4.1. Aspekte der Urbanen Sprachen - Die Sprachen des Urbanen

Aspekte der Interaktionsordnung des Globalen: Sprechgemeinschaften in Institutionen

Schule - Freiraum - Chaos

Schule und gesellschaftliche Positionen

Schule und Sprachidentitäten

Vielsprachige Lebenswelten und urbane Entwicklung

Gentrifizierung und soziale Lage

Strategien der institutionellen Repräsentation, Integration und Assimilation

Strategien der institutionellen Neuerung

Aspekte der Interaktionsordnung des Globalen: Sprechgemeinschaften in Institutionen

Wir haben nun längst die Strasse verlassen und sind in der wohl wichtigsten öffentlichen Einrichtung, mit der es die Jugendlichen dieser Forschungsarbeit in ihrem Alltag zu tun haben, der Schule, gelandet. Da die Schule als gesellschaftlicher Ort auch Ausgangspunkt der Datenerhebung war, taucht sie selbstverständlicherweise auch in den Aussagen der Jugendlichen auf. Die hier untersuchten Schulen sind aber wiederum selbst eingebunden in ein grösseres institutionelles Gefüges, welches in die Struktur des Untersuchungsraumes "ordnend" eingreift und somit Rückwirkungen nicht nur auf die Schule sondern auch auf die Strasse und die Häuser der Jugendlichen hat. Doch dazu später. Zunächst wollen wir die Bedeutung der Schule für die Jugendlichen herausarbeiten und die Rolle der Sprachen und der Sprechgemeinschaften untersuchen.

Schule - Freiraum - Chaos

Für die Mädchen Nadja, Kadriye und Gülºen stellt sich die Schule als Freiraum dar, in dem sie sich mit Gleichaltrigen (peers) treffen können.

Kadriye: Ich liebe die Schule.
Nadja: {lacht}
Interviewer/in: {lacht}
Kadriye: Weil ich weg von zu Hause bin. Ich liebe die Schule über alles. Zum Beispiel in dem einen Monat Ferien: Ich bin ausgerastet. ((Sind wir noch ein bisschen rot von dem Lernen. Wenn man nicht zur Schule geht.)) Gibt es auch Pause. Nach der Schule bleiben wir noch hier.
Interviewer/in: Und was macht ihr denn?
Kadriye: Wir sind öfter zusammen. Zum Beispiel wenn wir früh Schluss haben, sitzen wir alle zusammen, Jungs, Mädchen, reden, machen Witze und so. Und spätestens zwei, drei gehen wir. Weil später können wir nicht bleiben, weil die Eltern schimpfen. Nur wenn wir früh Schluss haben, machen wir das.
(Nadja, Kadriye, Schule A, 10-Na., 10-Ka.) 15.8.95
Na ja, zur Schule gehe ich eigentlich schon gerne, weil ich da meine Freunde sehe.
(Gülºen, Schule A, 12-Gü.) 15.8.95

Ercan, Kerem und Hasan finden die Schule gut, weil man sich mit Peers unterhalten und man dort Zeit verbringen kann. Zeit ist offensichtlich ausserhalb der Schule schwieriger zu verbringen als innerhalb der Schule. Das Lernen wird dagegen als negativer Aspekt gesehen.

Ercan: Schule ist nur von einer Seite gut: Da kann man sich mit Freunden unterhalten, aber ...
Hasan: Zum Beispiel, wenn man keine Schule hätte, dann wäre es noch langweiliger, glaub ich.
Kerem: Ja.
Hasan: Nicht jetzt wegen des Lernens, aber zum Zeit verbringen.
Interviewer/in: Zeitvertreib.
Kerem: Ja.
(Ercan, Hasan, Kerem, Schule B, 7-Er., 7-Ha., 7-Ko.) 17.8.95

Anton und Piet sind »newcomer« in der gleichen Klasse in Schule B. Ihre alte Schulklasse kennzeichnen sie als harmonisch, im Sinne, dass sie sich verstanden wussten und betonen, dass sie dort viel gelernt hätten.

Interviewer/in: Gibt es dann manchmal Ärger? Ihr habt jetzt in dieser Klasse nicht so viel erlebt, wie war es denn in der anderen Klasse oder bloss so allgemein?
Anton: Da haben wir uns gut verstanden.
Piet: Ja. Da haben wir sehr viel gelernt, auch viel Spass.
(Anton, Piet, Schule B, 8-An., 8-Pa.) 17.8.95

Das was sie in der neuen Schulklasse vorfinden erscheint ihnen als regellos, als chaotisch.

Piet: Ich bin mit A. jetzt neu in die Klasse gekommen.
Interviewer/in: Jetzt neu?
Anton: Wir kamen aus der R8, wir wären in die R9 gegangen.
Interviewer/in: Das heisst, ihr kennt die anderen noch gar nicht?
Piet: Doch es geht, teilweise von früher.
Interviewer/in: Du warst aber schon in der Klasse? Wie ist es in der Klasse? Ihr habt ja so eine Einladung bekommen.
Anton: Es ist zu laut.
Piet: Etwas chaotisch.
Anton: Zu wenig Unterricht.
(Anton, Piet, Schule B, 8-An., 8-Pa.) 17.8.95

Man kann sagen, dass sie die Regeln der »Etablierten« noch nicht verstanden haben. Sie stellen ein sprachliches Problem fest: die Mehrheit der Mitschüler spricht anders als sie.

Ich glaub, hier wird bisschen mehr Türkisch als Deutsch gesprochen.
(Piet, Schule B, 8-Pa.) 17.8.95

Schule und gesellschaftliche Positionen

In der Schule kann man sich auch die Vorrausetzungen für den zukünftigen Lebensweg aneignen. Der Traumberuf von Meltem ist "Stewardess". Sie weiss auch, auf welchem Weg sie ihr Ziel erreichen kann.

Englisch, ich will auf eine Schule gehen, da, wo ich Englisch lernen kann, weil ich Stewardessin lernen will. Nach dem Real-Abschluss will ich bei der Turkisch Airlines arbeiten, als Stewardess, als Bodenstewardess; da braucht man Englisch. Deswegen.
(Meltem, Schule B, 15-Ml.) 17.8.95

Für sie ist das Erlernen von Sprachen eng verknüpft mit ihrer Berufsperspektive. Die Institution Schule bietet ihr die Möglichkeit eine Sprache vermittelt bekommen, die später nützlich für ihren angestrebten Beruf ist. Auch für sie ist das Lernen etwas positives. Das der Zugang zur Bildung nicht immer für alle offen war und gute Bildung früher einen exklusiven Charakter hatte, davon findet sich noch Wissen bei Cemal.

... finde ich gut, dass ich zur Schule geh´, weil früher gab´s diese Möglichkeit zwar, aber nicht so gut wie heute.
(Cemal, Schule A, 1-C.) 15.8.95

Auch Nadja kennt den Weg zu einem "guten Beruf": guter Schulerfolg. In schlechten Berufen möchte sie nicht landen.

Ich gehe zur Schule und versuche, gut zu sein, damit ich dann weiter machen kann. Ich werde vielleicht in eine andere Schule gehen, um später einen guten, und einen Beruf zu bekommen.
(Nadja, Schule A, 10-Na.) 15.8.95

Ihre Idee des Schulwechsels legt nahe das es bessere und schlechtere Schulen gibt, die den Erfolg oder den Misserfolg garantieren. Schulerfolg ist also nicht nur eine das einzelne Individuum betreffende Angelegenheit, sondern ist auch von der Schule, die man besucht abhängig. Je höher die Schulform desto schwieriger wird es bis zum Abschluss durchzuhalten. Sylvia kennt diese Schwierigkeiten, weil sie schon einmal eine Klasse wiederholt hat.

Weiss nicht, ganz unterschiedlich. Wenn ich Schule habe, dann versuche ich, nicht so viel zu machen, weil ich letztes Jahr fast sitzen geblieben bin und dieses Jahr ein bisschen besser werden will.
(Sylvia, Schule C, 21-St.) 1.9.95

Das Weiterkommen im Gymnasium erfordert von Sylvia Einschränkungen in ihren Aktivitäten. Edon berichtet, dass seine Eltern sich für seinen Schulerfolg interessieren und wir könne daraus schliessen, dass sie Wert auf Bildung legen.

Meine Mutter fragt mich immer auf Jugoslawisch: "Wie war die Schule", "Hast du was gemacht?" oder "Nimm mal dein Buch und lese mal." Solche Sachen.
(Edon, Schule A, 3-Ed.) 15.8.95

Der Schulleiters der Schule A, gibt aber einen Hinweis auf die unterschiedliche Bedeutung der Bildung für Jugendliche aus deutschsprachigen Familienhintergrund und solchen mit anderer Herkunftsvarietät. Es ist die unterschiedliche Gewichtung der Leistung bei deutschen Eltern und bei Eltern von Migrantinnen.

In der Grundschule kommen eher unterschiedliche Schichten: Arbeiterkinder und Kinder aus grün-rotem Akademikermilieu. Da gibt es grössere Spannungen. Auch machen die "deutschen" Eltern gegen Ende der Grundschule mehr Druck und fordern mehr Leistung von den Schülerinnen.
(2-talk)

Während für die einen die Schule der Ort des Erwerbs von Wissen ist, welches ihnen den Aufstieg aus ihrer Klasse heraus zu erleichtern scheint, steht für andere die Leistung um den Klassenerhalt im Vordergrund. Die Schule ist also der Ort an dem die zukünftige gesellschaftliche Position der Jugendlichen mit vorbereitet und in gewissen Ausmass auf vorbestimmt wird. An dieser Stelle möchte wir danach fragen, wie sich die Schulen gegenüber den vielsprachigen Lebenswelten, aus denen sie ihre Schüler schöpfen, verhalten?

Schule und Sprachidentitäten

Dieser institutionellen Perspektive auf die vielsprachigen Lebenswelten werden wir uns im folgenden zuwenden, um dann zum Schluss dieses Abschnitts wieder die Sichtweisen der Jugendlichen in den Blick zu bekommen. Sie werden uns Auskunft geben über die Bedeutung der Sprachen im institutionellen Kontext und verweisen auf weitere, ausserhalb der Schule liegende, institutionalisierte Orte ihrer Lebenswelt.

Gemeinsam ist allen drei untersuchten Schulen, dass in ihnen vergleichsweise viele sprachlich unterschiedliche Lebenswelten repräsentiert sind. Jedoch haben die Schulen einen je eigenen spezifischen Umgang damit entwickelt.

Von insgesamt 450 Schülerinnen sind ungefähr 120-150 mit türkischem Migrantenhintergrund.
Es gibt eine türkische Kollegin, die das Wahlpflichtfach Türkisch unterrichtet. Dies ist gleichwertig zu Französisch und Spanisch und brauchbar für den Übergang zur Sekundarstufe II. Es gibt desweiteren eine türkischen Sozialpädagogen.
(Protokoll Schulleiter Schule A, 2-talk)

Wir wissen bereits, dass der sozialstrukturelle Hintergrund der Klasse in Schule A durch Kleingewerbe gekennzeichnet ist.. Die quantitativ grössten Sprechgemeinschaften sind die deutsche, die türkische und die "jugoslawische". Der Schulleiter der Schule A. berichtet, dass Türkisch institutionell an seiner Schule repräsentiert ist. Es ist präsent durch die Schülerinnen und Schüler, durch Lehrer, als Sprache und als schulisches Qualifikationsfach. Türkisch ist mit anderer Sprachen in eine institutionelle Hierarchie der Sprachen eingebunden: Deutsch ist Normsprache, Englisch erste Fremdsprache, Französisch, Spanisch und Türkisch sind zweite Fremdsprachen. Gleichzeitig ist Türkisch gegenüber den anderen Sprachen hervorgehoben und wird als Problem angesprochen, für die eine extra Person, in Gestalt des türkisch-deutschsprachigen Sozialarbeiters, zuständig ist.

Schulleiter A. antwortet auf die Frage nach dem besten Fach für die Durchführung der angestrebten Interviews so:

Er verweist auf folgende Fächer: Ethik: da hier gesellschaftliche Problembereiche thematisiert werden. Biologie, Politik, aber auch Physik, Chemie da sich interessante Kommunikationen beim Versuchsaufbau seiner Meinung nach ergeben.
(Protokoll Schulleiter A., 2-talk)

Die vielsprachigen Lebenswelten werden durch den Schulleiter als umfassendes gesellschaftliches Phänomen reflektiert, welches gerade nicht als sprachliches Problem von ihm gekennzeichnet wird. Der Schulleiter der Schule B. repräsentiert dagegen eine andere Perspektive auf die vielsprachigen Lebenswelten. Er berichtet folgendes:

Die Schule habe einen Ausländeranteil von 70%, wovon ca. 40 % türkischer Nationalität sei.
Diese Vorbereitungsklasse sei für Neuankömmlinge (z.B. Asylbewerber) ohne Deutschkenntnisse im Alter von 12-14 Jahre.
(Protokoll Schulleiter Schule B, 3-talk)

Ihm begegnen die vielsprachigen Lebenswelten als »Ausländer«, die »Nationalitäten« besitzen und andere »Staatsbürgerschaften« haben. Die »Neuankömmlinge« unterscheiden sich für ihn von seine anderen Schüler und Schülerinnen durch die fehlende Deutschkenntnisse. Diese Schülerinnen und Schüler werden sprachlich vorbereitet, um dann in die Klassen integriert zu werden.

Es gebe einen Türkisch-Lehrer und Türkischunterricht in der Grundschule um der doppelten Halbsprachigkeit entgegenzuwirken. Vormittags werde der Türkisch-Unterricht von der Schule aus angeboten, nachmittags stellt die Schule Räume zur Verfügung, in denen Konsulatsunterricht vom türkischen Konsulat angeboten werde. Die Lehrer würden vom Konsulat bezahlt, der Unterricht erfolge unabhängig und auf die Lehrinhalte hätte er keinen Einfluss. Ab dem nächsten Schuljahr ist eine zweisprachige Alphabetisierung vorgesehen. Dazu würden die türkischen Kinder aus der Klasse herausgenommen und türkisch alphabetisiert. Er erwähnt die Buchstaben die im deutschen Alphabet nicht vorkommen würden. Dies solle zu einem leichteren Umgang mit den Sprachen Deutsch und Türkisch führen. Türkisch ist normales Zusatzangebot.
(Protokoll Schulleiter Schule B, 3-talk)

Die Vorstellung einer sogenannten »doppelten Halbsprachigkeit«, sieht die Sprechweisen der Jugendlichen als Defizit an. In dieser Vorstellung können sie keine der »Sprachen« richtig. Das Erlernen des Türkischen, oder genereller der »Herkunftssprache181« dient als Vehikel zum besseren Erlernen des Deutschen. Die »Herkunftssprache« wird als »Nationalsprache« vorgestellt. Am Prinzip der »Nationalität« wird festgehalten um die sprachlich »reinen« Gestalten des (Hoch)Türkischen und des (Hoch)Deutschen zu produzieren. Die Jugendlichen mit türkischsprachigem Hintergrund werden zum einen von ihrer Klasse als Türken abgetrennt, zum anderen werden sie auch einer anderen nationalstaatlichen Herrschaft unterstellt. Die tragenden Vorstellungen scheint eine Identität von »Nationalität« und »(Hoch)Sprache« anzunehmen. Die Kennzeichnungen der vielsprachigen Lebenswelten, die in der Selbstdarstellung der Schule C benannt werden, haben eine etwas andere Gestalt.

Für die Kinder aus Familien, in denen nicht Deutsch gesprochen wird, gibt es einen zuständigen Lehrer, der sie berät und für besondere Sprachförderungsangebote verantwortlich ist.
(Selbstdarstellungsbroschüre 1994/95, Schule C)

Schule C begreift die vielsprachigen Lebenswelten als rein sprachliches Phänomen und stellt einen Lehrer ein, der für Sprachförderung zuständig ist.

Herr R. berichtet von den Schülern und Schülerinnen mit anderer Muttersprache als Deutsch. Im Vorsemester (11. Klasse) gibt es zwei serbische Mädchen, die sich auf serbokroatisch unterhalten, damit der Lehrer nichts versteht, so Herr R. Es gibt kaum Schüler mit türkischem Hintergrund, der Grossteil kommt eher aus dem jugoslawischen Bereich. Früher wären es mehr Jugoslawen gewesen und Türken gewesen, heute sind eher Aussiedler und iranische Flüchtlinge die dominierende Gruppen.
(Protokoll: Zuständiger Lehrer für Sprachförderungsangebote, Schule C)

Die vielsprachigen Lebenswelten werden in Schule C in unterschiedlichen Kategorien gefasst: »Sprache«, »Nationalität«, »Aussiedler« und »Flüchtlinge«. Die beiden letzten Kategorien kennzeichnen die legalen Aufenthaltsbedingungen, die den Verbleib auf dem Territorium des »Nationalstaats Deutschland« garantieren und die unterschiedliche Zugriffsmöglichkeiten auf soziale und bürgerliche Rechte regulieren.

Für den Lehrer besteht die Motivation der Jugendlichen, in der Herkunftssprache zu sprechen, in der Übermittlung von Geheimnissen, eine Sicht die unterstellt, dass das Sprechen in der Herkunftssprache das Ziel verfolgt den Lehrer, aber auch andere, aus der Kommunikation auszuschliessen um über die Mitteilung eines "Geheimnisse", die Autorität des Lehrers zu unterwandern. Ziel dieser schulischen Massnahmen ist die Integration in die bestehenden Bildungsinstitutionen und ihrer Normsprache Deutsch.

Wir unterhalten uns desweiteren über die schulische Laufbahn der "Neuankömmlinge" bis sie hier am Gymnasium sind: Vorbereitungsklasse - Realschule - Aufbaugymnasium (11. Klasse). Es gibt eine "E-Klasse" (Realschulabschluss) die einen Übergang zu Gymnasien ermöglicht. Die Schule arbeitet nach dem "Eimsbüttler Modell" für die Oberschüler ab der 11. Klasse.
(Protokoll: Zuständiger Lehrer für Sprachförderungsangebote, Schule C)

Wr hatten das Glück, dass wir die Untersuchung in einem urbanen Raum durchgeführt haben, in dem die unterschiedlichsten Modelle und Projekte von städtischer Seite durchgeführt werden. Somit sind die Strategien der einzelnen Schulen im Umgang mit den vielsprachigen Lebenswelten auch immer in einen grösseren Gesamtzusammenhang zu betrachten. Anhand einer Analyse der in diesem urbanen Raum durchgeführten Stadtentwicklungspolitik wollen wir untersuchen, wie dieser Gesamtzusammenhang durch die daran beteiligten Akteure gekennzeichnet wird. Wie und wer definiert Probleme? Und wie werden sie einer Lösung zugeführt?

Vielsprachige Lebenswelten und urbane Entwicklung

"Entscheidend ist, dass die Massnahmen und Vorhaben sich in den Gesamtzusammenhang der Leitziele einordnen und diesen nicht widersprechen".
(Rahmenkonzept des Senats vom 6.12.94)182

Allen drei untersuchten Schulen ist zunächst gemeinsam, dass sie interne Veränderungen hinter sich haben, oder sich gerade mitten in einem internen Veränderungsprozess befinden. Schule B befindet sich in einem Gebiet, welches durch den Hamburg Senat und seiner Stadtentwicklungsbehörde als Problemgebiet definiert wurde. Dort werden

"Zusätzliche(n) Massnahmen gegen Armut als Bestandteil sozialer Stadtentwicklung."
(STEB 94)

durchgeführt. Schule A liegt am Rande dieses Gebietes, welches von diesem Programm betroffen ist und hat einen Prozess derUmstrukturierung schon hinter sich, der weit über den schulischen Rahmen hinausgeht und in den Stadtteil eingreift. Dazu der Schulleiter der Schule A:

Er(der Schulleiter, AH) berichtet zunächst von seiner Reise am Wochenende mit einer Delegation nach Dänemark. Daran beteiligt waren mehrere Schulen aus dem Stadtteil und er verweist in diesem Zusammenhang auf den "Community"-Ansatz hier im Stadtteil. Darunter versteht er die enge Zusammenarbeit von unterschiedlichen Institution hier im Stadtteil, und die Verkürzung von Verwaltungswegen. Er hebt hervor, dass er einen guten Draht zu unterschiedlichen Behörden hat.
(Protokoll Schulleiter A., 2-talk)

Als Ziel der Veränderung wird die Verkürzung von Verwaltungswegen durch die Vernetzung von Behörden, einzelnen Institutionen im Stadtteil und der Schule angegeben. In den "Leitzielen" des Konzeptes wird diese Grundidee der Vernetzung als Zielprojekt anvisiert und gibt damit auch die gegenwärtigen Mängel aus institutioneller Sicht preis: Geschlossenheit und Trägheit des jetzigen Zustandes.

Grundprinzip der Strategie sozialer Stadtentwicklung ist die Gestaltung offener und flexibler Prozesse (...).
(STEB 94, S. 5)

Trotz dieses Grundprinzips der Offenheit und Flexibilität bedarf es nach Ansicht der Stadtentwicklungsbehörde

eines verbindenden Rahmens, einer gemeinsamen Grundidee, der sich die beteiligten Akteure verbunden fühlen und die es ermöglicht, kurzfristige pragmatische Schritte und langfristige Ziele miteinander zu verbinden.
(STEB 94, S. 5)

Der "verbindende Rahmen", die "gemeinsame Grundidee", die "kurzfristige Schritte" und "langfristigen Ziele", bilden die leitenden Vorstellungen dieses Konzeptes sozialer Stadtentwicklung. Unklar ist, was diese "gemeinsame Grundidee" ist und so würden wir gerne erfahren, was diese Behörde gedenkt zu tun? Eine mögliche Antwort finden wir unter der Überschrift "Beschäftigung und Wohnen". Dort werden folgende Strategien für die betroffenen Quartiere vorgeschlagen:

-Verbesserung der Zugangschancen (...) zum Arbeitsmarkt.
-Förderung und Entwicklung des Gewerbes (...), Erhalt und Schaffung neuer Arbeitsplätze,
-Einleiten und Fördern von Prozessen, die (...) bündeln und eine nachhaltige wirksame, selbsttragende quartiersnahe Wirtschaftsstruktur fördern.
-Sichern von preiswertem Wohnraum (...) Fördern von lebenslagenorientierten Nachbarschaften ...
-Schaffung zusätzlicher (...) Arbeitsplätze (...) sowie Verknüpfung von städtebaulichen Massnahmen mit Massnahmen öffentlich geförderter Beschäftigung und Qualifizierung und quartiersbezogener Wirtschaftsförderung.
(STEB 94, S. 5)

Auf diese positiven Zielvorstellungen wird das behördliche Handeln ausgerichtet und artikuliert eine Zukunftsvorstellung dieser Behörde. Wie ist aber die gegenwärtige Situation in diesen Quartieren? Wenden wir ein Gedankenexperiment an und negieren diese Zielvorstellung, so erhalten wir eine mögliche Antwort über die aktuelle Situation in diesen Quartieren: schlechte Zugangschancen zum Arbeitsmarkt; Rückgang von Gewerbe und Arbeitsplätzen; zerstreute und allgemein subventionierte Wirtschaftsstruktur; Verteuerung des Wohnraums. Wie gedenkt nun die Behörde von dieser negativen Gegenwart zur positiven Zukunft der Zielvorstellungen zu gelangen? Im Abschnitt "Kooperationen und Beteiligungen" erfahren wir etwas über die behördliche Strategie:

-Aufbau und Entwickeln von Kooperationen öffentlicher und privater Akteure sowie von lokalen sozialen Netzen und Verbessern der Problemwahrnehmung und Problemlösungskompetenz kommunaler Verwaltung und Politik im Quartier.
-Stärken der Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten der Bewohnerschaft bei allen Fragen und Planungen, die das Quartier betreffen.
-Wiederherstellen des Vertrauens der Bewohnerinnen und Bewohner in ihre eigene Handlungsfähigkeit und Abbau sozialer Ausgrenzung.
(STEB 94, S. 5)

Das diese wieder zukünftigen Schritte sind, welche die Behörde beabsichtigt zu tun, gehen wir genauso vor wie im obigen Gedankenexperiment. Wir negieren diese Aussagen um etwas über die mögliche Gegenwart im den Quartieren zu erfahren: Es gibt offensichtlich gegenwärtig keine Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Akteuren und lokalen sozialen Netzen. Die kommunale Verwaltung leidet an der Wahrnehmung von Problemen und der Kompetenz diese zu lösen. Es gibt kaum Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten. Es fehlt am Vertrauen der Bewohnerinnen in Handlungsfähigkeit der Behörden, dafür existiert soziale Ausgrenzung. Das "Rahmenkonzept" zielt also einerseits auf die Überwindung eines gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozesses, der Folge eines in den Quartieren stattfindenden Gentrifizierungsprozesses ist. Als Gentrifizieren bezeichnet man in der Stadtsoziologie den Verdrängungsprozess von sozial schwachen Gruppen aus innerstädtischen Quartieren. Andererseits gibt es ein Vermittlungsproblem zwischen den in den Stadtvierteln beheimateten Lebenswelten und ihrer Probleme und der Problemwahrnehmungs- und lösungskompetenz der städtischen Behörden. Vor dem Hintergrund der Hamburger Verwaltungsstrukturen, könnte man dies als Problem der demokratischen Repräsentation der lokalen Ebenen im institutionellen Gesamtgefüge der Stadt sehen. Als weiterer Aspekt kommt das Staatsbürgerrecht der Bundesrepublik Deutschland in den Blick, das grosse Teile der in den Quartieren Beheimateten ihre Repräsentation im staatlichen Gefüge vorenthält. Die Perspektive der städtischen Behörde ist naturgemäss eine andere:

Die Ursachen der Armutsentwicklung und Benachteiligung bestimmter Hamburger Stadtteile (Pilotgebiete) sind vielschichtig. Strategien zur Stabilisierung und Verbesserung der Lebensverhältnisse haben dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie ihrerseits möglichst differenziert und vielfältig ansetzen. Das ist nicht einfach gleichbedeutend mit mehr Geld, neuen Programmen, erweiterten sozialen Angeboten oder zusätzlichen Serviceeinrichtungen. Entscheidend ist vielmehr, die laufenden Haushaltsmittel zu bündeln, die gegebenen Arbeitsstrukturen und Instrumente aufgabenadäquat weiterzuentwickeln und bisher brachliegende Potentiale zu aktivieren, so dass die vorhandenen Gesamtressourcen zielgenauer eingesetzt werden.
(...)
Entscheidend ist , dass die Massnahmen und Vorhaben sich in den Gesamtzusammenhang der Leitziele einordnen und diesen nicht widersprechen.
(STEB 94, S. 5)

Die Ursachen werden als "vielschichtig" gekennzeichnet, deswegen, so die Begründung, müssen die Strategien differenziert und vielfältig angesetzt werden. Das heisst für die Behörde allerdings nicht "mehr Geld", "neue Programme", erweiterte "soziale Angebote" oder zusätzliche Serviceeinrichtung, sondern die "laufenden Haushaltsmittel", die "vorhandenen Gesamtressourcen" sollen "zielgenauer" eingesetzt werden. Die gegebene Struktur soll unter dem ökonomischen Gesichtspunkt Effektivität weiterentwickelt werden ohne das Mehrkosten entstehen. Nun lässt sich das Grundprinzip der "Gestaltung offener und flexibler Prozesse" und der "verbindende Rahmen", die "gemeinsame Grundidee" besser verstehen. Sie liegt in der Akzeptanz der "gegebenen Arbeitsstrukturen und Instrumente" und der "vorhandenen Gesamtressourcen". Massnahmen und Vorhaben dürfen diesem Gesamtzusammenhang nicht widersprechen. Sie dürfen nicht zusätzliche Kosten verursachen. Unter betriebswirtschaftlicher Perspektive handelt es sich um die Aufgabe einer Optimierung und Effektivierung vorgegebener Strukturen. Die bisher genannten Aspekte verweisen auf eine betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise und folgen einer Strategie der Optimierung und Effektivierung. Um dies besser zu verstehen wollen wir eine Analogie bemühen aus der solche Betrachtungsweisen bekannt sind. So ist das Schaffen von relativ autonomen Substrukturen bekannt aus der Produktion von Automobilen (Teamarbeit, gegenseitige Kontrolle, teilweise Rücknahme der Taylorisierung). Ohne hier weiter auf die Veränderungen der städtischen Entwicklungspolitik einzugehen, sie ist nicht das Thema dieser Untersuchung, lässt sich dennoch folgendes feststellen: das Leitbild der funktionalen Gliederung des städtischen Raumes verändert sich zugunsten der Schaffung von lokalen, sich selbstregulierenden Subsystemen. Er erscheint als die Umsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik auf lokaler Ebene, wobei sich die Strukturen ändern müssen, aber für die Anpassung dieser Strukturen kein Geld zur Verfügung steht, somit die Kosten dieser Umstrukturierung des Lokalen nicht der Staat und die Stadt zu tragen haben, sondern die Bewohner der Quartiere, ohne dass ihnen partizipatorischen Möglichkeiten im "Gesamtzusammenhang" im Gegenzug offenstehen.

Gehen wir nun zurück zur Problemstellung dieses Abschnittes. In welcher Weise tauchen die hier untersuchten vielsprachigen Lebenswelten in diesem behördlichen Rahmenkonzept auf? In der gesamten Broschüre ist von »Bewohnerschaft«, »Bewohnerinnen« und »Bewohnern« die Rede. Was erfahre ich über diese in der Broschüre? Es gibt zunächst allgemeine, von der Behörde definierte, Probleme, welche als Kriterien für die Durchführung der Pilotprojekte dienen.

Dazu kommen "spezifische Problemschwerpunkte" in St. Pauli-Nord und in Altona-Nord, den beiden Untersuchungsgebieten der vorliegenden Forschungsarbeit.

Für St. Pauli-Nord werden folgende Probleme benannt:

Dagegen hat es Altona-Nord mit folgenden Problemen zu tun:

Die Bewohnerschaft, welche aus behördlicher Perspektive problematisch erscheint, wird in folgende Kategorien unterteilt:

Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Alleinerziehende
verschiedene Bevölkerungsgruppen
Frauen
ausländische Bewohner
ältere Menschen
(STEB 94, S.22 )

Da diese Gruppen in der behördlichen Sichtweise problematisch sind, interessiert uns auch das Gegenteil, als diejenigen, welche unproblematisch aus behördlicher Perspektive erscheinen. Da wir dies in der Broschüre nicht finden, hilft uns das Gedankenexperiment der Negation vielleicht weiter eine mögliche Antwort zu finden. Also negieren wir die genannten Kategorien und erhalten folgende mögliche Gruppen:

Steuerzahler, Arbeitende, (Klein?)Familien
einheitliche Bevölkerung
Männer
einheimische Bewohner
jüngere Menschen

In der Definition der Problemgruppen innerhalb der Bewohnerschaft wird nun die Beziehung zu denen deutlich, die darin nicht enthalten sind. Es ist die homogene, autochthone/deutsche, männliche, arbeitende, jüngere Bevölkerung, die in Kleinfamilien lebt, von der sich die problematisierte Gruppe abhebt.

Nachdem wir nun mögliche Antworten auf die Frage nach problematischer und unproblematischer Bewohnerschaft erhalten haben, stellen wir die Frage nach der Art Probleme die in den Blick der Behörde kommen? Um wieder mögliche Antworten zu finden, stellen wir zunächst uns ähnlich erscheinende Probleme gegenüber, die wir den oben genannten Ausführungen entnommen haben:

Bestandsproblem des Kleingewerbes vs. Illegales Gewerbe (Drogen/Kriminalität)
Verkehr, Strassen vs. Wohnungen, Grün und Freiflächen

Wir können nun möglicherweise die Problemdefinition genauer fassen. Das Problem erscheint als eines der Etablierung neuer Marktstrukturen, in denen Konsumwaren (Drogen) und Geld zirkulieren. Das spezifische an diesem sonst alltäglichen Tauschgeschäft ist der vom allgemeinen Tausch ausgeschlossene Gebrauchtswert dieser Ware. Aufgrund staatlicher Definition wird diese Ware aus dem Markt ausgeschlossen. Damit wird der Tausch zur kriminellen Handlung. Diese neuen Marktstrukturen gehen einher mit dem Niedergang alter Marktstrukturen (legale Waren, Geld) und der Etablierung neuer, legaler Marktstrukturen. Der Bevorzugung des Autoverkehrs mit breiten Strassen, der, in der vorherrschenden Ökonomie, zentral für die Zirkulation von Waren auf Märkten ist, stehen die Enge der Wohnverhältnisse im Quartier gegenüber.

In der Perspektive der Behörde in der den 'Armen', 'Dummen', 'Frauen' und 'Migranten', die 'Reichen', 'Klugen', 'Männern' und 'Einheimischen' gegenüberstehen, ist zumindest die Wirklichkeit der Polarisierung enthalten. Diese Polarisierung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen lässt sich aber nicht nur in den Quartieren von St. Pauli und Altona beobachten, sondern ist kennzeichnend für den "Gesamtzusammenhang" Hamburg.

Gentrifizierung und soziale Lage

Hamburg gilt heute einerseits als reiche Stadt, da in ihr die meisten Vermögensmillionäre leben, andererseits gibt es beträchtlich viel Armut. In der Konsequenz dessen lässt sich eine ökonomische Polarisierung der verschiedenen Stadtteile feststellen183. Sankt Pauli ist ein Stadtteil, in dem diese Polarisierung besonders deutlich hervortritt, wie sich an sozialgeographischen Daten zeigen lässt184. So nimmt zum Beispiel von Süden nach Norden die Anzahl der Zimmer in den Wohnungen zwar zu, aber gleichzeitig gibt es eine Vielzahl von Einpersonenhaushalten. Pro Person steht eine geringe Anzahl von Räumen zur Verfügung; die Wohnfläche pro Person ist im Vergleich zu ganz Hamburg gering. Die Quadratmetermiete in Sankt Pauli ist eine der niedrigsten in Hamburg. Ein grosser Teil der Wohnungen ist noch heute ohne Bad; Wohnungen ohne WC sind nach wie vor keine Seltenheit. Ofenheizungen oder Nachtspeicherheizungen sind üblich. Die Sozialwohnungsbaugebiete im Nordwesten Sankt Paulis und im Norden des Schanzenviertels sind jedoch durchweg besser ausgestattet. Während Sankt Pauli insgesamt durch eine geringe Zahl von Eigentümer- und Hauptmieterhaushalten gekennzeichnet ist, fällt die grosse Zahl von Haushalten mit Untervermietung auf, die auf die Kontinuität von Einlogierern und Schlafgängern verweist; heute hat diese Lebensweise die Form der Wohngemeinschaft angenommen.

Die sozio-ökonomische Situation der Bevölkerung stellt sich folgendermassen dar185: Die Hälfte der Einwohner bezog 1986 ein Einkommen unterhalb von 25000 DM im Jahr, knapp ein Viertel bestritt den Lebensunterhalt über staatliche Leistungen. Die Gesamteinkünfte gingen von 1980 bis 1986 um ungefähr 15% zurück. Die Zahl der Erwerbstätigen war gering, die Arbeitslosigkeit hoch; sie lag 1987 zwischen 26% und 35%. Dabei war der Anteil der arbeitslosen Frauen sehr hoch. Arbeiter und eine grosse Zahl von Selbständigen mit mithelfenden Angehörigen, darunter eine Vielzahl von ausländischen Kleingewerbetreibenden, bilden nach wie vor die Mehrheit der Bevölkerung. Beamte und Angestellte sind kaum vertreten. Die Hälfte der Einwohnerschaft besitzt einen Hauptschulabschluss; überdurchschnittlich viele besitzen die Fach- bzw. Hochschulreife oder einen Hochschulabschluss. Dies verweist darauf, dass der billige Wohnraum auch eine Anziehungskraft für Studentinnen und Studenten besitzt; auch viele Zeichen im Stadtteil sprechen von der Existenz eines studentischen Milieus. Der Anteil der Geschiedenen ist einer der höchsten in Hamburg. Der Anteil der Kinder unter sechs Jahren ist im Vergleich zu anderen Gebieten Hamburgs hoch. Die Altersgruppe zwischen sechs und sechzehn ist nur im Karolinenviertel und im Nordwesten stark vertreten. Der »Ausländeranteil«186 an der Bevölkerung unter 18 Jahren streute 1990 zwischen 72% im Karolinenviertel und weniger als 50% im Schanzenviertel.

Die Sozialstrukturdaten finden ihren sichtbaren Ausdruck in den Strassenzügen des Stadtteils. Bei unseren »Stadtspaziergängen« stellten wir fest, dass man beim Durchqueren des Viertels den Eindruck eines langsamen Übergehens von einem Raum der Unterschicht zu einem Raum der alternativen Mittelschicht erhält. Gekennzeichnet sind die ersteren Quartiere durch einen relativ hohen Anteil von Sozialwohnungen, die nach dem zweiten Weltkrieg gebaut wurden; die alternative Mittelschicht findet sich eher im angrenzenden sanierten Wohnungsgebiet für den gehobenen Standard. Vom ersteren zum letzteren Teil von Sankt Pauli nimmt der Anteil der ausländischen Bevölkerung ab.

Die »Stadtlandschaft Sankt Pauli« ist durch die Zuweisung von Funktionen an bestimmte Regionen der Stadt gekennzeichnet. In der Stadtsoziologie wird solche Zuweisung als »funktionale Segregation187« beschrieben und als ein Kennzeichen moderner Stadtentwicklung gesehen. Die Zuweisung von vor allem ökonomischen Funktionen an bestimmte Regionen der der Stadt und der dort beheimateten Lebenswelten transformiert Gesellschaft zum Organ konkreter Raumschaffung und Raumgestaltung für ökonomische Expansion. In Sankt Pauli macht sich dies an den Konsequenzen der neuerlichen Umschaffung der sozio-ökonomischen Lage bemerkbar. So ist zum Beispiel die einst blühende Klein- und Zulieferindustrie zum Schlachthof marode geworden; dementsprechend bestimmen inzwischen zunehmend Industriebrachen die Stadtlandschaft der Kinder in einem Teil des Viertels. Diese werden wieder neuer ökonomischer Verwertung zugeführt und neuen "moderne" Betriebe angesiedelt. Ein anderer Teil, das »Karolinenviertel« mit einer durch Schlachthof, breite Strasse und das Heiliggeistfeld abgegrenzten insularen Lage, hat eine Mischung aus Kleingewerbe und kaum saniertem Wohngebiet herausgebildet188. Das Kleingewerbe unterteilt sich in Gewerbe, welches von den Anwohnern genutzt wird (z.B. Gemüsehändler, Supermarkt, Imbiss, Bäckerei, Glaserei, Klempnerei) und Gewerbe, welches durch Kunden von ausserhalb des Viertels genutzt wird: alternative Modeläden, Restaurants, Cafes, Second-Hand-Läden, usw.

In der Stadtsoziologie wird eine so stark segmentierte Nutzung des städtischen Raumes, wie sie sich in diesem Stadtviertel andeutet, als Zeichen für einen Prozess der Gentrifizierung gesehen. Solche Entwicklungen deuten auf einen wachsenden Zuzug von Einkommensstarken einerseits, auf wachsende Armut und Vernachlässigung durch den öffentlichen Sektor in den Wohngebieten einkommensschwacher Gruppen und eine zunehmende Konzentration von Immigranten andererseits189. Mit der Konzentration unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen im Stadtteil Sankt Pauli, die zum grossen Teil eine ökonomisch ähnliche Lage aufweisen, sich aber deutlich unterscheiden in bezug auf ihren Lebensstil, ihre sozialen und kulturellen Ausdrucksformen, kann man im Stadtteil Sankt Pauli ein Abbild dessen entdecken, was Bourdieu190 unter dem Stichwort der Ausdifferenzierung von Lebenswelten beschrieben hat. Die verschiedenen Formen des Zusammenlebens - Einpersonenhaushalt, Wohngemeinschaft, Gross- und Kleinfamilie - markieren ebenso Differenzen in den Lebensstilen wie die hochgradige Ausdifferenzierung der Bildungsabschlüsse im Stadtteil; ein anderer Differenzierungsmodus liegt in dem mit dem Gegensatzpaar »Ausländer« - »Inländer« kennzeichenbaren Verhältnis. Auch in ökonomischer Hinsicht weist die Bevölkerung Sankt Paulis weitere Differenzierungen auf. Alle diese Differenzierungen bieten Hinweise auf hochgradig unterschiedliche Ressourcen im Hinblick auf ökonomisches und kulturelles Kapital im Stadtteil. Den Vorstellungen Bourdieus zufolge lässt solche

in der Struktur des sozialen Raums angelegte Differenz191

darauf schliessen, dass sich eine Konkurrenz unterschiedlicher Lebensstile entwickelt.

Strategien der institutionellen Repräsentation, Integration und Assimilation

Dieser Differenz müssen sich gerade die Schulen als staatliche Institutionen stellen, da sie vielmehr, als zum Beispiel die oben untersuchte Behörde, mit den vielsprachigen Lebenswelten im Alltag verknüpft sind und Probleme sich direkt im alltäglichen Umgang stellen und auch gelöst werden müssen. Die untersuchten Schulen haben dabei, wie schon erwähnt, einen je eigenen Umgang mit den vielsprachigen Lebenswelten entwickelt. Dies zeigt sich neben den pädagogischen Zielen, welche die Schulleiter der einzelnen Schulen formuliert haben auch an der Praxis derLehrer. Wenden wir uns zunächst der Strategie der Schule A zu, deren Schulleiter folgende Strategie verfolgt:

Es sollen Formen des gegenseitigen Wahrnehmens entwickelt werden und die Vielfalt soll nicht untergehen. Der türkische Kollege organisiert Feste (Opferfest, Tag des Kindes, Zuckerfest). Andere Migrantengruppen spielen eine zurückhaltendere Rolle. Die griechische Minderheit konzentriert sich eher auf Konsulatsunterricht und ist weniger an der Schule engagiert, obwohl Versuche von der Schule unternommen wurden.
(Protokoll Schulleiter A., 2-talk)

Stellen wir die Frage danach, wie diese Strategie gekennzeichnet wird? Die Entwicklung "gegenseitigen Wahrnehmens" soll anhand von Feiertagen der Minderheit erfolgen, die ebenso gefeiert werden wie die Feiertage der Mehrheit. Dabei werden religiöse (islamisches Opferfest und Zuckerfest) und nationale ("Tag des Kindes" ist ein Feiertag in der Türkischen Republik) Symboliken des Islams und der Türkischen Republik hervorgehoben. Die Hervorhebung der religiösen und nationalen Symbolik einer Gruppe geht mit dem Zurücktreten einer anderen nationalen Gruppe ("die griechische Minderheit") einher. Diese steht unter der nationalstaatliche Herrschaft "ihrer" staatlichen Institution. Diese symbolische Repräsentation der vielsprachigen Lebenswelten, die auf den Islam und die Türkische Republik reduziert wurde, wird in dieser Schule ergänzt durch visuelle Repräsentationen, in verschiedener Schriftsprachen.

Ich warte auf dem Flur, vor dem Zimmer des Schulleiters. Alle Türen sind mehrsprachig bezeichnet (ich erkenne: deutsch, türkisch, griechisch und wohl serbokroatisch). Das schwarze Brett ist voll mit Information über Aktivitäten in der Schule und im Stadtteil, teils mehrsprachig.
(Beobachtung Schule A, 2-talk)

Angesprochen wird die sprachliche Vielfältigkeit durch die kulturelle Symbolik (Sprache, Religion, Nation) der türkischsprachigen Minderheit, ohne diese Symbolik aber, wie es beim Griechischen der Fall ist, einer anderen nationalstaatlichen Autorität zu überlassen.

Schule A und B arbeiten zusammen und Schule A dient der Schule B als Vorbild für die dort angestrebten Transformationen, in der sich Schule B zum Zeitpunkt der Untersuchung gerade hineinbegab. Schule B definiert dasselbe Ziel wie Schule A: die Vernetzung der Schule mit anderen Institutionen im Stadtteil. Dazu der Schulleiter der Schule B:

Zu den Nachmittagsangeboten welche die Schule entwickeln will berichtet der Schulleiter folgendes: mit verschiedenen Schulen in Altona solle ein Netzwerk aufgebaut werden. Durch die Nutzung verschiedener Kontakte erhofft er sich eine Arbeitserleichterung. Die unterschiedlichen Profile der Schulen über Verknüpfungspunkte zusammengebracht werden. Ausserschulische Träger sollen herangezogen werden um bessere Angebote für die Schule zu erreichen. Den Bedürfnissen der Schüler solle besser entgegengekommen werden. So solle auch die Motivation gesteigert werden.
(Protokoll Schulleiter Schule B, 3-talk)

Hier wird als Ziel der Veränderung die Steigerung der Motivation der Schüler und Schülerinnen angegeben. Das Mittel dazu ist die Befriedigungen der Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler. Der Schulleiter der Schule B ist erst neu in seinem Job und versucht gezielt Neuerungen an der Schule umzusetzen.

Herr B. selbst sei seit einem Jahr Schulleiter dieser Schule. Seither versuche er die Fühler in den Stadtteil auszustrecken und eine Kooperation mit Einrichtungen im Stadtteil zu erreichen.
(Protokoll Schulleiter Schule B, 3-talk)

Dabei stösst er auf unterschiedliche Hürden. Das Lehrerkollegium wird von ihm als veraltet gekennzeichnet, welches sich an die veränderte Verhältnisse anpassen müsse.

Über das Lehrerkollegium berichtet er folgendes: in der Regel seien die Lehrer über 50 Jahre. Er verweist auf die Veränderungen und darauf, dass sich die Lehrer anpassen müssten. Sonst lägen die Probleme mehr im Unterricht.
(Protokoll Schulleiter Schule B, 3-talk)

Das Veraltete am Lehrkörper seien seine ausgrenzenden Unterrichtsformen und ein bürokratischer Formalismus. Seine Ziel ist es, wie in Schule A auch, die langen Verwaltungswege zu verkürzen um Offenheit und Flexibilität zu erreichen.

Zum Lehrerkollegium bemerkt er, dass die Unterrichtsformen oft von einer Ausgrenzung von Lehrerseite gekennzeichnet sind. In der (Schule A, A.H.) seien im Vergleich die Unterrichtsformen sehr viel offener. Hier müsse alles durch Gremien.
(Protokoll Schulleiter Schule B, 3-talk)

Weitere Probleme liegen im Unterricht selbst. Dort soll mehr konkret, handlungsbezogen ausgebildet und die "Wichtigkeit von Masse" erfahrbar gemacht werden.

Am Beispiel des Mathematikunterrichts, der mehr auf die Berufsvorbereitung ausgerichtet werden solle, beschreibt er, dass ein konkreter Handlungsansatz verfolgt werden solle, der gerade für Kinder aus Migrantenfamilien wichtig sei. So sollen konkrete Handlungsbezüge hergestellt werden. Dazu diene auch die Projektwochen, in der die Schüler z.B. anhand von Drechslerarbeiten, die Wichtigkeit von Massen erfahren sollen.
(Protokoll Schulleiter Schule B, 3-talk)

Um die gegenwärtige Situation zu verstehen schlagen wir wieder das Gedankenexperiment der Negation vor, um mögliche Antworten zu erhalten. Wenn wir so verfahren, so ergibt sich ein Unterricht, der abstrakt, theoriegeleitet und kein Mass vermittelt. Wir möchten hier in Erinnerung rufen, dass das Schuleinzugsgebiet dieser Schule durch ein eher tradtionelles Arbeitermilieu gekennzeichnet ist. Seine Strategie zielt also nicht, wie in Schule A auf die symbolische Repräsentation der muslimischen und türkischen Gemeinschaft im Schulalltag, sondern setzt Wissen aus der Berufsbildung von Arbeiterjugendlichen ein. Der Strategie des Schulleiters der Schule B liegt keine Problembewusstsein über die Vielsprachigkeit zugrunde, stattdessen zielt seine Strategie auf die konkrete Handlungsbezogenheit des Unterrichts. Die Jugendlichen aus nicht-deutschsprachigem Familienhintergrund werden quasi wie Arbeiterjugendliche ausgebildet und über eine handlungsbezogene Ausbildung auf eine Berufskarriere als Arbeiter vorbereitet. Man könnte dies als Strategie der Integration in eine bestimmte gesellschaftliche Klasse fassen, die sprachlichen und kulturellen Eigenheiten kaum Bedeutung bei misst, dafür aber dem berufsqualifizierenden Wissen zur Integration in den Arbeitsmarkt grosse Bedeutung zukommt.

Ein Hinweis zur Problemdefinition der Schule C, dem Gymnasium, gibt uns auch hier das Gespräche mit dem Schulleiter:

Zum Schluss erhalte ich eine Liste mit der Auflistung aller an der Schule vertretenen Muttersprachen. Diese sei nicht identisch mit der Nationalität (Staatsbürgerschaft)
(Protokoll Schulleiter Schule C, 1-talk)

Wie tauchen die vielsprachigen Lebenswelten der Jugendlichen in dieser Schule auf und welche Strategien werden hier im Umgang damit entwickelt? Zur Beantwortung dieser Frage wollen wir wieder verschiedene Hinweise verfolgen. Zunächst ergibt sich ein Unterschied zur Schule B. Die Nationalität der Schüler, wie sie in Schule B erhoben wird und dort in Klassenlisten auftaucht, ist an dieser Schule in der offiziellen Version durch die Muttersprache ersetzt worden. Auf der Klassenliste der Untersuchungsklasse findet sich aber dann doch wieder beides, die Muttersprache und die Staatsangehörigkeit. Betrachten wir diese Klassenliste genauer, so stellen wir folgendes fest. Während unter der Rubrik »Muttersprache« nur die Schüler und Schülerinne aus nicht-deutschen (kroatisch, polnisch, farsi, türkisch und ungarisch) Familienhintergrund aufgeführt sind, sind bei allen aus deutschsprachigem Hintergrund keine Angaben eingetragen, so als ob sie keine Muttersprache hätten. Während dort also ein weisser Fleck ist, sind in der Spalte »Staatsangehörigkeit« alle Zeilen ausgefüllt. Ein Hinweis mag uns hier weiterhelfen. In der Spalte »Muttersprache« wurde an einer Stelle Jugoslawisch handschriftlich durch »kroat.« ersetzt. Desweiteren gibt es in dieser Liste Differenzen zwischen den Spalten »Muttersprache« und »Staatsangehörigkeit« an folgenden Stellen: weisser Fleck - deutsch; farsi - iranisch und ungarisch - deutsch. Es gibt offensichtlich zwar ein Bewusstsein über die Differenz zwischen »Muttersprache« und »Staatsangehörigkeit«, aber pragmatischerweise erfolgt dennoch die Gleichsetzung von beiden im Schulalltag. Sonst könnte sich die Muttersprache einer Schülerin nicht so ohne weiteres aufgrund der politischen Ereignisse von Jugoslawisch zu Kroatisch ändern. Dies wird auch im Umgang mit der Fragestellung des Projektes deutlich. Die Fragestellung mit der an die Schulleiter der drei Schulen herangetreten wurde, lautete einheitlich folgendermassen:

Wir wollen den Einfluss des Türkischen auf das Deutsche untersuchen. Hier interessieren uns vorrangig zunächst gemischte Jugendgruppen und ihre Kommunikation untereinander.
(Protokolle Schulleiter Schule A, B, C)

Dazu erhielten wir in Schule C folgende Reaktion.

Kurzes Gespräch mit Herrn R. (Lehrer zuständig für Sprachförderungsangebot, A.H.) im Sekretariat. Ich erläutere den offenen Fragebogen. Herr R. findet das Thema spannend, bezweifelt aber, ob es das Phänomen hier an der Schule gibt, er habe es noch nicht beobachtet.
(Protokoll Schulleiter Schule C, 1-talk)

Während die Schulleiter der Schulen A und B sofort Beispiele aus dem Schulalltag für die von uns vorgebrachte Fragestellung nannten, erschien die Fragestellung in Schule C als unverständlich. Auch der Deutschlehrer an Schule C wundert sich.

Der Deutschlehrer Herr B. betritt das Klassenzimmer. Er wurde vom Schulleiter informiert. Kurzes Gespräch über das Projekt. Seine Antwort, dass dorthin das Geld gehe, erweckt den Eindruck, dass er das Problem nicht für relevant hält. Der Lehrer stellt mich kurz vor, die Klasse erwidert, dass sie mich doch schon kennen würden.
(Protokoll 2905-C)

Folgendes kurze Gespräch mit dem Deutschlehrer über zwei der Schüler in der Klasse macht seine Perspektive deutlich.

Wir setzen uns in eine geschlossenen Raum und er erzählt von sich aus über Suzan und Uur:
Suzan sei sehr engagiert und gut, aber sie mache häufig blau. Ihr Problem sei eher Disziplinlosigkeit als das sie nicht das Niveau hätte. Von ihren Eltern aus durfte sie auch nicht mit zum Skiausflug. Bei Veranstaltungen komme auch immer der grosse Bruder mit. Der sei um zwanzig und langweile sich dann immer offensichtlich.
(Protokoll 2905-C)

Während dieser Lehrer Suzan als "disziplinlos" kennzeichnet, ihr aber "Niveau" zugesteht, wird Uur als ihr Gegenteil dargestellt.

Bei Uur sei das anders. Er sei sehr diszipliniert und erfülle seine Pflicht aber auch nicht mehr. Inhaltlich sei dies immer sehr dünn. Er sei sehr um Unauffälligkeit und Anpassung bemüht. Allgemein sei er sehr unsicher.
(Protokoll 2905-C)

Er ist "sehr diszipliniert" und "erfüllt seine Pflicht". Während Suzan das "Niveau" hat, ist Uur "inhaltlich ... dünn". Er wird als unauffällig, unsicher und um Anpassung bemüht gekennzeichnet. Ziehen wir noch einen weiteren Hinweis hinzu, um eine Antwort auf die Frage nach den Strategien im Umgang mit den vielsprachigen Lebenswelten zu finden.

Desweiteren berichtet er von einer türkischen Schülerin, die bei ihm Abitur gemacht hätte. Sie war die beste in der Deutsch-Klasse. Er hätte einmal einen Text von ihr aus dem Abitur einem seiner Grundkurse vorgelegt. Alle anderen sei beeindruckt gewesen.
(Protokoll 2905-C)

Für ihn ist es bemerkenswert, dass eine "türkische Schülerin ... die beste in der Deutsch-Klasse" war. Anerkennung erringen in seinem Unterricht, so können wir nun schliessen, diejenigen Schülerinnen, welche »Disziplin« besitzen. Aber diese reicht nicht aus, dazu muss noch eine hervorragende »Leistung« kommen. Ein anderer Lehrer, der Sportlehrer, benennt die Grundvoraussetzung um das "Niveau" dieser Schule zu haben.

Alle müssten um das Niveau der 9. Klasse zu haben gut in Deutsch sein. Es werde ausser Deutsch keine andere Sprache gesprochen. Probleme gebe es kaum.
(Protokoll 2905-C)

Wer schlecht in Deutsch ist, so der Umkehrschluss hat dann nicht das Niveau. Ob die schlechte Note in Deutsch auch für Schüler und Schülerinnnen aus deutschsprachigem Familienhintergrund problematisch wäre, erfahren wir nicht. Wie problematisch die Wahrnehmung der Jugendlichen durch eine Verknüpfung von Nationalität und Muttersprache, bei gleichzeitiger Unterstellung eines Defizits in der deutschen Sprache, werden kann, zeigt folgendes Ereignis.

Ich wechsele verschiedentlich die Gruppen (auf dem Schulsportplatz,wo sich kleinere Gruppen auf die Bundesjugendspiele vorbereiten,AH). Auf den ersten Blick gibt es keine sprachlichen Auffälligkeiten ausser, dass sie alle mit Hamburger Slang miteinander reden. Herr M. zeigt mir zwei Mädchen, von denen ich annehme, dass sie Geschwister sind. Er erklärt mir, dass sie Zwillinge seien und aus Pakistan kämen. Er ruft die Namen der beiden und fragt, "Ihr kommt doch aus Pakistan?". Die Mädchen sind irritiert und antworten, mit Hamburger Slang, dass sie aus Nigeria kommen würden. Er zeigt auf weitere und gibt ebenfalls die Nationalität an: Ragiza, kroatisch ("Du bist doch Kroatin?" "Ich bin 100% Kroatin"); Suzan, türkisch; zu Marlene, die ihrem Aussehen nach aus einem "asiatischen" Elternhaus kommt, fällt ihm die Nationalität nicht ein.
(Protokoll 2905-C)

Die Wahrnehmung der Herkunftssprachen der Jugendlichen in den Kategorien der Nationalität und der Staatsbürgerschaft, führt hier beim Sportlehrer zu Konfusionen. Die genannten Zwillinge werden, wohl aufgrund ihrer Hautfarbe, willkürlich unter einem Nationalstaat ("Pakistan") subsumiert. Die beiden Mädchen, deren Mutter aus deutschsprachigem Hintergrund kommt und deren unbekannter Vater einem yorubasprachigen Hintergrund entstammt, verwerfen nicht die Kategorie der Nationalität. Im Gegenteil, sie bestätigen die ihnen zugeschriebene Kategorie, in dem sie den Lehrer verbessern. Aus dem Interview mit beiden wissen wir aber, dass sie in Hamburg geboren sind und kein Yoruba sprechen oder verstehen. Dieser Affirmation der von der Autorität vorgegebenen Kategorie folgt auch Ragiza. Bei Marlene versagt das Kategoriensystem der Zuschreibung von Hautfarbe, Sprache und Nationalität dann gänzlich. Die Herkunftssprache spielen im Gymnasium nur als klassifikatorisches Merkmal eine Rolle, bleiben aber vom Schulalltag ausgeschlossen. Gefordert werden makellose Deutschkenntnisse. Ziel scheint eine Assimilation in "das Deutsche", verbunden mit der Aufgabe der eigenen Herkunftsvarietät.

Strategien der institutionellen Neuerung

Wir können nun die Strategien der einzelnen Schulen im Umgang mit den vielsprachigen Lebenswelten etwas besser verstehen. Wir haben die assimilatorische Strategie des Gymnasiums herausgearbeitet, dessen Klientel mehr einem Milieu der gesellschaftlich Etablierten entstammte. Die Strategie der Haupt-und Realschule B, dessen Klientel mehr dem traditionellen Arbeitermilieu entstammte zielte auf die Integration in die Facharbeiterschaft. Kehren wir nun nochmals zurück zur Schule A, deren Klientel eher in einem Milieu der Kleinselbständigen angesiedelt ist und deren Strategie auf die symbolische Repräsentation zielt. An dieser Schule gibt es muttersprachlichen Unterricht in Türkisch, über den die Jugendlichen in unserer Untersuchung Auskunft geben. Wir wollen hier die Frage stellen, wie die Jugendlichen diesen Sprachunterricht wahrnehmen und in welcher Art und Weise dieser reflektiert wird. Was erfahren wir über die Gestaltung des Türkisch-Unterrichts? Er teilt zunächst die Klasse in diejenigen die daran teilnehmen und diejenigen, die nicht daranteilnehmen. Kadriye begründet warum Deutsche nicht daran teilnehmen dürfen.

Ja, die Deutschen können nicht in den Türkisch-Kurs, weil, wir machen ja nicht von Anfang an, so A, B und so. Wir machen nur noch Grammatik. Zum Beispiel kann ich Türkisch, aber wenn ich einen Brief schreiben will, kann ich das gar nicht; und kann noch gar nicht Grammatik. So was lernen wir. Deswegen dürfen keine Deutschen Türkisch lernen.
(Kadriye, Schule A, 10-Ka.) 15.8.95

Der Türkisch-Kurs ist zunächst nicht geeignet für Anfänger, das heisst man muss um daran teilnehmen zu können schon Türkischkenntnisse mitbringen. Als Türkischsprecherin lernt sie im Türkisch-Unterricht schreiben und die grammatische Struktur der Sprache kennen. Ihre Alltagserfahrung mit dieser Sprache ist eine mündliche und wird in der Institution der Schule mit dem Erwerb der schriftlichen Kompetenz verbunden. Damit verknüpft ist ein Wissen um die grammatischen Regeln dieser Sprache, die für den Transformationsprozess vom Mündlichen zum Schriftlichen notwendig scheinen. Damit formuliert Kadriye eine wesentliche Bestimmung des Sprachunterrichts der Institution Schule: die Vermittlung von Schriftsprache. Fragen wir nun nach anderen Sprachen, die im Unterricht den Jugendlichen vermittelt werden. Werner verweist auf die gängigen Fremdsprachen, die in der Bundesrepublik erlernt werden.

Und Französisch ist ja auch wichtig für die Schule, Englisch auch.
(Werner, Schule A, 3-W.), 15.8.95

Ayºe zählt neben den Fremdsprachen auch die Normsprache Deutsch und ihre Herkunftssprache Türkisch auf.

Also in der Schule Englisch, Französisch und Deutsch so, Türkisch.
(Ayºe, Schule A, 12-Ay.) 15.8.95

Die Schule vermittelt unterschiedliche Arten von Sprachen: Fremdsprachen, die Normsprache Deutsch und an dieser Schule die Herkunftssprache Türkisch. Es besteht zwar eine gewissen Freiheit in der Auswahl und der Kombination dieser Sprachen, aber dies betrifft lediglich die Fremdsprachen und die Herkunftssprache, nicht aber die Normsprache.

INTERVIEWER/IN: Welche Sprachen habt ihr eigentlich in der Schule?
Nadja: Englisch.
Kadriye: Französisch, Türkisch.
INTERVIEWER/IN: Ach, Französisch habt ihr auch?
Kadriye: Haben wir, aber die sind getrennt. Zum Beispiel wir haben kein Französisch.
INTERVIEWER/IN: Und wer hat Französisch?
Kadriye: Irgend so `ne Klasse, andere
Nadja: Nur die, die das gewählt haben.
Kadriye: Die das gewählt haben.
INTERVIEWER/IN: Und welche Sprachen werden noch angeboten?
Kadriye: Englisch, Spanisch, Französisch, Türkisch, Deutsch - also Deutsch lernen wir so und so.
(Kadriye, Nadja, Schule A, 10-Ka., 10-Na.) 15.8.95

Kadriye und Nadja erörtern die Frage, ob es besser ist die eigene Herkunftssprache zu lernen oder lieber eine andere Fremdsprache.

INTERVIEWER/IN: Gut. Kannst du das denn wählen in der Schule?
Kadriye: Französisch schon, aber anstatt Französisch habe ich Türkisch. Damit ich Türkisch, meine Muttersprache lerne und Grammatik und so alles lerne.
INTERVIEWER/IN: Ach so
Kadriye: Es gibt zwei Sprachen: Französisch und Türkisch. Man konnte sich auswählen. Die Türken konnten sowieso schon Türkisch. Ich hab Türkisch genommen, viele, alle Türken haben fast Türkisch genommen. Da kann man Grammatik und so viel besser verstehen.
INTERVIEWER/IN: Ihr konntet das dann einfach wählen? Das ist jetzt freiwillig?
Kadriye: Freiwillig nicht, meine Lehrerin hat gesagt, "Türkisch ist viel besser, das ist für das Abitur" und so, deswegen hab ich das genommen; und meine Mutter und so. Ich weiss nicht.
INTERVIEWER/IN: Bist du denn zufrieden damit? Würdest du denn lieber eine andere Sprache ...
Kadriye: Ja, eine neue Sprache. Das bereue ich nicht, dass ich gerade Türkisch genommen habe, aber ich würde mich schon freuen, wenn ich vor einem Jahr Französisch genommen hätte, weil Türkisch, das ist mir vor, seit ein paar Wochen klar geworden, dass ich Türkisch sowieso schon ein bisschen kann, und das reicht mir, was ich kann. Grammatik muss ich nicht unbedingt lernen. Und hätte ich Französisch genommen, dann könnte ich wenigstens Französisch auch. Deswegen bereue ich, dass ich Französisch nicht genommen habe, dann könnte ich eine Sprache auch noch. Türkisch, da lerne ich sowieso nicht so viel, und Grammatik war mir auch nicht so wichtig, aber damals habe ich das so gedacht. Wenn ich Französisch hätte, dann hätte ich eine andere Sprache auch noch gelernt.
INTERVIEWER/IN: Was haben die dir gesagt mit dem Abitur?
Kadriye: Ich weiss nicht, meine Türkischlehrerin hat gesagt, "Türkisch wird dir helfen beim Abitur" oder so, ich weiss nicht, ich kann mich gar nicht so gut erinnern. Irgendwas mit dem Abitur, so was hat sie mir nicht gesagt. Keine Ahnung. "Ist gut, für später", und so.
INTERVIEWER/IN: Machst du denn Grammatik in Türkisch? Also macht ihr das, was du dachtest, was ihr machen würdet?
Kadriye: Nein, machen wir nicht.
Nadja: Wir lesen nur Bücher und so.
Kadriye: Bücher lesen wir, das sind nur Geschichten. Ich weiss nicht, wo sie uns helfen sollen. Das sind zum Beispiel Geschichten von, hm von einem Vogel oder was weiss ich, von einem Mann oder von einem Kind. Aber Grammatik gar nicht, vielleicht mal einen Tag. Zum Beispiel letztens, haben wir nur das Wort A gelernt. Nur das Wort A.
Nadja: {lacht}
Kadriye: Da kam ein Mann dahin, ich weiss nicht, jeder hat sich an dem Tag beschwert. Die Frau stand da, und der Mann auch und die haben uns nur beigebracht, wie man A ausspricht. Der Mann so: "A-A." Also so das Lange und das Kurze vom A. Haben sie uns nur das A beigebracht. Das war so beknackt! Ich weiss auch nicht. Wozu brauchen wir A?
(Kadriye, Nadja, Schule A, 10-Ka., 10-Na.) 15.8.95

Kadriye hatte die Wahl zwischen einer zweiten Fremdsprache und ihrer Herkunftssprache. Die Lehrerin und die Mutter drängen sie zum "Erlernen" der Herkunftssprache in dem oben beschriebenen Sinne. Fast alle anderen Mitschülerinnen und Mitschüler mit türkischsprachigem Hintergrund haben auch die Herkunftssprache gewählt. Die Argumente waren zum einen, dass überhaupt das "Erlernen" der Herkunftssprache wichtig sei. Auch erhalte man eine bessere Kenntnis der Herkunftssprache und ihrer grammatischen Struktur. Man hätte damit auch die Aussicht auf eine höhere Qualifikation und damit bessere Zukunftsaussichten. Inzwischen hat Kadriye Erfahrungen mit dem Türkisch-Unterricht gemacht und würde sich heute anders entscheiden. Sie würde heute lieber eine andere Fremdsprache lernen wollen. Vom Türkisch-Unterricht ist sie enttäuscht. Anstatt dort Grammatik zu lernen, muss sie Geschichten lesen, mit denen sie nichts anfangen kann. Offensichtlich ist der Lehrer mit der "richtigen Aussprache" beschäftigt, obwohl sie der Meinung ist, dass sie Türkisch schon sprechen kann. Da die Lehrer-Ausbildung in Hamburg im Fach Türkisch im Untersuchungszeitraum entweder als Fremdsprachenausbildung192 stattfindet oder Lehrerinnen aus der Türkei eingesetzt werden entspricht das Lehrmaterial und die Lehrmethoden einem Fremdsprachenunterricht oder einem Unterricht der nationalen Normsprache, also dem Hochtürkisch.

Die Institution der Schule soll also die lebensweltlichen Erfahrungen der mündlichen Varietät in Schriftsprache transformieren. Diese Schriftsprache erweitert die Reichweite einer Sprechgemeinschaft hin zu der einer Schriftgemeinschaft. Dazu greift sie allerdings auf nationalstaatliche Schriftsprachen zurück, die in einem spezifischen historischen Kontext ihre Schrift und Grammatik entwickelt haben und ihre eigenen Vorstellungen von "reinen" Aussprachelauten und nationalen Geschichten konstruiert haben. Die in diesem Abschnitt herausgearbeitete Sprechpraxis der Jugendlichen, das Gemisch-Sprechen, welches ihre lebensweltlichen Erfahrungen artikuliert, findet keine Berücksichtigung und gerät gegenüber den Normsprachen in eine Position des "nicht ordentlich Sprechens".

181 Hier spreche ich nun von »Herkunftssprache« anstelle von »Herkunftsvarietät«, weil es nicht mehr nur um das Sprechen geht, sondern um »Sprache« als klar strukturiertes System.

182 STEB - Stadtentwicklungsbehörde: armutsbekämpfung in hamburg. Zusätzliche Massnahmen gegen Armut als Bestandteil sozialer Stadtentwicklung. (1994). (im folgenden abgekürzt als STEB 94)

183 Alisch & Dangschat, Monika & Jens: Die solidarische Stadt: Ursachen von Armut und Strategien für einen sozialen Ausgleich. (1993: 102)

184 Podszuweit, Schütte & Swierkta: Datenhandbuch Hamburg. Analysen, Karten und Tabellen zur sozialräumliche Entwicklung. (1992: 267-306)

185 Alle Daten, wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich auf 1986, und sind entnommen: Podszuweit u.a. (1992). Da es hier um die Erfassung von Strukturen geht, soll der zugrundegelegte, relativ alte Datenbestand nicht irritieren. Das Datenhandbuch umfasst einen Grossteil relevanter und aufgearbeiteter Zahlen für ganz Hamburg, die in dieser Form für aktuellere Daten nicht verfügbar ist.

186 Zum grossen Teil handelt es sich freilich um Kinder und Jugendliche, die im Stadtviertel geboren und aufgewachsen sind.

187 Sassen, Saskia: Global City: Internationale Verflechtungen und ihre innerstädtischen Effekte. (1993: 74)

188 Dies hat sich seit der Eröffnung des Schlachthofs als "Kulturzentrum" im Februar 1998 geändert. Inzwischen wurde eine Brücke über die U-Bahn-Anlage gebaut, die das Karolinenviertel mit dem Schanzenviertel seit 1953, als die Verbindung zur Kampstrasse durch einen Neubau auf dem Schlachthof gekappt wurde, das erstemal wieder verbindet.

189 Ebd.: 88f

190 Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und >Klassen<. Lecon sur la lecon. Zwei Vorlesungen. (1985)

191 Ebd.: 21

192 Dies hat sich inzwischen geändert. In Hamburg gibt es inzwischen die ersten Türkischlehrer, die eigens für den muttersprachlichen Unterricht ausgebildet wurden. Das Konzept ist aber immer noch an der Vermittlung des Hochtürkisch orientiert.