen.


Was heisst Pragmatisierung und Empirisierung der Gegenstandskonstitution? Welches sind die Gegenstände, denen sich die Sprachwissenschaften in den jeweiligen nationalen Wissenschaftstradtionen zuwenden?


Beide Autoren geben Auskunft über die Gegenstandskonstitution der Sprachwissenschaften in einigen Ländern. So zeichnen sich für Schlieben-Lange die Forschungsgegenstände der Linguistik in den USA durch die Beschäftigung mit den sprachlichen Verhältnisse ausserhalb der USA (Indien, Südostasien, Norwegen und Lateinamerika) aus. In den USA selbst geht es um das Englisch der sogenannten Schwarzen, dem "Black English", dem Spanisch der "Hispanics" und um andere "Minderheitensprachen". Diese Forschung ist verbunden mit dem Verschwinden der Vorstellung von den USA als "Schmelztiegel", also dem amalgieren der sprachlichen Unterschiede zu einer einheitlichen Sprache. Die aktuellste Diskussion wird in Oakland/Kalifornien geführt. Dort müssen die Lehrer den Dialekt der sogenannten "schwarzen Bevölkerung" akzeptieren. Dieser "Dialekt" wird »Ebonics« genannt und ist eine rein mündliche Sprache. Sie wird von der Lehrerschaft als fehlerhaftes Englisch angesehen11. Standard-Englisch soll Zweitsprache werden. Vertreter von "black communities" übten daran Kritik, mit der Begründung, damit werde eine weitere Senkung des Schulniveaus erreicht12.


Für Helbig erscheint der Gegenstand der US-amerikanischen Sprachwissenschaft in einem anderen Licht. Für ihn geht es dort um die sogenannte "Sprachbarrierenproblematik" (welche Barrieren bilden Sprachen für den Zugang zu gesellschaftlichen Positionen) und den schichtenspezifischen Sprachgebrauch (wie sprechen einzelne Klassen). In Kanada steht die Sprachsituation der anglo-und francophonen Bevölkerung im Zentrum des sprachwissenschaftlichen Interesses. Die Forschung ist dort sehr stark auf die Ethnomethodologie und den symbolischen Interaktionismus bezogen, bildet quasi die "Avantgarde" der neuen Linguistik, wenn man die oben dargestellten Kategorien zu raten ziehen möchte.


Ähnliches ist für die Sprachwissenschaft der (alten) BRD kennzeichnend. Neben den schon erwähnten "Sprachproblemen von Arbeitsmigranten" bilden für Schlieben-Lange die sozialen Bedeutungen von Dialekten ein weiteres Gegenstandsfeld. Für die bundesrepublikanische Gesellschaft schien das »Gastarbeiterdeutsch« der sogenannten "ersten Generation" öffentlich nur als "falsches" Deutsch präsent zu sein und die Sprache ihrer Herkunft wurde als private Angelegenheit behandelt. Diese Sprachen, egal ob man sie nun Muttersprache oder Herkunftssprache nennt, hatten neben der offiziellen deutschen Staatssprache nur in den Sonderfällen des Dänischen und des Sorbischen staatliche Anerkennung gefunden. Im Bewusstsein verschwunden sind auch die Herkunftssprachen der polnischen Einwanderer des letzten Jahrhunderts in das Ruhrgebiet. Die Dialekte des Deutschen der osteuropäischen "Aussiedler" nach dem Zweiten Weltkrieg werden fast nur noch von der älteren Generation gesprochen und scheinen am verschwinden. Historischen Berichten zufolge war das Jiddisch eine Art Lingua franca, eine allgemeine Verständigungssprache, vor 1933. So wird in der jüdischen Zeitschrift "Ost und West" folgendes berichtet:

Das Deutsche dieser Juden ermöglicht es dem deutschen Reisenden, ohne andere als deutsche Sprachkenntnisse sich mit seiner Muttersprache durch fast alle Länder der bewohnten Erde hindurchzuhelfen.13

Historisch ist es zwei Sprachgruppen gelungen staatliche Anerkennung zu erreichen: dem Dänischen und dem Sorbischen. Das Jiddische scheint zwar als Alltagssprache weite Verbreitung gefunden zu haben, wird aber seit der Zerstörung und Vernichtung der Sprechgemeinschaft nur noch in kleinen über verschiedene Länder verteilte Gruppen gesprochen. Die Sprachpraxis der neuen Migranten (damit bezeichne ich diejenigen Einwanderer und Einwanderinnnen, die nach dem 2. Weltkrieg in die Bundesrepublik eingewandert sind, im Gegensatz zu den alten Migrantengruppen vor 1945, wie Ruhrpolen, Fremdarbeiter, Durchwanderer u.a. ) wird erst spät thematisiert.


Bis 1973, dem Jahr des Anwerbestopps für "Gastarbeiter", standen sich die Vorstellungen der Wirtschaft, die eine "Rotation der Arbeitskräfte" befürworteten, und die der Kirchen, Gewerkschaften und Erziehungsinstitution, die eine "Integration" forderten, gegenüber. Der Anwerbestopp nach 1973 hatte eine Zunahme des Familiennachzugs zur Folge und damit traten die »Sprachprobleme« in den Vordergrund. Die ersten Untersuchungen darüber sprachen von einem "Pidgindeutsch", welches sich aufgrund des geringen Kontakts zu Deutschen herausbilde. Mit Beginn der 80er Jahre war dann die Vorstellung herausgebildet, würden die »Gastarbeiter« nur "richtig" Deutsch sprechen, so wäre auch das Integrationsproblem gelöst. Ein Topos der in der aktuellen Diskussion um die sogenannte "Integrationsfähigkeit von Ausländern" wieder aufgegriffen wird.


Zu Beginn der 80er Jahre wurde begonnen die sprachliche Situation von italienischen Jugendlichen der zweiten Einwanderergeneration empirisch zu untersuchen14. Auer, einer der ersten, der solche Untersuchungen vorgenommen hat, kann als Vertreter eines konversationsanalytischen Ansatzes gesehen werden. Dieser ist eng mit der dargestellten kanadischen Forschung verknüpft, unter anderem über die verwendeten ethnographisch orientierte Methoden. Seit Beginn der 90er Jahre wendet sich diese Forschungsrichtung dem Türkischen in der Bundesrepublik zu. Die vorliegende Studie zur Interaktion in gemischt-sprachlichen Jugendgruppen ist in diesem Kontext zu sehen. Sie wendet sich ab von der isolierten Betrachtung der sogenannten "Minderheitensprache" und rückt die Interaktionsprozesse zwischen Angehörigen der "Mehrheits- und der Minderheitensprachen", aber auch die Beziehungen der "Minderheitensprachen" untereinander in den Mittelpunkt. Mit dem Abstand von 30 Jahren lässt sich eine Veränderung des Gegenstandsfeldes der Sprachwissenschaften in der Bundesrepublik beschreiben: weg von der Vorstellung eines defizitären "Gastarbeiterdeutsch" und eines "Sprachproblems" auf Seiten der Migranten und Migrantinnen, hin zur Untersuchung von Interaktionsprozessen und der historischen Entwicklungen des Verhältnisses zwischen Angehörigen der Mehrheits- und der Minderheitensprachen. Besonderes Augenmerk wird in dieser Untersuchung auf das "Gemischt sprechen" gelegt, weil es eine Art Momentaufnahme einer kontinuierlich verlaufenden historischen Entwicklung darstellt. Von diesem Standpunkt aus kann die weitverbreitete Vorstellung eines "richtigen Deutsch" kritisiert und die Genese der Vorstellung problematisiert werden, es käme vor allem darauf an, "ordentlich" Deutsch zu sprechen.


Zu Sprachwissenschaften in der DDR bemerken beide Autoren, dass diese durch die Frage nach den "Mechanismen der sprachlichen Kommunikation" gekennzeichnet seien. Sprache wurde als Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden. Daneben gab es dort aber auch eine starke dialektologische Wissenschaftstradition. Diese beschäftigte sich mit dem Verhältnis von Hochsprache und Dialekt, sowie der Funktion und Bewertung von Dialekten. Dialekte wurden ähnlich wie "Berufsgruppensprachen" gesehen, also Sprachen, die bestimmten Berufsgruppen eigen sind und zur Kommunikation untereinander benutzt werden.


Die sozialen Beziehungen von gesellschaftlichen Klassen bilden ebenfalls in den Sprachwissenschaften Grossbritanniens das Gegenstandsfeld. In der britischen Wissenschaftstradition stehen die sprachlichen Beziehungen von Mittelklasse und Arbeiterklasse im Zentrum des Forschungsinteresses. Diese greift die Wittgensteinsche Entgegensetzung von formalem (formal) und öffentlichen (public) Code auf, die von Basil Bernstein in den 60iger Jahren dieses Jahrhunderts zum elaborierten (ausgeweiteten) und restringiertem (eingeschränktem) Code verengt wurde. "Codes" stehen hierbei für die Vermittlunginstanz von sozialer Struktur und Kognition. Seit Beginn der 80er Jahre, im Gefolge der Riots von Brixton am Ende der 70iger Jahre, gibt es eine Anzahl von empirischen Sprachforschungen, welche die sprachlichen Verhältnisse in den vorallem von "schwarzen" Briten bewohnten Stadtteilen der Grossstädte, untersuchen. Seither kommen dort verschiedene, auch im Gefolge der Migration aus den ehemaligen Kolonien, neu entstandenen Varietäten des Englischen in den Blick der Forschung. Mit Varietäten werden verschiedene Sprechweisen des Englischen bezeichnet, um so die hierarchische Anordnung von Sprache und Dialekt, oder die Diskussion was denn nun eigentlich eine Sprache ist, zu umgehen. So betrachtete Roger Hewitt15 die sprachliche Interaktion zwischen Jugendlichen aus jamaikanischen oder anderen karibischen Sprechgemeinschaften und Jugendlichen aus englischsprachigen Sprechgemeinschaften. Hewitt stellte fest, dass durch das popkulturelle Phänomen der "Reggae-Musik", das Prestige dieser Art und Weise zu sprechen erhöht wurde und nun auch englischsprachige Jugendliche anfingen sich diese Sprechweisen anzueignen. Ben Rampton16 untersuchte die Interaktion von Jugendlichen aus bengali sprechenden Gemeinschaften mit Jugendlichen aus anderen eingewanderten Sprechgemeinschaften. Diese Forschungen stehen in einer engen Verbindung zu einer in den 60iger Jahren am "Centre for Contemporary Cultural Studies" in Birmingham entstandenen Theorietradtion. Diese findet ihre Gegenstände im Feld der populären Kultur (popular culture). Im Gegensatz zur Frankfurter Schule und vorallem Adorno, der sich mit den hochkulturellen Aspekten des Gesellschaftlichen beschäftigte, rückt dort die Alltagskultur in den Mittelpunkt. Diese Theorietradtion bildet auch einen wichtigen Bezugspunkt der Rassismusforschung in Grossbritannien.


Während in Grossbritannien die Empirisierung und Pragmatisierung des Gegenstandsfeldes am weitesten entwickelt zu sein scheint, hat sich in der französischen Sprachwissenschaft ein gegenläufiges Gegenstandsfeld konstituiert. In Frankreich bilden die Text-, Diskursanalyse und die Textlinguistik den Schwerpunkt der Sprachwissenschaften. Diese Fixierung auf den "politischen Text" steht eng mit der Entwicklung des Zentralstaates in Frankreich in Zusammenhang. Auf die Einflüsse des Strukturalismus auf die Ethnologie (Lévi-Strauss), auf die Psychoanalyse (Lacan), auf die Philosophie (Althusser), sowie auf die Texttheorie der 60er Jahre (Barthes, Kristeva, Derrida) sei hier nur verwiesen. Diese starke theoretische Orientierung hat eine spezifische Fixierung auf Text und Schriftlichkeit unter Zurückweisung der Mündlichkeit hervorgebracht.


Die Sprachwissenschaften in Italien gleichen in der Wahl ihrer Gegenstände der Forschung der DDR. So spielt auch hier die Beziehung von Dialekt und Standardsprache eine wichtige Rolle. Ähnlichkeiten zum "DDR-Zweig" der "deutschen" Sprachwissenschaften liegen in der föderalistischen und dialektalen Struktur und der späten Herausbildung einer einheitlichen Nationalsprache (Ende des 19. Jahrhunderts). Dabei spielen in Italien die Unterschiede zwischen Stadt und Land, sowie die Unterschiede zwischen Nord- und Süditalien eine hervorgehobene Rolle.


Diese gesellschaftlichen Unterschiede zeigen sich auch in der sprachwissenschaftlichen Gegenstandskonstitution der ehemaligen UdSSR. Dort beschäftigte sich die Sprachwissenschaft auch mit dem Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft: sie widmete sich der Mehrsprachigkeit, untersuchte den Sprachaufbau und beschäftigte sich mit Sprachpolitik. Den Beziehungen zwischen den Nationalsprachen galt besondere Aufmerksamkeit und es wurde am Problem der Sprache als Verständigungsmedium zwischen Nationen gearbeitet. Als Gegenstände konkreter Forschung entwickelte sich die Beziehung zwischen Nation und Sprache, sowie die Frage nach der geschichtlichen Entwicklung von Dialekten. Prägend für die Entwicklung der Linguistik in der UdSSR war die Auseinandersetzung zwischen dem georgischen Sprachwissenschaftler Nikolai Marr, einem Vertreter der offiziellen russischen Linguistik der 30er und 40er Jahre, und Stalin. Marr ging von einem Klassencharakter der Sprache aus. In dem Aufsatz "Marxismus und Sprachwissenschaft"17 widerlegt Stalin Marrs These. Stalin ging vom klassenübergreifenden Charakter der Nationalsprachen aus.


Zurück in die Werkstatt, zurück zum Ausgangspunkt, zu unserer Frage nach der Methodologie mit der man sich der urbanen Lebenswelt vielsprachiger Jugendlicher wissenschaftlich annähern könnte. Gehen wir ein letztes mal zurück zu unseren Autoren: Schlieben-Lange, als Vertreterin des westdeutschen Wissenschaftsbetriebes belässt es bei einer Darstellung der Sprachwissenschaft. Helbig, als DDR-Wissenschaftler formuliert gemäss den damaligen Anforderungen eine Kritik an der bürgerlichen Soziolinguistik: die bürgerliche Gesellschaft beruhe auf dem Gegensatz von arm und reich und sei auf der Suche nach Massnahmen um die bestehenden Spannungen abzubauen. Daher verlagere sie die Probleme vom Sozialen hin zum Sprachlichen. Die Forderung nach "Chancengleichheit" sei der Versuch, die soziale Dynamik unter Kontrolle zu bekommen. Es gehe ihr letztendlich um die Anpassung der Unterprivilegierten an die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse. Daher fasse die marxistische Soziolinguistik Sprache als gesellschaftliche Erscheinung und bestehe auf dem Primat des Gesellschaftlichen beim Wechselverhältnis von Sprache und Gesellschaft. Als Beispiel führt er die Sprache der französischen Revolution an, die Ausdruck bestimmter Klassenverhältnisse gewesen sei. So sei die Sprache der Stadt eine urbane Gruppensprache, die in Beziehung zum standardsprachlichen System stünde und mit staatlichen Mitteln durchgesetzt wurde. So gerieten, mit der Herausbildung des bürgerlichen Nationalstaates und einer einheitlichen Standardsprache, ursprünglich sozial nicht markierte Dialekte in eine soziale Kontrastellung.


Mit der Kennzeichnung der Sprache der Stadt als urbane Gruppensprache führt uns Helbig wieder zurück zu Henri Lefebvre und der Frage nach der in der Stadt gesprochenen Sprache. Wie kann nun eine empirische Annäherung an die urbanen Sprechgemeinschaften und ihrer Sprechweisen aussehen? Welcher Methodologie soll ich während des Forschungsprozesses folgen und welche Methoden erscheinen geeignet, um mich einerseits diesen Sprechweisen von Kindern und Jugendlichen anzunähern, ohne aber andererseits die Grundlage dieser Sprechweise, die Konstitutierung als Sprechgemeinschaft nicht aus dem Blick zu verlieren? Anders ausgedrückt: wie können die linguistische Perspektive und die soziologische Perspektive so zueinander gebracht werden, ohne irgendein "Primat" in der Beziehung zwischen Sprache und Gesellschaft vorauszusetzen, sondern die Beziehungen zwischen beiden als offene Frage zu untersuchen.


Um uns im Verlaufe der Untersuchung dieser Beziehung anzunähern, möchte ich zu Beginn einige Aspekte der Sprache-Gesellschaft-Beziehungen beleuchten, welche die Methodologie und die anzuwendenden Methoden der Untersuchung betreffen. Vielleicht hilft hier ein Gedankenexperiment weiter: verstehen wir für einen Augenblick Sprache als etwas konkretes und gesellen ein Subjekt hinzu, eine konkrete Person, die spricht. Gesellschaft wollen wir dagegen als Objekt bezeichnen, welches der Person als ihm äusserlich entgegentritt. Nun stellt sich die abstrakte Beziehung von Sprache und Gesellschaft als eine Art "Subjekt-Objekt"-Verhältnis dar. An dieser Beziehung möchte ich nun einige Aspekte aufzeigen, welche die Methodologie berücksichtigen sollte.


8 Lefébvre, Henri: Die Revolution der Städte. (1990)

9 Helbig, Gerhard: Entwicklung der Sprachwissenschaft seit 1970. (1990)

10 Schlieben-Lange, Brigitte: Soziolinguistik. Eine Einführung. (1991)

11 Berliner Zeitung, 28./29.12.1996, AFP/dpa

12 Neue Züricher Zeitung, 24.12.1996, U.Sd.

13 Loewe, Heinrich: Die jüdischdeutsche Sprache der Ostjuden. (1996: 28) in: Herzog, Andreas (Hrsg.): Ost und West. Jüdische Publizistik 1901-1928.

14 Auer, Peter & A. Di Luzio: Structure and meaning of lingustic variation in Italian Migrant Children in Germany. In: R. Bäuerle et al. (Hrsg.), Meaning, Use and Interpretation of Language. (1983)

15 Hewitt, Roger: White talk black talk. (1986)

16 Rampton, Ben: Crossing. Language and ethnicity among adolescents. (1995)

17 Eco, Umberto (1994): Die Suche nach der vollkommenen Sprache. München, S. 124