2. Betrachtungen der urbanen Wirklichkeit und das Problem der Methodologie

2.4. Die soziale und sprachliche Struktur urbaner Sprechgemeinschaften

Problematische Vorverständnisse in der etablierten Wissenschaft

Zur Sozialstruktur urbaner Gruppen

Urbane Sprechgemeinschaften

Sprachliche Netzwerke

Milieu der Kleingewerbetreibenden: komplexes Jungennetzwerk und weibliche Reproduktion der Interviewsituation

Traditionelles Arbeitermilieu: Kampf um Hegemonie konkurrierender männlicher Netzwerke

Etabliertes Milieu: situationsübergreifende Netzwerke


Die soziale und sprachliche Struktur urbaner Sprechgemeinschaften



Problematische Vorverständnisse in der etablierten Wissenschaft

An dieser Stelle scheint es dem Autor nun ratsam, sich einem Vorverständnis zuzuwenden, welches uns im weiteren Gang der Untersuchung auf falsche Wege leiten könnte. Dies betrifft die Vorstellung eines Ursprungs, dem sozusagen natürlichen und authentischen Quell der Sprache, wie er in der Vorstellung der »Muttersprache« erscheint8. Jede Sprache wird als geschlossenes Repräsentation einer sozialen Welt gefasst, die nicht ohne weiteres ineinander übersetzt werden können, da sie je spezifische Erfahrungen repräsentieren. Im Verlauf der Untersuchung soll der Begriff der »Muttersprache« heuristisch gewendet werden, d.h. er muss so "verflüssigt" werden, damit er sich dazu eignet die von uns untersuchte Wirklichkeit zu fassen. Dazu wird das gängige wissenschaftliche Vorvorständnis problematisiert, um dann, aus den Aussagen, die im Feld gewonnen wurden, dieses Vorverständnis zu überwinden. Da die Bezeichnungen selbst schon Auskunft über zugrundeliegenden Vorstellungen geben, wird die Begrifflichkeit im Verlauf der Studie dem Forschungsgegenstand angepasst.


Die Bedeutung der »Muttersprache« (native language) für die Sicht der Welt ist in der Sapir-Whorf-Hypothese formuliert:

"It is quite an illusion to imagine that one adjusts to reality essentially without the use of language and that language is merely an incidental means of solving specific problems in communication or reflection. The fact of the matter is that the "real world" is to a large extent unconsciously built up on the language habits of the group. No two languages are ever sufficiently similar to be considered as representing the same social reality. The worlds in which different societies live are distinct worlds, not mereley the same world with different labels attached. (Sapir [1929]9

Die These der spezifischen Weltsicht jeder einzelnen Muttersprache regte mich zur folgenden Frage an: Welche Beziehung haben die unterschiedlichen Muttersprachen in den urbanen Lebenswelten10 der untersuchten vielsprachigen Bewohner zueinander?

"Whorf sucht also nachzuweisen, dass der Entwicklungsstand einer Sprache symptomatisch für die zugrunde liegenden kulturellen Bereiche ist, und dass auf der anderen Seite dieser Entwicklungsstand kausal abhängig von der sozialen Organisationsform der jeweiligen Gesellschaft ist."11

Welche "sozialen Organisationsformen" bilden die Jugendlichen in einer Lebenswelt aus, in der Jugendliche - aus der Sicht der beschriebenen Hypothese - einer Muttersprache, nämlich der deutschen, einer fast gleich grossen Gruppe von Jugendlichen einer anderen Muttersprache, nämlich der türkischen miteinander interagieren? Was ist dann in dieser vielsprachigen Welt die Beziehung dieser (Mutter)Sprachen untereinander und was heisst das für die Vorstellung "Muttersprache"?

Whorf entwickelt "das sprachliche System als ein »Hintergrundsystem«, das obligatorischen Charakter für die jeweiligen Benutzer der Sprache hat. Das komplexe System der grammatischen Regeln bestimmt vollständig das Denken und macht deshalb eine Kontrolle und kritische Stellungnahme durch das Einzelindividuum unmöglich."12

In dieser Untersuchung interessierte uns im Besonderen die Verwendung des Türkischen durch Jugendliche aus deutschsprachigem Familienhintergrund und durch andere Jugendliche, die ebenfalls keinem türkischsprachigen Familienhintergrund entstammen. Man kann davon ausgehen, dass es einen Gesamtzusammenhang gibt, wir aber noch nicht wissen, welcher Struktur und Gestalt13 diesen Gesamtzusammenhang auszeichnet. Die Rolle der Vorannahmen für die Annäherung an die Fragestellung des Forschungsprojektes und für die Ausrichtung der weiteren Analyseschritte wurden ausführlich erörtet. Wenn die These von Sapir-Whorf zutrifft, so stellt sich für den Autor und den Forschungszusammenhang die Frage, wie es möglich für das Einzelindividuum ist, über seine eigene Sprache hinaus zu denken und eine Kontrolle und kritische Stellungnahme möglich zu machen. Dies verweist letztlich auf den eigenen Standpunkt und auf die Frage "Wer analysiert die Formen?", "Wer bildet die Struktur/Gestalt?" oder "Wie wird die Struktur/Gestalt gebildet?". Wie kann es vermieden werden, dass über die Vorstellung "Muttersprache", das was Elias & Scotson "Vorurteil" nennen, nämlich ein

Element der Glaubensvorstellung einer etablierten Gruppe zur Verteidigung ihrer Position gegen Aussenseiter14

soziale Positionierungen verfestigt werden und letztlich bestehende ungleiche Machtverhältnisse nicht analysiert sondern unreflektiert reproduziert werden? Das Vorurteil wird, so Elias & Scotson, soziologisch »vererbt« durch die Übertragung von Vorurteilen und diskriminierende Einstellungen von einer Generation zur nächsten15. Diesem Problem des Vorurteils und der Vorannahmen, so möchte ich nochmals in Erinnerung rufen, stellt sich die qualitativ-heuristische Sozialforschung methodisch in ihrer ersten Regel:

"Das Vorverständnis über die zu untersuchende Gegebenheit soll als vorläufig angesehen und mit neuen, nicht kongruenten Informationen überwunden werden".16

Das zu Suchende ist noch weitgehend unbekannt und gerade in solchen Fällen empfehlen sich Heuristiken17. In dieser heuristischen Art und Weise soll der Begriff der Muttersprache, für den im folgenden auch der Begriff der Herkunftssprache steht, gebraucht werden. Dazu soll zunächst wieder die empirische Datengrundlage den Ausgangspunkt bilden.


Betrachten wir zunächst die Geburtsorte der Jugendlichen im Sample der Untersuchung. Knapp zweidrittel der Jugendlichen (49 von 77) benennen Orte in Deutschland an denen sie geboren sind. Nur sieben geben Orte in der Türkei an. Sechs Jugendliche nennen Geburtsorte in Ex-Jugoslawien. Orte in Russland, Polen, Portugal, Iran, Ghana und der Ex-DDR werden von je einem Jugendlichen genannt18. Diese Jugendlichen antworten dann auch auf die Frage nach ihrer Herkunftssprache mit Polnisch, Portugiesisch und Farsi. Ein in Ghana geborene Junge und ein in Russland geborenes Mädchen geben an, dass sie mehrsprachig seien. So gibt das Mädchen Deutsch und Russisch an, während der Junge Twi, eine Sprache aus Ghana und Englisch als Herkunftssprache benennt. Schon hier sehen wir, dass wir es im Sample nicht nur mit eindeutigen Herkunftssprachen zu tun haben, sondern, dass mehrere Sprachen quasi als Muttersprache gefasst werden. Deutsch-Ungarisch und Afghanisch sprechen zwei Jugendliche, welche als Geburtsort Deutschland angaben. Die grösste Sprachgruppe in dieser Untersuchung bildet logischerweise die deutsche. Das Türkische wird von fast genau so vielen Sprechern als Herkunftssprache angegeben. Die Sprachen des ehemaligen Jugoslawien bilden die drittgrösste Sprachgruppe.


Von den 49 hier in Deutschland geborenen Jugendlichen, geben 31 Deutsch als Herkunftssprache an. In der Türkei sind nur 7 Jugendliche geboren, aber 27 Jugendliche geben Türkisch als Herkunftssprache an (ein Junge gab Türkisch und Kurdisch an). Von den 10 Jugendlichen, welche eine der Sprachen aus Ex-Jugoslawien sprechen (Jugoslawisch19, Kroatisch, Bosnisch, Albanisch und Mazedonisch) ist eine Mehrheit, nämlich sechs, in Orten des ehemaligen Jugoslawien geboren. Daraus lassen sich nun die grössten Gruppen, der von den Jugendlichen gesprochenen Herkunftssprachen in einer Graphik darstellen.

Abbildung 1:

Zum Vergleich habe ich eine Verteilung der Nationalitäten herangezogen, wie sie in einer beliebigen bundesdeutschen Statistik gefunden werden kann. Hier eine Statistik der "Bundesanstalt für Arbeit" aus dem Jahre 1994.

Abbildung 2:

In der vorliegenden Untersuchung bestehen also grössere Sprechgemeinschaften in den Sprachen Ex-Jugoslawiens, in Türkisch und in Deutsch. Alle anderen haben nicht die Möglichkeit in ihrer Herkunftssprache mit anderen Jugendlichen des Samples zu sprechen, weil sie keinen Kommunikationspartner finden. Das gemeinsame aller befragten Jugendlichen ist, dass sie alle Deutsch sprechen und somit Deutsch nicht nur eine unter vielen Sprache ist, sondern auch übergreifende Aspekte aufweisen müsste.



Das Alltagsbewusstsein der Mehrheitsgesellschaft über das Sprechen von Sprachen, in einer durch Einwanderung gekennzeichneten Gesellschaft, folgt oft einer einfachen Logik: zu Hause, im Familienzusammenhang sprechen jugendliche Migrantinnen und Migranten die Sprache ihrer Herkunft. Dagegen wird in der Öffentlichkeit, auf der Strasse und in der Schule, Deutsch, die Sprache der Mehrheitsgesellschaft gesprochen. Vorstellungen von abgeschlossenen Bereichen, wie wir sie schon bei Sapir-Whorf kennengelernt haben, tauchen hier als Vorstellung des "zwischen zwei Kulturen" gefangensein. Man trifft auf die Vorstellung das mit der zweiten oder dritten Generation die Herkunftssprache keine Rolle mehr spiele und das Sprechen des Deutschen den Jugendlichen keine Probleme mehr bereiten wird. Ausgegangen wird davon, dass das ursprüngliche muttersprachliche System der Herkunftssprache abstirbt und durch das Deutsche ersetzt wird. In diesem sprachlich-urbanen Raum der Jugendlichen, welcher historisch gesehen, schon seit dem Entstehen dieser Quartiere durch Migration gekennzeichnet ist, hat sich dagegen aber anderes, spezifisches Verhältnis von "Mehrheitssprache" und "Minderheitensprache" entwickelt. Wie sieht dieses aus?



Zur Sozialstruktur urbaner Gruppen

Wie schon ausgeführt wurde, lag den Jugendlichen zu Beginn des Interviews eine Vorlage mit konzentrischen Kreisen vor. In diese sollten sie eintragen, mit welchen Menschen sie in welcher Sprache sprechen. Die konzentrischen Kreise sollten Nähe und Distanz zum Ausdruck bringen. Betrachtet man nun die von den Jugendlichen genannten Kategorien, so zeigen sich folgende Beziehungen: unterschieden wird zwischen "Familie", "Verwandten" und "Bekannten" (im Gymnasium werden noch "gute Bekannte" eingeführt). "Familie" besteht aus "Eltern" oder aus den Einzelpersonen "Mutter" und "Vater". "Schwester" und "Bruder", oder als Plural "Brüder" und "Geschwister" gehören ebenso dazu, wie "Cousin", "Cousine" und der "Schwager". "Oma" und "Opa" werden nur in einer Schule genannt. Sie fehlen in den anderen Schulen.



Die wichtigste Kategorie ausserhalb der "Familie" sind die "Freunde" und konkrete Namen von Personen, die sie nennen. Im Gymnasium taucht die Unterscheidung "alte Schulfreunde" auf. Einzig in der Schule, welche als im traditionellen Arbeitermilieu verortet weiter unter beschrieben wird, taucht die Kategorie der Vereinsmitglieder auf, benannt als "Leute vom Handballverein". Ein einziger Jugendlicher nennt den Handballverein, neben seinem Freund und seinem Cousin. Alle anderen nennen Begriffe aus dem Bereich der "Familie, Verwandtschaft" und der "Freunde". Die Jugendlichen lassen sich wiederum in diejenigen unterteilen, welche entweder ausschliesslich Familienmitglieder oder ausschliesslich Freunde nennen. So beschreiben die Jugendlichen die Nähe oder die Distanz zu ihren Familienzusammenhängen und Freundschaftsnetzwerken.



In den Sprachbeziehungsfragebögen haben die Jugendlichen Angaben zum Geburtsjahr, zum Geburtsort und zu den Berufen von Mutter und Vater gemacht. Diese Angaben sind in den folgenden Tabellen zu Kategorien zusammengefasst und graphisch aufbereitet. Es geht dem Autor hier nicht um die absoluten Grössen der Kategorien, sondern um ihre Beziehung zueinander. Als graphische Darstellung werden, so die Meinung des Autors, diese Beziehung sichtbarer, als in tabellarischer Form. In der folgenden Analyse der Sozialstruktur geht es weniger um die quantitative Verteilung dieser Kategorien auf das vorliegende Sample, als vielmehr um die Kategorien selbst und die soziale Struktur die sich in ihnen darstellt20.

Graphik 1: Anteil von Mädchen und Jungen in den einzelnen Schulen

Das Verhältnis von Mädchen und Jungen in der Gesamtgruppe ist in etwa 1:1. Sie sind zwischen 1978 und 1981 geboren, waren also im Untersuchungszeitraum (1995) im Alter zwischen 14 und 17 Jahren, wobei die Mehrzahl 1980 geboren und zum Zeitpunkt der Untersuchung 15 Jahre alt war. Betrachtet man die Schulen im einzelnen, so ergeben sich in der Verteilung der Geschlechter Unterschiede zwischen Schule A,B beides integrierte Haupt-und Realschulen, und der Schule C, einem Gymnasium. Während in Schule A und B die männlichen Jugendlichen zahlenmässig stärker vertreten sind, so ist dies in der Schule C genau umgekehrt. Hier sind die Mädchen eindeutig in der Überzahl.

Graphik 2: Angaben über Geburtsort

Ein Grossteil der Jugendlichen ist in Hamburg geboren. Bei der Betrachtung der Angaben in den einzelnen Schulen ergibt sich aber eine auffällige Variation der Geburtsorte ausserhalb Hamburgs und sehr unterschiedliche Zahlen über diejenigen, die in Hamburg geboren sind. So sind in der Schule A die Mehrzahl der Jugendlichen ausserhalb von Hamburg und ausserhalb der Bundesrepublik geboren, während in Schule B, zwar einige ausserhalb Hamburgs geboren sind, die wenigsten aber ausserhalb der Bundesrepublik. Dies wird im Gymnasium Schule C noch deutlicher. Hier zeigt sich ein jeweils unterschiedliches Verhältnis zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen.

Graphik 3: Angaben über den Beruf des Vaters

Bei der Betrachtung der Kategorie "Beruf des Vaters" ist zunächst auffällig, dass der Anteil der "Selbständigen" in der Schule A im Vergleich zur Schule B hoch und am Gymnasium, der Schule C, am niedrigsten liegt. Hier lässt sich zunächst die Vermutung aufstellen, dass es sich dabei um einen Prozess der Verdrängung vom, oder der Etablierung neben, dem regulären Arbeitsmarkt handelt. Die Veränderung hin zu selbständigen Existenzen im Dienstleistungsbereich (Imbiss, Gemüseladen, ...) innerhalb der Migrantenbevölkerung ist seit einigen Jahren sichtbar. Betrachtet man nämlich die Kategorie "Andere", so wird vor allem im Gymnasium deutlich, dass die Mehrzahl der Eltern dort höher qualifizierte Berufe ausüben. In Schule B ist das traditionelle Arbeitermilieu stärker vertreten, während die Eltern der Schüler aus Schule A vermutlich aus dem traditionellen Arbeitsmarkt herausgedrängt wurden, oder neben dem traditionellen Arbeitsmarkt sich etablierende selbständige Existenzen vorherrschender sind.

Graphik 4: Angaben über den Beruf der Mutter

Die Kategorie "Beruf der Mutter" zeigt ein Rückgang der als "Hausfrau" tätigen von der Schule A hin zur Schule C. Dies lässt zunächst auf einen grösseren Anteil berufstätiger Mütter im Gymnasium, der Schule C, schliessen. Tatsächlich zeigt sich, dass zwei Drittel der Mütter hier in qualifizierteren Berufen arbeiten und der Anteil der Frauen, die als Arbeiterin tätig sind, gering ist, während in der Schule A, so die Vermutung des Autors, die Mütter eher im selbständigen Betrieb mitarbeiten. Auch zeigt sich in der Schule B, dass hier die Mutter, wenn sie arbeitet, eher auf dem traditionellen Arbeitsmarkt als Arbeiterin tätig ist21.


Zusammenfassend lassen sich soziale Profile der Jugendlichen in den jeweiligen Untersuchungsklassen skizzieren: In Schule A zeigt das Zahlenverhältnis eine gegenüber den Mädchen grössere Gruppe von Jungen an. Viele sind ausserhalb von Hamburg und ausserhalb der Bundesrepublik geboren. Eine grössere Zahl von selbständigen Vätern, wenn sie vorhanden sind arbeitet in Klein- und Familienbetrieben. Hier, so eine Vermutung, zeigt sich der Ausschluss aus dem traditionellen Arbeitsmarkt, und die Versuche von Migranten sich neben dem traditionellen Arbeitsmarkt als selbständige Kleingewerbetreibende zu etablieren. Wenn die Mutter da ist, ist sie eher als Hausfrau tätig oder hilft im Betrieb mit. Dies trifft dabei von der Tendenz her eher auf die Eltern der männlichen als auf die der weiblichen Jugendlichen zu. Damit lässt sich grob die Klasse der Schule A durch ein elterliches Kleingewerbe kennzeichnen. In der Schule B gibt es ebenfalls mehr Jungen als Mädchen. Einige sind ausserhalb von Hamburg geboren. Im Unterschied zur Schule A sind allerdings wenige ausserhalb der Bundesrepublik geboren. Die Väter, wenn vorhanden, sind in traditionellen Arbeiterberufen tätig. Hier ist die Mutter, wenn vorhanden eher als Arbeiterin denn als Hausfrau tätig. Die Klasse der Schule B könnte man als im traditionelles Arbeitermilieu verortet kennzeichnen. Nur in der Klasse Schule C gibt es mehr Mädchen als Jungen. Die Mehrzahl der Jugendlichen ist in Hamburg, einige sind ausserhalb von Hamburg geboren, aber kaum welche wurden ausserhalb der Bundesrepublik geboren. Die Väter, auch hier sofern sie vorhanden waren, und die Mütter sind in qualifizierten Berufen tätig. Diese Klasse könnte man als in einem etablierten Milieu verortet kennzeichnen.


Urbane Sprechgemeinschaften

Auf Grundlage der Angaben der Jugendlichen haben uns die Clusterungen der Daten Hinweise zum vorherrschenden sozialen Milieu der einzelnen Schulen gegeben. Sind nun diesen sozialen Milieus, die hegemonial in den jeweiligen Schulen sind, auch bestimmte Sprachen zuordenbar? Dazu zunächst die Darstellung der Verteilung der in den Schultypen hegemonialen Sprachen.

Graphik 5: Verteilung des Schultyps auf die einzelnen Sprachgruppen


In dieser Graphik wurden alle, die Deutsch als einzige Sprache, die sie sprechen angaben, unter der Kategorie "deutsch" zusammengefasst. Alle Sprachen, die sich dem Territorium des früheren Jugoslawiens zuordnen liessen, wurden als "jugoslawisch u.a." zusammengefasst. Kurdisch wurde der Kategorie "türkisch" zugeordnet, da alle auch türkisch angaben. Das Verhältnis des Türkischen und Kurdischen werden wir später noch genauer betrachten. Alle anderen Sprachen (Russisch, Afghanisch, Portugiesisch, Farsi, Polnisch, Ungarisch) wurden unter "andere" zusammengefasst. Sie finden keine Gesprächspartnerin oder Partner in ihrer Sprache in ihrer Klasse.

Graphik 6: Verteilung der »Sprachen« in den einzelne Klassen

In Schule A zeigt sich, dass in der untersuchten Klasse Türkisch die hegemoniale Sprache ist, während in Schule C, dem Gymnasium Deutsch als hegemonial erscheint. In der Schule B wird Deutsch und Türkisch fast gleich stark unter den Jugendlichen gesprochen. Jugoslawisch ist in Schule A häufiger vertreten als andere Sprachen, während sie in Schule B und C fast gleich starke Gruppen bilden. Betrachtet man nun das Sample in seiner Gesamtheit, so sind Deutsch und Türkisch unter den Jugendlichen die hegemonialen Sprachen.

Graphik 7: Geburtsort: »Hamburger« und »Nicht-Hamburger«

Schlüsselt man nun die Sprachen nach den angegebenen Geburtsorten auf, so zeigt sich, dass die Mehrzahl der Jugendlichen, die Deutsch oder Türkisch angaben, in Hamburg geboren wurden. Bei den Jugendlichen, die der Kategorie Jugoslawisch zugeordnet wurden, ist das Verhältnis in etwa 1:1. Alle Jugendlichen der "anderen" Sprachen sind ausserhalb Hamburgs geboren. Zusammenfassend lässt sich folgendes festhalten: Die Anzahl der Jugendlichen mit deutschsprachigem Hintergrund steigt von Schule A zu Schule C. Umgekehrt verhält es sich dagegen mit dem Jugendlichen aus anderen sprachlichen Hintergründen. Die Hegemonie in der Schule A liegt bei den Jugendlichen mit türkischsprachigem Hintergrund. In Schule C dominieren diejenigen mit deutschsprachigem Hintergrund. In Schule B sind sie beide Gruppen fast gleich stark vertreten. Die Sprachen des früheren Jugoslawien nehmen von A nach C ab, sind aber dennoch relativ stark vertreten. Die Mehrzahl der Jugendlichen, vor allem derjenigen aus deutschsprachigem und türkischsprachigem Hintergrund, gab an, in Hamburg geboren zu sein. Es zeigt sich, dass wir es unter den Jugendlichen mit einer grossen Zahl von Alteingesessenen zu tun haben.


Sprachliche Netzwerke

Während wir bis hierher die sozialstrukturelle Positionierungen und die jeweils hegemonialen Sprechgemeinschaften betrachtet haben, werden wir uns die Netzwerke in den einzelnen Untersuchungsklassen nun genauer anschauen. Dazu bedienen wir uns der Ergebnisse der im obigen Exkurs beschriebenen graphentheoretischen Auswertung. Die untersuchten Personen sind durch gefärbte Kreise gezeichnet. Ihre Beziehung zu anderen Personen ist als dicker Strich, für gegenseitige Nennung, dargestellt und als gestrichelte Linie für einseitige Nennung. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden die Abkürzung der Pseudonyme der Jugendlichen22 verwendet, da es uns hier auf die im Moment der Befragung sich herausbildenden Netzwerkstrukturen ankommt.


Wenden wir uns der Situation in Schule A zu. Dort erhalten wir folgenden Struktur nach der Auswertung unseres Sprachbeziehungsinterviews.

Milieu der Kleingewerbetreibenden:
komplexes Jungennetzwerk und weibliche Reproduktion der Interviewsituation

Klasse A

Auffällig ist hier zunächst die strikte Trennung der Geschlechter. Es gibt keine Nennung des anderen Geschlechts. Auch ist die Struktur der Nennungen innerhalb der Geschlechter sehr unterschiedlich. Während die Mädchen, die Interviewsituation reproduzieren, ergibt sich bei den Jungen ein komplexes Netzwerk von gegenseitigen Beziehungen, einige Jungen sind nur locker durch einseitige Nennung angebunden. Einzig "Ci", der keine konkreten Personen bezeichnet hat, sondern "alle", und der selbst nicht von anderen bezeichnet wurde, ist an das Netzwerk der männlichen Jugendlichen nicht direkt angeschlossen. "Ed" bildet eine zentrale Figur in diesem Netzwerk, denn ohne ihn zerfiele das Netzwerk in zwei Teile.


Die Beschreibungen der sprachlichen Netzwerke stützen sich zum einen auf die Angaben der Jugendlichen selbst, wie sie in den Sprachbeziehungsbögen abgefragt wurden, zum anderen auf die Angaben der in den Schulverwaltungen geführten Klassenlisten. Es lassen sich in den einzelnen Schulen die Netzwerke innerhalb der Klassen zunächst in sprachlicher Hinsicht, folgendermassen beschreiben23:


Die Schule A ist eine integrierte Haupt-und Realschule im Aufbau und präsentiert ein interkulturelles Selbstverständnis. Die Staatsangehörigkeit wird von der Schule nicht erhoben, sondern nur die "Familien-/Muttersprache". Folgende sprachliche Netzwerkgruppen wurden in der Klasse festgestellt24.



Zunächst kann man die banale Feststellung treffen, dass die sprachliche Gemeinsamkeit aller Klassenmitglieder Deutsch ist. Die weiblichen Paare (Aw1 - Aw4) und Dreiergruppe (Aw5) zeigen sprachlich homogene wie auch gemischte Nennungen. Das Jungennetzwerk (#Am6) zerfällt bei genauerer Betrachtung in einen türkisch-deutsch-sprachigen Teil, sowie zwei Netzwerkmitglieder [twi (dt) und bos (dt)] die angeben türkisch nicht zu verstehen25. Es gibt keinen deutschen Jungen. Türkisch bildet die hegemoniale Struktur. Überraschenderweise bildet ein Junge (Ed.) mit bosnischen und türkischen Sprachkenntnissen die zentrale Figur des Netzwerkes.


Traditionelles Arbeitermilieu:Kampf um Hegemonie konkurrierender männlicher Netzwerke

Dagegen bilden in Schule B die Mädchen und die Jungen auch getrennte Strukturen, aber es gibt zumindest einen Kontakt zwischen den Geschlechtern, über "Al" und "Ne", die in Verbindung zu der Jungen-Clique stehen. Aufälliger hier ist, dass hier die Interviewsituation von den meisten reproduziert wird. Nur eine Gruppe von deutschen und türkischen Mädchen bilden eine komplexere Struktur heraus. Ansonsten sind es klare getrennte, aber jeweils eigene Strukturen.

Klasse B

Anmerkung: Bei Dr und Jo wurde zwar ein Sprachbeziehungsbogen erhoben, aber keine Interviews durchgeführt, da sich die Gruppe nach dem Pausenzeichen auflöste und so Einzelinterviews durchgeführt wurden.


Die Gruppe "Er", "Ko" und "Ha" definierten ihre Beziehungen negativ, indem sie nahestehende Personen als "alle ausser ..." bezeichneten. Das Mädchennetzwerk ist nicht zentralisiert, wie es der Fall bei dem Jungennetzwerk der Klasse A ist. Es gibt keine Person, deren Abwesenheit zu einem Auseinanderfallen der Struktur führen würde. Neben einer nur deutschen Clique finden wir hier auch eine nur türkische Clique. Beide Cliquen sind männlich. Es gibt auch eine weibliche Clique, die nur türkische Nennungen aufweist. Diese ist aber verbunden mit einer gemischten Clique. Man kann hier homogenen und gemischte Strukturen erkennen. Hier ist das gesellschaftliche Verhältnis von Alteingesessenen (türkische Clique) und Neukömmlingen (zwei der drei in der deutschen Clique) genau verkehrt.


Die Schule B ist eine integrierte Haupt-und Realschule im Aufbau. Sie hat kein explizites interkulturelles Selbstverständnis formuliert. Von schulischer Seite findet man in den Klassenliste die Staatsangehörigkeit erhoben. Folgende sprachliche Netzwerkgruppen in der Klasse wurden herausgearbeitet.



Auch hier zunächst die banale Feststellung, dass die allen gemeinsame Sprache das Deutsche ist. Ausser der weiblichen Gruppe (#Bw4) bilden hier alle Jugendlichen die Gesprächssituation ab. Das Klassennetzwerk zerfällt auch hier in weibliche und männliche Gruppen, mit einem Unterschied zur vorhergehenden Klasse A. Die Jungengruppe (Bm2) ist mit der Mädchengruppe (#Bw4) über [dt; tr (jug)] und einem Jungen [tr (dt)], der neu in der Klasse ist, verknüpft. (Bm1) fällt durch seine Angaben über Jugoslawisch-Kenntnisse auf. Gleichzeitig äussert sich diese Gruppe über ihre sprachliche Aussenseiterrolle sowie ihre sprachlichen Konzepte. Die Gruppe (Bw5) thematisiert in andere Hinsicht eine Aussenseiterrolle. Sie scheint zunächst durch körperliche Merkmale gekennzeichnet, die auch im durchgeführten Interview thematisiert werden. In der Gruppe (Bm2) gibt (dt) zwar an nur deutsch zu sprechen, aber im durchgeführten Interview wird deutlich, dass er auch türkisch versteht. Damit bilden im Klassennetzwerk ausser in den beiden Aussenseitergruppen (Bm1) und (Bw5) Deutsch und Türkisch die gemeinsamen Sprachen. Beide Sprachen erscheinen hier als hegemonial, obwohl das Türkische, so die Meinung der Gruppe (Bm1) dominant sei.


Etabliertes Milieu: situationsübergreifende Netzwerke

In Schule C zeigt sich wieder ein anderes Bild. Die hegemoniale Struktur ist dort eindeutig deutsch.

Klasse C

Die Gestalt der Klasse C hebt sich auch sonst von den beiden anderen Graphen eindeutig ab. Zwar zerfällt auch diese Klasse in einen weiblichen und einen männlichen Teil, aber es werden nicht, wie bei den anderen, die Interviewsituationen reproduziert, ausser bei der Clique "Ba", "Ju" und "Li". Das auffallende hier ist, dass sich die Gesprächssituationen in grösseren Netzwerken auflösen und sich so sechs voneinander losgetrennte Gruppen bilden, wobei die Gemeinsamkeiten einer Gruppe ("Re", "Si", "La" und Re") allein in ihrem Bezug auf Jugendliche ausserhalb der Klasse liegt.


Schule C ist ein Gymnasium, welches ein interkulturellem Selbstverständnis formuliert hat und es auch in Veröffentlichungen darstellt. Von der Schule wird beides erhoben, Staatsangehörigkeit und Muttersprache.



Auch hier die gemeinsame Sprache Deutsch. Auffällig ist hier, dass ausser bei der weiblichen Gruppe (Cw3), sich hier die Interviewsituationen nicht abbilden, sondern jeweils darüber hinausweisen und das es eine gemischt-geschlechtliche Gruppe (Cw/m4) gibt, während die anderen Gruppen auch hier entlang des Geschlechts geteilt sind. Allerdings liegen die Gemeinsamkeiten der Gruppe (Cw3) darin, dass sich alle auf Personen ausserhalb des Klassenverbandes beziehen, nicht aber auf die Mitglieder innerhalb der Klasse. Im gesamten Klassennetzwerk sowie in den einzelnen Gruppen spielen andere Sprachen als Deutsch keine Rolle.


Zusammenfassend lässt sich über die Netzwerke folgendes sagen. Die Auswahl der Interviewgruppen erfolgte durch die Jugendlichen selbst und teilweise durch die Lehrer oder Lehrerinnen, jedoch nicht durch die Interviewer und die Interviewerin. Somit überrascht es zunächst nicht, dass sich in den Schaubildern so gut wie alle Interviewsituationen widerspiegeln, d.h. die Interviewpartner und Partnerinnen beziehen sich gegenseitig aufeinander. Jedoch bringt die Analyse nicht nur die Gestalten der Gesprächssituation hervor, wie dies zum Beispiel bei den Mädchengruppen der Klasse A am deutlichsten wird, jedoch auch in den anderen Klassen zu beobachten ist, sondern weist über die Gesprächssituation hinaus. Von Schule A nach Schule C sinkt, wie schon bei der allgemeinen Verteilung der Sprachen festgestellt wurde, die sprachliche Komplexität der Netzwerke. Von Schule A mit ihren mehrsprachigen Netzwerkstrukturen über Schule B mit einer zweisprachigen (deutsch/türkisch) Netzwerkstruktur hin zu Schule C und ausschliesslich einsprachigen (deutschen) Netzwerkstrukturen.


8 Hutton, Christopher M.: Linguistics and the Third Reich. Mother-tongue fascism, race and the science of language. (1999)

9 Duranti, Allessandro: Linguistic anthropology. (1997: 60)

10 zum Begriff der Lebenswelt: Husserl, Edmund: Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II. (1992)

11 Hartig, Matthias & Ursula Kurz: Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik. (1971: 51)

12 Ebd.: 57

13 zum Struktur-und Gestaltbegriff: Bühler, Karl: Das Gestaltprinzip im Leben des Menschen und der Tiere. (1960) und Kleining, Gerhard: Qualitativ-heuristische Sozialforschung. Schriften zur Theorie und Praxis. (1994: 20)

14 Elias, Norbert & John L. Scotson: (1993: 253)

15 Ebd.: (1993: 269)

16 Kleining: (1994: 23)

17 Heuristiken werden in den verschiedensten Wissenschaftsbereichen, wie zum Beispiel auch in der Mathematik, angewendet. Im Verlauf der Studie werden mathematische Heuristiken, speziell in der sogenannten "Graphentheorie", noch weiter ausgeführt werden. Siehe dazu: Jungnickel, Dieter: Graphennetzwerke und Algorithmen. (1994: 537-539)

Allgemein zu Heuristik: Kleining (1995: 327 - 354)

18 Über den Rest der Jugendlichen liegen keine Daten vor, da sie im Befragungszeitraum nicht anwesend waren. Statistische Daten konnten aber teilweise über die Schule erfasst werden.

19 Etliche Jugendliche bezeichnen ihre Herkunftssprache als "Jugoslawisch" andere nennen die "neuen Nationalsprachen". In welcher Beziehung die "Zerfallsprodukte" des "Jugoslawischen" zueinander stehen soll im Laufe dieser Arbeit deutlich werden.

20 Wir haben hier eine Differenz zwischen der Anzahl der Jugendlichen in den Tabellen und den in den Netzwerkstrukturen abgebildeten Jugendlichen. Der Grund liegt darin, dass während der Befragung nicht alle Jugendlichen anwesend waren, während über die hier beschriebenen Merkmale Angaben aus den Klassenlisten entnommen wurden.

21 siehe dazu den Sozialatlas Hamburg, in dem Analysen, Karten und Tabellen zur sozialräumlichen Entwicklung bis herunter auf die Ortsteilebene, enthalten sind (Podszuweit, Ulrich; Schütter, Wolfgang & Norbert Swierkta 1992)

22 Im weiteren Verlauf der Untersuchung werden ihnen die Namen der Jugendlichen aus datenschutzrechtlichen Gründen immer als Pseudonyme vorgestellt. Die Zuordnung von Abkürzung und Pseudonym erfolgt in den Zitaten der Jugendlichen über folgende Darstellungsweise: Pseudonym (Schule-Kennummer des Interviews-Abkürzung).

23 Die Angaben über »Englisch«, »Französisch« und »Latein« wurden hier nicht aufgenommen, da diese hier als Unterrichts-Fremdsprachen hier zunächst nicht von Interesse sein sollen. Sie werden im weiteren Gang der Untersuchung thematisiert.

Um die folgenden Betrachtungen der sprachlichen Netzwerkstrukturen zu vereinfachen hier zunächst die für die Darstellung und vorkommenden »Sprachen« ausgewählten Abkürzung.

24 Eine Vorbemerkung zur Bezeichnungen der Klassennetzwerke. Diese sind folgendermassen zu lesen:

A [Schule] w [Geschlecht] 1 [Kennummer des Netzwerks] = {dt [Erstsprache, 1. Person];tr [Erstsprache, 2. Person] (dt [Zweitsprache, 2. Person])}

25 Mit einer Teilgruppe von #Am6 wurde das "Cartel-Experiment" durchgeführt.