2.2. Annäherungen an Sprache und Gesellschaft: die qualitativ-heuristische Methodologie
Das Dialogprinzip, die Beobachtung und das Experiment
Alltagsverfahren und ihre wissenschaftliche Wendung
(1) Regel über das Subjekt des suchenden Forschers
(2) Regel über das Objekt, den gesuchten Gegenstand
(3) Regel über das Handeln und die Praxis
(4) Regel über das Bewerten und die Reflektion
Die Darstellung: der lange Weg vom Feld zum Text
Der Begriff: begreifen aus dem Alltag heraus
Konzentrieren wir uns zunächst auf die Seite des Subjektes: das Sprechen hat einen expressiven (im Sinne eines ausdrückenden, handelnden) Aspekt. Das Sprechen ist eng mit dem Mund verbunden. Menschen die nicht sprechen können nennt man stumm. Um mit anderen Menschen zu sprechen ist nun ein weiteres Organ von mir gefordert: mein Ohr. Auch das Hören steht mit dem Sprache in Beziehung, es verweist auf einen rezeptiven (im Sinne eines aufnehmenden, reflektierenden) Aspekt. Menschen die nicht hören können, nennt man taub. Diese Aspekte (Sprechen, Mund, expressiv und Hören, Ohr, rezeptiv) bilden eine Einheit, die man mit Mündlichkeit bezeichnet könnte, sofern man die Fähigkeiten des Hörens und des Sprechens als Norm setzt. Neben meinem Mund und meinen Ohren stehen meine Hände und meine Augen mit der Sprache in Beziehung: ich schreibe und ich lese. Man könnte dies als Schriftlichkeit bezeichnen. Auch in diesem Fall gibt es expressive und rezeptive Aspekte. Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Rezeptivität und Expressivität bilden also Aspekte der Beziehung zwischen Sprache und Gesellschaft. Diese Art von wechselseitiger Beziehung möchte ich als dialogisch bezeichnen.
Diese dialogische Beziehung zwischen dem(r) Sprecher(in) (Subjekt) und der Gesellschaft (Objekt) möchte ich nun nutzbar machen für die Untersuchung der Sprechweisen der vielsprachigen Jugendlichen und der Konstitution als Sprechgemeinschaften. Hier möchte ich nun eines der zentralen Momente der vorliegenden Arbeit einführen, das "Dialogprinzip8". Der Dialog bildet eines der Prinzipien in der sogenannten "qualitativ-heuristischen Methodologie", wie sie von Gerhard Kleining entwickelt wurde. Diese qualitativ-heuristisch ausgerichtete Vorgehensweise spielt eine elementare Rolle für den weiteren Gang der Untersuchung. Das Dialogprinzip wird als eine bewegte und andauerne Frage-Antwort-Beziehung aufgefasst. Ich stelle eine Frage und erhalte eine Antwort worauf ich wieder eine neue Frage stellen kann und normalerweise eine weitergehende Antwort erhalten werde usw. Mein Gegenüber, nennen wir es Objekt, wird im Laufe dieser dialogischen Bewegung mir immer vertrauter, bekannter werden. Es ist eine Bewegung vom Unbekannten zum Bekannten. In dieser Bewegung zeigen sich zwei Aspekte: auf dem Weg von der Frage zur Antwort der Aspekt des Tuns, des Expressiven, des Aktiven. Auf dem Weg der Antwort zur Frage zeigt sich der Aspekt des Erhaltens, des Rezeptiven, des Passiven. Beide bilden eine Einheit, indem sie sich gegenseitig konstituieren. Die Frage enthält schon mögliche Antworten und die Anwort enthält weitere mögliche Fragen. In diesem Sinne wird durch diese Frage-Antwort-Dialektik immer wieder Überschüssiges und Neues erzeugt. Die Arten Fragen zu stellen kann, so wissen wir aus unserem Alltag, sehr unterschiedlich sein. Kleining unterscheidet in seiner wissenschaftlichen Wendung dieser Alltagsverfahren, zwei Arten von Fragen:
In der expressiven Frage steht der Frager im Mittelpunkt. Sie zielt auf die Selbstdarstellung und ist kommunikationsfeindlich. Man kann sich darunter eine nur sprechende Person vorstellen.
In der rezeptiven Frage steht die Antwort im Mittelpunkt. Die Frage zielt auf eine Antwort. Vorzustellen wäre eine Person, die nie redet sondern nur zuhört.
Stellt man sich solch eine Frage-Antwort-Beziehung vor, so ist man bei der Frage nach den Machtverhältnissen dieser beiden Personen. Von einem Dialog lässt sich im eigentlichen Sinne nicht mehr sprechen. Im Alltag wird man es mit einer Frageform zu tun haben, die beide Formen gebraucht. Auch in der wissenschaftliche Forschung wird man beide Formen anwenden, wenn man auf die Entdeckung von Neuem zielt.
So steht in der wissenschaftlichen Verwendung der explorativen Frage der Gegenstand im Mittelpunkt. Sie zielt auf die Erkenntnis des Gegenstandes, des Objektes. Sie reflektiert die Frage-Antwort-Beziehung.
Für den weiteren Forschungsgang dieser Arbeit wird die Fragestrategie wichtig. Diese Fragestrategie hängt davon ab, wie das zu befragende Objekt beschaffen ist. Ist es eine Person, so dürfte die Anpassung und die Antipation an den oder die Antwortende geraten sei. Befrage ich mich selbst, so scheint es nützlich die Fragen von den Antworten zu trennen. Wenn ich Texte oder Dinge befrage, so muss ich als Frager die Antwort aus dem Text entnehmen und sie anstelle des Dings geben, denn die Dinge sprechen nicht von sich.
Weitere wichtige Verfahren, die sich aus den Alltagsverfahren herausentwickelt haben, bilden das wissenschaftliche Experiment (in unserem Zusammenhang wäre dies die experimentelle Frage) und die wissenschaftliche Beobachtung (die beobachtende Antwort). Beide bilden einen Gegensatz von expressiven, aktiven Verfahren und rezeptiven, passiven Verfahren. Frage, Antwort, rezeptiv, expressiv, handeln, bewerten, Beobachtung, Experiment bilden Elemente unseres Forschungsganges. Diese Elemente sind, dies wurde oben schon erwähnt, den alltägliche Verfahren, wie sich jeder von uns in der Interaktion mit der Welt anwendet, entnommen. Um sie für unsere wissenschaftliche Untersuchung nutzbar zu machen, brauchen diese Alltagsverfahren eine wissenschaftliche Wendung.
Bisher waren wir sehr auf das Subjekt in der Subjekt-Objekt-Beziehung fixiert. Zur Erinnerung: analog zur Subjekt-Objekt-Beziehung haben wir die Beziehung zwischen Sprache und Gesellschaft gefasst. Wie kann ich nun über das Subjekt (Sprache) hinausschreiten und im Sinne einer Intersubjektivität eine dichte Beschreibung der Beziehung zwischen Subjekt (Sprache) und Objekt (Gesellschaft) liefern, die weder in einen Subjektivismus verfällt, der mich, mein eignenes Leben und meine Sprache zum Massstab aller Dinge macht und sie als objektiv ausgibt, noch aber in sein Gegenteil, den Fetischismus des Objektiven, dem gesellschaftlichen Positivismus zu verfallen? Greifen wir auf unser bisheriges Wissen über die Sprachwissenschaften zurück, so haben wir festgestellt, dass dort von einer Empirisierung der Gegenstandskonstituierung die Rede war. Also einfacher gesagt, man wendete sich ab von der quasi-religiösen Vorstellung einer "vollkommenen Sprache", der Sprache Adams, der Ursprache, die vor dem Turmbau zu Babel oder aber vor der Sintflut existiert haben soll und deren Struktur es wieder zu gewinnen gelte9, hin zu einer am konkreten Sprechakt orientierten Forschung.
Man könnte es auch anders formulieren: die sozialwissenschaftlichen und darunter würde ich die Sprachwissenschaften fassen, haben sich erst durch Absonderung, Ausgrenzung also durch Abstraktion aus den Alltagstechniken herausentwickelt. Dieser Prozess scheint seit den 70iger Jahren reflexiv zu werden. Diese Verortung der Wissenschaft im Alltag macht die Wissenschaft zu einer Abstraktion des Alltags. Die Wissenschaft und der Alltag sind nicht getrennt sondern stehen in einem bestimmbaren Verhältnis. In den Alltagstechniken des Menschen haben sich persönliche Erfahrungen und die Erfahrungen der Vorgenerationen abgelagert haben. Sie sind in diesem Sinne "früher". Wissenschaften sind weitere Abstraktionen davon und stehen dazu in einem "späteren" Verhältnis. Kleining10 schreibt von einer Abfolge der Verfahren: aus den Alttagstechniken haben sich qualitative und daraus quantitative Verfahren entwickelt. Quantitativ und qualitative Verfahren stehen so in einem entwicklungslogischen Sinne in einem Verhältnis von "früher" und "später", d.h. es gibt eine festgelegte Abfolge der Verfahren, zunächst die qualitativen, dann die quantitativen. Einerseits bilden sie als Prozess eine Einheit (ein System von Methoden) und andererseits einen Gegensatz. Er besteht darin, dass die qualitativen Verfahren ihr Augenmerk auf das Aufdecken von Bezügen legen, während die quantitativen Verfahren, dass Messen schon bekannter Bezüge bewerkstelligen. Quantitative Verfahren sind fixiert auf Differenzen, auf Unterschiede, die qualitativen beginnen mit der Differenz und enden bei Gemeinsamkeiten. Die quantitativ orientierte Forschung stellt das Überprüfen von Hypothesen und eine Ursache-Wirkungskausalität die auf einer formalen Logik beruht in den Vordergrund, während das Ziel der Heuristiker ist, scheinbar feste Objekte in Relationen aufzulösen. Das Verhältnis zwischen Wissenschaftler und beforschter Person, ist ein hierarchisches in der positivistisch-quantitativen Ausrichtung der Wissenschaft. Der Forscher ist auch gleichzeitig der Experte gegenüber dem Erforschten und ihm ist auch die Definition der Forschungsgestandes vollkommen klar. Er weiss worum es geht. Darum nimmt er auch eine repräsentative Stichprobe in dem ihm alles gleich wahrscheinlich vorkommt. Überschüssiges wird als Irrtumswahrscheinlichkeit vernachlässigt. Dagegen versucht der qualitativ orientierte Forscher dahinzuwirken, das hierarchische Verhältnis umzukehren. Der Beforschte ist der Experte oder die Expertin. Dem Forscher ist erst zum Schluss der Forschung klar, welches der Forschungsgegenstand letzlich genau ist. Er ist zunächst aber unbestimmt. Die Unterschiede und Differenzen sind bei ihm in einem Extremgruppensample, dass der Forschung zugrundeliegt, aufgehoben. Für ihn sind alle Daten gleich wichtig. Es gibt nichts was vernachlässigt wird. Die qualitativ-heuristische Methodologie zielt auf das Erkennen einer Totalität, die nichts Objektives meint. Sie bescheidet sich mit einem Anspruch auf Intersubjektivität, den sie durch das Prinzip der Variation zu erreichen sucht.
Gehen wir wieder zurück zur Sprache, die gleichzeitig Gegenstand und Medium dieser Forschungsarbeit ist. Welche Forschungsstrategie ist es ratsam einzuschlagen? Nachdem nun der Forschungsgang mit den darin auftauchenden Problemen skizziert wurde, so können wir nun einige Regel angeben, die es uns ermöglichen, die gröbsten Fallstricke in der schwierigen Annäherung an die Beziehung zwischen Sprache und Gesellschaft, zu vermeiden. Die Forschungsstrategie zielt auf die Erforschung eines konkreten urbanen Raumes mit den ihn konstituierenden konkreten Sprecherinnen und Sprechern und die Entwicklung einer "grounded theory", also einer in der Lebenswelt der jugendlichen Sprecherinnen und Sprecher sich gründenden Theorieentwicklung. Gerhard Kleining empfiehl in seinen vier qualitativ-heuristischen Grundregeln die folgende Vorgehensweise. Er geht aus von der Problematik des hermeneutischen Zirkels. Dieser bezeichnet die Beziehung zwischen einem Subjekt und einem Objekt, die sich gegenseitig bedingen und dennoch eine Einheit darstellt. Die erste Regel betrifft nun das Subjekt dieses Verhältnisses11.
Regel 1: Offenheit der Forschungsperson: "In Forschungs- und Analysekrisen soll die Forschungsperson prüfen, ob die eigene Meinung über den Gegenstand nicht besser zu ändern wäre."12
Diese Regel fordert die Offenheit des Forschers gegenüber seinem zu erforschenden Gegenstand. Was heisst das? Da der gesamte Forschungsprozess durch den Forscher hindurchläuft, besteht stehts die Gefahr, sich den Gegenstand der erforscht werden soll, so anzupassen, dass er der eigenen Vorstellung entspricht. Dies entspricht dem Weg der Hypothesenprüfung, wie er in der quantitativen Forschungstradition eingeschlagen wird. Der Gefahr, dass dies lediglich der Bestättigung von Vorurteilen oder falschen Vorannahmen dient, soll durch diese Regel entgangen werden. Dennoch beruht diese Regel nicht auf der Annahme eines neutralen, vorurteilsfreien und unbedingten Blicks auf das Feld. Als aufgeklärte Menschen wissen wir, dass dies unmöglich ist. Es gibt keinen Standpunkt, der interesselos das Dasein schaut. Die Vorannahmen sind Bestandteil unserer Wahrnehmung und leiten uns durch die Welt. Problematisch werden die Vorannahmen zum Zeitpunkt ihrer Verfestigung, wenn sie sozusagen verdinglicht sind und als verfestigte Kategorie sich nicht mehr eignen die Welt zu erfassen. Dies drückt sich dann auch in einer verdinglichten Sprache aus. Verschleiert dann diese verfestigte Sprache die Welt und wäre so als Ideologie zu bestimmen? Sprache wäre so Überbauphänomen. Paul Ricoeur, der in der Tradition der französischen Sprachwissenschaften steht, gibt zu bedenken, dass die Ideologie zur bürgerlichen Gesellschaft gehört. Es aber schwierig wird denselben Sachverhalt auf vorbürgerliche Gesellschaften anzuwenden.
Es gibt übrigens auch keine vorbürgerliche Ideologie, und die bürgerliche Ideologie ist ausdrücklich an die Verschleierung der Herrschaft unter dem legalen Deckmantel des freien Arbeitsvertrages gebunden.13
Wir wissen inzwischen, dass der politische Text in der französischen Diskussion im Zentrum steht und daher die Frage der Ideologie, also die verschleiernde Möglichkeit eines politischen Textes, naheliegt. Lassen wir die Frage nach der Beziehung von Ideologie und Sprache noch offen. Seien wir uns zunächst nur der Schwierigkeit bewusst, die in diesem Gegensatz von Verschleierung und Ausdruck liegt. Wie ist es nun möglich Wissenschaftlichkeit in Anspruch zu nehmen für diese Untersuchung und dennoch wahrzunehmen, dass die Beziehung zwischen Ideologieproduktion und Wissensproduktion nur in einem gewissen Sinne als getrennt betrachtet werden kann.
Einzig und allein in einem positivistischen Sinne kann man eine scharfe Trennung machen zwischen der Ideologie und der Wissenschaft.14
In diesem Sinne gibt es keinen "nicht-ideologischen" Ort, von dem aus man "wissenschaftlich" über Ideologie sprechen kann, denn so Ricoeur,
die Ideologie (ist) ein unumgängliches und unaufhebares Phänomen des sozialen Daseins (...), insofern nämlich die soziale Wirklichkeit seit eh und je auch symbolisch konstituiert ist und die soziale Bedeutung selbst in Bildern und Darstellungen ihre Deutung erfährt.15
Es ist also kein Standpunkt denkbar, der eine "totale Reflexion" möglich machen würde, weil dies einen Standpunkt ausserhalb der Gesellschaft voraussetzen würde. Aber dennoch sind es häufig Randexistenzen des Wissenschaftsbetriebes, wie Karl Mannheim, denen aus diesem gesellschaftlichen Ort heraus, vielleicht doch einen andere Wahrnehmung ermöglicht wird. So handelt es sich bei der Ideologie vielleicht eher um Wahrnehmungsstrukturen.
Karl Mannheim anerkennt die Entdeckung des Marxismus, dass die Ideologie kein lokaler Irrtum ist, der psychologisch erklärbar wäre, sondern eine einer Gruppe, Klasse oder Nation zuschreibbare Denkstruktur.16
Dieser Denkstruktur kann man sich bewusst machen und sich ihrer so bedienen, dass sie flüssig genug bleiben, die Welt zu begreifen. Die qualitativ-heuristische Methodologie tut dies in ihrer Forderung nach der "Offenheit des Forschers und der Forscherin". Vorannahmen, Vorurteile und Ideologie lassen sich also in der Forschung nicht abschaffen oder ausklammern, sondern nur explizit und transparent machen. Dann, so ergänzt mich Nora Räthzel in dieser Korrekturfassung des Textes,
sind sie (die Ideologien, AH) aber schon ausgeklammert und abgeschafft, weil man einer begriffenen Ideologie nicht mehr verfällt - jedenfalls nicht im denken. die ganze Spannung und Lust an der Wissenschaft besteht genau darin, sich überraschen zu lassen und das heisst, seine Ideologien, Vorurteilsstrukturen zu erkennen und damit zu überschreiten. Wo man das nicht tut, kann man sie auch nicht explizit machen. Das Kennzeichen von Ideologie, ist dass man in ihr lebt, sich somit nicht ausserhalb stellen kann, ohne aufzuhören der Ideologie aufzusitzen.
In diesem Sinne sind es gerade die "Verzerrungen", die individuellen Unterschiedlichkeiten der Interviewer, das Unregelmässige, das "Vielgestaltige" was für den Forschungsprozess interessant war und am Beginn der Forschungstätigkeit stehen sollte. Die "Offenheit des Forschers und der Forscherin" wird ergänzt durch die zweite Regel, die das Objekt, den zu suchenden Gegenstand betrifft.
Regel 2: Offenheit des Forschungsgegenstandes: "Die heuristische Regel 2 besagt, die Forschungsperson möge der Entwicklung ihres Gegenstandes folgen, sich nicht an die ersten Definitionen klammern (...) sondern den gewählten Gegenstand als vorläufig ansehen, der sich erst durch den heuristischen Forschungsprozess als der zu erkennen geben wird, der er ist.17
Die Offenheit des Gegenstandes18 ist somit das flexible Gegenstück zur Regel eins. Dieser Regel zu folgen ist die schwierigere Aufgabe im Wissenschaftsbetrieb, in dem präzise Fragestellungen, Definitionen und Gegenstandbestimmungen meist gefragt sind. Diesen auf Eindeutigkeit zielenden Vorgaben stellt die vorliegende Arbeit ihr gegenteiliges Anliegen entgegen. Der Ausgangspunkt bildet die Vieldeutigkeit der Lebenswelten. Dies wird mit der Regel vier noch weiter spezifiziert werden. Der Ausgangspunkt ist also die relative Unbestimmtheit des zu suchenden und zu erforschenden Gegenstandes. So zielt die Forschungsstrategie auf die Aufklärung des zu erforschenden Gegenstands, seine Verwandlung von Unbekanntem in Bekanntes und der Entdeckung von zuvor unbekannten Bezügen. Die Kritik an quantitativen Forschungsarbeiten hat über die letzten Jahre zugenommen, aber sie greift kaum die Frage nach der Entstehung des Forschungsgegenstandes auf. Der Ausgangspunkt der herkömmlichen quantitativ orientierten Sozialforschung bildet die Vorstellung einer möglichst homogenen, regelmässigen, repräsentativen Stichprobe. Dahinter zeigt sich eine Vorstellung von Gesellschaft, die im Sinne der regelmässigen Wiederholung, sich selbst nicht verändert. Alle heterogenen, unregelmässigen und nicht-repräsentativen sozialen Zusammenhänge werden als Restkategorien wegdefiniert und praktisch aus der Stichprobe ausgeschlossen. Die hier vorliegende Untersuchung versucht, aber genau das zum Ausgangspunkt der Forschung zu machen, was unter einem positivistischen Wissenschaftsparadigma ausgeklammert wird: die Vielgestaltigkeit. Der Forschungsgegenstand wird nicht gemäss den Erfordernissen der angwendeten Forschungsinstrumente getrimmt, sondern die Forschungsinstrumente werden auf den zu erforschenden Gegenstand abgestimmt. Anstatt die zu untersuchende "Wirklichkeit" zuzurichten, ist es das Anliegen der vorliegenden Forschungsarbeit, die unbekannte, unbegriffene und vielgestaltige Lebenswelt zum Ausgangspunkt zu machen. Dies führt zu einer in der Regel drei formulierten Vielgestaltigkeit der Datengrundlage, die wir Sample genannt haben.
Regel 3: Maximale strukturelle Variation der Perspektiven: "Immer sollen die Methoden variiert werden, mindestens zwei, besser drei, immer die befragten Gruppen - wenn die Befragungsmethode eingesetzt wird - immer die Fragen."19
DieVariation der Perspektive20 beschreibt den Versuch während des Forschungsganges alles was vermutlich einen Einfluss auf die Strukturierung des Forschungsgegenstandes hat, systematisch zu variieren. Unsere Untersuchung ist im oben beschriebenen-Sinne nicht repräsentativ. Sie ist gezielt in zwei Hamburger Stadtteilen mit "hoher Migrantendichte" durchgeführt worden. Dort vermuteten wir, genügend dichte Sprechgemeinschaften zu finden, in der überhaupt andere Sprachen als das Deutsche eine nennenswerte Rolle spielten. Die Schultypen wurden ebenso variiert wie die sprachlichen Fähigkeiten der Interviewer und Interviewerinnen, da wir noch nicht wussten, wo und wie sich das Verhältnis von Sprache und Gesellschaft darstellten und welche Rolle unterschiedlichen Sprachen in der Interaktion mit dem Forschungsteam spielten. Aus diesem Grund wurde auch das Auswertungsteam, die Fragen, die Methoden und die Orte der Untersuchung variiert. Durch das so hergestellte "Extremgruppensample21" versuchten wir eine maximal variierte Struktur des Forschungsgegenstandes zu erreichen. Damit ist der Ausgangspunkt und die Zielrichtung der Untersuchung deutlich geworden: Ausgehend vom Konkreten, dem Vielgestaltigen und Differenten, also den vielsprachigen Lebenswelten, wie sich sich in so gut wie allen urbanen Gebieten dieser Welt zeigen, zielen wir auf das "Ganze", das "Abstrakte", die "Struktur" des zu erforschenden Gegenstandes. Dazu gibt uns die Regel vier eine weiter Empfehlung:
Regel 4: Analyse auf Gemeinsamkeiten: "Als intersubjektiv gilt, worin die maximal verschiedenen subjektiven Meinungen, Interessen und Blickwinkel übereinstimmen, zeitlich gesehen das relativ Stabile in der Veränderung. Dies ist auch der Begriff des erforschten Gegenstandes."22
DieAnalyse auf Gemeinsamkeiten23 versucht aus den vielgestaltigen Grundlage der Forschung zu einer relativ stabilen Erkenntnisstruktur des Gegenstandes zu kommen.
In der vorliegenden Untersuchung ist das Sample nicht auf eine »ethnische« Teilgruppe beschränkt, wie sie häufig in Untersuchungen zu finden sind24. Die Fokussierung auf die sprachliche Beziehung "Türken" und "Deutsche" ergibt sich aus dem Forschungsprozess selbst heraus, in dem im Forschungsfeld selbst eben das Türkische und das Deutsche die dominanten Rollen in der Interaktion spielen. Die Beziehung der Sprachen der anderen Migrantengruppen zueinander und zu der Mehrheit der "Deutschen" bleibt dennoch im im Blick der Forschung und verschwindet nicht in einem Akt der Reduktion von Komplexität. Diese Vielgestaltigkeit, man könnte sie auch Differenz nennen, ist in unserem Forschungssample selbst enthalten. Am Ende des Forschungsprozesses steht eine vorläufige Gestalt, die Beziehungen und Strukturen zum Inhalt hat. Diese Gestalt wird das Vorverständnis korrigiert haben und in einem neuen Licht erscheinen lassen. So zielt diese Forschungsstrategie auf die Erkenntnis der Beziehung zwischen Teil und Ganzen.
Man wird geneigt sein, heisst es bei Mannheim, im Wandel der Normen, Gestaltungen und Institutionen »immer mehr etwas Symptomatisches zu sehen -, eine kohärente Symptomatik, deren Einheit und Sinn es zu lösen gilt.« (...) Und an anderer Stelle: man muss Geistesgeschichte so treiben, dass man »durch die Erforschung der in der Geschichte werdenden Totalität immer mehr den Stellenwert und die Bedeutung der Elemente zu erfassen sucht.25
Zurückgeführt auf die Beziehung zwischen Sprache und Gesellschaft heisst dies für die vorliegende Forschungsarbeit, dass die Bedeutungen der einzelnen subjektiven Erfahrungen im Umgang mit ihrer eigenen Sprechweise erst durch die Erkundung des Gesamtzusammenhanges erfasst werden kann. Über diesen Gesamtzusammenhang wird man aber letztlich nur zeitlich und räumlich begrenzte Aussagen treffen können.
In der vorliegenden Untersuchung stehen die Aussagen der Interviewten im Zentrum der Darstellung. Das in der Untersuchung zentrale Prinzip des Dialogs ist auch in die Darstellung mit einbezogen worden. So wird sich im Verlauf des weiteren Textes ein Dialog zwischen dem Autor, den Jugendlichen des Samples und den erhobenen Feldnotizen entfalten. Dem Autor liegt nicht daran, auf die "Authentizität" seiner Darstellung zu verweisen, wie es häufig gerade in qualitativ orientierten Untersuchungen der Fall ist. Es wäre naiv zu glauben, die soziale Wirklichkeit, der Zeitpunktes der Datenerhebung, könnte unmittelbar abgebildet werden, denn sie ist längst vergangen und hat sich verändert. Natürlich haben sich die Jugendlichen auch während der Forschung in einer bestimmten Art und Weise präsentiert, was ohne die Forschung wohl nicht so geschehen wäre. Aber genau diese Präsentation ist das Forschungsmaterial mit dem die Analyse durchgeführt wird und hinter dem keine "eigentliche" Wirklichkeit mehr steckt.
Einige Autoren26 werfen die Frage nach der angemessenen Distanz zum Forschungsfeld auf. Für das wissenschaftliche Arbeiten und die kritische Analyse sei diese Distanz notwendig. In meiner Forschungsarbeit taucht das Problem der Distanzierung weniger als Frage nach der Persönlichkeit des Forschers und der Forscherin auf, also inwiefern es ihr oder ihm gelingt eine Distanz zum Feld zu erreichen, als vielmehr ein methodologisches Problem einer Dialektik von Distanz und Nähe. Insofern ist dies in der verfolgten Methodologie aufgehoben. Diese Dialektik von Nähe und Distanz kennt keine räumliche "Mitte", keine Äquidistanz des (Forscher-) Subjekts zum (Forschungs-) Objekt. Dem Eintauchen in das Forschungsfeld während der Forschungsphase entspricht die Distanzierung im Verlauf der Analyse und der Darstellung. Diese Distanzierung erfolgt im wesentlichen, so meine begrenzte Forschungserfahrung, über den Rückzug aus dem Feld und der Verschriftlichung der gewonnenen Daten. Das Fortschreiten vom "Konkreten" zum "Abstrakten" und die erneute Hinwendung zum "Konkreten", um das "Abstrakte" daran anzupassen und bei Bedarf zu korrigieren, ist als Prozess aufzufassen. Diese Vorgehensweise stellt die gängige Arbeitsteilung zwischen den Interviewern, die sich im Forschungsfeld befinden und dem Wissenschaftler, der die Analyse durchführt, in Frage. Es scheint ratsam für denjenigen der die Analyse durchführt zu sein, sich durchaus der Mühsal, für den Autor ist es eher ein Vergnügen, der Feldarbeit zu unterziehen.
Mit diesen oben vorgestellten "methodologischen Grundregeln" sind wir nun bestens gerüstet, um uns dem komplexen Gefüge von Sprache und Gesellschaft anzunähern und zwar in einem empirischen Sinne. Aus dem konkreten Alltagserfahrungen der vielsprachigen Jugendlichen, die der Autor in zwei Hamburger Einwandererstadtteilen aufsuchte, gilt es nun die Struktur der sozialen und sprachlichen Prozesse herauszuarbeiten. Struktur wird dabei verstanden, im Sinne von Beziehungen, Verhältnissen, Verbindungen, Bezügen oder Relationen, die gewisse zeitliche Stabilität zeigen. Analog zur pragmatischen Wende in der Linguistik kann man von einer pragmatischen Wende in der Soziologie sprechen. Sehr schnell kommt man hier auf ähnliche Wissenschaftstraditionen wie in der Linguistik. Symbolischer Interaktionismus, Phänomenologie und Ethnomethodologie wären einige zutreffende Schlagworte. Diese theoretischen Bezüge verwiesen auch hier auf die Variation der jeweils spezifischen national-wissenschaftlichen Traditionen, wie sie uns schon in der Darstellung der Sprachwissenschaften begegnet ist.
Die Frage nach den in der Darstellung benutztenBegrifflichkeiten ergibt sich aus dem bisher gesagten. Da es in dieser Untersuchung um dasBegreifen sozialer und sprachlicher Wirklichkeit geht, scheint es nicht ratsam allzu enge Begriffsdefinitionen im Voraus festzulegen, sondern die Begriffsbildung ebenso als heuristischen Vorgang zu fassen, wie die gesamte Untersuchung. So sollen sich die in dieser Arbeit verwendeten Begriffe, ebenso wie die Methoden, dem Gegenstand anpassen. Es wäre allerdings naiv anzunehmen, es liessen sich Begriffe beliebig auf die untersuchten Phänomene anwenden, ohne dass die Phänomene davon betroffen wären. Im Gegenteil die Phänomene sind nie anders als über die Begriffe zu erfassen. Dazu einige Bemerkungen zur Entwicklung und Verwendung von Begrifflichkeiten.
Natürlich trägt die verwendete Begrifflichkeit ihren sozialen Zusammenhang sozusagen immer mit sich herum und macht die Begriffsbildung zu einer mühsame Angelegenheit. In dieser Untersuchung geht es dem Autor um das Begreifen der Beziehungen zwischen Sprache und Gesellschaft durch eine prozesshafte Annäherung daran. Deswegen kann der Anspruch dieser Arbeit nicht sein, einer "grossen Theorie" zuzuarbeiten noch einen eigene "grosse Theorie" zu entwerfen. Mit "grosser Theorie" sind all die theoretischen Entwürfe gemeint, die über Zeit und Raum gültige Aussagen machen wollen. Das Ziel der hier vorliegenden Forschungsarbeit ist eine zeitlich und räumlich begrenzte Durchdringung dessen und Befruchtung durch das was soziale Wirklichkeit genannt wird. Sie zielt auf eine, oben schon erwähnte "Grounded Theory", wie sie aus der amerikanischen Soziologie bekannt ist. Während des Lesens wird erkennbar werden, dass ich mit optischen Elementen und Sonderzeichen in diesem Text operiere. Da sich mit der Computer-Technologie auch die Produktion von Texten verändert hat und der moderne Autor, die früher getrennten Berufe des Setzers und des Layouters heute in seiner Person vereinigt, kann er auch diese neuen Möglichkeiten benützen, um Form und Inhalt dieses Produktes miteinander in Beziehung zu setzen. Da dies aber nicht Gegenstand hier ist möchte ich auf die modernen Produktionsbedingungen und der Einfluss auf die Textproduktion nicht weiter eingehen. Dies wäre eine andere Arbeit.
Nachdem nun der Autor ausgiebig seine der Untersuchung zugrundeliegende Methodologie vorgestellt hat, sollen nun die praktische Vorgehensweise und die angewendeten Methoden der durchgeführten Forschungsprojekte vorgestellt werden.
8 Kleining, Gerhard (1994): Qualitativ-heuristische Sozialforschung. Schriften zur Theorie und Praxis (Hamburg)
9 Eco, Umberto (1994)
10 Kleining, Abfolge der Verfahren (Pyramide)
11 Kleining, Gerhard: Lehrbuch Entdeckende Sozialforschung. Band 1: Von der Hermeneutik zur qualitativen Heuristik. (1995: 231)
12 Kleining: (1995: 232)
13 Waldenfels et al.: (1977: 229)
14 Waldenfels, Bernhard; Broekman, Jan & Ante Pazanin: Phänomenologie und Marxismus 1. Konzepte und Methoden. (1977: 206)
15 Ebd.: 205
16 Ebd.: 215
17 Ebd. 236
18 Kleining (1995: 233)
19 Ebd. 238
20 Kleining (1995: 236)
21: Ebd.: 263
22 Kleining: (1995: 242)
23 Ebd.: 242
24 siehe z.B. Heitmeyer et al. (1997), Tertilt (1996)
25 Waldenfels et al. (1): (1977: 217/218)
26 z.B. Heitmeyer et al. (1997)