4.2. Topologien urbaner Sprachen

Lebensweltliche Produktionen der Mehrweltler

Personales Sprechen und soziale Sprache

Das Problem der Ausdrucksfähigkeit

Mehrweltler und "Code-switching"

Interne Verständigung und "Geheimsprache"

Die Herrschaft der Einweltler über die Mehrwelter

Die Lingua franca der Mehrweltler

Die Umarbeitung der Einweltler zu Mehrweltlern

Lebensweltliche Produktionen der Mehrweltler

Nachdem wir uns im ersten Teil dieses Kapitels mit den sozialen Beziehungen im Haus, auf der Strasse und in Institutionen vertraut gemacht haben, wollen wir uns nun den sprachlichen Beziehungen innerhalb und zwischen den Sprechgemeinschaften gezielter zuwenden. Wir folgen damit dem schon erwähnten Vorschlag von Henri Lefèbvre die Verstädterung anhand von (sozio)linguistischen Methoden zu betrachten. Im Zentrum steht hier die Strasse im Sinne einer privilegierten Öffentlichkeit in der durch Sprechakte Sprechgemeinschaften hergestellt werden. Mit Lefèbvre betonen auch wir die Wichtigkeit der Strasse, die das Haus mit den Institutionen verbindet. Sie ist aber nicht nur Durchgangs- und Verkehrsplatz, sondern der Schmelztiegel, der das Stadtleben erst schafft.

Auf der Strasse und durch sie manifestiert sich eine Gruppe (die Stadt selber), bringt sich zum Ausdruck, macht sich die Örtlichkeit zu eigen, setzt sich eine Raum-Zeit-Beziehung in die Wirklichkeit um.237

Die Strasse dient der Information, ist Symbol, wie im HipHop deutlich wurde und ist der Ort des Spiels und des Lernens. Sie ist, und da unterscheidet sie sich vom Haus und der Institution, der Ort der Unordnung, die aber, so Lefèbvre, notwendig ist um höhere Ordnung zu schaffen. Sie ist der Ort an dem sich Gruppen und damit Sprechgemeinschaften, die Grundlage jeder sprachlichen Interaktion, bilden. Die belebte und flutende Strasse ist sicher, wo Strasse verschwindet, nimmt Kriminalität zu238. Die Strasse ist der Ort des Wortes, des Zeichens und des Austausches von Dingen. Dort zeigt sich die vielsprachige Lebenswelt, nicht abgespalten und als blosse Unterschiede lokaler, regionaler, nationaler, ethnischer und sprachlicher Art239. Folgen wir nun der Analogie von Lefèbvre, der "Gesprochenes" mit "Durchlaufenem" und "Sprache" mit "Behausung" vergleicht und darauf verweist, dass der Gebrauch der Sprache, das Gesprochene den äusseren Schein der Sprache als vollendetes System, zerstört240.

Personales Sprechen und soziale Sprache

Nehmen wir diesen Hinweis von Henri Lefèbvre auf und versuchen zu verstehen, welche Bedeutungen "Sprache" in den Aussagen der Jugendlichen hat. Dazu wollen wir Ludwig Wittgenstein bemühen, der in seinem »Tractatus logico-philosophicus« folgenden Satz schreibt.

Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.241

Cihat, ein 15-jähriger Junge aus Altona hält folgendes dagegen.

Ich würde eine Sprache lernen, weil eine Sprache bedeutet ein Mensch, einen verschiedenen Menschen. Da kann man überall hingehen, und dann versteht man alles.
(Cihat, m, 1981, türkisch, Schule A, 6-Ci.), 15.8.1996

Während Wittgenstein die Grenzen seiner Sprache mit den Grenzen seiner Welt zusammenfallen lässt, überschreitet Cihat diese Vorstellung der Begrenztheit von Welt und Sprache. Seine Vorstellung ist prinzipiell unbegrenzt. Zwar ist auch bei ihm die Einheit von Welt und Sprache in einem Menschen verortet, aber dieser Mensch kann sich vervielfältigen, in dem er andere Sprachen erlernt. Cihat umschreibt in seinen Worten ein türkisches Sprichwort

Her dil bir insandir - Jede Sprache/Zunge ist ein Mensch.
Dieses Sprichwort begegnete mir, während meines Studienaufenthaltes in der Türkei des öfteren. Immer wenn meine türkischen, englischen, französischen und deutschen Sprachkenntnisse zum Thema wurden, gab es Menschen, die dieses Sprichwort zum besten gaben.
(Erfahrungsbericht des Autors)

Jede Sprache, die jemand spricht, steht für eine Einheit als Menschen. Je mehr Sprachen man also selbst spricht, desto grösser wird das Repertoire an "Menschen", die jemand verkörpert und so grösser auch die Reichweite der eigenen Welt und des eigenen Verstehens. Denkt man diesen Gedanken weiter, so ist eine universelle Kommunikation über das Erlernen aller existierenden Sprachen möglich. Dem gegenüber steht dann die Begrenztheit der Zeit, die einem in einem menschlichen Leben bleibt um all diese Sprachen zu erlernen. So sind wir letztlich wieder bei den von Wittgenstein gesetzten Grenzen. So kann man den Unterschied zwischen Cihat und Wittgenstein am Begriff der Zeit festmachen, von dem Cihat mit seinen 15 Jahren im Gegensatz zum alten Wittgenstein, noch keine Vorstellung entwickelt hat. Doch dazu später.

Wir haben es hier auch mit zwei unterschiedlichen Vorstellungen von Sprache zu tun. Einer abstrakten Vorstellung von Sprache und einer konkreten Erfahrung von vielfältigen Sprachen in den Lebenswelten der Jugendlichen. Dieses Verhältnis von abstrakter Sprache und konkreten Sprachen wollen wir im Folgenden besser verstehen. Dazu wenden wir uns wieder den Aussagen der Jugendlichen zu. Zunächst den Aussagen über Sprache als abstrakte Gegebenheit und dann den konkreten Erfahrungen mit den vielfältigen Sprachen innerhalb unserer untersuchten Lebenswelt.

Uur kennzeichnet Sprache als individuelle Eigenschaft eines jeden Menschen.

Jeder hat seine eigene Sprache, man sollte jede Sprache tolerieren, nicht irgendwelche Witze darüber erzählen.
INTERVIEWER/IN: Machen die Leute Witze über Sprache?
Das ist schon oft so.
(Uur, Schule C, 27-Uf.) 1.9.95

Er fordert Toleranz gegenüber jeder Sprache ein. Es ist die Eigenschaft eines jeden Menschen eine eigene Sprache zu besitzen. Das es eine Vielzahl von Menschen gibt, gibt es auch eine Fülle von Sprachen. Die Wahl der Sprache fällt für Julia in die Entscheidungsfreiheit jedes einzelnen Menschen.

Nein, jeder soll doch selber wissen, welche Sprache er reden will, und wie er sich verhalten soll.
(Julia, Schule A, 13-Ja.) 15.8.95

Für sie scheint es selbstverständlich, dass es solch eine Wahlmöglichkeit gibt. Darin zeigt sich die Grundstruktur der Vielsprachigkeit schon enthalten. Sie verweist aber noch auf einen weiteren Zusammenhang, nämlich dem zwischen "reden wollen" und "verhalten sollen". Die individuelle Fähigkeit einer einzelnen Person, so zu sprechen, wie und in welcher Sprache sie will wollen wir in Anlehnung an Erving Goffman als »personales Sprechen« fassen. Die normative Seite der Sprache, also das was Jutta mit dem "verhalten sollen" bezeichnet und auf einen gesellschaftlichen, ausserhalb des Individuums liegenden Aspekt verweist, wollen wir als »soziale Sprache« fassen. So lässt sich die Vorstellung von Cihat, die wir auch bei Ayºe wiederfinden, besser verstehen.

Also ich wusste schon, dass wir Sprachen vielleicht alle Sprache lernen können, so dass wir uns überall verständigen können.
(Ayºe, Schule A, 12-Ay.) 15.8.95

Da es eine bestimmte Anzahl sozialer Sprachen gibt, liegt es nahe, diese sich als personales Sprechen anzueignen, um über die Identität von personalem Sprechen und sozialer Sprache, die eigene Begrenztheit zu überwinden, um sozusagen im Sinne einer Weltsprache sich überall zu verständigen.

Karen gibt uns ganz pragmatische Tips wie das Erlernen des personalen Sprechens vonstatten gehen könnte.

Ich glaube, dass man das innerhalb von einem Jahr auch lernt. Wenn man in das Land geht, ich glaube, wenn man wirklich eine Sprache lernen will, dann kann man jede Sprache lernen.
(Karen, Schule C, 22-Kr.) 1.9.95

Für sie sind soziale Sprachen mit einem Territorium verbunden. Alleine die Tatsache, an einem anderen Ort zu leben, führt für sie zum Erwerb der personalen Sprache. Uur gibt jedoch zu bedenken, dass es durchaus ein langwieriges Unterfangen sein kann, eine Sprache zu erlernen.

Naja, ich würde, ich kann jetzt, ich nehme jetzt Latein an der Schule, Französisch würde mich interessieren. Aber an so was glaube ich nicht, dass man das über Nacht (...lernt).
(Uur, Schule C, 27-Uf.) 1.9.95

Auch Cihat lehnt die Vorstellung ab, dass man eine Sprache problemlos und schnell lernen könnte.

INTERVIEWER/IN: (...) Stellt euch mal vor, es gäbe eine Methode, wo man über Nacht eine Sprache lernen kann. Man setzt sich einen Walkman auf, schläft damit ein und am nächsten Morgen kann man die Sprache perfekt sprechen und verstehen. Welche Sprache würdet ihr lernen?
Cihat: Gibt es nicht.
(Cihat, m, 1981, türkisch, Schule A, 6-Ci.) 15.8.96

Für ihn ist es nicht nur das Erlernen einer Sprache ein länger andauernder Prozess, sondern er gibt noch anderers zu bedenken.

Zur Sprache gehört ja auch Kultur. Das muss man ja auch wissen, wenn man die Sprache beherrscht.
INTERVIEWER/IN: Was heisst das? Man kann die Sprache nicht nur sprechen ...
Kann man auch, aber man kann da nicht immer leben. Vielleicht entschliesst man sich ja, dort zu leben. Also, wenn man nicht die Kultur kennt, dann kann man da auch nicht leben.
(Cihat, m, 1981, türkisch, Schule A, 6-Ci.) 15.8.96

Für Cihat ist die Sprache nicht nur eine einfache Herstellung einer Identität zwischen personalem Sprechen und sozialer Sprache, sondern eine komplexere Beziehung. Die soziale Sprache ist ein Gruppenphänomen und erfordert mehr als das Erlernen einer personalen Sprechweise in der Art einer Fremdsprache. Will man "dort", an diesem anderen Ort leben, so betritt man eine andere Welt, deren Kultur man kennen muss um diese Sprache "richtig" zu sprechen. Die Beziehung des personalen Sprechens und der sozialen Sprache beinhaltet also mehr als nur die einfache Kenntnis der Sprache an sich, sondern man braucht auch Kenntnisse der Welt in der sie existiert. Cihat nennt diese Kenntnis "Kultur". Er thematisiert hier das Problem, welches sich dem Fremden stellt,

der heute kommt und morgen bleibt.242

Um hier Identität zwischen personalem Sprechen und sozialer Sprache herzustellen, bedarf es mehr als nur das individuelle Erlernen der Sprache.

Diesem Fremden stehen der Fremde, der kommt und wieder geht gegenüber. Diese moderne Figur kennen wir als Touristen. Karen und Debby berichten über Touristen aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Karen thematisiert die Perspektive der "Eingeborenen", die mit Touristen konfrontiert sind.

Ich weiss nicht, vielleicht hätte ich ja mal Lust; man kann nie genügend Sprachen sprechen. Auch wenn die Leute eben hierher kommen, es gibt ja auch viele Touristen, dann könnte man sich auch mit denen unterhalten. Das finde ich gut.
(Karen, Schule C, 22-Kr.) 1.9.95

Sie kennzeichnet die Touristen als diejenigen, die eine andere Sprache sprechen. Es ergibt sich also für die Touristen eine Differenz zwischen ihrem personalen Sprechen und der sozialen Sprache ihrer Umgebung. Karen lösst das Verständigungsproblem, welches sich durch diese Differenz ergibt, durch das Erlernen der entsprechenden Sprache, durch die Erweiterung ihrer personalen Sprechfähigkeit, also durch Anpassung an die Touristen. Debby thematisiert die umgekehrte Perspektive.

INTERVIEWER/IN: Was kann man mit den Sprachen machen? Für was sind die gut?
Vielleicht wenn man da in Urlaub fährt, dass man sich da mit der Sprache verständigen könnte.
(Debby, Schule C, 26-De.) 1.9.95

Hier existiert die gleiche Differenz zwischen dem personalen Sprechen und der sozialen Sprache. Es ist diesmal der Tourist, der seine personale Sprechfähigkeit an die soziale Sprache der Umgebung, das auf fremdem Territorium liegt, anpasst und so das Verständigungsproblem löst.

Wir werden nun eine erste Schicht der Bedeutung von Sprache abpellen. Die Jugendlichen thematisieren das Verhältnis zwischen dem individuellen Sprechen (personales Sprechen) und einer kollektiven Sprachgemeinschaft (soziale Sprache). Diese ist sowohl Sprech- wie auch Schriftgemeinschaft. Diese Trennung zwischen dem Sprechen (parole) und der Sprache (langue) geht auf De Saussure zurück, einen der Begründer der modernen Sprachwissenschaften243. Auch die Vorstellung einer Identität von Sprache und Kultur lässt sich in der Formulierung von

One culture, one language244,

als eine sprachwissenschaftliche Grundannahme wiederfinden, wie auch im Alltagsbewusstsein der Jugendlichen. Der Ethnolinguist Edward Sapir sah Kultur (culture) als ein symbolisches Zwischenspiel (interplay) zwischen Individuen und Gesellschaft. Wir haben Kultur als Beziehung zwischen personalem Sprechen und sozialer Sprache versucht analog zu fassen. Im Sinne von Lefèbvre ist diese Unterscheidung informierend und informiert über das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft. Sie verleiht Form. Eine Trennung, welches dieses Beziehungsgefüge unterbricht und die Welt des Sprechens von der Welt der Sprache absondert zerschlägt die konkrete Totalität des Sprechens und der Sprache. Dies führt, so Lefèbvre, zum Formlosen, denn die zugrundeliegende Ordnung ist nur eine scheinbare245. Trennend verfährt eine Vorstellung, die Sprache als ein geschlossenes System, als geschlossene Grammatik, sieht und jede Erklärung durch nicht linguistische Faktoren verwirft. Untersuchungen der linguistischen Anthropologie zeigen, dass sich diese Geschlossenheit nicht nachweisen lässt.

Unfortunatly, or luckily, no language is tyrannically consistent. All grammars leak.246

Die gängige Sichtweise einer "Muttersprache", diese nur als soziale Sprache wahrzunehmen, macht das Haus zu einem Ort, an dem die deterministisch und geschlossen gedachte Sprache vermittelt wird. Sie sondert die personale Sprechweise von der sozialen Sprache ab. Die Interaktionsordnung wie sie im ersten Abschnitt für das Haus herausgearbeitet wurde, widerspricht dieser Auffassung.

Das Problem der Ausdrucksfähigkeit

Nun lässt sich natürlich nicht leugnen, dass es Problem in der Interaktion zwischen und mit den Jugendlichen gibt. Auch Schwierigkeiten mit dem was landläufig als "richtiges" Deutsch gehandelt wird, sind nicht zu übersehen und werden auch so von Jugendlichen benannt. Doch liegen sie tatsächliche in einer Art mangelhaften Anpassung des personalen Sprechens an die soziale Sprache der deutschen Umwelt? Wir wollen diese expressiven Schwierigkeiten nun genauer betrachten. Die befragten Jugendlichen sind der Meinung, dass sie mit "der Sprache" eigentlich kaum Probleme haben.

Bei mir spielt die Sprache gar keine Rolle. Weil ich das gut kann.
(Andreas, Schule A, 2-A.) 15.8.95

Debby spezifiziert "die Sprache". Es ist das Deutsche wichtig was für ihn wichtig ist.

Und sonst so, also Sprachen spielen bei mir eigentlich, nur Deutsch eine Rolle.
(Debby, Schule C, 26-De.) 1.9.95

Auch Erdem sieht keine Probleme mit dem Deutschen

Bei mir ist das kein Problem mit diesem Deutschen, deutsche Sprache.
(Erdem, Schule A, 2-E.) 15.8.95

Deutsch, als allgemein vorherrschende Sprache, wir haben sie Normsprache genannt, kennzeichnen die Jugendlichen als problemlos in ihrem Alltag. Dies steht im Gegensatz zu den Schwierigkeiten, die manche ihrer Eltern mit dem Deutschen haben. Das Deutsche ist eine unproblematisierte Normalität, ein Art Hintergrund, der kaum mehr zu Bewusstsein kommt. Dagegen kennzeichnen Gülºen und Nadja den Umgang mit ihrer Herkunftsvarietät, dem Türkischen, als schwierig.

Ich würde sagen, dass ich mit ihr öfters Deutsch rede, weil ich auf türkisch keine Sätze bilden kann. Weil das schwer ist.
(Gülºen, Schule A, 12-Gü.) 15.8.95

So ergibt sich ein verkehrtes Bild zwischen Eltern und Kindern. Für die Eltern besteht eine Differenz zwischen dem personalen Sprechen und der sozialen Sprache, nämlich der Normvarietät Deutsch. Für die Kinder besteht diese Differenz nicht. Dafür ergibt sich für sie die Schwierigkeit ihr personales Sprechen des Türkischen mit der sozialen Sprache ihrer Eltern in Übereinstimmung zu bringen. Ihnen fehlen die Kenntnisse der Struktur der sozialen Sprache, die eine Vermittlung zwischen personalem Sprechen und sozialer Sprache erst möglich macht. Anders ausgedrückt: Gülºen fehlt das Wissen um die grammatische Struktur ihrer Herkunftsvarietät. Von ähnlichem berichtet Nena. Sie findet es schwierig von der Normvarietät Deutsch in ihre Herkunftsvarietät Russisch zu übersetzen.

Ja, manchmal schon, aber ist das auf deutsch besser als auf russisch. Zum Beispiel wenn ich meiner Freundin etwas auf russisch übersetze, dann ist das nicht immer richtig, dann kuckt sie so, als ob sie etwas von mir will. {lacht}
(Nena, Schule A, 14-Nat.) 15.8.95

Auch bei Recep klappt es nicht so richtig mit dem Türkisch.

Recep: (Türkisch) Hauptsächlich schwer, weil ich das ja gerne gelernt hätte, aber weil es schwer ist, kann ich das nicht lernen. Das war´s.
(Recep, Schule A, 4-Ri.) 15.8.95

Er erklärt uns genauer mit welchen Schwierigkeit er zu kämpfen hat.

Türkisch hätte ich dann auch gerne gelernt,weil es gibt in der Türkei zwei Farben, zum Beispiel war ich dieses Jahr allein in der Türkei, da haben wir was gespielt, da wusste ich nur grün, weiss, blau - das kann ich. Das kann ich. Dann sagen sie auf einmal orange, aber mit einem ganz langen Wort, das kann ich ja nicht wissen. Da muss man die Farbe wissen. Darum will ich immer Türkisch in der Türkei sprechen. Dann kann man auch mehr Sachen, kannst du Türkisch fliessend sprechen.
(Recep, Schule A, 4-Ri.) 15.8.95

Sein personales Sprechen des Türkischen reicht offensichtlich um sich notdürftig verständlich zu machen. Um aber an einer Interaktion in der sozialen Sprache des Türkischen teilzunehmen, fehlt es ihm an Ausdrucksfähigkeit, an Expressivität im Türkischen. Die Vermittlung zwischen dem personalen Sprechen und der sozialen Sprache scheint gestört. Das dies nicht nur eine Problematik in der Herkunftsvarietät ist, sondern auch eines der Normvarietät berichtet Remzi aus einem farsisprechenden Familie.

Remzi: Ich versuch, mit der Sprache das auszudrücken, was man sprechen möchte, also, was man sagen möchte, was man übertragen möchte, das, was man fühlt oder, nicht jetzt fühlt, aber das, was man zum Ausdruck bringen will. Das eben über zu setzen, zu übertragen auf die Sprache. Das funktioniert manchmal nicht, und das ärgert mich dann. Vor allen Dingen im Deutschen.
INTERVIEWER/IN: Das im Deutschen?
Remzi: Ja, wenn ich mich da nicht durchsetz, wenn ich das nicht zum Ausdruck bringen kann, also durch die Sprache.
INTERVIEWER/IN: Was sind das für Situationen? Kannst du Beispiele nennen? Wo das eine Rolle spielt?
Remzi: Ja, zum Beispiel in Fächern wie Geschichte, wo ich die Antwort weiss, oder Mathematik. Das ist in allen Fächern so. Das ist nicht nur dadurch so, dass ich Ausländer bin, sondern das ist auch bei vielen Deutschen so; dass sie einfach die Sprache nicht so gut beherrschen und sich dann dementsprechend nicht so gut ausdrücken können. Das wollte ich, ich habe geplant, ich habe mir vorgenommen, das zu verbessern.
INTERVIEWER/IN: Also das ist nicht unbedingt ein Problem, dass du nicht so gut Deutsch kannst?
Remzi: Nein.
INTERVIEWER/IN: Man kann das nicht richtig ausdrücken?
Remzi: Ja.
(Remzi, Schule C, 23-Rz.) 1.9.95

In beiden Fällen scheint das personale Sprechen keine Möglichkeit zu finden sich in der sozialen Sprache auszudrücken. Trennt man nun beide Seiten des Zusammenhangs zwischen dem personalen Sprechen und der sozialen Sprache so kommt man zu folgenden, unserer Meinung nach falschen, Anschauungen: Auf der Seite des Sprechens wird dies zum Defizit und individuelle Fördermassnahmen sind zu ergreifen um das personale Sprechen an die soziale Sprache anzugleichen. Diese "Defizithypothese" dürfte die weitverbreiteste sein. Wir haben sie am deutlichsten in der Schule C herausgearbeitet. Wird die Seite der sozialen Sprache verabsolutiert, so wird das Sprechen dieser Sprache äusserlich. Sie kennt keine adäquate Art und Weise, um Erfahrungen, die durch das personale Sprechen artikuliert werden, in soziale Sprache zu giessen. Die Verdinglichung als Diskurs einseits und die Idealisierung als "natürliches" Sprechen andererseits sind die Folge. Da Schwierigkeiten mit der Ausdrucksfähigkeit in der Herkunfsvarietät ebenso wie in der Normvarietät auftreten, scheinen beide soziale Sprachen die lebensweltlichen Erfahrung nicht mehr fassen zu können, da sie verdinglicht erscheinen.

Mehrweltler und "Code-switching"

Beobachtet man nun die Sprachpraxis der Jugendliche, so lösen sie dieses Problem der Ausdrucksfähigkeit, in dem sie eine neue Beziehung zwischen ihrem personalen Sprechen und der sozialen Sprache herstellen und dabei beide an ihre Lebenswelt anpassen. Nehmen wir das personale Gemisch-Sprechen, als die uns schon aus dem Haus bekannte Praxis, so würde diese Gemisch-Sprechen jeglicher sozialen Relevanz entbehren und als individueller Defekt begriffen, wäre da nicht eine grössere Gruppe, die eben eine soziale Sprache entwickelt hätte, in der genau die Beziehung zwischen dem Personalen und dem Sozialen herstellen würde. Dieses Zwischenspiel finden wir unter den Gleichaltrigen, unter den Peers. Der Wechsel zwischen verschiedenen Sprachen wird in der Linguistik als »Code-Switching247« bezeichnet. Als Normvarietät haben wir die soziale Sprache bezeichnet, welche in einem gegebenen Ensemble von mehreren Sprachen unhinterfragt als diejenige erscheint, in der selbstverständlicherweise sprachlich interagiert wird. Sie funktioniert als eine Art sprachlicher Hintergrund. Das Code-Switching bietet nun die Möglichkeit sich von diesem Hintergrund abzuheben oder an diesen sich anzupassen. Somit bekommt das Code-Switching, der spielerische Wechsel zwischen Hintergrundsprache und der Sprache, welche in den Vordergrund gestellt wird, eine sozial gestaltende Kraft. Alleine durch die Auswahl einer Sprache während eines Sprechaktes können Jugendliche diejenigen eingrenzen, welche die entsprechende Sprache verstehen und konstituieren damit eine eigene Sprechgemeinschaft und grenzen gleichzeitig diejenigen aus dieser Sprechgemeinschaft aus, die diese Sprache nicht beherrschen.

Die Situationen in denen diese Strategie des Code-Switching angewendet wird sind vielfältig.

Ja, also ich und Parlo sprechen Englisch, damit andere uns nicht verstehen, weil es gibt ja nicht {hustet}. Zum Beispiel bei mir in der Familie. Da nerven mich öfters meine Geschwister. Wenn wir dann sprechen, dann machen wir das auf englisch, um dafür zu sorgen, dass sie das nicht verstehen.
(Oskar, Schule C, 26-OR.) 1.9.95

Oskar gebraucht das Englische in der sprachlichen Interaktion mit seinem Freund Parlo. Er schliesst seine Geschwistern aus der Kommunikation mit Parlo aus. Oskar wird sich später selbst über seinen Ausschluss durch zwei Mitschüler, die Türkisch sprechen, beschweren. Diese Art der »Geheimsprache« nutzt die Vordergrund-Hintergrund-Differenz der Sprachen um Wissen innerhalb der Sprechgemeinschaft zu zirkulieren und anderen, ausserhalb der Sprechgemeinschaft, dieses Wissen vorzuenthalten. Dies funktioniert allerdings nur dann, wenn es gelingt eine entsprechende Sprechgemeinschaft zu konstituieren, also zumindest einen Partner oder Partnerin findet, die auch in der Lage ist, solch ein Verhältnis von personalem Sprechen und sozialer Sprache herzustellen. Diese Person muss wissen, nach welchen Regeln dieser Art der sprachlichen Interaktion funktioniert Olivier berichten, dass seine Herkunftsvarietät Kroatisch manchmal diese Funktion bekommt.

Also, vielleicht mit Geza, Dragana ist auch Kroatin. Mit der spreche ich eigentlich ganz selten. Wenn man etwas geheimhalten will oder so, aber sonst?
INTERVIEWER/IN: Dann würdet ihr auf kroatisch reden?
Ja. Versteht ja keiner. Sonst unterhalte ich mich mit ziemlich allen auf deutsch.
(Olivier, Schule C, 24-OK.) 1.9.95

Auch Konstantin nutzt diese Differenz um "Geheimes" mitzuteilen.

Sonst, hier mit Bekanntschaften, da ist eigentlich nur Daria, die spricht Polnisch. Mit der spreche ich dann ein paar Wörter, halt wenn man was geheimhalten will. {lacht}
(Konstantin, Schule C, 24-Kn.) 1.9.95

Da die Herstellung von Sprechgemeinschaften des Polnischen oder des Kroatischen, aufgrund der geringen Zahl der Sprecher in der vorliegenden Untersuchung, schwierig ist, ist diese Form der Kommunikation für beide schwierig. Ihnen fehlen die geeigneten Kommunikationspartner, die in der Lage sind solche ein Verhältnis von personalem Sprechen und sozialer Sprache herzustellen. Diese Spiel mit der Vordergrund-Hintergrund-Differenz ermöglicht je nach sozialer Situation verschiedenen Varietäten in solch einer Art und Weise zu benutzen, wie uns Kadriye berichtet.

INTERVIEWER/IN: Benutzt du Türkisch als Geheimsprache?
Nee. Doch! Wenn ich will, dass die Deutschen nicht verstehen, dann ja. Aber wenn ich zum Beispiel mit einer Türkin da bin, und wenn ich Türkisch rede, versteht sie das, dann mach ich zum Beispiel: Ich hab eine Freundin, eine Italienerin, damit die Türkinnen das nicht verstehen, mach ich irgendwie auf, irgendwie auf Italienisch. Weil ich das nicht so gut kann, einer kann Deutsch und einer Italienisch, aber wir verstehen uns.
INTERVIEWER/IN: Und die anderen verstehen dann nicht?
Nee. {lacht}
(Kadriye, Schule A, 10-Ka.) 15.8.95

Hier ist es das Türkische, welches als Hintergrund dient, von dem sich Kadriye mit dem improvisierten "irgendwie Italienisch" absetzt. Eine ähnliche Funktion scheint das Kurdische für Suzan zu haben.

INTERVIEWER/IN: Wann redest du Kurdisch?
Wenn ich etwas Geheimes habe, wenn ich etwas sagen will, was nicht jeder hören soll.
(Suzan, Schule C, 30-Si.) 1.9.95

Dieselbe Strategie würde auch Susanne gerne wählen. Sie würde gerne Türkisch sprechen, um sich von ihren deutschen Freunden abzugrenzen. Bei ihr wird sich später noch herausstellen, dass sie durchaus rezeptive Kenntnisse des Türkischen besitzt, also passiver Teil einer Sprechgemeinschaft sein kann, ihr aber die expressiven Kenntnisse fehlen um aktiv an der Herstellung einer Sprechgemeinschaft des Türkischen mitzuwirken.

Türkisch, da kann ich mich mit meinen ganzen Freunden unterhalten. Zum Beispiel Geheimnisse, damit meine deutschen Freunde das nicht verstehen. Da wäre das eigentlich ganz schön.
(Susanne, Schule B, 18-Sa.) 17.8.95

Andreas dagegen wählt die Normvarietät des Deutschen, um sich mit seinem Cousin etwas mitzuteilen. Vor dem Hintergrund der albanischen Herkunftsvarietät seiner Familie, hebt sich das Deutsche davon ab.

Vielleicht mit meinem Cousin, wenn ich mit ihm Deutsch rede; wenn was Geheimes ist.
INTERVIEWER/IN: Da redet ihr auf deutsch?
Ja.
(Andreas, Schule A, 2-A.) 15.8.95

Kadriye benützt nicht nur das oben geschilderte "irgendwie Italienisch" zur Abgrenzung von der türkischen Sprechgemeinschaft ihrer Freundinnen, sondern auch das "Deutsch-Türkische" um sich, in von ihr als schwierig empfundenen Situation, die Möglichkeit zu schaffen etwas zu kommunizieren, was vor Bekannten verborgen bleiben soll.

Draussen auch das Deutsch. Deutsch - Türkisch, weil, nur wenn wir in Schwierigkeiten stecken, reden wir andere Sprachen, weil das unsere Bekannten nicht verstehen.
INTERVIEWER/IN: So eine Art Geheimsprache?
Ja, Geheimsprache.
(Kadriye, Schule A, 10-Ka.) 15.8.95

Wir haben herausgearbeitet, wie die sprachliche Vordergrund-Hintergrund-Differenz die sprachliche Vielfalt der Lebenswelten nutzt um Ein- und Ausschlüsse zu produzieren. Dies ist nicht nur die Strategie einer Minderheit zum Schutz vor der Mehrheit, sondern wird von vielen die mehrsprachig sind angewendet. Wie wir gesehen haben funktioniert diese Strategie auch mit erworbenen Fremdsprachenkenntnissen (z.B. Englisch) oder mit selbst kreierten Sprachen« ("irgendwie Italienisch). Kommen wir zurück zu der Beziehung des personalen Sprechens und der sozialen Sprache. Im folgenden nennen wir diejenigen Personen, die in der Lage sind aufgrund ihres personalen Sprechens eine Beziehung zu mehreren sozialen Sprachen herzustellen, »Mehrweltlern248«. Diejenigen Personen, die nur zu einer sozialen Sprache eine Beziehung herstellen können, nennen wir »Einweltlern«. Mehrweltler haben im Gegensatz zu Einweltlern die Möglichkeit, die Vordergrund-Hintergrund-Differenzen in den vielsprachigen Lebenswelten sozial gestalterisch zu nutzen.

Interne Verständigung und "Geheimsprache"

Die erweiterten gestalterischen Möglichkeiten der Mehrwelter im Umgang mit der sprachlichen Vordergrund-Hintergrund-Differenz haben Rückwirkungen auf die Einweltler.

Oskar: Ja, so zum Beispiel, um mal ein Beispiel zu sagen, Uur, das ist einer aus unserer Klasse. Der liebt das also permanent, wenn ihm irgendwas nicht passt, mit einem anderen Türken nur Türkisch zu reden; dass wir das auch ja nicht verstehen.
INTERVIEWER/IN: In der Klasse drin jetzt?
Debby: Ja.
Oskar: Ja. Und dann macht er es auch gerne, dass er Schimpfwörter sagt und so was.
INTERVIEWER/IN: Hm.
Oskar: Glaube ich zumindest, dass er das macht, weil ich kann das ja nicht verstehen.
INTERVIEWER/IN: Wie wirkt das auf euch?
Debby: Ja, irgendwie ist das ein bisschen komisch. Ich meine, die können beide fliessend Deutsch und, das ist irgendwie so nach dem Motto: Die sollen das ja nicht wissen. Ich meine, wenn ich mit Oskar etwas reden würde, dann würde ich auch Deutsch reden, ich könnte vielleicht Englisch reden, nur das können die anderen dann halt auch verstehen.
INTERVIEWER/IN: Also, ihr habt das Gefühl, da wird etwas verheimlicht?
Oskar: Ja.
Debby: Ja. Ich schätze mal, sie sprechen, er spricht auch Türkisch, um, dass wir das nicht erfahren.
(Oskar, Debby, Schule C, 26-OR., 26-De.) 1.9.95

Ich erinnere an Oskar. Er sprach mit seinem Freund Parlo Englisch um seine Geschwister von der Kommunikation mit ihm auszuschliessen. Hier schliessen nun Oskar und Debby aus der Tatsache, dass Uur gelegentlich auch Teil türkischer Sprechgemeinschaften ist, er also mit "Türken" Türkisch redet, auf eine verborgene Absicht. Sie sind der Meinung, dass "wir" nicht verstehen sollen was "sie" reden. Es kommt als verschärfender Tatbestand hinzu, dass er "fliessend Deutsch" spricht. Dies beweist für sie den Geheimnischarakter, der dem Akt des Sprachwechsels zugrundeliegt. Die Projektion des eigenen Verhaltens auf ihren Mitschüler wird hier deutlich. Sylvia und Sanna sehen dies ähnlich.

INTERVIEWER/IN: Dann sprechen die ab und zu Türkisch untereinander?
Sylvia: Ja, der Uur auch mit Leuten aus der neunten Klasse.
Sanna: Das fällt aber nicht auf.
Sylvia: Nein.
Sanna: Wenn sie es machen, dann echt nur, wenn sie ganz alleine sind.
INTERVIEWER/IN: Warum, glaubt ihr, dass sie es nur dann machen, wenn sie ganz alleine sind?
Sanna: Das kommt mir so vor.
Sylvia: Ja, also das würde mir ein bisschen blöde vorkommen / ich weiss nicht, ob das blöde vorkommt, aber die können ja nun perfekt / also die können ja gut Deutsch, warum sollen sie dann in einer anderen Sprache sprechen. Ausser wenn sie ein Geheimnis untereinander haben. Weiss ich nicht.
INTERVIEWER/IN: Würdest du dich ausgeschlossen fühlen?
Sylvia: Nein. Nein.
Sanna: Sie ist ja nicht mit denen befreundet. Ich weiss nicht, wenn ich jetzt mit zwei Freunden bin, und die würden nur Türkisch reden, und ich würde das nicht verstehen, da ich würde mich schon ausgeschlossen fühlen.
Sylvia: Ja, dann ja. Aber nicht bei Leuten, die halt nur in meiner Klasse sind, mit denen ich nicht so viel zu tun habe.
Sanna: Dann ist es egal.
INTERVIEWER/IN: Warum würdest du denn so ein Gefühl von Ausgeschlossenheit ...
Sanna: Weil wir das nicht verstehen. Also, die verstehen sich ja untereinander, man ist der einzige, der das nicht versteht. Ich meine, man kann nicht mitreden.
INTERVIEWER/IN: Aber wenn sie die Sprache, die du nicht verstehst, nur dann verwenden, wenn sie sich aufeinander beziehen und dann auf die Sprache, die du verstehst, wechseln, wenn sie sich auf dich beziehen?
Sanna: Ich weiss nicht. Ich kann das nicht erklären.
Sylvia: Weil irgendwie ist das schon so / weil irgendwie ist das schon so...
Sanna: Wenn halt jemand da ist, dann soll das niemand auch nicht reden.
Sylvia: Ja, irgendwie so. Man fühlt sich halt ein bisschen ausgeschlossen, weil die können ihre Sprache und sprechen sie auch die ganze Zeit / wie so ein Trottel und versteht nichts, kann nicht reden, weiss gar nicht, was los ist.
(Sylvia, Sanna, Schule C, 21-St., 21-Sv.) 1.9.95

Oskar, Debby, Sylvia und Sanna fühlen sich durch die Sprechakte von Uur und seinen Freunde aus der so hergestellten Sprechgemeinschaft ausgeschlossen. Sie sind der Auffassung, dass diese Sprechgemeinschaft nur aus dem Grunde hergestellt wurde um ein "Geheimnis" zu kommunizieren. Welcher Art könnte nun das unterstellte Geheimnis sein? Albert sieht dies anders. Für ihn ergibt sich kein weiteres Problem durch die Tatsache, dass Uur mit anderen auch in Türkisch spricht.

INTERVIEWER/IN: Wie ist das bei dir? Stört dich das oder fühlst du dich ausgeschlossen, wenn die miteinander Türkisch reden?
Warum? Ist doch ihre ((Heimat-)) Sprache.
(Albert, Schule B, 9-Ar.) 17.8.95

Für Albert existiert dieses "Geheimnis" nicht. Später werden wir noch erfahren, dass er selbst etwas Türkisch spricht. Anton und Piet sind dagegen durch das Sprechen des Türkischen in ihrer Umgebung verunsichert.

INTERVIEWER/IN: Was für einen Eindruck oder wie klingt das Türkische denn für euch?
Anton: Ich weiss nicht, kann ich nichts draus...
Piet: Eine andere Sprache.
Anton: Weiss ich nicht, wie ich beschreiben, wenn die über einen reden, dann lachen sie so auf einmal, weiss ich nicht, wie ich das finden soll. Weiss nicht, was die damit meinen oder so.
INTERVIEWER/IN: Was denkst du dir, dabei dann?
Anton: Dass es etwas schlechtes, ist auf jeden Fall.
INTERVIEWER/IN: Dass sie über dich reden?
Anton: Ja.
(Anton, Piet, Schule B, 8-An., 8-Pa.) 17.8.95

Für ihn erzeugt die Interaktion innerhalb der türkischen Sprechgemeinschaft Angst. Das sie den sprachlichen teil nicht verstehen, besteht die befürchtung, dass etwas "Schlechtes" über sie geredet wird. Daniela berichtet über diese Art von "schlechtem Geheimnis".

INTERVIEWER/IN: Wenn sie auf türkisch reden, zum Beispiel, ist das die einzige Sprache?
Daniela: Also Türkisch und Deutsch, die beiden eigentlich.
INTERVIEWER/IN: Wenn du das hörst, wie klingt das für dich?
Daniela: Meistens kucken sie einen an, dann denke ich, ja jetzt reden sie über einen. Das finde ich, die können doch in der Klasse Deutsch reden, damit man nicht so denkt, jetzt haben sie über einen geredet, und jetzt weiss man nicht, was einen nach der Schule betrifft oder so. Ob die irgendwas gehört haben, dass man das gesagt hat.
INTERVIEWER/IN: Hast du denn oft das Gefühl, dass sie über dich reden, wenn sie auf türkisch reden?
Daniela: Eigentlich reden sie nur, wenn sie über Susanne reden und so, dann reden sie das ziemlich deutlich, dass man das dann versteht und dann in Deutsch. Wenn sie dann einen so Hänseln wollen, das machen die schon auf deutsch, dass sie einen richtig kränken. Das machen sie schon auf deutsch.
INTERVIEWER/IN: Ist es dir eher angenehm oder unangenehm, wenn sie auf türkisch reden?
Daniela: Naja. Wenn sie mich ankucken, dann ist es mir eher unangenehm, wenn sie so bei sich bleiben, dann ist es mir eigentlich egal, welche Sprache sie verwenden.
(Daniela, Schule B, 17-Di.) 17.8.95

Das Sprechen einer anderen Sprache ist Daniela zunächst eigentlich egal. Erst als der Blick auf sie gerichtet ist nimmt sie die Situation als bedrohlich wahr. Offensichtlich müssen zum Sprechen weitere Interaktionformen, wie zum Beispiel der "Blick" hinzukommen, um das Sprechen bedrohlich werden zu lassen. Gleichzeitig berichtet sie, dass Beleidigungen und Kränkungen ihrer Mitschülerin Susanne gegenüber, die das Stigma des Schielens trägt, deutlich und verstehbar auf Deutsch geschehen. Überraschenderweise berichtet dieselbe Susanne im ihrem Interview vom Spielplatz vor ihrem Haus folgendes:

INTERVIEWER/IN: In welcher Sprache sprecht ihr?
Deutsch, die meisten sprechen Türkisch. Okay, ich kann da kaum mithalten, bloss manchmal, wenn sie mich etwas fragen, dann antworte ich auch, aber verstehen tue ich das. Die helfen auch einem. Wenn einer in Not ist, dann kommen sie auch und helfen.
(Susanne, Schule B, 18-Sa.) 17.8.95

Wir sehen plötzlich, dass die Hänseleien situationsspezifisch sind und das "schlechte Geheimnis" eben nicht in der Herkunftsvarietät zirkuliert, sondern in der Normvarietät. Denn der Zweck einer Beleidigung scheint verfehlt, wenn sie nicht von der Person verstanden wird auf die sie zielt. "Geheimsprache" ist eine "interne Gruppensprache", die erst durch den Zuschreibungsprozess von aussen zur Geheimsprache wird.

Kadriye beschreibt eine ähnliche Situation, wie sie oben von Daniela geschilder wurde, aus einer anderen Perspektive. Ihre Freundin Nadja ergeht es dabei so wie Daniela, allerdings übernimmt Kadriye die Position der Dolmetscherin für Nadja, obwohl sie einige rezeptive Kenntnisse des Türkischen erworben hat und selbst bestimmte Situationen entschlüsseln kann.

INTERVIEWER/IN: Kannst du zum Beispiel unterscheiden oder hast du das Gefühl weisst du, dass sie über dich reden oder über jemanden anderen? Oder worum es geht?
Nadja: Wenn sie so Schimpfworte sagen , dann weiss ich das sowieso.
INTERVIEWER/IN: Schimpfworte kannst du immer unterscheiden?
Nadja: Ja.
INTERVIEWER/IN: Die Schimpfwörter, das verstehst du?
Kadriye: Weil meistens fühlt sie sich voll angesprochen. Zum Beispiel wenn türkische Jungs reden, dann sie fühlt sich gleich angesprochen: "Was? Was (lästern sie) über (mich)?"
Nadja: {lacht}
Kadriye: Du machst so krumme Sprüche, obwohl sie gar nicht über dich geredet haben, nur weil sie dich vielleicht angeguckt haben beim Reden, dann sagt sie: " Ja, was denn!" und so, "Warum redet ihr über mich!", ich weiss nicht.
Nadja: {lacht}
INTERVIEWER/IN: Du verstehst es ja, dass sie nicht über dich reden. Zum Beispiel in einer anderen Sprache, fühlst du dich da nicht angesprochen zum Beispiel? Oder du weisst, du fühlst, die reden nicht über dich, sondern du verstehst das Ganze?
Kadriye: Deutsch und Türkisch verstehe ich sowieso, aber was ich nicht versteh, ist Bosnisch. Das war so, dass zwei Jungs auf einer Klassenreise Bosnisch geredet haben, und da hatten wir gerade. Die haben etwas gesagt, da war ich auch dabei. Ich hab richtig geschrien, wo ich gelernt hab, so gehört und geschimpft. Ich hab geschrien und geschimpft: "Was soll die Scheisse." Die Jungs haben gedacht, ich verstehe das nicht, aber ich hab das irgendwie verstanden, ich weiss auch nicht, warum. Als die Drei mich angeguckt haben, oder so Zeichen gemacht haben, hab ich gesagt "was soll das?", und so. Dann haben die gesagt: "Wieso, oder hast du das verstanden?" Ich sag: "Ja, eben!" Dann haben sie endlich zugegeben, dass sie es wirklich gesagt haben. Ich weiss nicht.
INTERVIEWER/IN: Und fühlst du dich denn, passiert dir das öfter, dass du denkst, dass sie über dich reden?
Nadja: Naja, ziemlich oft. {lacht}
INTERVIEWER/IN: Das ist dann aber nicht der Fall, oder?
Nadja: Nein.
INTERVIEWER/IN: Oder sagen die dann einfach nur: "Nein, nein." Das stimmt aber nicht?
Nadja: Nein, meine Freundin sagt mir dann ja auch, was sie gesagt haben, denn sie ist ja meistens neben mir.
(...)
Nadja: Wenn wir so mit Freunden zusammen sitzen, dann reden die meistens / immer Deutsch. Nur so / ich weiss auch nicht / wenn wir so ausserhalb irgendwie sind, dann reden die auch manchmal Türkisch.
INTERVIEWER/IN: Wenn die Türkisch reden, fühlst du dich irgendwie ...
Nadja: Ja, so hintergangen. Wenn die so über einen so reden.
INTERVIEWER/IN: Ist es so oder ist es nicht so? Ist es nur ein Gefühl?
Nadja: Ich weiss nicht, mir kommt es so vor. Zum Beispiel ein Junge, der sitzt bei einer Freundin in der Klasse, neben ihr. Er meint / er redet über mich, dann sagt sie auch, was er gesagt hat. Er redet nicht so Mist oder so.
(Nadja, Kadriye, Schule A, 10-Ka., 10-Na.) 15.8.95

Kadriye beleuchtet noch einen weiteren Aspekt dieser internen Gruppensprache Sie lenkt das Augenmerk auf die Frage der unterschiedlichen Strategien der Geschlechter.

INTERVIEWER/IN: Eure Freunde, in welcher Sprache, welche Sprache sprechen sie?
Deutsch, Türkisch. Überwiegend Türken, meistens nur Türkisch und Deutsch. Die Jungen denken gar nicht so Geheimsprache oder so.
(Kadriye, Schule A, 10-Ka.) 15.8.95

In der Tat ist es so, dass die meisten Berichte über den Gebrauch einer Sprache als Geheimsprache von Mädchen stammen. Handelt es sich also um eine ausgesprochen "weibliche Strategie"? Wir haben im ersten Abschnitt dieses Kapitels schon Hinweise auf spezifisch weibliche Interaktionsformen erhalten. Die Rolle der Mutter und die Rolle der Mädchen auf der Strasse scheint in sprachlichen Interaktionen viel deutlicher auf einen pragmatischen Umgang mit den Gegebenheiten einer vielsprachigen Lebenswelt zu verweisen, als der Umgang der Männer und Jungen, der sich eher als in einer Varietät verhaftet zeigt. Dazu eine Sequenz, die eine mögliche Antwort bereithält.

INTERVIEWER/IN: Gibt es auch Leute, die nicht Türken sind, mit denen du Türkisch reden kannst?
Kamil: Nein.
INTERVIEWER/IN: Kennst du Leute, die keine türkische Famlie haben, die aber trotzdem Türkisch reden? Die Türkisch irgendwie anders gelernt haben?
Kamil: Kenne ich nicht.
¡smet: Der meint, ein türkischer Mann hat eine deutsche Frau, eine arabische Frau oder Iranerin.
INTERVIEWER/IN: Kennst du keine?
¡smet: Kennst du keine?
Kamil: Nein.
(¡smet, Kamil, Schule A, 5-Is., 5-Ke.) 15.8.95

Das Interessante am Verlauf dieser Interviewsequenz liegt am Beispiel, welches ¡smet vorbringt um die Fragestellung des Interviewers zu verdeutlichen. Die Selbstverständlichkeit, welche ¡smet hier zum Ausdruck bringt, ist, dass der Ehemann die Wahl der Sprache bestimmt und die Frau sich dem unterzuordnen hat. Es ist die Frau, die hier Türkisch zu lernen hat. Während also die Frau ihre Herkunftsvarietät mitbringt und sich gleichzeitig die Normvarietät der gesellschaftlichen Mehrheit angeignen muss, wird sie zu einer pragmatischen Mehrweltlerin. Wir können vermuten, dass hier in unserem Beispiel der Ehemann als Einweltler zwar Teil der gesellschaftlichen Mehrheit ist und somit eine bestimmte Position innerhalb der gresellschaftflichen Hierachie einnimmt, aber der Frau aus ihrer untergeordneten Position, eine Möglichkeit der Subversion zufällt, die im pragmatischen Umgang ihrer lebensweltlichen Situation gründet. So scheint das Verhältnis von Einweltlern und Mehrweltlern eines der hierachischen Anordnung zu sein, ein Machtverhältnis. Die sprachliche Hintergrund-Vordergrund-Differenz ermöglicht Strategien, die internes Wissen nur innerhalb der subordinierten Gruppe zirkulieren lässt, als "Geheimnis".

Die Herrschaft der Einweltler über die Mehrwelter

Den Mehrweltlern ist die Fähigkeit durch das Code-Switching ein- und auszuschliessen bewusst. Neben der bewussten Ausgrenzung, gibt es auch die bewusste Eingrenzung. Im Interview mit Günther und Remzi wird diese Strategie deutlich.

INTERVIEWER/IN: Hast du mal gehört, dass Leute eine andere Sprache sprechen als Deutsch, oder kommt das nicht vor?
Günther: Ein paar sprechen Türkisch, wenn beide das können.
Remzi: Ja.
INTERVIEWER/IN: Wie ist das für dich dann?
Günther: Ich verstehe nichts mehr.
INTERVIEWER/IN: Ist dir das egal, dass du nichts verstehst, oder fühlst du dich ausgeschlossen?
Günther: Ich würde dann doch schon ganz gerne verstehen, irgendwie.
INTERVIEWER/IN: Also, das stört dich dann?
Günther: Ja, ein bisschen.
Remzi: Wenn ich zwei Personen treffe, die ich kenne, und der eine ist ein Landsmann von mir, und der andere ist Deutscher; und der spricht mich auf farsi an, dann antworte ich immer auf deutsch. Ich mag das auch nicht, vor einem Deutschen auf meiner Sprache zu sprechen, weil das für ihn unangenehm ist, für den Deutschen, weil er das nicht versteht. Ich hatte auch ein unangenehmes Gefühl, wenn zwei andere Leute auf ihrer Sprache vor mir, wenn die sich mit mir treffen würden, und die würden sich in ihrer eigenen Sprache unterhalten. Das würde mir auch nicht so gefallen. Da würde ich sagen, dass sie Verständnis haben sollen und sich auf dieser Sprache unterhalten sollen, die ich auch verstehe.
INTERVIEWER/IN: Also, dass alle im Kreis verstehen?
Remzi: Ja.
INTERVIEWER/IN: Du würdest dann immer drauf achten, wer gerade da ist und den Kreis drauf einstellen?
Remzi: Ja. Da ist es am besten, meistens Deutsch.
(Günther, Remzi, Schule C, 23-Gu., 23-Rz.) 1.9.95 Kfu 23)

Beide sind sich darin einig, dass in einer bestimmten Situation alle daran beteiligten dem Geschehen folgen können sollten. Das heisst, das personale Sprechen der einzelnen involvierten Personen muss so in Beziehung zur sozialen Sprache der Situation gebracht werden, das eine Kommunikation möglich wird. Während dies für die Einweltler der Normvarietät nicht weiter problematisch erscheint, muss der Mehrweltler die Situation sehr schnell antizipieren und sein personales Sprechen entsprechend ausrichten. Dazu wechselt Remzi, sobald er annimmt eine Person versteht die in einer Situation gesprochene Sprache nicht, in eine Sprache von der er annimmt, dass sie alle verstehen. Dies ist dann die Normvarietät der Einweltler, das Deutsche. Nadja beschreibt ihre Vorstellungen und Erfahrungen mit dem Deutschen und dem Türkischen folgendermassen.

INTERVIEWER/IN: In welchen Situationen, also wenn du Türkisch perfekt könntest, also wenn du es lernen würdest, wo würdest du Türkisch anwenden können?
Nadja: Ich würde mich mit den anderen unterhalten. Zum Beispiel wenn wir weggehen, und wenn das nur Türken wären, dann redeten die bestimmt auch nur Türkisch; die reden doch nicht nur wegen einem Deutschen Deutsch. Schon, wenn sie mit mir reden, aber wenn sie unter sich reden, dann reden sie Türkisch.
(...)
Nadja: Wenn die so zusammen sind, die achten nicht auf einen Deutschen. Dann reden sie auf türkisch, nur wenn sie mit mir reden, dann reden sie deutsch. Sonst reden die Türkisch.
INTERVIEWER/IN: Stört dich das zum Beispiel?
Nadja: Nee, mir egal.
Kadriye: {lacht}
Nadja: Wenn wir so mit Freunden zusammen sitzen, dann reden die meistens, immer Deutsch. Nur so, ich weiss auch nicht, wenn wir so ausserhalb irgendwie sind, dann reden die auch manchmal Türkisch.
INTERVIEWER/IN: Wenn die Türkisch reden, fühlst du dich irgendwie...
Nadja: Ja, so hintergangen. Wenn die so über einen so reden.
(Nadja, Kadriye, Schule A, 10-Na., 10-Ka.) 15.8.95

Sie vertritt zwar zunächst die Meinung, dass "Türken", solange sie unter sich sind Türkisch sprechen und auch die Anwesenheit eines Deutschen zu keinem Sprachwechsel führt. Sie beschreibt aber dann, als eigene Erfahrung, das genaue Gegenteil: wenn mit ihr gesprochen wird, sie also in die Gesprächssituation mit einbezogen wird, erfolgt der Wechsel ins Deutsche quasi automatisch. Auch sie beschreibt aus ihrer Perspektive, wie sie in bestimmte Gesprächssituationen mit einbezogen wird und aus anderen ausgeschlossen. Durch die Möglichkeit der Mehrweltler, dies mit der sprachlichen Vordergrund-Hintergrund-Differenzfolie zu tun, werden soziale Interaktionsprozesse plötzlich als sprachliche Prozesse sichtbar. Würde dies unter Einweltlern geschehen, also innerhalb einer Sprache, so müsste man andere Strategie anwenden um "hinter vorgehaltener Hand" etwas mitzuteilen oder "hinter dem Rücken zu tratschen".

Uur berichtet aus seiner Perspektive, wie das Verhältnis des personalen Sprechens und der sozialen Sprache als exklusives Verhältnis innerhalb der Normvarietät Deutsch im Schulalltag massiv durchgesetzt wird und wie er mit seiner Art des personalen Sprechens zum schweigen gebracht wird. Durchsetzung der Normvarietät als Standard und des Ausschlusses anderer personaler Sprechweisen, verweist auf das zugrundeliegende gesellschaftliche Gewaltverhältnis. Zu vermuten ist, dass die Normvarietät selbst schon das Produkt eines Gewaltverhältnisses ist. In diesem Sinne kann man die Nation als eine bewaffnete Sprache begreifen.

INTERVIEWER/IN: Geht das auch gegen die Sprache? Zum Beispiel wenn ihr Türkisch sprecht in der Schule oder auf der Strasse? Dass das nicht gern gesehen wird?
Uur: Ja, das ist auch so meistens. Wenn man die Türken in Gruppen sieht, will man sie gleich auseinander bringen.
INTERVIEWER/IN: Hm.
Uur: Weil / ich weiss gar nicht, wovor sie Angst haben.
INTERVIEWER/IN: In der Schule?
Uur: Ja, in der Schule auch so. Da redet man mal mit Freunden, dann kommt der Lehrer zum Beispiel an, den haben bestimmt einige gerufen, oder sonst irgendwelche Schüler, und dann fangen sie gleich an, Streit zu machen, zu treten oder so: "Ach, komm doch her! Lauf doch weg!"
INTERVIEWER/IN: Also wird das nicht gerne gesehen, wenn die Türken untereinander Türkisch sprechen?
Uur: Ja, weil sie Angst haben, was weiss ich, was wir überhaupt da reden. Keine Ahnung.
Yakup: Oder auch, einige denken, dass man was über sie selber labern könnte.
INTERVIEWER/IN: Ja.
Yakup: Das mögen sie nicht so gerne.
Uur: Deshalb ist es auch so, dass wir, wenn Deutsche oder andere Ausländer dabei sind, die kein Türkisch verstehen, dann meist Deutsch reden.
(Uur, Yakup, Schule C, 27-Uf., 27-Yu.) 1.9.95

Im Gymnasium, auf das Uur und Yakup gehen, herrscht das Regiment der Normvarietät die Unterordnung einfordert und durchsetzt. Die beiden Mehrweltler entwickeln eine Strategie im Umgang mit diesem Herrschaftsverhältnis, die auf einen antizipatorischen Blick für Gesprächskonstellationen und -situationen zielt und genau einzuschätzen weiss welche Sprache in welcher Situation legitim ist.

Die Lingua franca der Mehrweltler

Lale verweist auf einen der Herrschaft entgegengesetzten Aspekt.

Meistens spreche ich mit meinen Freundinnen eigentlich Deutsch. Das kommt drauf an, welche Freundinnen das sind. Einige verstehen ja kein Deutsch, dann muss man Kurdisch oder Türkisch reden. Es gibt eben auch die, es kommt auf die Sprache an.
(Lale, Schule B, 16-Le.) 17.8.95

Die Rolle des Deutschen nur auf den Herrschafts-Aspekt der Normvarietät und deren Dominanz zu reduzieren und ein ausschliessliches »Herr-Knecht-Verhältnis« anzunehmen, lässt sich mit dem vorliegenden Datenmaterial nicht in Übereinstimmung bringen. Während es zwar Personen gibt, die Deutsch nicht verstehen und selbst einsprachig sind, also im Sinne unserer bisherigen Ausführungen Einweltler sind, ist es für die Mehrweltler unter den Jugendlichen unserer Untersuchung kein Problem sich an der Herstellung sehr unterschiedlicher Sprechgemeinschaften zu beteiligen. Die allgemeinste Sprechgemeinschaft, welche von den deutschsprachigen Einweltlern wie auch den Mehrweltlern hergestellt wird, ist und dies überrascht natürlich keinesweg, die deutsche.

INTERVIEWER/IN: Hast du eine Clique oder so, mit denen du etwas unternimmst?
Ne, eigentlich nur drei Freunde, wir treffen uns immer. Also nicht so gross, wir sind nur ein kleiner Kreis.
INTERVIEWER/IN: In welcher Sprache sprecht ihr?
Meistens Deutsch.
INTERVIEWER/IN: Deine Freundinnen, sind die aus der Schule?
Alle aus anderen Schulen.
INTERVIEWER/IN: Welche Sprache sprechen die?
Auch Deutsch.
(Daniela, Schule B, 17-Di.) 17.8.95

Als Einweltler ist es Daniela und ihren Freundinnen allerdings nicht möglich eine andere Sprechgemeinschaft als die deutsche herzustellen. Aber Sprechgemeinschaften des Deutschen sind nicht unbedingt durch Homogenität ihrer Mitglieder und ihrer personalen Sprechweise gekennzeichnet, wie Sanna von ihren Altersgenossinnen berichtet.

Das ist so bei uns: Die ganze Strasse sind so in meinem Alter. Die sind auch so verschieden gemischt. Also einige kommen, was weiss ich, einige kommen aus Polen, die anderen kommen aus Hamburg. Das ist also ganz unterschiedlich, aber trotzdem wird nur Deutsch gesprochen eigentlich.
(Sanna, Schule C, 21-Sv.) 1.9.95

Auch in Canans Gruppe wird so gut wie ausschliesslich Deutsch gesprochen.

INTERVIEWER/IN: Über was sprecht ihr innerhalb der Clique, Canan?
CANAN: Über uns. Was wir machen, wo wir Morgen hingehen wollen und was mir anziehen.
INTERVIEWER/IN: In welchen Sprachen meistens?
CANAN: Deutsch.
Alexa: Immer Deutsch.
INTERVIEWER/IN: Die anderen Mädchen, die auch zur Clique gehören und ausser Deutsch eine andere Sprache können?
CANAN: Die reden auch immer Deutsch. Damit jeder was versteht.
(...)
CANAN: Ja. Bei uns ist das so, jeder kennt eine andere Sprache. Keiner, doch einmal da gibt es zwei Jugoslawische, aber die reden auch nur Jugoslawisch oder Kroatisch. Das gibt's nur eine Polin nur noch so. Die reden denn alle nur noch Deutsch.
(Canan, Alexa, Schule B, 16-Ce., 16-Al.) 17.8.95

Auch Claus und Armin sprechen mit vielen anderen nur Deutsch

Claus: Ja, also, die sprechen eigentlich nur Deutsch zusammen, mit Armin oder mit Jonas. oder so.
INTERVIEWER/IN: Ja.
Armin: Mit Yilmaz, C., Deniz nur Deutsch.
(Claus, Armin, Schule C, 19-An.)1.9.95

Ebenso ist es in der Clique von Dragana.

Ja, also ich bin meistens mit den Leuten aus dem Tscheledin zusammen. Weiss ich nicht, eine heisst Gabriela, kommt aus Bolivien, ich spreche mit ihr aber trotzdem Deutsch. {lacht} Ja, es ist verschieden. Es gibt auch Polen und so, aber wir sprechen miteinander immer Deutsch.
(Dragana, Schule C, 20-Dr.) 1.9.95

In allen drei Berichten wird von einer sehr heterogene Zusammensetzung der Sprechgemeinschaft des Deutschen berichtet. Die Wahl des Deutschen als soziale Sprache ist hier nicht einem Akt der Unterordnung geschuldet, sondern folgt einer Pragmatik der Verständigung, welche zu derjenigen sozialen Sprache eine Beziehung herstellt, in der alle an der Interaktion beteiligten Personen in der Lage sind zu sprechen. In diesem Sinne ist Deutsch auch als eine "Lingua franca" in der vielsprachigen Lebenswelt zu begreifen.

Nach Samarin (1968) ist eine »lingua franca« eine Sprache, die von Leuten gebraucht wird, welche differente Sprachen sprechen, um die Kommunikation zwischen ihnen zu ermöglichen.249

Unter dem Idealfall einer Lingua franca versteht man folgendes:

Zur Ermöglichung der Kommunikation zwischen den im Grunde monolingualen Sprechern der Gemeinschaft wird eine Sprache etabliert, die Muttersprache einer anderen Sprachgemeinschaft und nicht in die in Frage stehende soziale Einheit integriert ist.250

Es erhebt also keine der involvierten Gruppen "muttersprachlichen Anspruch" auf die Lingua franca. Ist also in unserem Fall ein Sprecher mit der Herkunftsvarietät Deutsch in die Sprechgemeinschaft integriert so kann im eigentlichen Sinne nicht von einer Lingua franca gesprochen werden. Der Doppelcharakter des Deutschen wird nun verständlich. Zum einen zeigte sich der Aspekt des Deutschen als Normvarietät, als Dominanz- und Herrschaftssprache, also ein hierarchischer Aspekt. Zum anderen zeigte sich der Aspekt des Deutschen als Lingua franca, als allgemeine Verständigungssprache, als egalitärer Aspekt.

Nun wollen wir uns einem weiteren Aspekt der sprachlichen Interaktion und der Beziehung des personalen Sprechens zur sozialen Sprache unter den Bedingungen vielsprachiger Lebenswelten zuwenden.

Die Umarbeitung der Einweltler zu Mehrweltlern

Aus den vielfältigsten Quellen hatten wir während unserer Untersuchung erfahren, dass es eine grössere Anzahl von Personen gibt, die sich Kenntnisse anderer Sprachen auf der Strasse angeeignet haben. Im vorliegenden Datenmaterial finden sich dafür die vielfältigsten Spuren. Paul hat zum Beispiel »Jugoslawisch« unter seinen Freunden gelernt, bevor er an die Schule B kam. Er gibt mündliche (rezeptive und expressive) Kenntnisse an, kann aber nicht schreiben.

INTERVIEWER/IN: Und du verstehst das auch, Jugoslawisch?
Ja, das meiste. Schreiben kann ich nicht.
INTERVIEWER/IN: Verstehen und sprechen dann?
Ja.
(Paul, Schule B, 8-Pe.) 17.8.95

Während das Erlernen des »Jugoslawischen seltener beobachtet wurde, ist dies beim Türkischen vollkommen anders. Veli, Andreas, Erdem, Edon, Werner, Ömer berichten von Personen die Türkisch verstehen (rezeptiv) oder sogar sprechen (expressiv). Gemeinsam ist allen Personen, dass sie engen Kontakt mit Jugendlichen aus türkischsprachigen Elternhaus pflegen.

Ich habe viele Freunde, die Türkisch sprechen können, obwohl die nicht Türken sind. Und es gibt ein paar in meiner Strasse; in der Schule gibt es auch, in der Klasse. So ein zwei, ne?
(Veli, Schule A, 1-V.) 15.8.95

Veli nennt verschiedene Orte, die Strasse, die Schule und die die Schulklasse, an denen man Freunde, aber auch andere Personen finden kann, die Türkisch sprechen. Andreas erklärt, dass man am besten unter Freunden Türkisch lernt.

Am besten eine Freundin. Ich kenne so Deutsche, aber die haben so türkische Freunde. Ich kenne ein paar, die können auch Türkisch.
(Andreas, Schule A, 2-A.) 15.8.95

Es sind Personen, die unterschiedlichster Nationalität sind.

Erdem: Manche nicht. Manche reden auch so normal. Ich kenne einen Albaner, der spricht ...
INTERVIEWER/IN: Normales Türkisch?
Erdem: Ja. Der hat das von uns gelernt.
(Erdem, Schule A, 2-E.) 15.8.95

Edon und Werner beschreiben genauer die Umstände und die Zeit in denen sie Türkisch gelernt haben. Später wird sich herausstellen, dass Edon mehr und Werner weniger Türkisch erlernt hat. Werner, dessen Mutter aus Ghana kommt, hat innerhalb der Gang eine Randposition.

INTERVIEWER/IN: Ihr habt vorhin gesagt, ihr sprecht ein bisschen Türkisch?
Edon: Ja, ich kann ein bisschen verstehen.
INTERVIEWER/IN: Du verstehst auch ein klein wenig?
Werner: Ja, ich verstehe ein bisschen, aber reden kann ich nicht.
INTERVIEWER/IN: Aber wenn so Leute reden, da verstehst du, um was es ungefähr geht?
Werner: Hm.
INTERVIEWER/IN: Wo habt ihr das gelernt?
Edon: Ich hänge ja hauptsächlich mit Türken rum. Das war früher nicht so, aber jetzt, so die letzten drei Jahre.
INTERVIEWER/IN: Hängst du nur mit denen rum?
EDIN: Ja.
INTERVIEWER/IN: Und wo hast du das gelernt, Werner?
Werner: Ja, also, ich meine, in unserer Klasse sind die meisten Türken. Und die reden auch so auf Türken, also türkisch meine ich ...
EDIN: {lacht}
Werner: {lacht}die reden so auf türkisch, die Türken. Wenn man so oft mit denen zusammen ist, kann man auch so ein bisschen verstehen.
(...)
INTERVIEWER/IN: Kennt ihr andere Deutsche, die Türkisch gelernt haben?
In unserem Block, da wo wir wohnen, sprechen hauptsächlich alle auch ein bisschen Türkisch, auch die Deutschen.
(Edon, Werner, Schule A, 3-W.) 15.8.95

Ömer erzählt, dass sogar solche Personen in seiner Nachbarschaft leben.

INTERVIEWER/IN: Kennt ihr Leute, die Türkisch woanders gelernt haben, ausser zu Hause?
Ja, ich kenne einen. Unseren Nachbarn.
INTERVIEWER/IN: Eure Nachbarn? Woher kommen die?
Sie ist Deutsche.
INTERVIEWER/IN: Sind Deutsche?
Ja, und sie spricht sehr gut Türkisch.
INTERVIEWER/IN: Und wo hat sie das gelernt?
Weiss ich nicht.
(Ömer, Schule A, 4-Öz.) 15.8.95

Schauen wir uns die genannten Nationalitäten genauer an, so sind es vorallem Albaner, Deutsche und Jugoslawen von denen berichtet wird, dass sie Türkisch sprechen können.

Hasan: Diese einen Jugoslawen, die können so, Türkisch bisschen. Also ich kann auch ein bisschen Jugoslawisch, aber ich versteh auch, und die verstehen ein Türkisch.
INTERVIEWER/IN: Wo habt ihr das gelernt?
Hasan: Untereinander.
Kerem: Untereinander.
INTERVIEWER/IN: Hier in Hamburg dann?
Hasan: Ja, auch mit denen so.
(Kerem, Hasan, Schule B, 7-Ko., 7-Ha.) 17.8.95
Türkisch, Deutsch. Aus Albanien auch, aber die verstehen fast alle Türkisch. So Andreas, versteht auch Türkisch. Die sind schon so lange mit Türken zusammen, dass sie dann auch, ich weiss nicht, etwas lernen.
(Ayºe, Schule A, 12-Ay.) 15.8.95

Zum Erlernen des Türkischen ist ein sehr enger sozialer Kontakt hilfreich.

Suzan: Ich kenne einen Jungen, der heisst Saban, der ist Albaner.
Interviewer/in: Was kann er denn?
Suzan: Türkisch. Er spricht verdammt gut Türkisch.
Interviewer/in: Wo hat er das gelernt?
Suzan: Bei uns.
Interviewer/in: Bei euch?
Suzan: Ja.
Interviewer/in: In der Gruppe?
Suzan Ja.
Interviewer/in: Kannst du dich richtig mit ihm unterhalten über verschiedene Themen, oder kann er nur bestimmte Ausdrücke?
Suzan Nein, ich kann so ganz offen mit ihm Türkisch reden.
Interviewer/in: Alles Türkisch durch immer?
Suzan: Ja.
Interviewer/in: Ach so.
Suzan: Kann er echt gut.
Interviewer/in: Wie lange ist er denn in der Gruppe? In welcher Zeit hat er das gelernt?
Suzan: Ach, in drei Jahren. Spätestens nach drei Jahren hat er das begriffen.
Interviewer/in: Sprecht ihr mit ihm meistens Türkisch?
Suzan Türkisch, Deutsch.
Interviewer/in: Ist da kein Unterschied zu anderen türkischen Jungen in seinem Türkisch? Ist das ganz normales Türkisch?
Suzan: Naja, okay, da ist schon ein Unterschied. Also vom Dialekt und so, aber er kriegt es gut hin.
(Suzan, Schule C, 30-Si.) 1.9.95

Musa, aus dem früheren Jugoslawien und heutigen Mazedonien ist hauptsächlich in der Schule unter Gleichaltrigen und hat dort etwas Türkisch verstehen, also in rezeptiver Form, gelernt.

Musa: Ich verstehe, aber ich kann nicht sprechen.
INTERVIEWER/IN: Wie hast du das gelernt?
Musa: So. {lacht}
INTERVIEWER/IN: So in der Klasse auf dem Schulhof dann?
Musa: Ja. Wenn die zum Beispiel miteinander reden, zuhören vielleicht.
INTERVIEWER/IN: Wie ist es eigentlich mit Leuten, die eigentlich kein Türkisch sprechen. Gibt es viele Leute, die trotzdem Türkisch verstehen?
Cihat: Ja. Zum Beispiel Alu. Der ist immer so, in seiner Klasse waren fast immer nur Türken. Er kennt die Sprache jetzt schon so richtig. Er versteht fast alles.
(Cihat, m, 1981, türkisch, Musa, Schule A, 6-M.) 15.8.96

Selbst für Yakup und Uur aus dem Gymnasium ist die Tatsache das auch andere Personen Türkisch sprechen nicht weiter verwunderlich.

INTERVIEWER/IN: Bunlar nerede örendi bunlar bunu? Sizden mi örendiler? [Türkisch: "Sie, wo haben sie dies gelernt? Haben sie von euch gelernt?"]
Uur: Die lernen das von Freunden, vom Zuhören; wenn wir mit den Eltern sprechen, wenn sie bei uns zu Besuch sind zum Beispiel.
Yakup: Manche fragen auch, was das heisst und so.
Uur: Dann sehen sie auch, wie wir wohnen, was wir essen, denen gefällt ja meistens unser Essen, dann bieten wir eben an.
INTERVIEWER/IN: Die lernen das nur durch euch, durch Kontakt. Die lernen das nicht in der Schule oder so?
Uur: Nein, durch Kontakt mit türkischen Freunden.
Uur, (Yakup, Schule C, 27-Uf., 27-Yu.) 1.9.95

Auch unter Mädchen findet sich dieses Phänomen. Deshrina versteht Türkisch. Sie begründet ihr Kenntnisse des Türkischen mit ihrer albanischen Herkunftsvarietät, die für sie offensichtlich Gemeinsamkeiten mit dem Türkischen besitzt.

INTERVIEWER/IN: Woher waren deine beiden anderen Freundinnen? Haben die auch Türkisch gesprochen?
Deshrina: Aus Italien und Deutschland.
INTERVIEWER/IN: Hast du denn mit denen beiden Türkisch gelernt?
Deshrina: Mit den Italienerinnen?
INTERVIEWER/IN: Also mit ihr?
Deshrina: Ja.
INTERVIEWER/IN: Mit den beiden hast du?
Deshrina: Ja.
Gülay: Hat sie bei uns gelernt.
INTERVIEWER/IN: Du verstehst alles, was sie sagen? Aus dem Türkischen?
Deshrina: Aber ich kann nicht so richtig sprechen.
INTERVIEWER/IN: Aber du weisst, worum es geht?
Deshrina: Irgendwie, Albanisch und Deutsch, gibt es manche Wörter, die (gleich) geschrieben, verstehe ich das.
INTERVIEWER/IN: Im Türkischen und Albanischen? Ach so, das ähnelt so?
Deshrina: So ein bisschen ähnlich, die Wörter.
INTERVIEWER/IN: Und wenn die Türkisch sprechen, dann verstehst du das und fühlst dich gar nicht ausgeschlossen?
Deshrina: Nee. Ich versteh das! {lacht}
Ayºe: Ja, wir sind ja auch schon ganz lange Freunde. Schon seit der fünften Klasse.
INTERVIEWER/IN: Nein, am Anfang noch nicht.
Daschrine: Meine Nachbarin ist auch Türkin.
INTERVIEWER/IN: Die spricht auch Türisch mit dir?
Deshrina: Sie spricht Türkisch, und ich sprech Deutsch; dann sagt sie: "Du hast das verstanden." {lacht}
(Gülºen, Deshrina, Ayºe, Schule A, 12-Gü., 12-Da., 12-Ay.) 15.8.95

Suzan aus dem Gymnasium berichtet von einem Mädchen aus griechischsprachigem Hintergrund. Sie versteht etwas Türkisch (rezeptiv), hat aber Schwierigkeiten sich darin auszudrücken (expressiv).

Suzan: Ja, meine beste Freundin, Mariann. Die kann etwas Türkisch.
Interviewer/in: Das war, glaube ich, eine Griechin?
Suzan: Eine Griechin, ja.
Interviewer/in: Die hat Türkisch gelernt?
Suzan: Ja, von mir.
Interviewer/in: Von Griechenland oder aus dem Elternhaus her konnte sie das nicht?
Suzan: Nein.
Interviewer/in: Ach so.
Suzan: Die hat zehn Jahre dafür gebraucht. Ich kenne sie seit zehn Jahren. Seit Jahren hat sie dafür gebraucht, bis sie das konnte.
Interviewer/in: Wie gut kann sie das? Was könnt ihr so besprechen?
Suzan: Eigentlich alles, aber sie kann das alles nicht so deutlich ausdrücken, aber man versteht es schon.
Interviewer/in: Ist da ein Unterschied zu deinen anderen türkischen Freundinnen, wenn du mit ihr sprichst? Musst du bei ihr langsamer sprechen, oder ist das wie bei einer türkischen Freundin?
Suzan: Ich kann ganz normal sprechen, sie versteht das. Verstehen tut sie alles. Nur Reden, das geht so ein bisschen.
(Suzan, Schule C, 30-Si.) 1.9.95

Schauen wir uns hier das Verhältnis des personalen Sprechens und der sozialen Sprache in den Berichten an, so stellen wir fest, dass von allen Herkunftsvarietäten, Türkisch die einzige ist, welche im grossen Masse unter der Perspektive des personalen Sprechens von den Jugendlichen beherrscht wird. Dies teilweise nur in rezeptiver, d.h. es wird nur verstanden, aber häufig auch in expressiver Form, in dem man sich auch darin ausdrücken kann. Wir haben nun zwei gegenläufige Prozesse herausgearbeitet. Was meinen wir damit? Wir haben gesehen, dass die Beziehung zwischen dem personalen Sprechen und der sozialen Sprache in der Herkunftsvarietät am Auflösen begriffen ist. Dem personalen Sprechen steht eine soziale Sprache gegenüber, in der Erfahrung nicht mehr ausdrückbar scheint. Die Kenntnisse der Herkunftsvarietät unter dem Aspekt des personalen Sprechens nehmen ab. Dies ist für die türkische Herkunftsvarietät, wie auch für andere zu beobachten (vergessen wir dabei auch nicht bestimmte Formen der deutschen Varietäten). Nach den expressiven Kenntnissen gehen die rezeptiven Kenntnisse der Herkunftsvarietät verloren. Gleichzeitig baut sich eine neue Beziehung zwischen dem personalen Sprechen und der sozialen Sprache, nämlich des Türkischen, auf. Zur sozialen Sprache des Türkischen lässt sich eine Beziehung aufbauen, die von rezeptiven bis zu expressiven Kenntnissen unter dem Aspekt des personalen Sprechens reicht. Man kann von einer Umarbeitung des Verhältnisses zwischen personalem Sprechen und sozialer Sprache sprechen. Türkisch bekommt nun neben dem Deutschen eine sozial relevante Qualität. Das Stigma des Türkischen, welches zu verstummen gebracht werden muss, wird zum Prestige, welches sich Ausdruck verschafft251. So gesellt sich neben dem Deutschen als eine Art Lingua franca auch das Türkisch der grössten Einwanderergruppe der Bundesrepublik. Gleichzeitig sind wir Zeugen des Entstehens neuer, sogenannter "nicht-ethnischer", Sprechgemeinschaften des Türkischen.

Wir haben von einer Umarbeitung des Verhältnisses vom personalen Sprechen und der sozialen Sprache gesprochen und vom Auflösungsprozess des Türkischen als Herkunftsvarietät in seiner bisherigen Form. Hier scheint es nun notwendig das Türkische selbst näher zu betrachten um die Problematik einer Vorstellung vom Türkischen als Muttersprache zu präzisieren.

237 Lefèbvre, Henri: Die Revolution der Städte. (1990:25)

238 Ebd.: 25

239 Ebd.: 47

240 Ebd.: 184

241 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Philosopische Untersuchungen. (1990:69): Satz 5.6.

242 Simmel, George: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band II. (1995:764)

243 Hartig & Kurz, Matthias & Ursula: Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik. (1971:44)

244 Ebd. 46

245 Lefèbvre (1990: 142/143)

246 Duranti, Allessandro: Linguistic anthropology. (1997: 57)

247 Auer, Peter: Konversationsanalystische Aspekte der Organisation von "Code-Switching" in einer Gruppe italienischer Gastarbeiter. (Typoscript)

248 Auf den Begriff der »Mehrweltigkeit« brachte mich Ines Fögen, die in unseren Diskussionen zunächst den Begriff der »Zweiweltigkeit« benützte.

249 Hartig & Kurz, Matthias & Ursula: Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik. (1971: 17)

250 Ebd.: 216

251 Das Konzept des gesteigerten Prestige des Türkischen wurde von Peter Auer entwickelt. Siehe: Auer, Peter (1995): Türkisch in gemischt-kulturellen Gruppen von Jugendlichen im schulischen und ausserschulischen. Hamburg