Gleich zu Beginn eine Frage: was steckt eigentlich hinter der alltägsweltlich so selbstverständlich hingenommene Annahme, dass in der hiesigen Gesellschaft Deutsch gesprochen wird und andere Sprachen anderen Gesellschaften zugeordnet werden? Zu Beginn des Jahres 2000, als ich die letzten Handgriffe an der überarbeiteten Version der vorliegenden Dissertation machte, hatte sich der öffentliche Diskurs in der Bundesrepublik Deutschland über Einwanderung verändert. Während der Regierungszeit der Konservativen (1982-1998) hatte sich ein öffentliches Bild der Gesellschaft fortentwickelt, welches mit den Alltagserfahrungen von Menschen in den städtischen Räumen der alten, aber auch der neuen Bundesrepublik Deutschland wenig zu tun hatte. Mit dem rot-grünen Regierungswechsel von 1998 veränderte sich dieser öffentliche Diskurs scheinbar. Unter den Stichworten Staatsbürgerschaft, Altfallregelung und Einwanderungsgesetz wurden einige Probleme die während der konservativen Regierungszeit sich stellten und nicht gelöst werden wollten, einer formellen Lösung zugeführt. Grundlegendere Probleme, welche durch die Art und Weise der Verarbeitung der historischen Umbrüche von 1989 entstanden sind, wurden im vorherrschenden öffentlichen Diskurses dethematisiert. Mit dem Kosovo-Krieg, dem ersten Krieg des neuen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und im Jahre 10 der Wiedervereinigung, zeigt sich die Struktur rot-grüner Politik: Fortführung und Transformation der konservativen Politik unter Zurhilfenahme ideologischer Versatzstücke der jeweiligen Klientel. Die Kritik am ideologischen Gehalt der Politik der deutschen Einheit, d.h. die Ausrichtung der Gesellschaft an einem historisch überholten Nationenmodell, durch die vorherrschenden Gruppen der Gesellschaft, wurde an den gesellschaftlichen Rand gedrängt. In diesem Spannungsfeld von ideologisierter Herrschaftspolitik und grundlegenden Veränderungen des Gesellschaftszusammenhangs hat die vorliegende Arbeit ihren Anfang.
Eine Schnittstelle der besonderen Art ergab sich zwischen meinen eigenen biographischen Erfahrungen und der Konstituierung meines Forschungsfeldes. Als ich im Frühjahr 1989 zum Studium nach Istanbul fuhr, wusste ich noch nicht, wohin ich im Frühjahr 1990 zurückkehren werde. Während sich die Auflösung des Warschauer Paktes aus der Perspektive der BRD, als Auflösung der DDR zeigte, war dies in der Türkei als Diskurs über die Bulgarisierung der Türken1 präsent, begleitet durch die eine Fluchtbewegung aus Bulgarien in die Türkische Republik.
Damals begegnete ich zum erstenmal dem Begriff der »Lebenswelt«. Dieser Begriff; wie er von Husserl entwickelt wurde, bildete ein wesentlicher Bezugspunkt meiner weiteren Forschungen, denn
die Tatsache, dass wir immer schon in einer Welt leben, die wir als unbefragten Boden unserer Fragen selbstverständlich voraussetzen, und dass alle wissenschaftliche Leistung auf diese Welt zurückverweist, aus ihr ihren Sinn erhält.2
Es ist diese »konkrete Welt«, die den Ausgangspunkt und den Endpunkt des Denkens auch in der vorliegenden Arbeit markiert.
Eine Grenzvorstellung, die der Konstruktion eines geschichtslosen Anfangs der Geschichte, einer »atheoretischen« Vorgeschichte gerecht werden sollte.3
Die »Lebenswelt« in welche ich zurückkehrte war der Hamburger Stadtteil Sankt Pauli. Die Tatsache, dass ich inzwischen Türkisch auf den Strassen von Istanbul erlernt hatte, veränderte auch meine Wahrnehmung des Stadtteils und meiner eigenen Lebenswelt. Die sprachliche Vielfalt und die neuen Aspekt, die durch die Veränderungen meiner eigenen Lebenswelt sichtbar wurden, lenkte meine Aufmerksamkeit auf neue Zusammenhänge. Landgrebe verdanke ich dann den Verweis auf die Beziehung von »Lebenswelt« und »Sprache«.
Hinzu kommt sein (Husserls, AH) Hinweis, dass alle Aufklärung und Bewahrheitung der Welterfahrung sich im Medium der Sprache vollzieht, als einem Geschehen in-der-Welt:»Menschheit ist vorweg als unmittelbare und mittelbare Sprachgemeinschaft bewusst.«4
Während sich meine Magisterarbeit aus dem Jahre 1992 noch mit Fragen der Identität von in Deutschland aufgewachsenen türkischen Jugendlichen, die in Deutschland und der Türkei leben, beschäftigte und einer qualitativ-heurstischen Forschungsmethodologie folgte, veränderte sich der Fokus in den nachfolgenden Forschungsprojekten hin zum Zusammenhang von Sprache, Raum und Gesellschaft. Welche Orientierungen entstehen in solch vielsprachigen Lebenswelten? Durch die Beschäftigung mit einem konkreten innerstädtischen Raum, nämlich Sankt Pauli und Altona, deren historisches Entstehen ohne Migration nicht zu begreifen ist, wurde während der Forschungsprozesse immer deutlicher, dass die gängige soziologische Deutung des Begriffs »Gesellschaft« in weiten Teilen der Soziologie eine nationalstaatliche und statische ist und dies für und für den untersuchten Zusammenhang wenig hilfreich war. In der empirischen Überwindung dieser nationalstaatlichen Fassung des soziologischen Gesellschaftsbegriffs sehe ich die Neuerung für die Soziologie des deutschsprachigen Raumes. Die in der hier vorliegenden Untersuchung aufgefundenen Phänomene werden in der vorherrschenden soziologischen Forschung als abgesonderte Teilgebiete verhandelt. Ausländer / Migranten, Jugendliche / Jugendgangs, Kindheit, Ethnie, Kultur usw. sind Begrifflichkeiten einer soziologischen Wissenschaft, welche die Zusammenhänge zwischen ihren eigenen Normalitätsvorstellungen und dem Forschungsgegenstand zerreisst und in Sonderforschungsbereiche zergliedert. Hinzu kommt eine Reduktion komplexer sozialer Beziehungen in einem Stadtteil auf das Gegensatzpaar Deutsche vs. Türken, wie sie in den öffentlichen Diskursen über diese Stadtteile zu beobachten sind.
Ausgehend von meinen empirischen Forschungsarbeiten5 aus den Jahren zwischen 1993 und 1996, welche die Grundlagen der vorliegenden Arbeit bildeten, rückten Fragen ins Zentrum der Forschung, die eigentlich unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zu zuordnen sind. Die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft verweist auf die Soziolinguistik, die Frage nachdem Zusammenhang von Sprache und Raum auf die Stadtsoziologie, Sozialgeographie und Urbanistik und alle drei wiederum sind ohne die Geschichtswissenschaft kaum sinnvoll zu beantworten. Schnell zeigte sich, dass eine interdisziplinäre Vorgehensweise, als die einzig sinnvolle erscheint. Schwierigkeiten bereitete auch die theoretische Fassung des Gesamtzusammenhanges. Der in weiten Teilen der ersten Fassung dieser Dissertation entstandene Eindruck von Unstrukturierheit und Fragmentierung ist nicht nur auf die Schwierigkeiten des Autors, den Forschungsgegenstand in den Griff zu bekommen geschuldet, sondern liegt im Forschungsgegenstand selbst begründet. Eine grosse Hilfe, auf die ich erst während der Überarbeitung gestossen bin, waren die Arbeiten von Henri Lefèbvre, einem französischen, marxistisch orientierten Urbanisten, der sehr hilfreich für die Neufassung des Zusammenhanges von Sprache und Stadt/Urbanität war. Das Ziel der Überarbeitung war, mehr Strukturierheit in dieser Arbeit zu bringen, ihren fragmentarischen Charakter aber weiterhin beizubehalten, da dieser eben eng mit dem Forschungsgegenstand verbunden war. Ich hoffe, dass mir dies, zumindest in einigen Kapiteln, gelungen ist.
Eine der grundlegenden Fragen, die sich mir als Forscher gestellt haben, ist die nach der Methodologie, der im Forschungsverlauf zu folgen ist. In einer Annäherung an die kommunikativ-pragmatische Wende der Sprachwissenschaften und der Entwicklung einer qualitativ orientierten Methodologie in der Soziologie habe ich Ähnlichkeiten in der Forschungslogik beider Disziplinen in Kapitel 2 herausgearbeitet, um dann die dieser Arbeit verwendete qualitativ-heuristische Methodologie darzustellen. Wichtig war mir hier die jeweils nationales Orientierung der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen und die Bedingungen der Konstituierung ihrer jeweiligen Forschungsgegenstände zu beschreiben. Diese ausführliche methodologische Auseinandersetzung zielt auf eine Transparenz meiner eigenen Vorgehensweise und der angewendeten Methoden. Die Forderung nach Transparenz des Forschungsprozesses meint nichts anderes, als deutlich zu machen, auf welchem Weg man zu seinen Forschungsergebnisse gekommen ist. Eine nicht unbedingt selbstverständliche Forderung innerhalb des deutschsprachigen Wissenschaftsbetriebes. Der Abschluss dieser Kapitels stellt die praktische Durchführung der einzelnen Untersuchungen vor, wie auch Auswertungsverfahren, Verlässlichkeit und Gültigkeitskriterien. In einer ersten Analyse wird die Sozialstruktur der untersuchten Gruppen beschrieben und welche Sprechgemeinschaften sich dort finden lassen.
Im Zentrum des dritten Kapitels steht die Bedeutung des untersuchten Raumes. Raumwahrnehmungen und räumliche Anordnungen in den Aussagen der Kinder und Jugendlichen werden herausgearbeitet und mit dem Raumkonzept von Henri Lefèbvre in Verbindung gebracht. Die Folgen von Stadtentwicklungspolitik, wie auch einer ethnifizierenden Raumkonzeption werden kritisch beleutet. Eine sozial-historische Analyse der untersuchten Stadtteile bringt ihre Struktur als historisch gewordener Übergangsraum zum Vorschein. Sie zeigt, dass wir es hier mit historischen Einwandererstadtteilen zu tun haben, die spezifische Anordnungen besitzen. Diese Anordnungen verweisen auf die lokalen Beziehungen in der Konstitution sozialer Gruppen und ihrer sprachlichen Räume. In dem die einzelnen historische Schichten dieser Räume herausgearbeitet werden, gelingt es weitere Aspekte des Forschungsfeldes darzustellen. Die Beschreibung der Versuche bürgerliche Verhältnisse in diesen Stadtteilen durchzusetzen verknüpfen diese lokalen Verhältnisse wieder mit der allgemeineren Theorie der Entwicklung urbaner Räume bei Lefèbvre und bereiten die konzeptionellen Elemente der weitere Analyse vor.
Das zentrale Element dieser Arbeit bildet das vierte Kapitel mit seinen drei Unterkapiteln. Grundlage dieser Kapitel bildet die Analyse der erhobenen emprischen Daten auf Gemeinsamkeiten. Die daraus gewonnenen Aspekte der verschiedenen Interaktionsordnungen werden entlang des Datenmaterials beschrieben. Sprechgemeinschaften in den ethnographisch gefassten Räumen des Hauses, der Strasse, der Institutionen und der Medien werden so in ihrer Bedeutung für das Alltagshandeln dargestellt. Dabei nehme ich wieder analytische Bezug auf die Ebenen des Lokalen, des Übergangs und des Globalen bei Lefèbvre, die dann in seinen Raumzeitkonzepten der Isotopien, Heterotopien und Utopien münden. In einem Exkurs über den Musikmarkt der Türkei arbeite ich in einem Nebenstrang die Bedeutung der Musik für die kulturellen Produktionen im Prozess der Migration heraus. Die Vielfalt der Interaktionsordnungen und ihrer jeweils spezifischen Aspekte in den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen sind auch auf Raum und Zeit bezogen. So werden am Schluss des fünften Kapitels Aspekte der Zeit, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinanderbezogen.
Während die Kapitel drei und vier den Versuch einer dichten Beschreibung6 unternehmen, stellt das Kapitel fünf die Konzeption einer fragmentarischen Theorie der Sprache im sozialen Raum dar. Dieser Versuch, die aus dem konkreten empirischen Material gewonnenen Abstraktionen zueinander in Verbindung zu setzen, muss notwendigerweise immer fragmentarisch bleiben. Dennoch versucht dieser Versuch die Elemente der Lefèbvreschen Theoriekonzeption mit aufzugreifen und sie an den gewonnenen Erkenntnissen zu spiegeln, um so zu einer Diagnose der gesellschaftlichen Prozesse zu gelangen. Diese ermöglicht zumindest die Entwicklungsmöglichkeiten, dessen was im Laufe der Untersuchung als gemischtes Sprechen herausgearbeitet wurde, auszuloten. Welche Richtung diese Entwicklung nehmen wird, kann nicht mehr die Wissenschaft selbst bestimmen, sondern ist Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Kräfteverhältnisse.
Während es im englischsprachigen Wissenschaftstexten häufig üblich ist, dass der Autor seine Sprecherposition deutlich macht, wird in den Texten deutschsprachiger Wissenschaftler häufig eine ojektivierende Sprache gebraucht. Ich für meinen Teil, habe in der vorliegenden Arbeit den Weg eingeschlagen, mich mit dem Leser und der Leserin gemeinsam auf den Weg durch die Irrungen und Wirrungen der Forschung zu machen, in dem ich, neben dem ich, das einschliessende wir gewählt habe, in der Hoffnung, dass sich keine der Leserinnen und keiner der Leser in ein Zwangsgemeinschaft eingebunden fühlt. Als Geleit auf dem langen Weg durch diese Seiten möchte ich die folgenden Worte eines arabischen Wissenschaftlers aus dem 12. Jahrhundert mitgeben.
»Was dem Leser gefällt«
Wenn wir an manchen Stellen bei einzelnen Gegenständen verweilen und uns in Probleme vertiefen, die mit dem Gang der Darstellung nur eine lose Beziehung aufweisen, so geschieht das nicht aus einem Hang zur Weitschweifigkeit und Ausführlichkeit. Vielmehr möchten wir den Leser von der Langeweile fernhalten; denn wenn die Untersuchung lange bei einem einzigen Gegenstand verweilt, führt das zum Überdruss und zur Ungeduld. Wechselt sie aber von einem Gebiet zum anderen, so befindet sich der Leser in der Lage eines Mannes, der durch Gärten spazierengeht. Er hat kaum einen durchschritten, da taucht schon ein anderer vor ihm auf und erweckt die Neugier und das Verlangen, ihn auch zu sehen. Nicht umsonst heisst es: Alles Neue macht Vergnügen.
(Al-Biruni, In den Gärten der Wissenschaft7)
1 Damals forcierte die bulgarische Regierung ein neues Namensgesetz, nachdem Bulgaren türkischer Abstammung, zukünftig ihre Namen bulgarisieren sollten. Dies hiess im wesentlichen die Umwandlung türkischer Nachnamen in bulgarische durch Anhängen der Endung -off. Dies wurde von der nationalistischen Propaganda der Türkei offensiv genutzt und so die Auswanderungswelle aus Bulgarien mit forciert. An den Grenzen entstanden Flüchtlingslager.
2 Ludwig Landgrebe (1977: 15)
3 Ebd.: 14
4 Ebd.: 16
5 FABER-Forschungsprojekte: Gogolin & Neumann: Bilinguale Kinder in monolingualen Schule; Auer: Türkisch in gemischtkulturellen Jugendgruppen. FABER = Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung, DFG-Schwerpunkt-Programm (Veröffentlichungen siehe Literaturliste).
6 Geertz, Clifford (1994): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller System. Frankfurt a. M.
7 Al-Biruni (1991: 33)