4.2. Topologien urbaner Sprachen



Transnationale sprachliche Interaktionordnung

Globale Aspekte transnationaler sprachlicher Interaktion

Lokale Aspekte der lebensweltlichen Relevanz von Sprachen

Transnationale sprachliche Interaktionordnung

Zum Abschluss dieses Abschnittes wollen wir uns den globalen Aspekten der Sprachen, die von den Jugendlichen benannt wurden, sowie deren lokale Relevanz innerhalb ihrer eigenen Lebenswelt widmen. Dazu stellen wir zunächst die Frage nach der sprachlichen Ordnung der Welt, die sich in den Aussagen unserer Jugendlichen rekonstruieren lässt? Diese Ordnung wollen wir als eine "transnationale sprachliche Interaktionordnung" begreifen.

Globale Aspekte transnationaler sprachlicher Interaktion

Bestimmte Sprachen werden von den Jugendlichen benannt und in eine hierarchische Ordnung gebracht.

Erdem: Ich würde Englisch, weil Englisch die häufig benutzte Sprache in der ganzen Welt ist.
Andreas: Englisch kann ich schon nur.
Erdem: Englisch und ...
Andreas: Französisch!
Interviewer/in: Du würdest Französisch lernen? Wieso Französisch?
Andreas: Weil das die zweithäufigste Sprache ist, wie man sich verständigen kann.
(Andreas, Erdem, Schule A, 2-E.) 15.8.95

Für Andreas und Erdem sind das Englische gefolgt vom Französischen diejenigen sozialen Sprachen, welche eine Verständigung mit anderen möglich machen, in dem man Teil dieser Sprech- und Schriftgemeinschaften wird. Auch für Meltem ist diese Verständigung wichtig.

Dass man das überall versteht. Wenn man in die Türkei fährt, wenn man Englisch spricht, das versteht man dort, jeder versteht das. Englisch wird, jedes Land, versteht man Englisch. Deswegen.
(Meltem, Schule B, 15-Ml.) 17.8.95

Das Englische bietet eine Möglichkeit der sprachlichen Interaktion, welches national-sprachliche Grenzen überwindet, da es ihrer Ansicht nach in jedem Land verstanden wird. Paul, Anton und Piet kennzeichnen das Englische als Weltsprache.

Paul: Einmal, weil Englisch die Weltsprache ist.
Anton: Eben. Da kommt man überall mit durch.
(Paul, Piet, Anton, Schule B, 8-Pe., 8-Pa., 8-At.) 17.8.95

Diese Weltsprache hat für sie die Qualität eines "General-Schlüssels", der jede Tür öffnet. Suzan und Lena sind der Auffassung das "fast jeder" in der Lage ist das Englische zu sprechen, es also in das personale Spreche vieler Menschen integriert wurde. Diese Anschlussfähigkeit des personalen Sprechen macht es für sie möglich mit potentiell jeder Person sprachlich zu interagieren.

Lena: Ja, Englisch finde ich wichtig, dass man das kann.
Suzan: Englisch finde ich auch wichtig.
Interviewer/in: Und warum?
Lena: Weil das halt fast jeder spricht.
(Suzan, Lena, Schule C, 30-Si., 30-La.) 1.9.95

Die Vorstellung des Englischen als Weltsprache bezeichnet einen Aspekt einer transnationalen sprachlichen Interaktionordnung, wie gesagt eine Art von General-Schlüssel, der die Türen in andere Welten öffnet. Yakup und Oskar benennen einen weiteren Aspekt einer transnationalen Interaktionsordnung.

Ich würde höchstwahrscheinlich Englisch nehmen, weil das die Hauptsprache so auf der ganzen Welt ist. Überall wird eigentlich Englisch gesprochen.
(Yakup, Schule C, 27-Yu.) 1.9.95
Ich würde die Sprachen lernen, so, jetzt die Hauptsprachen der Erde, Welt also. Englisch, Französisch, Deutsch; dann noch Chinesisch und was, oder Pak-... von mir aus auch Türkisch oder Pakistanisch. Also die geläufigen Sprachen.
(Oskar, Schule C, 26-OR.) 1.9.95

Mit ihrer Kennzeichnung des Englischen als eine "Hauptsprache" verweisen auf eine etwas andere Anordnung der Sprachen. Wenn es Hauptsprachen gibt, so muss es auch Nebensprachen geben. Unser Bild des General-Schlüssels muss hier modifiziert werden. Diese Hauptsprachen, sind Schlüssel, welche die Tür zu einem Raum öffnen, der im Sinne einer Lingua franca einer grossen Öffentlichkeit zugänglich ist. Die Nebensprachen sind Schlüssel, welche die Türen zu weiteren Räumen öffnet, in der sich jeweils weitere Sprechgemeinschaften befinden. Der Schlüssel der Hauptsprachen ist hier kein General-Schlüssel mehr sind öffnet sozusagen die Eingangspforte in die Empfangshalle einer transnationalen sprachlichen Interaktion. Diese Bild anerkennt eine Vielsprachigkeit ebenso, wie die Notwendigkeit einer universellen Interaktionssprache. Olivier und Konstantin haben die Erfahrung gemacht, dass der Schlüssel des Englischen ihnen neuen Räume eröffnet hat und empfinden sie als eine attraktive Sprache.

Olivier: Englisch, Englisch ist meine Lieblingssprache.
Interviewer/in: Wieso gerade Englisch?
Olivier: Amerika fasziniert mich allein. Überhaupt Englisch, ich liebe, ich mag die Sprache einfach.
Interviewer/in: Was kann man denn mit Englisch so anstellen? Oder was kann man, für was ist sie brauchbar?
Konstantin: Für alles.
Olivier: Englisch ist eine Weltsprache, finde ich. Sie ist auch am weitesten verbreitet. Ich weiss nicht, irgendwas gefällt mir daran.
(...)
Konstantin: Aber sonst halt Englisch, weil das eine der grössten Weltsprachen ist, und das müsste man dann auch perfekt sprechen können. Also, man kann überall hinfahren, und man kann sich auf englisch mit denen unterhalten. Neulich war ich in Griechenland, klappte wunderbar.
(Konstantin, Olivier, Schule C, 24-Kn., 24-OK.) 1.9.95

Es scheint fast, als ob das Englische für sie keine "fremde" Sprache mehr ist. Sie ist verknüpft mit eigenen Erfahrungen. Das Englische ermöglicht ihnen eine Erweiterung der eigenen lebensweltlichen Reichweite. Aber Albert erinnert uns daran, dass das Englische als abstrakte soziale Sprache zwar theoretisch weit reicht, aber das personale Sprechen des Englischen dennoch einige Probleme bereitet.

Also, wir haben auch so amerikanisch, wir haben Bekannte in Arizona/Phoenix. Die können nicht so gut Deutsch, da reden wir so am Telefon, so Amerikanisch, Englisch. Nicht so Amerikanisch, aber Englisch verstehen sie schon gebrochen. Ja, und wenn man da so hinfährt, dann ist es ja ...
(Albert, Schule B, 9-Ar.) 17.8.95

Neben der uns bekannten Gleichsetzung der Nation mit der Sprache, verweist Albert wieder darauf, dass Sprechgemeinschaften immer auch ihre eigene lokale Varietät entwickeln. So formuliert er den Widerspruch zwischen dem Aspekt der lokalen Varietät einer konkreten Sprechgemeinschaft und dem Aspekt einer globalen (transnationalen), die jeweilige Sprechgemeinschaft transzendierenden sprachlichen Interaktion. Musa gibt zu bedenken, dass es neben dem Englischen, Französischen und dem Deutschen auch noch andere Sprachen gibt, die ebenso eine Schlüsselfunktion als Weltsprache haben.

Interviewer/in: Wieso Italienisch, Spanisch?
Ja, das sind die Weltsprachen.
Interviewer/in: Was kann man mit denen machen?
Kommst du in der Welt überall klar.
(Musa, Schule A, 6-M.) 15.8.95

Betrachten wir dieses Bild einer weltweiten sprachlichen Interaktionsordnung, so spiegelt sich darin die gegenwärtige weltwirtschaftliche und die vergangene koloniale Ordnung wider. Diese hat zur Folge, das nur in begrenzten Regionen dieser Welt eine der bisher genannten Sprachen tatsächlich als Weltsprache dient. So wird man in Regionen in denen Englisch dominiert nur in Ausnahmesituationen mit Französisch oder Spanisch sich verständigen können. In der spanisch sprachigen Welt dürfte man mit Englisch oder Französisch schnell an seine Grenzen kommen und gleiches gilt für die Regionen in denen Französisch gesprochen wird. So zeigt hier die Anordnung die spezifische Perspektive der Jugendlichen selbst und der Welt in der sie verortet sind. Ihr Wunsch nach grenzüberschreitender sprachlicher Interaktion und ihr Rückgriff auf die real herrschende sprachliche Ordnung erweist sich als ihrem Wunsch entgegengesetz.

Lokale Aspekte der lebensweltlichen Relevanz von Sprachen

Der Kontext in dem sich in der Lebenswelt der Jugendlichen das Problem einer transnationalen sprachlichen Interaktion stellt ist ein spezifischer; nur in den Gesellschaften relativen Wohlstands ist die touristische Reise eine Möglichkeit für die Masse der Bevölkerung. So wollen wir zunächst diejenigen sprachlichen Aspekte beleuchten, die im Zusammenhang mit dem Tourismus stehen. Günther geht nach Schweden in den Urlaub.

Interviewer/in: Welche würdest du denn lernen?
Ich würde Schwedisch wählen.
Interviewer/in: Wieso Schwedisch? Warum gerade Schwedisch?
Weil wir da ab und zu Urlaub machen.
Interviewer/in: Was könntest du denn, wenn du Schwedisch sprechen könntest?
Dann könnte ich mich da unterhalten und so weiter. Das wäre auch ganz praktisch.
(Günther, Schule C, 23-Gu.) 1.9.95

Günther folgt hier wieder strikt der Logik von »Nationalität gleich Sprache«. Um aber seinem Wunsch nach sprachlicher Interaktion nachzukommen, würde es in Schweden reichen Englisch zu sprechen und in diesem Sinne funktioniert das Englische dort als eine Art erster Schlüssel. Jutta, Bettina und Lotte folgen ebenfalls der Logik von »Nationalität gleich Sprache« und haben sich auch bestens auf ihren Aufenthalt vorbereitet. Dort werden sie aber mit einer ganz anderen Situation konfrontiert.

Jutta: Dann waren wir alle zusammen in Frankreich. Da wollten wir eigentlich schön unser Französisch ausbilden, aber da sind Touristen.
Bettina: Ja, da war immer Englisch, Deutsch
Lotte: Die konnten alle Deutsch.
Bettina: Holländer waren da auch viele.
Jutta: Da waren wir enttäuscht, weil wir Französisch sprechen wollten.
Interviewer/in: Da seid ihr nicht dazu gekommen dann?
Jutta: Nein.
Lotte: Wir hatten alle solche kleinen Wörterbücher mitgenommen und unsere Vokabelhefte.
Bettina: Da war alles übersetzt, alles. Da stand es auf französisch und daneben war gleich eine Tafel, wo es auch auf deutsch und englisch stand. Das war ein bisschen blöd.
(Lotte, Bettina, Jutta, Schule C, 25-Li., 25-Ba., 25-Ju.) 1.9.95

Jutta stellt nun fest, dass es dort wo es Touristen gibt sich auch die sprachliche Welt diesen anpasst. Also selbst innerhalb der französischsprachigen Welt gibt es Enklaven, die ihren Besuchern angepasst sind. Ercan, Hasan und Kerem formulieren aus ihrer Erfahrung heraus fasst schon eine Selbstverständlichkeit.

Ercan: Wenn du als Tourist in ein Land gehst, musst du ja wohl Englisch können!
Hasan: Wenn ein Fremder wo kommt, kann er wenigstens Englisch.
Kerem: Muss jeder so Englisch wissen.
(Ercan, Hasan, Kerem, Schule B, 7-Er., 7-Ha., 7-Ko.) 17.8.95

Sanna und Sylvia lenken unseren Blick weg von den sprachlichen Notwendigkeiten einer konkreten touristischen Reise, die Teil der lebensweltlichen Erfahrung sein kann, hin zu einem anderen Aspekt der lebensweltlichen Relevanz.

Interviewer/in: Stellt euch mal vor, dass es eine Methode gibt, mit der ihr über Nacht eine oder mehrere Sprachen perfekt lernen könntet. Welche Sprache würdest du, oder welche Sprachen, also, es ist ein Walkman, den setzt du dir über Nacht auf ...
Sylvia: Und am nächsten Morgen kann ich die perfekt?
Interviewer/in: Ja. Eine oder mehrere Sprachen, die du willst. Welche Sprachen würdest du lernen wollen?
Sylvia: Auf jeden Fall, auf alle jeden Fall Englisch perfekt, weil das kann man immer gut gebrauchen, dann noch Französisch könnte ich mir noch vorstellen, dass ich das nehme, und dann möchte ich irgendwas noch nehmen, zum Beispiel Chinesisch oder so. So etwas ganz ausgefallenes, was nicht jeder kann.
Interviewer/in: Warum / okay, Englisch hast du begründet / warum Französisch / und warum diese anderen Sprachen?
Sylvia: Französisch, finde ich, ist ja auch irgendwo eine Weltsprache, also viele Leute sprechen auch Französisch. Das ist auch eine schöne Sprache, sie ist so schön weich, aber leider so furchtbar schwierig. {lacht} Und Chinesisch finde ich einfach lustig, dieses Hong-Chia-Hung. {lacht}
Sanna: {lacht}
Sylvia: {lacht}Das weicht so vollkommen vom Deutschen ab, das ist so was ganz anderes. So einfach mal das können, stelle ich mir lustig vor.
Interviewer/in: Wo hast du Kontakt zu diesen Sprachen? Hörst du die irgendwo?
Sylvia: Also, Französisch halt manchmal, aber sonst so Japanesisch, also Japanisch {lacht}
Sanna: {lacht}
Sylvia: oder Chinesisch eigentlich nicht so. Französisch hin und wieder, und Englisch? Englisch eigentlich auch kaum. Im Radio, die Lieder.
Interviewer/in: Und du, welche Sprachen würdest du lernen?
Sanna: Auch als erstes mal Englisch, dann würde ich an Französisch denken, weil ich das in der Schule habe, würde vielleicht gut sein. Ich würde dann lieber noch statt Chinesisch, damit könnte ich nichts anfangen, ich würde lieber so was wie Türkisch lernen. Ich finde, so was hört man auch viel.
(Sanna, Sylvia, Schule C, 21-Sv., 21-St.) 1.9.95

Beide benennen das Englische und das Französische, neben dem Japanischen und dem Chinesischen, als wünschenswerte Sprachen, die sie gerne lernen würden. Lebensweltlich erscheinen ihnen diese Sprachen kaum als relevant, ausser für den schulischen Gebrauch und zum Verständnis von Liedtexten, welche sie im Radio hören. Lebensweltlich scheinen diese Sprachen keinen weiteren Gebrauchtswert für sie zu haben. Chinesisch und Japanisch sind für Sylvia vom Deutschen am weitesten entfernt und eignen sich für sie damit am Besten zur Herstellung einer sprachlichen Exklusivität, wie wir sie schon unter dem Aspekt der Geheimsprache erörtert haben. Sanna stellt der Exklusivität des Chinesischen und Japanischen das Türkische entgegen. Eine Sprache, die lebenweltlich für sie sehr relevant ist, da man sie "viel hört". Hier taucht wieder das Motiv der Heterotopie und der Isotopie, der nahen und der fernen Ordnung, auf. Im Vergleich zum Chinesischen und Japanischen, stellt für Sanna das Türkische eine nahe Ordnung dar, da sie lebensweltlich relevant ist.

Einen anderen Bezug stellt Remzi her. Er führt die Kategorie der »aussereuropäischen Sprachen« ein. Das Japanische, als aussereuropäische Sprache, verknüpft er mit Fortschrittlichkeit, woraus man schliessen könnte, dass das Gegenteil, nämlich die europäischen Sprachen "rückschrittlich" sind.

Interviewer/in: Was könnte man dann tun? Also, wenn du jetzt alle Sprachen wüsstest? Was wäre gut daran?
Remzi: Ja, umso mehr man sich qualifiziert, desto bessere Chancen hat man später, beim Job.
Interviewer/in: Beim Job, Beruf dann?
Remzi: Ja. Genau. Da sind Sprachen / vor allem aussereuropäische Sprachen, wie Japanisch, gerade weil diese Länder fortschrittlich sind, also solche Sprachen zu lernen, das wäre mir ganz wichtig. Ist mir ganz wichtig, so etwas zu lernen.
(Remzi, Schule C, 23-Rz.) 1.9.95

Für Remzi haben die Sprachen auch den Aspekt einer Qualifikation, welche seine Chancen für die berufliche Zukunft steigert. Für ihn ist es wichtig gerade solche Sprachen zu erlernen, die in Zukunft aufgrund ihrer Fortschrittlichkeit gute Berufsperspektiven bieten. Für ihn scheint die Zukunft in "aussereuropäischen" Regionen zu liegen. Während für Remzi Sprachen die berufliche Zukunft absichern, stellt sich Karen zunächst dem Problem, wie man diese aussereuropäischen Sprachen denn überhaupt lernen könnte, da sie sich erheblich von europäischen unterscheiden.

Interviewer/in: Und du, K.? Welche Sprache würdest du lernen wollen?
Karen: Japanisch und ((Chinesisch)), weil ich glaube, das könnte ich niemals alleine lernen. Den anderen Kram, jetzt so Italienisch und so, das ist tierisch einfach. Ich glaube, dass man das innerhalb von einem Jahr auch lernt. Wenn man in das Land geht, ich glaube, wenn man wirklich eine Sprache lernen will, dann kann man jede Sprache lernen. Nur diese Japanische oder Chinesisch, ich finde das tierisch schwierig.
Else: Und Griechisch, Ägyptisch.
Interviewer/in: Wie klingen diese Sprachen für dich?
Karen: Ich finde sie lustig, aber ziemlich unverständlich, weil sie haben einen so ganz anderen Laut als europäische Sprachen.
Interviewer/in: Wie ist es zum Beispiel mit, wo, glaubst du, könntest du diese Sprachen anwenden?
Else: Ich denke, zum Beispiel Japaner und Chinesen kommen jetzt auch viel nach Deutschland, dass man irgendwie, weiss ich nicht, zum Beispiel wenn man Botschafterin ist, dann könnte man das anwenden. Ich weiss nicht, vielleicht hätte ich ja mal Lust; man kann nie genügend Sprachen sprechen. Auch wenn die Leute eben hierher kommen, es gibt ja auch viele Touristen, dann könnte man sich auch mit denen unterhalten. Das finde ich gut. Es ist was anderes, da man die Mentalität, die die haben, die kennt man gar nicht. Europa ist irgendwie total anders. Total unterschiedlich.
(Else, Karen, Schule C, 22-Kr.) 1.9.95

Else und Karen werfen den Aspekte der Phonetik einer Sprache auf. Für sie ist es aber auch die gesamte Mentalität, welches das Japanische und das Chinesische von europäischen Sprachen unterscheidet. Wie Remzi das Japanische für seine berufliche Zukunft gebrauchen könnte, so denken auch Else und Karen pragmatisch an den Umgang mit Touristen. Hier zeigt sich in der Wahrnehmung der Jugendlichen ein klares Bewusstsein über die globalen ökonomischen Veränderungen, wie sie zum Beispiel der Aufstieg Japans oder Chinas zu grossen Wirtschaftsmächten bedeutet. Ihnen scheint klar zu sein, dass sich dies auch in ihrer lokalen Lebenswelt abbilden wird. Während "aussereuropäische" Sprachen als fremd in Klang und Mentalität wahrgenommen werden, sind es andere Aspekte die an "europäischen" Sprachen wahrgenommen werden.

Interviewer/in: Du hast Italienisch? Warum würdest du Französisch aussuchen?
Radeelat: Die Sprache ist so schön.
Ramesch: Ich weiss nicht, wenn man die Sprache fliessend sprechen könnte, würde ich gar nicht schlecht finden. Finde ich schön, die Sprache.
Interviewer/in: Weil sie schön klingt?
Ramesch: Ja.
Interviewer/in: Und warum Italienisch?
Ramesch: Das auch, ich finde, das klingt schön, und irgendwie würde ich da auch gerne leben, und dann nicht immer mit Händen und Füssen; wenn man das sprechen könnte.
(Ramesch, Radeelat, Schule C, 29-Rm., 29-Re.) 1.9.95

Auch hier wird die Phonetik wahrgenommen, allerdings nicht als fremd sondern unter der ästhetischen Kategorie der Schönheit. Ramesch wirft noch einen weiteren Aspekt der Sprache auf. Sie kennt wohl die Situation mit einer Person zu interagieren, aber deren Sprache nicht zu sprechen. In solch einer Situation verweigert sich nicht die Interaktion, sondern greift auf die Gestik und Mimik ihrer Körpers zurück um sich verständlich zu machen. Die Tatsache auf eine Sprache, hier dem Italienischen, zurückgreifen zu können würde es ihr erlauben in einer alltäglichen Situation von der körperliche Gestik und Mimik zur sprachlichen Interaktion übergehen zu können. Serpil hat ähnliche Erfahrungen mit dem Italienischen.

Ja, ich kenne einige. Neben unserem Geschäft, da waren so Italiener. Die konnten ja nicht, die Arbeiter, weil die hatten nur italienische Kunden gehabt, konnten ja nicht perfekt Deutsch. Da hatten sie immer geredet, und es hat mir gefallen, die Sprache. Und dann mussten wir so mit der Hand und so. {lacht}
Interviewer/in: Da hast du denn schon ein paar Wörter gerlernt?
Nee. Ja, ich hab', aber nicht so richtig.
(Serpil, Schule B, 15-Se.) 17.8.95

Die sprachliche Interaktion im Italienischen scheint für Serpil hauptsächlich mit der älteren Generation schwierig zu sein, während sie mit den Gleichaltrigen auf Deutsch interagiert237.

Interviewer/in: Wo, meinst du, könntest du Italienisch anwenden?
Wenn ich so viel mit Italienern rumhinge und so. Ich habe aber schon italienische Freunde, auch von meinen Geschwistern, einige sind Italiener, aber die können perfekt Deutsch. Da reden die meisten nicht Italienisch. Nur wenn die mit italienischen Freunden sind, dann.
(Serpil, Schule B, 15-Se.) 17.8.95

Auch das Griechische ist durch eine lebensweltliche Nähe gekennzeichnet und wird als ästhetisch empfunden.

Griechisch. {lacht}
Interviewer/in: Warum gerade Griechisch?
Weil meine beste Freundin Griechin ist. Dann kann ich mit ihr reden. Ich finde die Sprache auch gut. {lacht} Hört sich gut an.
(Suzan, Schule C, 30-Si.) 1.9.95

Der Unterschied der am meisten beim Griechischen ins Auge fällt ist, wird von Suzan berichtet.

Griechisch, auf jeden Fall die Schrift. Als Erstes die Schrift.
(Suzan, Schule C, 30-Si.) 1.9.95

Während vom lebensweltlichen Kontakt mit Gleichaltrigen berichtet, in dem die Sprachen relevant sind ist es bei Nadja der Kontakt ihrer Mutter zum Dänischen, der ihr die Sprache nahe bringt.

Und Dänisch, weil ich viele Bekannte davon habe, also meine Mutter hat viele Bekannte von denen. Weil sie arbeitet im Dänischen Bettenlager, und da gibt es nur Dänische. {lacht}
(...)
Dänisch ist auch sehr komisch. {lacht} Das ist irgendwie, muss man so innerlich, dann versteht man das auch so. Wenn man sich richtig reinsteigert, dann versteht man das.
(Nadja, Schule A, 10-Na.) 15.8.95

Der Arbeitsplatz scheint ein wichtiger Ort des Sprachkontaktes und des Spracherwerbs zu sein. Dieser Teil der Lebenswelt erscheint auch für zu hause, im Privaten, relevant, sodass Nadja Dänisch im eigentlichen Sinne nicht erlernen muss, sondern sie kann es "innerlich" verstehen, in dem sie eine Vorstellung der strukturalen Ähnlichkeit des Deutschen und des Dänischen nutzt. Auch Serpils Schwester muss das Englisch im Alltag ihrer Lebenswelt meistern und hat es sich auch dort angeeignet.

Ja, natürlich. Meine Schwester konnte auch zuerst gar nicht Englisch, sie konnte schon, aber nicht richtig. Und dann hat sie in einer Firma gearbeitet nach der Schule. Da waren nur farbige Leute, die da nur Englisch geredet haben. Später konnte, jetzt kann meine Schwester auch perfekt Englisch. Weil sie auch vier, fünf Jahre unter denen gearbeitet hat, und die haben ja nur Englisch geredet. Da musste meine Schwester sich auch mit denen unterhalten, obwohl sie ja nicht so viele Englische Wörter konnte. Und danach, später hat sie das dann richtig gelernt, die Sprache.
(Serpil, Schule B, 15-Se.) 17.8.95

Die "farbigen Leute" durch deren Kontak Schwester "perfekt Englisch" gelernt hat, sind Teil der Lebenswelt der Jugendlichen, wie uns auch Recep berichtet. Er findet, dass es gut für's Geschäft ist wenn man Englisch und Französisch sprechen kann.

Ich hätte dann gerne Englisch gelernt. Weil Englisch ganz gut ist, das braucht man überall, fast. Und überall redet man ja Englisch. Wir haben jetzt ja Englisch, und ich versuch Englisch gut mitzumachen, weil ich brauch das manchmal im Geschäft, meistens kommen Farbige rein, die nicht gut Deutsch können. Dann versteht man sie nicht, dann machen sie mit der Hand Zeichen, zeigen zum Beispiel in die Vitrine, dann sag ich alles mit "Bitte schön" und alles drum und dran. Darum würde ich gern Englisch lernen, richtig gut. Oder Französisch. Französisch wäre auch schön. Ich hätte gern mehrere Sprachen gelernt. Wie sie gesagt habe, wäre das so, dann wäre es gut. {lacht}
(Recep, Schule A, 4-Ri.) 15.8.95

Der Bezug von Recep auf das Englische und Französische spiegelt die Herkunft der meisten "farbigen Leute" in den Untersuchungsviertel wider. Die ansässige schwarzafrikanische Bevölkerung kommt aus den ehemaligen englischen und französischen Kolonialgebieten (aber auch den ehemaligen deutschen Kolonien wie zum Beispiel Kamerun und Togo). Ramesch und Radeelat berichten von einer andere Sprachen des afrikanischen Kontinents.

Interviewer/in: Warum Yoruba?
Radeelat: Ja, weil, das mal eine andere Sprache, die kennt auch nicht jeder.
Interviewer/in: Damit du dich mit deinem Vater unterhalten kannst?
Radeelat: Ja.
Interviewer/in: Oder um auch mal da hinzufahren, Nigeria?
Radeelat: Ja. Irgendwann werde ich da hinfahren. Okay, das natürlich auch.
Interviewer/in: Nicht für immer? Nur für Urlaub.
Radeelat: Nein! {lacht} Nur für den Urlaub.
Interviewer/in: Würdest du dir das auch aussuchen, Yoruba?
Ramesch: Ja, klar.
(Ramesch, Radeelat, Schule C, 29-Rm., 29-Re.) 1.9.95

Für Ramesch und Radeelat ist die lebensweltliche Relevanz des Yoruba über ihre Herkunft väterlicherseits gegeben. Analog zum Vater-Verhältnis ist auch das Verhältnis zu der ihm zugeschriebenen Sprache; es ist zukünftig, potentiell. Das Erlernen des Yoruba, wäre gleichzusetzen mit dem Kennenlernen des Vaters und der eigenen Abstammung. Der potentielle Reise nach Nigeria wäre auch die Entdeckung der eigenen Geschichte. Die ferne Ordnung könnte zur nahen Ordnung umgearbeitet werden. Auch Stefanie hört Sprachen auf den Strassen ihrer Lebenswelt und ordnet sie dem afrikanischen Kontinent zu.

Nein, eigentlich nicht, würde ich sagen. Also, zu Sprachen noch einmal abschliessend: Ich spreche eigentlich nur Deutsch, ausser wenn ich in der Schule bin; ich glaube, das machen auch viele Leute, aber man hört schon öfter, dass manche Leute eine andere Sprache reden. So Türkisch oder, weiss ich nicht, so Afrikanisch, die verschiedenen Sachen, die die Leute sprechen auf der Strasse. Über die meisten Deutschen habe ich so den Eindruck, die also hier aufgewachsen sind, die sprechen eigentlich auch nur Deutsch, unter sich.
(Sylvia, Schule C, 21-St.) 1.9.95

Die neue Kundschaft im elterlichen Geschäft von Recep und die Arbeiter auf der Arbeitsstelle von Serpils Schwester, werden als »farbig« beschrieben und künden vom lebensweltlichen Ausdruck neuer Migrationsbewegungen. Die "Sichtbarkeit" farbiger Personen hat im Untersuchungsgebiet in den letzten Jahren zugenommen. Sie begegnen uns in den Stadtspaziergängen als »Rastas« (pop-kultureller Ausdruck der Migration von Jamaika nach Grossbritannien in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts), als Arbeiterinnen und Arbeiter (im beschriebenen Schlachthof hat die Präsenz und die Sichtbarkeit von farbigen Arbeiterinnen und Arbeitern zugenommen) und als »Dealer« (Händler von illegalisierten Drogen).

Ayºe verbindet mit dem Englischen einerseits berufliche Zukunftschancen, anderseits ist es die (pop)kulturelle Sprache der Massenmedien.

Interviewer/in: Und du, A.? Welche Sprache würdest du lernen wollen?
Ayºe: Eigentlich Englisch. Also perfekt, ich kann ja schon ein bisschen Englisch, aber ich will das richtig können.
Interviewer/in: Warum?
Ayºe: Weil ich das später beruflich bestimmt brauchen werde.
Interviewer/in: Woher kennst du das Englisch.
Ayºe: Von den Filmen, wo sie immer Englisch gesprochen haben.
Interviewer/in: MTV.
Ayºe: Ja.
Interviewer/in: Und du?
Gülºen: Ich auch Englisch, perfekt Englisch.
Interviewer/in: Warum?
Gülºen: Weil ich das so beruflich und so schon mal gehört habe. Was das alles heisst und bedeutet. Ich finde, das hört sich ausserdem gut an, ausserdem. In vielen Ländern wird ja auch Deutsch oder Englisch, auf jeden Fall immer Englisch, ist immer dabei.
(Ayºe, Gülºen, Schule A, 12-Ay., 12-Gü.) 15.8.95

Auch für Gülºen und Tatiana ist das Englische als massenmediale Sprache präsent.

Interviewer/in: Warum Englisch?
Weil es sich auch gut anhört, sind auch so schwierige Sätze.
Interviewer/in: Und wo hast du, hörst du das? Wo wird das gesprochen?
Im Fernsehen und in Liedern.
(Tatiana, Schule A, 11-Ta.) 15.8.95

Und auch Olivier findet einen massenmedialen Zugang zum Englischen über Sportarten, die er mit dieser Sprache verknüpft.

Soll ich anfangen? Alles klar. Ich habe mein Lieblingshobby, das ist Football. Das hat also sehr viel mit Englisch zu tun. Also das gefällt mir, daher mag ich Englisch auch ziehmlich gerne, die Sprache. Ich kucke deswegen auch oft englische Sendungen im Fernsehen, liebend gern. Was mir nicht so gefällt, es ist auch ziehmlich stressig mit Football, auch mit Training und so, aber das kriegt man schon irgendwie hin. Ja.
(Olivier, Schule C, 24-OK.) 1.9.95

Die (pop)kulturelle Welt scheint aber nicht nur englischsprachig zu sein. Monique und Tatiana berichten von ihren lebensweltlichen Vernetzungen.

Monique: Von meiner Schwester Freund.
Interviewer/in: Der ist Spanier? Kommt er aus Spanien?
Monique: Aus Amerika, Honduras.
Interviewer/in: Ach so. Also da hast du es gehört? Da hörst du Spanisch? Von ihm?
Monique: Ja.
Interviewer/in: Hörst du es sonst noch irgendwo?
Monique: In Liedern.
Tatiana: Lieder.
Interviewer/in: In Musik. Kannst du sagen, was dir an dieser Sprache gefällt?
Monique: Wie sie es so sagen. Wie sich's anhört.
Tatiana: Wie sich's anhört.
Interviewer/in: Wie hört sich's an?
Tatiana: {lacht}
Interviewer/in: Weiss nicht, so warm, kalt, wie eine Melodie, wie ein schönes Lied? Es ist schwer, so etwas zu sagen, oder? Ist es schwer zu beschreiben?
Tatiana: Stimmt.
(Monique, Tatiana, Schule A, 11-Mel., 11-Ta.) 15.8.95

Monique, Tatiana und die spanischsprachige Interviewerin verweisen uns darauf, dass es neben der englischsprachen (pop)kulturellen Welt auch eine weit über Lateinamerika hinausgehende spanische Popmusik gibt, welche ganz eigene Stars hervorbringt.

Für Kadriye und Nadja sind Bosnisch, Jugoslawisch und Albanisch lebensweltlich sehr relevant, da die Jugendlichen täglich in der Schule und auch auf der Strasse damit konfrontiert sind.

Kadriye: Ja, die sind auch dabei, aber die sprechen das nicht.
Nadja: Ja, Bosnisch.
Kadriye: {flüstert} Jugoslawisch.
Interviewer/in: Bosnisch sprechen sie, Jugoslawisch.
Kadriye: Albanisch.
Nadja: Genau, ja, Albanisch; gibt es auch in unserer Klasse.
(...)
Bosnische auch, die sind aber ausserhalb dieser Schule.
(Nadja, Kadriye, Schule A, 10-Na., 10-Ka.) 15.8.95

Der Wunsch diese Sprachen zu lernen, scheint eng mit dem Wunsch nach Kontaktaufnahme mit Neuankömmlingen verbunden.

Erdem: Oder Albanisch würde ich auch.
Interviewer/in: Wieso Albanisch?
Andreas: {lacht}
Erdem: Mit ihm hier reden. Oder Bosnisch. Weisst du, dem neuen Mädchen, erzähle ihr was.
Interviewer/in: Wieso Bosnisch?
Erdem: Wir haben jetzt drei neue Mitschülerinnen. Die sprechen immer bosnisch. Da würde ich gern mitkriegen, was sie reden.
(Erdem, Andreas, Schule A, 2-E., 2-A.) 15.8.95

Alexa würde gerne, wie auch Erdem und Andreas, alle für sie lebensweltlich relevanten Sprachen erlernen um den unterschiedlichen Situationen sprachlicher Interaktion gewachsen zu sein.

Interviewer/in: Ach so. Gut. Und du, Alexa, welche Sprachen würdest du lernen wollen?
Jugoslawisch, Türkisch, Polnisch und Englisch. Damit man dann alles versteht, was die anderen reden und Englisch, auch so, braucht man ja auch.
(Alexa, Schule B, 16-Al.) 17.8.95

Während wir bisher nur auf positive Bezüge zu den lebensweltlich relevanten Sprachen gestossen sind, berichten uns Lolo, Bettina und Jutta zum Abschluss von negativen Bezügen und der Verweigerung einer sprachlichen Interaktion.

Lolo: Ja, weil ganz oft ist das ja, jetzt zum Beispiel haben wir eine Ungarin in der Klasse
Bettina: Und ihr ist das peinlich.
Lolo: Der ist das total unangenehm da was zu sagen. Es waren Ungarn an unserer Schule, und da wollte sie nicht mit denen reden.
Bettina: Weil ihr das peinlich war.
Lolo: Das und dann wollte sie das nicht machen.
Bettina: Also ich würde das.
Jutta: Weil es peinlich war vor den anderen.
Lolo: Ich würde dazu vor den anderen stehen, weil man eine Sprache kann, das ist doch was gutes.
(Lolo, Bettina, Jutta, Schule C, 25-Li., 25-Ba., 25-Ju.) 1.9.95

Hier treffen wir zunächst wieder auf die Gleichsetzung von Sprache und Nationalität und der Zuschreibung dieser so konstruierten nationalen Identität. Für die drei Mädchen ist es klar, dass eine Ungarin Ungarisch spricht. Desweiteren folgern sie, dass wenn andere Ungarn den Raum betreten, sie untereinander Ungarisch reden. Da das Mädchen nicht mit ihnen reden wollte, schliessen Lolo, Bettina und Jutta nun daraus, dass es ihr peinlich sei. Während die drei Mädchen es als positiv sehen, auch andere Sprachen zu sprechen, erscheint es für die "Ungarin" zunächst als negativ. Das Mädchen, über das berichtet wird heisst Viviane und kommt aus einer Familie, die als Deutschstämmige aus Ungarn ausgesiedelt sind. Wie sieht sie ihr Verhältnis zum Ungarischen?

Interviewer/in: Wie ist es denn bei dir mit Ungarisch? Kannst du das verstehen?
Ja, ja, ich rede, aber ich kenne hier keinen, der Ungarisch redet.
Interviewer/in: Du bist aber keine Ungarin?
Doch, meine Eltern kommen aus Ungarn. Aber ich bin in Deutschland geboren.
Interviewer/in: Wie gut kannst du Ungarisch noch?
Ja, nur einige Wörter sind da, die ich nicht verstehe.
Interviewer/in: Hm.
So ganz perfekt kann ich es auch nicht.
Interviewer/in: Welche Wörter kannst du denn da ((noch))?
Ich meine, ich kann sprechen / könnte ich jetzt.
Interviewer/in: Du kannst auch verstehen?
Ja, ja.
Interviewer/in: Was deine Eltern zu Hause reden? Sprichst du zu Hause auch viel?
Wir reden immer durcheinander, Deutsch und Ungarisch.
Interviewer/in: In der Schule hast du Ungarisch nicht gehabt?
Nein.
Interviewer/in: So lesen und Schreiben? Kannst du auch lesen und schreiben auf ungarisch?
Lesen kann ich.
Interviewer/in: Schreiben auch?
Schreiben nicht so gut. Aber wenn ich muss, dann versuche ich es.
(Veronica, Schule C, 28-Vi.) 1.9.95

Lebensweltlich ist für sie Ungarisch nur in der sprachlichen Interaktion mit ihren Eltern relevant. Mit anderen kann sie es nicht sprechen. Das Ungarisch, welches sie mit ihren Eltern spricht, kennzeichnet sie als eine Mischung des Ungarischen mit dem Deutschen. Ihre Schwierigkeiten liegen darin, dass sie die, im Nationalstaat Ungarn herrschende Normvarietät des Ungarischen nicht beherrscht. Auch die Schriftsprache, wie sie in der nationalen Institution der Schule gelehrt wird, beherrscht sie nur mühsam.

Wir haben nun herausgearbeitet, wie die Wirklichkeiten und Möglichkeiten der urbanen Lebenswelten unterschiedliche Anforderungen an die Fähigkeiten zur sprachlichen Interaktion stellen. Gleichzeitig haben wir aber auch herausgearbeitet, wie genau diese urbanen Lebenswelten selbst wieder Möglichkeiten schaffen sich diese Fähigkeiten durch die lebensweltliche Interaktion anzueignen und auszubilden. Tourismus, Arbeitsplatz und alltäglicher Kontakt scheinen Möglichkeiten bereitzuhalten um ferne in nahe Ordnungen umzuarbeiten. Die lebensweltlichen Veränderungen, die sich durch die Ankunft und Integration immer neuer Einwanderer und Einwanderinnen ergeben, finden so ihren Ausdruck auf dem Feld der sprachlichen Interaktion. Nationalstaatliche Institutionen, wie sie die Schule darstellt, scheinen kaum diese Fähigkeiten im Unterricht weiter auszubilden, sondern sie sind in die unkontrollierten Fugen der ausserunterrichtlichen Situationen wie zum Beispiel des Pausenhofes abgedrängt. In einem letzten Schritt wollen wir uns nun den zeitlichen Aspekten der Sprachvorstellungen zuwenden und uns fragen, wie die Beziehung zwischen der Erinnerung an die Vergangenheit, der Produktion der Gegenwart und der Antizipation der Zukunft sich darstellt.


237 Siehe dazu die Untersuchungen von Peter Auer, der die Beziehungen des »Deutschen« und des »Italienischen« untersucht hat. Auer & Di Luzio, Peter & A.: Structure and meaning of linguistic variations in Italian Migrant Children in Germany.