4. Aspekte der Urbanen Sprachen - Die Sprachen des Urbanen

4.1. Verortung des Gesprochenen: Haus, Strasse, Institution

Aspekte der Interaktionsordnung des Lokalen: Sprechgemeinschaften des Hauses

Vom Schwinden der Herkunftsvarietäten

Plomben: »Kauderwelsch« und »Gemischt Sprechen«

Interaktionen innerhalb einer und zwischen verschiedenen Generationen

Die Interaktion mit der Verwandtschaft

Die »Muttersprache« und der Verlust des »Vaterlandes«

Auf der Schwelle von der Herrschaft des Hauses zu der Freiheit der Strasse

4.1 Verortung des Gesprochenen: Haus, Strasse, Institution

Die bürgerliche Gesellschaft ist durch Trennungen und Abspaltungen gekennzeichnet. Das Privatleben, wir können es auch Alltagsleben nennen, ist vom gesellschaftlichen und politischen Leben abgetrennt. Während das Alltägliche in der bürgerlichen Gesellschaft im Haus lokalisiert werden kann, tritt das Gesellschaftliche und Politische in Institutionen auf. Institutionen können im marxistischen Sinne als eine Abstraktion des Staates, als ein allgemeiner Formalismus betrachtet werden. Dieser allgemeine Formalismus dringt in die gesellschaftliche Praxis ein und bemächtigt sich ihr. Die Strasse ist in der modernen bürgerlichen Gesellschaft merkwürdig unsichtbar. Sie ist Durchgangs- und Verkehrsplatz für das Automobil, stellt die Verbindung zwischen A und B her. Während Haus und Institution als je eigene Ordnung gesehen werden, negiert die Strasse diese Ordnungen. Die Strasse ist Unordnung. Gleichzeit weist Henri Lefebvre, dies wurde schon erwähnt, der Strasse eine privilegierte Öffentlichkeit zu.

"Auf der Strasse und durch sie manifestiert sich eine Gruppe (die Stadt selber), bringt sich zum Ausdruck, macht sich die Örtlichkeit zu eigen, setzt sich eine Raum-Zeit-Beziehung in die Wirklichkeit um."181

Die Strasse hat Funktionen, die moderne Architekten ausser acht liessen. Sie dient der Information und ist zugleich Symbol. Sie ist notwendig zum Spiel und zum Lernen. Lefebvre dreht das Argument, dass Strasse und Kriminalität hand in hand gehen um. Gerade dort wo die Strasse verschwindet, nimmt die Kriminalität zu und organisiert sich. Für ihn ist die Strasse der einzige Ort, an der der einzelne vor Kriminalität sicher ist182. Wenden wir uns nun dieser urbanen Anordnung von Haus - Strasse - Institution zu und versuchen uns den an diesen Orten gesprochenen Sprachen, der Sprache der Stadt anzunähern. Soziale, topologische und chronologische Aspekte dieser urbanen Interaktionsordnungen werden aus den Aussagen der Jugendlichen herausentwickelt und kommen im folgenden zur Darstellung.

Aspekte der Interaktionsordnung des Lokalen: Sprechgemeinschaften des Hauses

Im allgemeinen wird die Sprache, welche die Jugendlichen im Haus mit den darin lebenden Mitgliedern sprechen, als "Muttersprache" gekennzeichnet. Diese "Muttersprache" wird, so die Annahmen der Mehrheitsgesellschaft, von allen Mitgliedern des Haus einheitlich gesprochen. Diese Vorannahmen möchten wir im Verlauf dieses Kapitels korrigieren. Als ersten Schritt dazu ersetzen wir den Begriff der "Muttersprache" durch den Begriff der "Herkunftsvarietät". Mit diesem heuristischen Begriff wird der Versuch unternommen auf die Frage nach einer "Einheitlichkeit" in der sprachlichen Interaktion der Jugendlichen zu Hause eine Antwort zu finden. Mit dem Begriff der Varietät sollen die normativen Erwartungen, die dem Begriff der Sprache eingeschrieben sind, umgangen werden. Es geht hier nicht darum, ob die hier beschriebenen sprachlichen Interaktionsordnungen als Sprache, Dialekt oder Gossensprache zu fassen sind, sondern wie sich eine multilinguale Interaktionsordnung herstellt und wie die Jugendlichen darin symbolisch interagieren. Die Herkunftsvarietäten der Jugendlichen lassen sich durch drei Interaktionsordnungen fassen: einer ein-, zwei oder mehrsprachigen Interaktionsordnung unter den einzelnen Mitglieder eines Haushaltes. In einer einsprachigen Interaktionssituation sprechen und verstehen alle Mitglieder der Familie die gleiche Sprache. Paul, Piet und Anton kommen aus solch einem Elternhaus.

INTERVIEWER/IN: Wie ist es das denn bei euch in der Familie mit der Sprache?
Piet: Nur Deutsch.
Paul: Deutsch.
Anton: Nur Deutsch. (...)
(Anton, Piet, Paul, Schule C, 19-An., 19-Pa, 19-Pe), 17.8.95

Den Jugendlichen aus deutschsprachigem Elternhaus erschien diese Frage zunächst banal, denn in der "deutschen" Gesellschaft ist dies die gängigste Form der Herkunftsvarietät. Wenn jedoch die Mitglieder eines Hauses ein- und zweisprachig sind, so ergeben sich Interaktionsordnungen, wie sie Julia und Ercan schildern.

Wir reden Bosnisch, vor allem, weil unsere Eltern, also nur so vielleicht ein paar Wörter (Deutsch verstehen).
(Julia, Schule A, 13-Ja.) 15.8.95
Mit den Eltern Türkisch, weil die ja nicht so gut Deutsch verstehen.
(Ercan, Schule B, 7-Er.) 17.8.95

Während die Jugendlichen hier sich selbst als zweisprachig (Herkunftsvarietät und Deutsch) darstellen, berichten sie über ihre Eltern, dass diese kaum des Deutschen mächtig seien. Die Notwendigkeit des Sprechens in der Herkunftsvarietät wird mit den mangelnden Deutschkenntnissen der Eltern begründet. Das Sprechen der Herkunftsvarietät kann auch aktiv von den Eltern eingefordert werden. So berichtet uns Nena von ihrer, aus der ehemaligen Sowjetunion eingewanderten, Familie:

Auf russisch. Alles Russisch. Auf deutsch, ich kann auch auf deutsch reden, aber die haben keine Zeit, aber ((eigentlich sollen wir auf russisch reden.)) Ja, und meine Eltern, die wollen nicht, da? ... also, mein Bruder, der ist acht, und die wollen nicht, dass wir das vergessen. Deswegen sollen wir auf russisch reden.
(Nena, Schule A, 14-Nat.) 15.8.95

Das Sprechen der Herkunftsvarietäten erscheint für die Jugendlichen zum einen als Notwendigkeit um mit ihren Eltern überhaupt kommunizieren zu können, da diese die Sprache der Mehrheitsgesellschaft nur mangelhaft können, zum anderen als Aufforderung, die Sprache der Herkunft nicht zu vergessen. Die dritte Form der familiären Interaktion bilden sprachliche Situationen in denen die verschiedenen Mitglieder des Hauses ein-, zwei- und mehrsprachig sind. ¡smet spricht Deutsch, Türkisch und Kurdisch. Über die Interaktion mit seinen Eltern berichtet er folgendes:

Mit meiner Mutter muss ich Türkisch reden, weil sie Türkin ist. Sie kann kein Deutsch reden. Also Kurdisch, meine Vatersprache ist Kurdisch, die meiner Mutter ist Türkisch. Mit meinem Vater meistens Kurdisch.
INTERVIEWER/IN: Mit dem Vater meistens Kurdisch?
Ja.
INTERVIEWER/IN: Und wenn ihr zu dritt was diskutiert, wie redet ihr dann?
Türkisch.
(¡smet, Schule A, 5-Is.) 15.8.95

In gemeinsamen Diskussionen setzt sich in ¡smets Familie das Türkische der Mutter gegenüber dem, vom Vater gesprochenen, Kurdisch durch. ¡smet ordnet seine mehrsprachige Lebenswelt in zwei Pole: seine "Vatersprache" Kurdisch und die Sprache seiner Mutter Türkisch. Als gemeinsame Herkunftsvarietät aller Mitglieder des Hauses wird das Türkisch der Mutter gesprochen.

Vom Schwinden der Herkunftsvarietäten

Auch Serpil berichtet aus ihrer Familie, dass Kenntnisse des Kurdischen vorhanden seien. Diese sind allerdings nur rezeptiv, d.h. die Mutter versteht zwar Kurdisch, kann es aber nicht sprechen. Anders ausgedrückt, während rezeptive Fähigkeiten existieren, lassen sich diese nur schwer expressiv wenden. In der häuslichen Interaktion spielt dies hier allerdings keine Rolle. Gemeinsam sprechen auch sie Türkisch, die Sprache der türkischen Mehrheitsgesellschaft.

INTERVIEWER/IN: (...) Wenn du Kurdisch lernen würdest, wo glaubst du, könntest du das anwenden? Wo könntest du das verwenden?
In der Türkei.
Interviewer/in: Und hier?
Hier? Mit meinem Vater, mit meiner Mutter; meine Mutter versteht das, aber sie kann nicht reden, nicht so gut reden.
Interviewer/in: Mit deiner Mutter sprichtst du Türkisch?
Ja.
Interviewer/in: Und mit deinem Vater?
Türkisch.
(Serpil, Schule B, 15-Se.) 17.8.95

Das Kurdische ist in der Familie von Serpil nur noch als rezeptive Kenntnis ihrer Mutter vorhanden. Serpil selbst versteht es nicht mehr, es wird ihr nicht mehr aktiv vermittelt. Das Kurdische ist verschwunden aus ihrer Familieninteraktion.

Plomben: »Kauderwelsch« und »Gemischt Sprechen«

Vom Verschwinden einer ganz anderen Varietät berichtet Günther.

INTERVIEWER/IN: Gut. Wie ist das denn bei dir?
Wir sprechen zu Hause nur Deutsch.
INTERVIEWER/IN: Sprecht ihr Dialekt oder so etwas in der Familie?
Platt. Meine Grosseltern sprechen Plattdeutsch.
INTERVIEWER/IN: Verstehst du Platt?
Bisschen.
INTERVIEWER/IN: Kannst du selber sprechen?
Nein.
INTERVIEWER/IN: Hast du nicht gelernt?
Nein.
INTERVIEWER/IN: Wie ist das denn? Reden deine Grosseltern nur, wenn sie unter sich sind? Oder redet ihr Platt, wenn Besuch da ist?
Eigentlich nur unter sich.
INTERVIEWER/IN: Nur unter sich dann?
Ja.
(Günther, Schule C, 23-Gu.) 1.9.95

Günther gibt uns den Hinweis, dass es auch in deutschsprachigen Familien eine Trennung zwischen einer Herkunftsvarietät und dem allgemein gesprochenen Deutsch gab und vereinzelt auch noch gibt. Er hat ein "bisschen" rezeptive Kenntnisse des Plattdeutschen. Oskar erzählt uns aus seiner Familie. Auch dort sind es die Grosseltern, die "Platt" sprechen.

INTERVIEWER/IN: (...) Wie ist das denn mit der Sprache in der Familie und der Verwandtschaft? Wie redet ihr untereinander? In welcher Sprache und über was wird im allgemeinen gesprochen? Also, was erzählst du deinen Grosseltern, mit denen du Platt redest, oder die Platt reden?
Die reden Platt und Helgoländisch.
INTERVIEWER/IN: Was ist das Helgoländisch?
Helgoland ist eine Insel in der Nordsee, und Helgoländisch ist ein Kauderwelsch zwischen Platt und Friesisch.
INTERVIEWER/IN: Hm.
Das verstehe ich nicht, aber das Platt, das sie reden, das kann ich ...
INTERVIEWER/IN: Das kannst du verstehen?
Das kann ich relativ gut verstehen.
INTERVIEWER/IN: Aber du kannst es selbst nicht sprechen?
Nein.
INTERVIEWER/IN: Und wie redet ihr? Reden deine Grosseltern Platt mit dir, und du antwortest auf deutsch zurück, oder reden die dich auf deutsch an, Hochdeutsch?
Meistens reden sie auf deutsch, aber Platt reden sie, wenn sie, eigentlich reden die Platt, wenn es ihnen Spass macht, und ich verstehe das dann auch. Dann reden wir auch weiter Deutsch.
INTERVIEWER/IN: Hm.
Also, Platt kommt von Zeit zu Zeit.
(Oskar, Schule C, 26-OR.) 1.9.95

Als Helgoländisch bezeichnet Oskar die Varietät seiner Grosseltern. Er bezeichnet sie als eine Mischung zwischen Plattdeutsch und Friesisch, für die er den Begriff des Kauderwelsch findet. Dieses Kauderwelsch183 versteht er jedoch nicht, sondern nur den Anteil des darin vorkommenden Plattdeutsch. Sprechen kann er keine dieser Varietäten. Der etymologische Ursprung des Wortes Kauderwelsch verweist zum einen auf seinen historischen Entstehungszusammenhang, den der Migration: damit wurde die Sprache der Menschen aus dem Gebiet um Chur, in der heutigen Schweiz ("Kauern"), bezeichnet, die rheinabwärts wanderten und dort sesshaft wurden. Zum anderen verweist es auf eine bestimmte Perspektive auf die von diesen Neuankömmlingen gesprochene Sprache. Für die Aussenstehenden ist es eine "unverständliche, verworrene Form der Sprache". Für die Sprecher und Sprecherinnen dieser Sprache ist dies offensichtlich nicht so, da sie sich in der Lage befinden untereinander in dieser Sprache zu interagieren. Zieht man noch die etymologische Herkunft des "Rotwelsch184" hinzu, so erweitert sich das Bedeutungsfeld auf die Sprache von "Bettlern" und "Untreuen", also das was man mit "Gaunersprache" bezeichnet. Oskar verweist damit auf eine Sprachpraxis, von der auch andere Jugendliche berichten. Veli beschreibt seine Art zu Sprechen als "gemischt".

INTERVIEWER/IN: Wie ist das bei dir, Veli?
Bei mir ist das gemischt, so. Manchmal kann ich die Wörter auf türkisch nicht sagen, muss ich das auf deutsch sagen. Also gemischt.
(Veli, Schule A, 1-V.) 15.8.95

Veli beschreibt seinen Umgang mit dem Türkischen als lückenhaft. Seine Unkenntnis bestimmter türkischer Ausdrücke überbrückt er mit dem Einflechten deutscher Ausdrücke. Für ihn bildet hier die Herkunftsvarietät die Grundstruktur der Interaktion, deren Löcher durch Ausdrücke in der Mehrheitssprache Deutsch überbrückt werden. Man könnte das Deutsche hier als eine Art Plombe fassen185. Die Zweisprachigkeit von Veli eröffnet ihm die Möglichkeit, Beschränkungen und Defizite in der Herkunftsvarietät durch die Mehrheitssprache auszugleichen. Deutlich wird jedoch hier auch, dass es ein bestimmter Blick auf die sprachlichen Fähigkeiten der Jugendlichen ist, der ihre Fähigkeiten als »beschränkt« und »defizitär« wahrnimmt. Suzan und Lale berichten von einer ähnlichen Praxis, allerdings unter der Bedingung drei Varietäten verwenden zu können. Suzan, aus dem Gymnasium, erläutert wie sie mit ihren Eltern spricht.

INTERVIEWER/IN: Wovon hängt das ab, was ihr zu Hause sprecht? Sprichst du mit deinem Vater oder der Mutter immer eine Sprache?
Wenn ich mal etwas nicht auf türkisch weiss, dann sage ich das auf deutsch und andersrum, und wenn ich Lust habe, dann rede ich Kurdisch.
(Suzan, Schule C, 30-Si.) 1.9.95

Suzan hat einen sehr spielerischen Umgang mit den Sprachen, die bei ihr zu Hause gesprochen werden. Sie überbrückt die Lücken die sie im Deutschen und im Türkischen hat mit der jeweils anderen Varietät und kann dann auch noch das Kurdische spielerisch mit einbeziehen. Lale, aus der Haupt-und Realschule berichtet von einer ähnlichen Praxis bei sich zu Hause.

INTERVIEWER/IN: In welcher Sprache sprichst du mit deinen Geschwistern, Lale?
Kurdisch.
INTERVIEWER/IN: Nur Kurdisch, nicht auf deutsch?
Manchmal. Wenn ich etwas auf kurdisch nicht sagen kann, dann sage ich das auf deutsch. Und wenn ich etwas auf deutsch nicht sagen kann, dann sage ich das auf türkisch oder auf Kurd... ja auf kurdisch.
(Lale, Schule B, 16-Le.) 17.8.95

Auch Nena berichtet von ihrer Sprachpraxis mit ihrem Bruder zu Hause. Sie kennzeichnet sie als durcheinander.

Wir reden immer so durcheinander. Wenn er auf deutsch mit mir redet, dann antworte ich auf deutsch. Wenn auf russisch, dann auf russisch.
(Nena, Schule A, 14-Nat.) 15.8.95

Hier werden die Sprachen Russisch und Deutsch getrennt gehalten. Es wird nicht innerhalb der Sprachen gemischt. Aber im Dialog wählt Nena die Antwort in der Varietät, die ihr vom Bruder vorgegeben wird. Auch bei Dragana ist die Sprachpraxis zu Hause im gesamten Dialog zweisprachig, aber letztendlich verhält sie sich so, als ob sie einsprachig wäre.

Zu Hause reden wir, meine Eltern meistens auf kroatisch, und ich antworte ihnen meistens auf deutsch. Es ist also meistens gemischt. Alles Mögliche.
(Dragana, Schule C, 20-Dr.) 1.9.95

Interaktionen innerhalb einer und zwischen verschiedenen Generationen Generationen

Die Interaktionsordnung unter Bedingungen der Vielsprachigkeit im Haus lässt sich an dieser Stelle nun genauer fassen. Deutlich wird die Schwierigkeit in der Ausdrucksfähigkeit der Jugendlichen, in der Vermittlung zwischen den Herkunftsvarietäten und dem Deutschen. Betrachten wir die Interaktionsordnung innerhalb des Hauses und die Sprachpraxen von denen die Jugendlichen berichten etwas genauer. Die folgende Tabelle zielt auf eine Zusammenfassung der Gemeinsamkeiten der einzelnen Interaktionsordnungen in den Häusern der Jugendlichen186. Die von den Jugendlichen konkret benannten Sprachen, die sie zu Hause sprechen werden zu der Kategorie der Herkunftsvarietät abstrahiert. Deutsch ist im Kontext der vorliegenden Untersuchung die »Standard- und Mehrheitssprache« und soll vorläufig als Normvarietät bezeichnet werden. Den Beziehungen zu dieser Normvarietät wird im weiteren Verlauf der Exploration nachgegangen. Das Phänomen der Mehrsprachigkeit (»Multilingualismus«) soll zunächst aus heuristischen Gründen, auf das Phänomen der Zweisprachigkeit (»Bilingualismus«) reduziert werden, denn auf

der Ebene der multilingualen Primärsozialisation ist allein der Bilingualismus soziolinguistisch von Belang.187

Tabelle 1


In einem weiteren Schritt wurde die Herkunftsvarietät durch "Varietät 1" und die Normvarietät durch "Varietät 2" ersetzt. In der folgenden graphischen Darstellungen werden die unterschiedlichen Beziehungen zwischen Varietät 1 und Varietät 2 auf andere Weise dargestellt. Da im weiteren Fortgang der Untersuchung immer wieder auf diese graphischen Darstellungen zurückgegriffen wird, hier zunächst einige Konventionen zur Einführung.

Graph 8:

Graph 9:

Graph 10:

Graph 11:

Graph 12:

Das vorliegende Datenmaterial wird nun weiter befragt. Mit welchen Personen sprechen die Jugendlichen zu Hause in Varietät 1, mit welchen in Varietät 2? Veronica, deren Eltern Aussiedler aus Ungarn sind, berichtet, dass sich die Interaktion in ihrer Familie zwischen den Varietäten Ungarisch (Varietät 1) und Deutsch (Varietät 2) bewegt.

INTERVIEWER/IN: Was deine Eltern zu Hause reden? Sprichst du zu Hause auch viel?
Wir reden immer durcheinander, Deutsch und Ungarisch.
(Veronica, Schule C, 28-Vi.) 1.9.95

Sie bezeichnet ihre Art der Interaktion innerhalb ihrer Familie als "durcheinander" von Varietät 1 und Varietät 2. Bei Deshrina sind dies die Pole Albanisch (Varietät 1) und Deutsch (Varietät 2), bei Ayºe Türkisch (Varietät 1) und Deutsch (Varietät 2).

INTERVIEWER/IN: Und du,welche Sprache sprichst du zu Hause?
Deshrina: Albanisch, Deutsch. Mit meiner Mutter Albanisch, Deutsch.
INTERVIEWER/IN: Und du?
Ayºe: Mit meinen Eltern spreche ich eigentlich Türkisch, aber Deutsch mischen auch öfters hinein. (...)
(Ayºe, Deshrina, Schule A, 12-Ay, 12-Da.) 15.8.95

Während Deshrina lediglich Varietät 1 und Varietät 2 nennt, in denen sie mit ihrer Mutter spricht, beschreibt Ayºe das Verhältnis als Mischung; sie mischt Varietät 2 in die Varietät 1 ein. Gülºen spricht mit ihrer Mutter fast ausschliesslich Varietät 2, weil sie Varietät 2 als "leichter" wahrnimmt.

Ich würde sagen, dass ich mit ihr öfters Deutsch rede, weil ich auf türkisch keine Sätze bilden kann. Weil das schwer ist.
INTERVIEWER/IN: Mit deiner Mutter sprichst du also Deutsch. Ist das für dich leichter, Deutsch zu sprechen?
(...), viel leichter als Türkisch.
(Gülºen, Schule A, 12-Gü.) 15.8.95

Gülºen berichtet, dass es ihr nicht möglich ist die grammatikalische Struktur der Varietät 1 hervorzubringen und deswegen lieber in der Varietät 2 mit ihrer Mutter spricht. Sie beschreibt die Interaktion in den verschiedenen Varietäten in ihrer Familie. Betrachtet man ihre Interaktionen mit den verschiedenen Mitgliedern des Hauses so bewegen sie sich zwischen den Polen Varietät 1 und Varietät 2:

Mit meinem Bruder, der kann auch gut Deutsch, wir sprechen auch Deutsch und Türkisch, also gemischt. Mit meiner Mutter kann ich auch richtig Deutsch sprechen, weil sie auch hier geboren ist; nein, nicht hier geboren, aber mit sechs Jahren ist sie hierher gekommen. Und mit meinem Vater, da rede ich eigentlich Türkisch und Deutsch. Er kann nicht so gut Deutsch.
(Gülºen, Schule A, 12-Gü.) 15.8.95

Bei Karen geht der Impuls Deutsch (Varietät 2) zu interagieren, von ihrer Mutter aus und führt zu Gesprächen in einer "deutsch-polnischen" Varietät.

Naja, eigentlich habe ich das schon angedeutet: Meine Mutter ist Polin. Sie spricht zwar Deutsch, aber trotzdem, ich spreche mit ihr lieber auf polnisch, obwohl sie lieber auf deutsch spricht. Also, es entsteht so eine deutsch-polnische Unterhaltung. Sie spricht auf deutsch und ich auf polnisch, halt weil ich mit zehn Jahren aus Polen ausgezogen bin und Polnisch sprechen möchte schon fast, um das besser zu lernen. Sie ist mit dreissig Jahren aus Polen ausgezogen und will dann Deutsch sprechen, lernen, immer noch. {lacht}
(Karen, Schule C, 22-Kr.) 1.9.95

Sie berichtet von einer umgekehrten Beziehung der Varietäten bei ihr zu Hause. Ihre Mutter forciert die Interaktion in Varietät 2, während ihre Tochter hauptsächlich in Varietät 1 mit ihr kommuniziert. Auch Ayºe redet Gemischt.

Deutsch verstehe ich mehr, aber Türkisch muss ich trotzdem reden bei meinen Eltern, weil sie nicht so gut Deutsch verstehen. Aber zu Hause rede ich eigentlich immer gemischt.
(...)
Mit meinem Bruder spreche ich Deutsch und Türkisch gemischt, weil er auch nicht so gut Türkisch kann.
(...)
Mit meinen Eltern spreche ich eigentlich Türkisch, aber Deutsch mischen auch öfters hinein. Da ich kaum noch mit meinen Eltern spreche, rede ich also mit meinen Geschwistern nur noch Deutsch.
(Ayºe, Schule A, 12-Ay.) 15.8.95

Die Eltern von Ayºe verstehen die Varietät 2 nicht gut, während ihr Bruder Varietät 1 nicht gut beherrscht. Da sie mit den Eltern kaum noch kommuniziert, spricht sie mit der gleichen Generation, mit ihren Geschwistern nur die Varietät 2. Varietät 1 wird bei ihnen zu Hause nur noch in Gestalt der gemischten Varietät gesprochen. Diese gemischte Varietät ist in der folgender Graphik, welche die Interaktionordnung innerhalb und zwischen den Generation darstellt, durch die Farbe orange markiert.

Graph 13:

In dieser Graphik sind die Interaktionsordnungen dreier Genrationen abgebildet. Die Generation der Grosseltern, die Generation der Eltern und die Genration der Jugendlichen. Die Generation der Jugendlichen spricht mit der Generation der Eltern und des Vaters sowie der Grosseltern-Generation in der Varietät 1. Innerhalb der gleichen Gener-ation, sowie der Generation der Eltern und der Mutter sprechen die Jugendlichen Varietät 2 oder Gemischt. Von Generation 1 zu Generation 3 verschiebt sich die Varietät der Interaktion zu Hause, weg von Varietät 1 hin zu Varietät 2.

Die Interaktion mit der Verwandtschaft

Erweitern wir nun die Erkundungen nach der Interaktionsordnung innerhalb des Hauses auch auf die erweiterten Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse der Jugendlichen. Edon verortet seine bosnischen Sprachkenntnisse innerhalb einer »Wir-Gruppe« ("bei uns") die er, aufgrund des Krieges in Ex-Jugoslawien, seit 5 Jahren nicht besuchen konnte. Dieser abgerissene Kontakt ist für ihn auch der Grund für die, seiner Meinung nach, mangelhaften bosnischen Sprachkenntnisse.

Bei uns wird hauptsächlich Bosnisch gesprochen, weil, ich beherrsche die Sprache nicht so gut, ich kann Deutsch besser. Ich war ja auch fünf Jahre nicht da, wegen diesem Krieg und so weiter. Und deswegen.
(Edon, Schule A, 3-Ed.) 15.8.95

Für Edon erscheinen seine Sprachkenntnisse mit der Anwesenheit auf einem bestimmten Territorium verbunden, auf dem sich auch die zugehörige Sprechgemeinschaft aufhält. Ist dieser Kontakt mit dem Territorium vorhanden, so spricht man die Sprache, wie im Falle des Deutschen; ist dieser Kontakt nicht vorhanden, wie im Falle des Bosnischen, so spricht man diese Sprache nicht gut. Sprache und Territorium sind bei ihm miteinander verknüpft.

Auch bei Olivier ist es der Krieg, welcher das Verhältnis von Sprache und Territorium verändert.

INTERVIEWER/IN: Wie ist es, hast du noch Verwandtschaft hier?
Verwandtschaft? Gut, mein grosser Bruder ist verheiratet; da ist also ein bisschen Verwandtschaft entstanden, wenn man so sagt. Der Rest ist also in Kroatien.
INTERVIEWER/IN: Fährst du da regelmässig hin?
Bis vor vier Jahren sind wir da jedes Jahr runtergefahren.
INTERVIEWER/IN: Wo Krieg ist, nicht mehr dann?
Ist schlecht. Wir waren vor einem Jahr wieder da unten.
INTERVIEWER/IN: Habt ihr noch Kontakt zu Verwandten?
Ja, wir telefonieren oft und so, Briefe.
INTERVIEWER/IN: Da redet ihr aber auch Kroatisch?
Ja.
INTERVIEWER/IN: Die waren nicht mal in Deutschland?
Doch, die waren mal hier. Wie lange waren die hier? Vier Monate oder so ein paar. Da waren wir mit zwölf Leuten in der Wohnung. Als es da besonders schlimm war. Da haben wir auch nur Kroatisch geredet.
(Olivier, Schule C, 24-OK.) 1.9.95

Es ist nicht bekannt, welche Sprechgemeinschaft die in Deutschland entstandene Verwandtschaft bilden, aber als ein Teil seiner Verwandtschaft aus dem ehemaligen Jugoslawien als Flüchlinge vorübergehend bei ihnen in Deutschland unterkommt, stellt sich quasi automatisch eine kroatische Sprechgemeinschaft her. Der Kontakt zur Verwandtschaft war auch bisher über eine grössere Distanz gewährleistet. Für Olivier existieren Verwandtschaftsstrukturen an verschiedenen Orten und einzelne Personen kommuniziert untereinander, auch über grosse Distanzen hinweg. Dabei stellen sich unterschiedliche Sprechgemeinschaften innerhalb der Verwandtschaft her. Diese mehrsprachige Verwandtschaftsstruktur ist auch unter den Jugendlichen mit deutschsprachigem Hintergrund zu beobachten. So berichtet Lotte zum Beispiel, dass bei ihr in der Familie anders gesprochen wird als unter den Verwandten.

Ja, meine Mutter kann das, aber in der Familie reden wir so nicht, Plattdeutsch, aber wenn sie mit ihren Verwandten, Geschwistern und so, dann redet sie die ganze Zeit. Ich verstehe das so, aber ich kann das nicht sprechen.
INTERVIEWER/IN: Du kannst zuhören und verstehst, um was es da geht?
Manchmal auch nicht, aber eigentlich verstehe ich das.
(Lotte, Schule C, 25-Lis.) 1.9.95

Lotte versteht zwar etwas Plattdeutsch«, kann es aber nicht sprechen. Diese plattdeutsche Sprechgemeinschaft wird zwar noch durch die Verwandtschaft hergestellt, aber von der nachfolgenden Generation nur noch rezeptiv beherrscht. Der Verlust der expressiven Fähigkeiten schiesst sich von der expressiven Teilnahme an der Sprechgemeinschaft aus. Während Edon Bosnisch zur Not auch noch expressiv beherrscht, besitzt Lotte diese Fähigkeit nicht. Nena spricht mit ihrer Verwandtschaft Russsisch. Sie kann ihre Herkunftsvarietät rezeptiv und expressiv gebrauchen. Sie versteht und spricht sie.

Also, sprechen wir auf russisch, weil es natürlich schneller geht. {lacht} Die Verwandten haben nicht so viel Zeit, vielleicht so, wenn wir am Wochenende hingehen; darüber, was wir so erlebt haben.
INTERVIEWER/IN: In welcher Sprache redet ihr?
Auf russisch. Alles Russisch. Auf deutsch, ich kann auch auf deutsch reden, aber die haben keine Zeit, aber eigentlich sollen wir auf russisch reden.
(Nena, Schule A, 14-Nat.) 15.8.95

Neben den pragmatischen Erwägungen von Nena, steht aber auch eine Art des »Sollens«. Es ist die Sprechgemeinschaft der Verwandten, welche die expressiven Fähigkeiten von Nena einfordert, welches offensichtlich bei Lotte nicht der Fall ist.

Auch Nuretin und Aslan berichten davon, wie sich seine Verwandtschaft als türkische Sprechgemeinschaft konstituiert.

Nuretin: Meistens so Türkisch. Da wo wir wohnen, da sind meist Deutsche, da sind kaum noch Türken. Aber wir kriegen so Besuche, mit denen wir Türkisch reden.
INTERVIEWER/IN: Mit allen in der Verwandtschaft?
Nuretin: Ja.
INTERVIEWER/IN: Oder gibt es Leute, mit denen du Deutsch redest? Und bei dir?
Aslan: Also wir reden Türkisch.
(Aslan, Nuretin, Schule B, 9-Ad., 9-Ne.) 17.8.95

Die Verwandtschaft ist zerstreut und besucht sich untereinander zu bestimmten Anlässen. Diese Anlässe konstituiert sie als Sprechgemeinschaft. Seine Wohngegend wird dagegen von Sprechgemeinschaften der Normvarietät Deutsch dominiert. Früher scheint dieses Verhältnis anderes gewichtet gewesen zu sein. Nuretin und Aslan gebrauchen ihre Herkunftsvarietät rezeptiv und expressiv. Sie können somit teilhaben an der Herstellung dieser türkischen Sprechgemeinschaft. Während Nena pragmatische Gründe und das "Sollen" der Verwandtschaft anführt, hat es für Aslan und Nuretin eine selbstverständlichen Charakter, dass man beim Zusammentreffen der Verwandtschaft türkisch spricht. Dagegen kommt es bei Kadriye innerhalb der Familie und der Verwandtschaft zum Konflikt über die korrekte Sprachwahl.

Mit meiner Mutter rede ich Deutsch, sie kann nicht so gut Deutsch. Immer wenn ich Deutsch rede, dann muss sie auf deutsch antworten; und wenn sie auf türkisch antwortet, dann mach ich immer mit ihr Streit. Weil sie kann, sie versteht und sie kann auch sprechen, aber nicht so gut, so /
(...)
Zum Beispiel ich sag ihr was, und sie sagt mir, da antwortet sie mir auf türkisch. Ich will immer, dass sie mir auch auf deutsch antworten kann. Deswegen rede ich öfter zu Hause Deutsch, mit meiner Mutter, aber mit meinen Verwandten - so Onkel - rede ich immer Türkisch, weil die mögen das nicht, wenn man so Deutsch redet. Die sagen: "Du bist ja nicht eine Deutsche, rede mal Türkisch zu Hause."
(Kadriye, Schule A, 10-Ka.) 15.8.95

Das Aushandeln der Sprache mit der Mutter hat hier noch einen eher neckischen Charakter. Die Mutter besitzt wohl rezeptive Kenntnisse der Normvarietät Deutsch, beantwortet aber die Fragen ihrer Tochter in der Herkunftsvarietät Türkisch. Die Verwandtschaft setzt dagegen strikt das Prinzip "zu hause redet man Türkisch", also die Herkunftsvarietäten, durch. Die Verwandtschaft repräsentiert Dominanz und Machtverhältnisse innerhalb der Sprechgemeinschaft der Herkunftsvarietät. Hier verschwimmt das Verhältnis von Herkunftsvarietät und Normvarietät. In einem anderen nationalen Kontext kann die Herkunftsvarietät auch Normvarietäten sein. Wir vermuten, dass mit dem Anspruch einer Sprechgemeinschaft auf ein Territorium auch Dominanz und Herrschaftsansprüche zum tragen kommen. Die Jugendlichen sind so zweifachen Herrschaftsansprüchen ausgesetzt: der Normvarietät der Sprechgemeinschaft der Verwandtschaft ebenso, wie denen der Normvarietät der Mehrheitssprache "hier" in der Bundesrepublik. Die Normvarietät der Verwandtschaft "hier" kann für die Mehrheitssprache die "dort", in einem anderen nationalen Kontext herrscht, stehen.

Die »Muttersprache« und der Verlust des »Vaterlandes«

Der »Mutter« und der Kommunikation mit ihr, kommt in den Familien der Jugendlichen eine besondere Rolle zu. Sanna und Sylvia haben einen engen Kontakt zu ihren Müttern, während sie kaum Kontakt zum Rest der Familie haben.

Sylvia: Über alles, eigentlich. Also, meiner Ma erzähle ich alles: Wie es in der Schule war, was ich dann und dann gemacht habe, und was ich noch brauche; alles einfach.
INTERVIEWER/IN: Und du?
Sanna: Bei mir ist das auch so. Aus der Familie habe ich höchstens, mit meiner Mutter rede ich alles, was mir so gerade einfällt, wozu ich so Lust habe. So beim Abendbrot kommt das immer alles, sonst sehe ich sie gar nicht. Ich sehe sie jeden Tag halt nur zum Essen. Höchstens noch meine Oma, der erzähle ich, was ich gerade mache oder nicht. Oberflächlich, Sachen so und sonst hält sie nicht, so mit der Familie so keinen Kontakt, sonst nicht. Und, hm.
(Sanna, Sylvia, Schule C, 21-St., 21-Sv.), 1.9.95

Der Kontakt von Sanna und ihrer Mutter ist dennoch sehr begrenzt. Als einzige andere Person mit der sie redet, nennt sie eine weitere weibliche Person, ihre Grossmutter. Andere Jugendliche berichten davon wie schwierig der Kontakt zu ihrer Mutter ist. Manche reden überhaupt nicht mit ihrer Mutter. Werner schliesst aus der Kommunikation mit seiner Mutter seine eigenen Probleme aus.

Also ich rede auch nicht so mit meiner Mutter über meine Probleme, das mag ich einfach nicht.
(Werner, Schule A, 3-W.) 15.8.95

Und Else, mit deutschsprachigem Hintergrund, sagt lapidar zum Verhältnis zu ihrer Mutter:

Mit meiner Mutter kann ich nicht reden.
(Else, Schule C, 22-El.) 1.9.95

Hier ist es die Tochter die mit der Mutter nicht kommunizieren kann. Bei Ayºe sind es die Eltern an denen die Kommunikation scheitert und Sprachlosigkeit eintritt.

Ich sag' mal was: Wenn etwas Wichtiges ist, und unsere Eltern sind neben uns, die können überhaupt nicht reden, obwohl sie etwas zu erzählen haben.
(Ayºe, Schule A, 12-Ay.) 15.8.95

In dieser »Non-Kommunikation« können sich auch die Jugendlichen gegen die Eltern abschotten, wie uns Andreas und Erdem zeigen. Erdem verfügt über den Zugang zu drei Sprechgemeinschaften mit denen er Personen ein-und ausschliessen kann.

Erdem: Also bei mir sprechen sie Türkisch...
Andreas: Und Kurdisch.
Erdem: Und mit meiner Schwester und Bruder rede ich manchmal Deutsch.
INTERVIEWER/IN: Manchmal? In welchen Situationen?
Andreas: Wenn er etwas nicht auf türkisch weiss!
Erdem: Ich will nicht, dass die Eltern mitkriegen, was ich erzähle.
INTERVIEWER/IN: Ach so, um es geheim zu halten?
Erdem: Ja.
INTERVIEWER/IN: Die Eltern verstehen es nicht?
Erdem: Nein, meine Mutter.
INTERVIEWER/IN: Die versteht das?
Erdem: Nein.
INTERVIEWER/IN: Die versteht das überhaupt nicht?
Andreas: Lan, deine Mutter ist seit zehn Jahren hier und versteht nicht mal Deutsch, Alter!
Andreas: Zehn, zwanzig Jahre hier.
Erdem: Nicht mal ein Wort.
Andreas: {lacht}
INTERVIEWER/IN: Und mit anderen in der Verwandtschaft?
Erdem: Da reden wir auf türkisch.
INTERVIEWER/IN: Nur auf türkisch, dann?
Erdem: Ja.
Andreas: Vielleicht mit meinem Cousin, wenn ich mit ihm Deutsch rede; wenn was Geheimes ist.
INTERVIEWER/IN: Da redet ihr auf deutsch?
Andreas: Ja.
(Andreas, Erdem, Schule A, 2-A., 2-E.), 15.8.1995

Andreas spricht Albanisch, Deutsch und versteht auch etwas Türkisch. Beide stellen die Sprechgemeinschaft Deutsch her, um vor Eltern oder anderen Verwandten etwas zu "verheimlichen", man könnte auch sagen, um eine Intimsphäre zu erzeugen und sich den Herrschaftsansprüchen zu entziehen.

Väter werden in den Interviews der Jugendlichen merkwürdig selten erwähnt. So ist bei Karen einerseits die Kommunikation mit der Mutter intensiv, aber andererseits hat sie keine Möglichkeit eine Kommunikation zu ihrem Vater aufzubauen.

Ich rede, ich habe keinen Vater mehr, und ich rede eben mit meiner Mutter ziemlich viel auch über Sachen, die mich bewegen und sie mir eben auch alles. Wir reden eigentlich ziemlich intensiv. Da ist da nicht nur das Geplapper von der Schule, was los war, sondern auch Sachen, wenn man ein bisschen kaputt ist, dass man darüber redet.
(Karen, Schule C, 22-Kr.) 1.9.95

Bei Fikriye ist der Vater weit entfernt. Eine alltägliche Kommunikation mit ihm ist nicht möglich.

Mein Vater ist zum Beispiel in der Türkei. Meine Mutter möchte auch später mal für immer in die Türkei.
(Fikriye, Schule B, 15-Fi.) 17.8.95

Auch Canan lebt ohne Vater. Ihre Mutter kommt aus einem deutschsprachigen Hintergrund und ihr Vater kam aus einem türkischsprachigen.

INTERVIEWER/IN: Von deinem Vater hast du auch ein bisschen gelernt?
Ja, aber früher konnte ich mehr, aber ich habe das verlernt.
INTERVIEWER/IN: Aha. Kannst du auch diese Sprachen unterscheiden?
Ja.
INTERVIEWER/IN: Wieso konntest du früher mehr Türkisch?
Weil, also meine Eltern sind jetzt geschieden, er hat früher mehr mit mir Türkisch geredet.
(Canan, Schule B, 16-Ce.) 17.8.95

Die Trennung bilingualer Netzwerke führt zum langsamen Verlust einer der von den Eltern gesprochenen Herkunftsvarietäten. Aslan berichtet aus seinem häuslichen Netzwerk.

Meine Mutter hat so einen Freund. Er heisst Bülent, er ist Türke und kann nicht Türkisch sprechen. Er ist hier aufgewachsen, die Eltern haben sich geschieden.
(Aslan, Schule B, 9-As.) 17.8.95

Die Strukturen im Haus sind Veränderungen unterworfen. Die traditionellen Familienstrukturen des Hauses lösen sich auf und neue Netzwerkkonstellationen entstehen an ihrer Stelle. Diese neuen Konstellationen sind auch mit dem Verlust von Sprechgemeinschaften der Herkunftsvarietäten verbunden. Zu denen hat man keinen Zutritt mehr, obwohl man von der Mehrheitsgesellschaft als »Dazugehörig« identifiziert wird. Dies lässt sich auf eine kurze Formel bringen: nicht jeder der als Türke identifiziert wird spricht Türkisch. Oder, an die Terminologie Goffmanns angelehnt, die »personale Sprache«, also diejenigen Sprachen die eine Person als Repertoire zur Verfügung hat und die von aussen zugeschriebene »soziale Sprache«, also welcher Sprechgemeinschaft man zugeschrieben wird, treten auseinander.

Auch die auf der Familie basierenden Strukturen der Jugendlichen mit deutschprachigen Hintergrund lösen sich auf. Sylvia sieht ihre Familie zwar als nicht existent an, ist aber nicht mit der Art von Verlust von Sprache konfrontiert, wie es Aslan berichtete.

Also, {lacht} meine Familie gibt es gar nicht. Mein Vater meldet sich nicht mehr, der hat irgendwie, mit dem haben wir uns gestritten, und der ist irgendwie weg vom Fenster. Meine Oma und mein Opa wollen nichts mit mir zu tun haben, weil ich bunte Haare und Ringe im Gesicht habe. Die wollen mich nicht mehr sehen.
(Sylvia, Schule C, 21-St.) 1.9.95

Dennoch ist sie von einer Interaktion mit ihrem Vater und ihren Grosseltern abgeschottet. Ähnliches berichten auch die Zwillingsgeschwister Ramesch und Radeelat. Mit ihrem Vater ist auch dessen Wissen um die Herkunftsvarietät Yoruba verschwunden.

INTERVIEWER/IN: Findet ihr das gut, dass ihr nur Deutsch könnt, oder fändet ihr es besser, wenn ihr die Sprache von eurem Vater auch könntet? Wie heisst die noch? Nigerianisch?
Ramesch: Yoruba.
INTERVIEWER/IN: Yoruba?
Radeelat: Würde ich natürlich gut finden, aber wann soll ich das lernen?
INTERVIEWER/IN: Hm.
Radeelat: Ich komme ja mit Französisch nicht zurecht. Ich habe ja keine Zeit.
INTERVIEWER/IN: So, wenn ihr das vielleicht in der Kindheit gesprochen hättet, vielleicht hättet ihr das so gelernt?
Radeelat: Ja, also, David, den kennen wir, sein Vater ist auch aus Nigeria, der hat da bis zum zehnten Lebensjahr gelebt, deswegen kann er das auch.
INTERVIEWER/IN: Hm.
Radeelat: Und wir waren erst vor zehn Jahren einmal da.
INTERVIEWER/IN: Ihr seid hier geboren, in Deutschland?
Ramesch: Ja.
INTERVIEWER/IN: Also, ihr würdet es gut finden, wenn ihr es können würdet?
Ramesch: Ja.
(Ramesch, Radeelat, Schule C, 29-Ra., 29-Re.) 1.9.95

Die Wortführerin Radeelat spricht im Namen beider. Sie ist sich der Schwierigkeiten bewusst, die es bedeutet eine Sprache zu erlernen. Ihrer Ansicht nach ist es sehr zeitintensiv. Wächst man allerdings mit einer Sprache auf, so muss man sie nicht erlernen, man kann sie dann einfach. Im dem Beispiel mit David bringt Radeelat nun Sprache, Territorium und das Aufwachsen, welches als Vergehen von Zeit gefasst werden kann, in eine Art organischen Zusammenhang. Mit dem Ortswechsel und dem Verschwinden des Vaters löst sich dieser Zusammenhang auf.

Yunus und Uur kennzeichnen ihre Sprechgemeinschaft der Herkunftsvarietät Türkisch als männlich und erwachsen.

Yunus: Ja, so mit älteren Männern wird schon Türkisch gesprochen.
Uur: Bei Bekannten und so Älteren.
Yunus: Weil sie meistens nicht sehr gut Deutsch können.
(Uur, Yunus, Schule C, 27-Uf.), 1.9.95

Auch bei Konrad ist es eher der Vater der auf die Interaktion in der Herkunftsvarietät angewiesen und beschränkt ist, während seine Mutter offensichtlich die Normvarietät Deutsch gut spricht. Überhaupt sind es die Väter, die als Einzige als auf die Herkunftsvarietät begrenzt beschrieben werden und offensichtlich von der Interaktion in der Normvarietät ausgeschlossen sind, oder diese Interaktion zumindest problematisch scheint. So fasst Olivier die Interaktionsstruktur in vielen Familien zusammen.

Mit meinem Vater spreche ich nur Kroatisch, weil der nicht so doll Deutsch spricht. Mit meiner Mutter schon eigentlich fast mehr Deutsch als Kroatisch, weil mir fällt das viel leichter, Deutsch zu sprechen als Kroatisch. Ich bin auch hier geboren. Also, es fällt mir leichter. Mit meinem Bruder spreche ich nur Deutsch, weil der ist auch hier geboren und kann deshalb auch besser Deutsch. Ja, und sonst, worüber redet man? Mit den Eltern vielleicht über Schule oder so. Mit meinem Bruder halt über Musik, Football, er ist auch ein Football-Fan.
(Olivier, Schule C, 24-OK.) 1.9.95

Diese Interaktionsstruktur zwischen den einzelnen Mitgliedern des Hauses möchten wir wiederum graphisch darstellen. Rot meint wieder die Herkunftsvarietät, gelb die Normvarietät und orange makiert das Gemischt-sprechen.

Graph 14:

Die alltägliche Interaktion im Haus findet in der kleinen dargestellten Sprechgemeinschaft statt. Mutter, Jugendliche und Geschwister können als Söhne und Töchter« drei verschiedene Sprechgemeinschaften konstituieren; Deutsch, Türkisch und Gemischt. Der Vater ist auf nur eine Sprache, die Herkunftsvarietät begrenzt. Zur Interaktion mit ihm ist die Kenntnis der Herkunftsvarietät notwendig. Hat der Vater nicht mehr Anteil an der Sprechgemeinschaft, so wird seine Sprache nicht mehr weiter vermittelt. Von umgekehrten Fällen wird im Sample nicht berichtet. Wir haben keinen Jugendlichen und keine Jugendliche angetroffen, der oder die bei ihrem oder seinem Vater aus deutschsprachigem Hintergrund aufwächst, ohne seine anderssprachige Mutter.

Auf der Schwelle von der Herrschaft des Hauses zu der Freiheit der Strasse

Ein weiterer Aspekt in der Konstituierung der Sprechgemeinschaften des Hauses, ist der der Eingebundenheit in die Haushaltsorganisation und der damit verbundenen Pflichten. Diese Pflichten sind im, aber auch ausserhalb des Hauses zu erfüllen. Bei Ayºe und Gülºen ähneln sich diese von den Eltern auferlegten Pflichten.

Wenn ich nach Hause gehe, da muss ich auch schon ein bisschen so aufräumen. Ich hab' auch einen kleinen Bruder. Ich kann auch manchmal raus zu meinen Freunden, zu denen nach Hause oder zum Einkaufen. Mir gefällt es auch nicht, dass ich öfters mal etwas nicht darf, so von meinen Eltern. Die lassen mich schon, ich darf schon weg und so, aber nicht immer.
(Gülºen, Schule A, 12-Gü.) 15.8.95

Gülºen ist in die Haushaltsorganisation eingebunden. Ihr ist es möglich das Haus zu verlassen, wenigsten ab und zu. Erlaubt wird es von ihren Eltern im Zusammenhang mit der Haushaltsorganisation oder aber wenn sie sich unter den Schutz eines anderen, befreundeten Hauses begibt. Ayºe hat es dagegen schwerer.

Ich geh am Morgen zur Schule. Nach der Schule gehe ich nach Hause. Da muss ich eine bisschen aufräumen. Dann, bin ich noch zu Hause, muss aufpassen auf meinen Bruder. Geh ich manchmal vielleicht einkaufen.
(Ayºe, Schule A, 12-Ay.) 15.8.95

Diesen Pflichten im Rahmen der Organisation des Hauses sind nicht nur Mädchen unterworfen, auch Jungen haben ähnliche Aufgaben.

(...) Dann frage ich meine Mutter, ob sie mir was sagen will oder ob ich auf meine kleine Schwester aufpassen soll.
(¡smet, Schule A, 5-Is.) 15.8.95

¡smet scheint aber im Gegensatz zu Gülºen und Ayºe nicht dazu gezwungen zu werden, sondern scheint dies eher als eine Art Verpflichtung anzusehen. Nuretin hat dagegen eine bestimmte Aufgabe zugewiesen bekommen.

Ich muss nur den Müll wegschmeissen.
(Nuretin, Schule B, 9-Ne.) 17.8.95

Während Jungen und Mädchen durchaus ähnliche Aufgaben in der Organisation des Hauses haben können, ist es für die Mädchen schwieriger die Schwelle vom Haus auf die Strasse zu überschreiten. Die Reichweite der Mädchen variiert stark. So schafft es Fikriye nur vor die Tür.

Ich bin nur zu Hause, ich gehe manchmal raus. Ich gehe dann nur vor die Tür, dann gehe ich hoch.
(Fikriye, Schule B, 15-Fi.) 17.8.95

Ayºe, Gülºen und Deshrina haben dagegen Strategien entwickelt ihre Reichweite auszudehnen.

Ayºe: Wir haben als Gruppe alle drei das gleiche Problem: Dass wir nicht öfter raus dürfen; dass wir meistens nach der Schule, wir wissen, was wir zu tun haben, wir können aufräumen und zu Hause bleiben. Wenn wir irgenwann mal alle drei zusammen raus gehen wollen, dann ist es so, dass wir unbedingt eine machen. So sind unsere Herstände.
Gülºen: Oder wir sagen: "Ja, wir treffen uns und gehen einkaufen." Wenn wir sagen, "wir drei treffen uns vor dem Einkaufen", da haben sie nichts dagegen. Also so alleine erlauben sie nicht. Deswegen gehen wir auch nur drei.
Deshrina: Wenn wir nicht lügen wollen.
Interviewer/in: Hm?
Deshrina: Wir drei haben immer das gleiche Problem. Wenn wir nach Hause gehen, müssen wir aufräumen und dann essen. Und wenn ich nicht darf, versteht sie es auch, und ich versteh das auch.
(Ayºe, Gülºen, Deshrina, Schule A, 12-Ay., 12-Gü., 12-Da.) 15.8.95

Offensichtlich gelingt es ihnen durch solidarisches Handeln die Reichweite zumindest zeitlich auszudehnen, indem sie den Aufenthalt auf der Strasse mit häuslichen Pflichten kombinieren. Ayºe kennzeichnet ihr Verhältnis zum Haus als Herrschaftsverhältnis. Sie kann dort nicht selbst bestimmen.

Nicht so gut ist, ich kann nicht selber bestimmen, was ich machen will. Das ist nicht gut. Gut ist, dass ich es manchmal trotzdem schaffe, mich selbständig zu machen.
(Ayºe, Schule A, 12-Ay.) 15.8.95

Ihr gelingt es sich aus diesem Abhängigkeitsverhältnis punktuell zu befreien. Der negativen Fremdbestimmung durch die häusliche Struktur stellt sie die positive Selbstbestimmung entgegen.

181 Lefebvre, Henri (1990): 25

182 Ebd.: 25

183 Kauderwelsch: 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, als Familienname bereits in Köln Mitte 13. Jahrhundert. Unter dem Einfluss von kaudern undeutlich reden entstellt aus Kaurerwelsch (unverständliche) Mundart von Kauer, tirolerisch = Chur im Rheintal; eigentlich = Churromanisch.
à rotwelsch, à welsch.
Mackensen, Ursprung der Wörter. (205)

Kauderwelsch: unverständliche, verworrene Form der Sprache; ursprüngliche Bezeichnung für die rätoromanische ("welsche") Sprache im Gebiet von Chur (mundartlich "Kauer")
Bibliographische Gesellschaft: Neues Hauslexikon (1011)

184 rotwelsch (gaunersprachlich): Adjektiv um 1300. Zusammensetzung aus rotwelsch rot Bettler, untreu und à welsch unverständliche (romanische) Sprache; à Kauderwelsch.

Mackensen, Ursprung der Wörter: (319)

185 Den Begriff der "Plombe", den ich von »Morgenthaler, Fritz: Homosexualität, Heterosexualität, Perversion« entlehnte, werde ich in Kapitel 9 wieder aufgreifen.

186 Hier folge ich einer Konstruktion von "Idealtypen", wie sie auch Max Weber benützte. Im Kapitel 9 habe ich die Problematik dieser "Idealtypenkonstruktion" erörtert und ihre heuristische Funktion, die ihnen als vorläufige Konstrukte zukommt, für diese Arbeit herausgearbeit.

187 Hartig, Matthias & Ursula Kurz: Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik. (1971:184)