3. Orientierungen im Urbanen Raum: Landkarten des Übergangs

3.1. Die Produktion des urbanen Raumes

Ort des Gleichen – Ort des Anderen

Begrenzung und Homogenisierung des Raumes

Gegen die Ethnisierung des Raumes

3.2. Landkarten des Übergangs

Sprachliche Räume

Sprache konstituiert Gruppen im Raum

3.3. Das historische Werden des Übergangs

Historische Schichten

Die Konstruktion des Nationalstaates: Durchsetzung des abstrakten Raumes und der homogenen Ordnung

Durchsetzung bürgerlicher Verhältnisse im Alltag

Offizieller Urbanismus im 20. Jahrhundert

Migration als Grundbedingung des Urbanen

Die Produktion des urbanen Raumes

Im Verlauf dieser Untersuchung urbaner Lebenswelten rückte zunächst der Raumbegriff ins Zentrum der Betrachtungen. In der Sozialgeographie ist die These verbreitet, dass im Verlauf des historischen Prozesses abstrakte Qualitäten dem geographischen Raum, neben den konkreten Qualitäten, eingeschrieben worden seien. Dadurch gewinne der geographische Raum in seiner Symbolik sowohl konkrete als auch abstrakte Strukturen, die das, was gesellschaftliche Wirklichkeit dieser urbanen Räume genannt werden könnte, mitformen84. Ausgehend von dieser sozialgeographischen Perspektive möchte der Autor nachfolgend den Versuch unternehmen Qualitäten des Raumes in der kindlichen Lebenswelt zu entziffern, um dann den zugrundeliegenden Raumbegriff selbst zu problematisieren. Der Gang der Betrachtung führt zunächst Problemen, mit denen Kinder in den untersuchten Stadtlandschaften Sankt Pauli und Altona, an Orten ausserhalb von Schule und Familie konfrontiert sind. Das Schwergewicht der Betrachtung liegt auf dem Aspekt der sprachlichen Konstituierung dieses Raumes durch die befragten und beobachteten Kinder und arbeitet sich weiter zum historischen Entstehungszusammenhang dieses Raumes vor, den man Stadtlandschaft nennen könnte. Die zugrundeliegende Frage ist die nach den Beziehungen zwischen den Orientierungen der Kinder in dieser Stadtlandschaft und der historisch gewordenen städtebaulichen Struktur derselben. Die Fragerichtung zielt also auf die gesellschaftlichen Bedingungen unter denen, hier greife ich wieder auf Henri Lefébvre zurück, der Raum produziert wird85.

In unserer Wahrnehmung, so weiss die Sozialgeographie weiter

"überschreiten [wir] mit der äusseren Linie zugleich innere Grenzen [...] [und] Szenen bestimmen unsere Räume. Diese haften ihnen als Stimmungen gleichsam an. [...] Die innere Landschaft ist der Niederschlag szenisch erfahrener Orte. Sie steht uns als Landkarte zur Verfügung"86

Solche Grenzmarkierungen in der kindlichen Lebenswelt, hier als kindliche Stadtlandschaft bezeichnet, gehen einher mit einer Stellungnahme zu dem sozialen Geschehen an diesen dermassen abgegrenzten Orten. In ihrem praktischen Handeln, über das uns (dem Forschungsteam) die Kinder Auskunft gaben, differenziert sich ihre Raumwahrnehmung nach Orten, die sie aufsuchen, man könnte sie nahe Ordnungen nennen und solche, die sie meiden, ferne Ordnungen. Vor den gemiedenen Orten sind, so könnte man sagen, Grenzen für sie errichtet, die sie nicht überschreiten; die Gründe dafür erklärten sie uns. Die so entstehende »innere Landkarte«, an denen sich der These nach die Kinder orientieren, wird in ihren unterschiedlichen Dimensionen nachfolgend darzustellen versucht. Im Sinne der Ermittlung und Beschreibung von »szenisch-räumlichen Konstellationen« soll versucht werden, die Grenzen zu entziffern, wie sie die Kinder als aufgerichtet empfinden, und um auf diese Weise die kindliche Stadtlandschaft in ihrem sozialen Gehalt zu analysieren. Im Anschluss an die Analyse der Verräumlichung sozialer Beziehungen in den Schuleinzugsgebieten87 und die Entzifferung von Dimensionen der kindlichen Stadtlandschaft, werden die Konstellationen der in den Stadtspaziergängen angetroffenen Kindergruppen selbst betrachtet. Dabei wird der Frage nachgegangen, in welchen sprachlichen Konstellationen die Kinder angetroffen wurden und ob das Konstrukt Sprache selbst, etwa im Sinne der Hewitt'schen Betrachtungen88 über die Konstituierung bzw. Dekonstruktion von Gruppenkonstellationen unter den Heranwachsenden, eine Dimension bildet, die Räume markiert und somit zur kindlichen Wahrnehmung des sozialen Raumes im vielfältigen grossstädtischen Umfeld beiträgt. Daran knüpft dann eine Entzifferung des historischen Entstehungsprozesses dieser Stadtlandschaft an, die versucht die historische Spezifik des untersuchten urbanen Gebildes näher zu bestimmen.

Der nachfolgenden Darstellung liegen im wesentlichen jene Auskünfte zugrunde, die die von uns im Rahmen der Stadtspaziergänge befragten Kinder zu unseren offenen Fragen gaben. Hier schilderten uns die Kinder sehr eindrücklich Erlebnisse und Probleme, mit denen sie konfrontiert sind, ohne dass sie von uns andere als offene, unspezifische Impulse erhalten hätten. In der folgenden Darstellung sind solche Schilderungen zu Problemlagen gebündelt; ferner haben wir, wo möglich, eine Zuordnung der Erfahrungen und Sichtweisen zu konkreten geographischen Orten einerseits, zu Gruppenkonstellationen andererseits vorgenommen. Die Rekonstruktion der kindlichen Schilderungen erfolgt auf der Basis der erstellten Protokolle89.


Ort des Gleichen – Ort des Anderen

Während der Befragungen erwähnten die Kinder immer wieder Erwachsene. Diese wurden als »fremd« und »männlich« beschrieben. Sie berichteten von Orten, an denen sich Kinder und »der erwachsene, fremde Mann« begegneten. Dieser Art Begegnung kennzeichneten die Kinder durch Schilderungen von »Mitnehmen«: sie sprachen vom Wegbringen von einem bekannten Ort hin zu einem ihnen unbekannten Ort. Dabei blieben uns die Merkmale solcher Orte zunächst unklar. Die genaue Betrachtung der Äusserungen ergab, dass eines der Merkmale, das die Kinder offenbar sehr stark beeindruckte, ihre Wahrnehmung von Sexualität war. So berichteten viele über Orte, mit an denen sie die Befürchtung verbanden von fremden Erwachsenen angesprochen und mitgenommen zu werden. Mit Verweisen auf die räumliche Nähe zur, weit über Hamburg hinaus bekannten, Reeperbahn wurden fremde Erwachsene implizit mit Sexualität in Verbindung gebracht. Ein Mädchen gab beispielsweise an, dass dort Kinder angesprochen würden: einmal habe ein Mann einem Kind erzählt, seine Mutter sei ins Krankenhaus gekommen, und er habe es unter dem Vorwand, es dorthin zu bringen, mitnehmen wollen. Ein Junge berichtete, er sei dort einmal von einem - so wörtlich - Zuhälter angesprochen worden. Andere Kinder erzählten, dass sie Angst davor hätten, dass Kinder mitgenommen werden.

Somit scheint also das Thema Sexualität, vor allem männliche, für Kinder und auch Erwachsene eine grosse Rolle zu spielen. Freilich besagen ihre Äusserungen nichts darüber, dass sie eigene bedrohliche Erfahrungen gemacht hätten. Vielmehr scheint es im Quartier ein Klima zu geben, in dem Bedrohung von Kindern durch Sexualität Erwachsener als Unterstellung oder Befürchtung virulent ist. Darauf lassen neben den Schilderungen der Kinder selbst auch einige Äusserungen bzw. Handlungen Erwachsener schliessen, die wir während der »Stadtspaziergänge« protokollierten: in direkter Weise - es wurden uns Erfahrungen sexueller Bedrohung von Kindern berichtet - und indirekter Weise, indem wir miterlebten, wie Kinder zur Vorsicht vor fremden Erwachsenen ermahnt wurden.

Dass dieses Thema soviel Bedeutung für die Bewohner Sankt Paulis besitzt, auch für die Kinder, hat gewiss damit zu tun, dass hier das international bekannte Hamburger Vergnügungsviertel mit all seinen Nebenerscheinungen zur Nachbarschaft gehört und die alltäglichen Erfahrungen schon der Kleinsten mitprägt. In der kindlichen Nutzung des Raums zeigt dies Konsequenzen. Zu diesen gehört nach unseren Beobachtungen in erster Linie, dass die Kinder es zu bevorzugen scheinen, sich an Orten aufzuhalten, an denen die Nähe zu vertrauten Erwachsenen ihnen Schutz bietet. So trafen wir viele der von uns befragten Kindergruppen in Hinterhöfen an, die von den Fenstern der Wohnungen aus überschaubar sind; andere waren in Begleitung von Erwachsenen. Diese nahe Ordnung, die Schutz bietet steht der fernen Ordnung die bedrohlich ist entgegen. Henri Lefebvre bezeichnet die Räume in der eine nahe Ordnung gilt als Isotopien. Es sind dies Orte des Gleichen, des Eigenen, in dem miteinander vergleichbare Teile des Raumes zueinander sprechen und auf eine Art lesbar werden, die es erlaubt sie einander anzunähern90. Räume der fernen Ordnung sind Orte des Anderen, der andere Ort, welcher ausgeschlossen und gleichzeitig einbezogen wird: Heterotopien.

Die Frage nach der männlichen Sexualität wird uns später noch weiter beschäftigen, dort aus der Perspektive von Jugendlichen. Männliche Sexualität spielt auch unter Erwachsenen eine Rolle. Sie steht für eine Bedrohung der Kinder durch andere Erwachsene. Die Erwachsenen bieten Schutz. Die Entführung durch den »Fremden« und »Anderen« bilden das Motiv für diese Erzählung. Mit dem Beginn der Pubertät, ändert sich die Bedeutung der männlichen Sexualität und die damit verbundenen Erzählungen darüber.

Eine andere Heterotopie, von welcher die Kinder berichten, beschreiben ihre Erfahrungen mit Drogen oder dem, was sie darüber gehört hatten. Viele der Orte, die die Kinder besuchen, werden demnach auch von Drogengebrauchern besucht. Es gehört zu den Erfahrungen der Kinder, dass sie in den aktiven Umgang mit Drogen einbezogen werden. So wurde uns beispielsweise von Orten erzählt, an denen es - so wörtlich - Besoffene, Angeber und Drogensüchtige gebe. Als Grund, bestimmte Orte zu meiden, gab eine Gruppe an, dass dort “Kleine”, also Kinder, in den Handel mit Drogen verstrickt seien; ausserdem seien dort Spritzen zu finden. Auch schilderten uns Kinder, wie sie Süchtige beim Drogeneinnehmen beobachtet hätten. Hier berichten die Kinder von Orten an denen sie einerseits Erfahrung gemacht haben, sie waren einbezogen, gleichzeitig sind diese Orte in der Erzählung ausgeschlossen und werden gemieden. In diesem Zusammenhang kam auch eine ethnische Zuschreibung vor: Berichtet wurde uns von einem Spielplatz, der nur von “Türken” genutzt würde und auf dem auch “etwas mit Drogen” geschehe. In dieser Kombination von ethnischer und krimineller Zuschreibung, so vermittelten uns diese Interviewpartner, liegt ein Modus der Abgrenzung eines Ortes vor der Nutzung durch Kinder, der grösste Massivität besitzt. Diese Ähnlichkeit der Heterotopie mit der soziologischen Kategorie der „Anomie“, also Orte an denen anomische Gruppen, wie hier die Drogengebraucher, heterotopische Räume formen, sollen uns im Verlauf der Untersuchung weiter beschäftigen.


Begrenzung und Homogenisierung des Raumes

Der Modus der »ethnischen Zuschreibungen« markiert in vielen Schattierungen die Erfahrungen der Kinder, die ihre Nutzung oder Meidung von Orten mitbestimmen. Ein Aspekt dessen ist das unmittelbare Erleben, das uns Kinder aus Minderheitenfamilien schilderten, in ihrer Eigenschaft als »Ausländer« von anderen Kindern beschimpft oder verlacht zu werden. Als Konsequenz davon würden, so sagten sie, solche Orte gemieden. Innerhalb dieses Themenkomplexes »ethnische Zuschreibung« schilderten uns die Kinder Praktiken der gegenseitigen Zuschreibung und der Aufrichtung von Hierarchien unter den »Ethnien«. Die Kinder berichteten uns ihre Wahrnehmung, dass die Kinder in diesem Stadtquartier »ethnisch« differenzierte Raumnutzung bevorzugen. In dieser Differenzierung werden Hierarchien eröffnet. So gaben uns Kinder, die sich selbst als »Deutsch« kennzeichneten, an, dass sie »nicht mit Türken« spielten oder die Plätze nicht aufsuchten, wo »die Türken« zu finden seien. Einige Kinder, die sich selbst der Kategorie »ausländisch« zuordneten, gaben an, die Kinder zu meiden (oder die Orte, an denen sie diesen begegnen könnten), die zu den - so wörtlich - Zigeunern gehörten. Auch in diesem Aspekt spiegelt sich, dass die kindliche Wahrnehmung und Deutung ihrer Lebenswelt von den Sichtweisen der Erwachsenenwelt stark beeindruckt ist. Bemerkenswert ist zunächst, dass unsere photogestützten Beobachtungen die kindliche Wahrnehmung der »ethnisch« segregierten Raumnutzung keineswegs bestätigen; das von uns zusammengestellte Sample zeigt vielmehr, dass »ethnisch« homogene Kindergruppen eher die Ausnahme darstellen. Die wenigen angetroffenen »ethnisch« homogenen Gruppen, verweisen eher auf die Orte, an denen sie angetroffen wurden. Dort befinden sich städtische Neubauten oder modernisierte Gebäude, die einer Zuordnungs- und Zuweisungpraxis durch die Wohnungsverwaltungen unterliegen. So lassen sich diese ethnisch gefassten Räume ebenfalls in Lefebvres Begrifflichkeit der Isotopie – Heterotopie fassen. Wir werden später noch auf die Tendenz der Homogenisierung in der industriellen Epoche kommen. Hier zeigt sich aber schon, dass die vieldeutigen Heterotopien zugunsten eindeutiger Homogenisierungen zurücktreten. Dies hat einen Ausgangspunkt im öffentlichen Reden über solche Orte. Jenseits des Faktischen steht ein verbreitetes öffentliches Klima der Thematisierung von »ethnischer« Abgrenzung, das innerhalb des Stadtquartiers herrscht, vor allem aber von aussen an dieses Quartier herangetragen wird. Indizien dafür liegen in der Berichterstattung der überregionalen und lokalen Presse, in der das Viertel immer wieder als »Problemviertel« gekennzeichnet wird und wo als die Probleme verursachende Kategorie der Umstand des stetigen Zuzugs von »Ausländern« als ausgemacht gilt. In dieser Berichterstattung wird auch der Modus der Hierarchisierung von »Ethnien« benutzt, wie dieses Beispiel aus dem Hamburger Abendblatt - eines von zahlreichen, die wir zitieren könnten - zeigt:

"Zu den Roma, die schon lange im Viertel lebten, zogen seit Beginn des Krieges im ehemaligen Jugoslawien immer mehr Roma-Flüchtlinge. Alteingesessene Bewohner -deutsche wie ausländische- klagten über persönliche Belästigung und Lärm"91

Eine entsprechende Praxis finden wir auch im Handel und im Schrifttum der einschlägig befassten Hamburger Behörden. So wurde etwa unter den Auspizien der Hamburger Stadtentwicklungsbehörde ein Plan entwickelt und gutachterlich begründet, nach dem ein weiterer Zuzug von Roma in das Stadtquartier vermieden werden sollte. Begründende Figur im Gutachten war, dass diese Bevölkerungsgruppe eine unzumutbare soziale und ökologische Belastung mit sich bringen, was mithin »sozialer Sprengstoff« bedeute92. Die Wirkungsweisen solcher Praktiken des öffentlichen Diskurses auf das gesellschaftliche Klima sind schon vielfach dargelegt worden. In unseren »Stadtspaziergängen« haben wir Beispiele dafür eingefangen, wie sich solche Denk- und Redeweise auch in kindlichen Wahrnehmungen und Reden niederschlagen. Wie schon angedeutet, besagt dies aber nicht unbedingt etwas über ihre faktischen Nutzung der »Stadtlandschaft«. Eine andere Näherung an diese Nutzung wird nachfolgend unternommen, indem die historisch gewachsenen stadtplanerisch-städtebaulichen Merkmale Sankt Paulis und Altonas und die Schilderungen, die uns die Kinder von ihrer Raumnutzung gaben, auf Schnittpunkte hin untersucht werden.


Gegen die Ethnisierung des Raumes

Bis hierher wurde die Kategorie »Ethnie« oder »ethnisch« benutzt, um die unterschiedlichen Gruppen, welche den Forschern in den Stadtlandschaften der Kinder begegneten, zu kennzeichnen. Gleichzeitg wurde deutlich, dass dies keine Kategorie ist, die im Feld sinnvoll anwendbar ist. So erscheint dem Autor der Gebrauch dieser Begriffe als problematisch. Sie bergen die Gefahr

„that of slipping into preconception instead of listening carefully to each incident in order to figure out what the research is truly a study of.“93

Betreiben wir eine kurze Begriffsklärung. Der Begriff der »Ethnie« ist im aufgeschlagenen Lexikon nicht aufgeführt, dafür aber der Begriff »ethnisch«:

ethnisch [gr.], Kultur- und Lebensgemeinschaft eines Volkes betreffend.“94

Der „Kleine Duden“ kennt beide Begriffe:

Ethnie: Menschengruppe mit einheitlicher Kultur.
ethnisch: die Kultur- u. Lebensgemeinschaft einer Volksgruppe betreffend95

Ich fasse den Bedeutungsgehalt der Begriffe zusammen: die Begriffe »Ethnie« und »ethnisch« fassen Menschen in Gruppen zusammen. Diese Gruppen sind durch eine einheitliche Kultur gekennzeichnet und bilden Gemeinschaften, die zusammenleben. Einzelne Menschen werden als Volk und Volksgruppe zusammengefasst. Zum Begriff »Volk« finde ich im etymologischen Wörterbuch:

Volk (...) Eigtl. = Menge, Haufen (Bienenvolk); dann = Heerhaufen (à Pulk); schliesslich (18. Jh.) = traditionell (durch Geschichte und Sprache) verbundene Gemeinschaft.96

Das Lexikon führt aus:

Volk, allg. eine Gruppe von Menschen, die geprägt ist von den aus der Raumgebundenheit erwachsenen engen Verflechtungen biol., sprachl., kultureller u. wirtsch. Art (Nation). Im Recht: die Gesamtheit der in einem Staat zusammengefassten Menschen (Staats-V. ist in der Demokratie Träger der verfassungs- u. gesetztgebenden Gewalt, die auf dem Gedanken der Volkssouveränität beruht.97

Was verbindet einzelne Menschen zu einer Einheit (Gruppe, Gemeinschaft, Volk, Volksgruppe)? Aus den bisherigen Definitionen von »Ethnie« und »Volk« wird ersichtlich, dass diese Einheit die sie bilden, eine Verflechtungen von Biologie, Kultur, Geschichte, Sprache, Wirtschaft, Raum und Staat meint. Gegen diese so beschriebenen »naturalisierten Gemeinschaften« wird in der Literatur folgender Einwand erhoben:

Die Rede von quasi natürlichen kulturellen Gemeinschaften wird hier (bei Balibar/Wallerstein 1990, AH) unter den Verdacht gestellt, Legitimationsinstanz eines kulturellen Rassismus zu sein (...) der Rechtfertigungen für die Herstellung und Reproduktion sozialer Diskriminierung mit einer modernisierten Begründungsbasis versieht98.

Dagegen steht die Rede von der »kulturellen Identität« einer »ethnischen Gemeinschaft« die

das Gegenbild zur abstrakten Vergemeinschaftung der Moderne und ihre identiätsbedrohenden Vereinzelung der Individuen dar.99

»Ethnie« einerseits als konkrete Gemeinschaft, die sich als Reaktion gegen die abstrakte Vergemeinschaftung vereinzelter Individuen in der Moderne, herstellt; andererseits als Ideologie eines kulturellen Rassismus sind zwei Aspekte des Redens über »Ethnie«. Ausgehend von den Erscheinungen im konkreten Forschungsfeld stellt sich die Fragen nach dem strukturierenden Moment, also danach, wie kann ich die mir begegnenden sehr unterschiedlichen Kindergruppen so beschreiben, dass ich der Gefahr der »Ethnisierung«100 sozialer Verhältnisse entgehe? Die vorliegenden Studie geht einen Weg, der gegründet ist auf der Beschreibung konkreter Lebenswelten. Durch die Stadtspaziergänge gewann der Autor eine Vielzahl von optischen, akustischen und anderen Eindrücken in den Stadtlandschaften der Kinder. In diesen vielsprachigen Lebenswelten der Stadtlandschaften Sankt Pauli und Altona bietet sich die Sprache zur Beschreibung von Ein- und Ausgrenzungsprozessen an, ohne mit einer Kategorie wie »Ethnie« in dieser Studie zu arbeiten zu müssen. Gleichzeitg haben wir mit der Sprache auch ein der festen Umschreibung sich entziehende Kategorie gefunden, die einer Naturalisierung und damit Verfestigung gesellschaftlicher Beziehungen entgegenwirkt.


Landkarten des Übergangs

Um eine Vorstellung von der kindlichen Nutzung des Stadtquartiers zu erhalten, haben wir unsere Probanden im standardisierten Teil unserer photogestützten Interviews nach Orten gefragt, die sie meiden, und solchen, die sie bevorzugen. Die Auswertung ihrer Antworten ergab, dass die von den Kindern respektierten Grenzen ihres Bewegungsspielraums in der Tat weitgehend in städtebaulichen Merkmalen liegen. Die von den Kindern genannten Abgrenzungen lassen jene Achsen nachvollziehen, die im Laufe der Zeit in der städtebaulichen Entwicklung Sankt Paulis und Altonas entstanden sind. Einzig gegen Norden scheint sich in ihrer Wahrnehmung keine klare Grenze zu finden; in allen anderen Himmelsrichtungen jedoch sind Grenzen wohl definiert. In den kindlichen Markierungen der Stadtlandschaft findet sich die historische Entwicklungsachse von Süden nach Norden wieder, die Sankt Pauli aufweist. Ausgehend von der Elbe im Süden entwickelte sich der Stadtteil, wie oben beschrieben, in Richtung Norden, wobei sich in der Tat im äussersten Norden keine deutliche Abgrenzung entwickelt hat. In Ost-West-Richtung verweisen die von den Kindern benannten Grenzen auf die historische Lage Sankt Paulis zwischen Hamburg und Altona.

In ihren Grenzbestimmungen beziehen sich die Kinder jedoch ausser auf das nach städtebaulichen Merkmalen Erwartbare, auf eine Vielzahl anderer Orte. Es lassen sich in der kindlichen Stadtlandschaft abgegrenzte Räume, Heterotopien, wiederfinden, die nachfolgend im Detail beschrieben werden. Es handelt sich um Strassenzüge, die die Untersuchungsgrundschule umschliessen.

Ein Grossteil der Kinder der Untersuchungsgrundschule wohnt in den umliegenden Strassen. Dieses Quartier ist zum einen geprägt durch Wohnterrassen und Passagen aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, zum anderen durch Kleingewerbe und Zuliefererbetriebe für den angrenzenden Schlachthof. Dieses Viertel gehört verwaltungstechnisch zum »Karolinenviertel«, ist aber heute geographisch von ihm getrennt. Während zu Beginn der Schlachthofbebauung das »Karolinenviertel« noch direkte Strassenverbindungen zum Zentrum des Gebietes, dem »Neuen Pferdemarkt« besass, wurden durch die Expansion des Schlachthofes in zwei Ausbauphasen (1910 und 1950) alle direkten Verbindungen unterbrochen. Seither befindet sich das »Karolinenviertel« in einer isolierten Insellage. Das Viertel hingegen, das im Westen an den Schlachthof angrenzt, ist nur auf dieser Seite durch dessen massive Bebauung abgegrenzt. Dies hat sich seit dem Januar 1998, mit der Eröffnung des zu einem »Kulturzentrum« umgebauten Teils des Schlachthofes geändert. Nun verbindet eine Brücke und die sogenannte »Karo-Diele« den östlichen Teil des Karolinenviertels mit dem westlichen. Ohne sich an dieser Stelle mit der Modernisierungspolitik der »Stadterneuerungsgesellschaft« und ihrer Bevorzugung einer gewissen Klientel weiter zu beschäftigen, lässt sich eine verstärkte Ansiedlung von Gewerbe aus dem Medien-und Werbesektor beobachten101. Zur anderen Seite ist das Viertel offen in das sog. »Schanzenviertel« hinein. Die Häuserblocks im »Schanzenviertel« verweisen auf verschiedene Bebauungsphasen nach der Parzellierung des Geländes im Jahre 1842. Innerhalb von siebzig Jahren erhielt das Viertel seine heute noch erhaltene Bebauungsform mit Wohnblocks und Gewerbegebäuden. Die historische Grenze zu Altona bildete hier eine Strasse, das »Schulterblatt«. Diese war seit den zwanziger Jahren geprägt durch Kaufhäuser, Geschäfte, Gaststätten und Restaurants. Die Veränderungen der Gewerbestruktur auf dieser Strasse hat sich seit dem Beginn der Untersuchung 1993 erheblich beschleunigt. Die unter dem Stichwort »ethnisches Unternehmertum102« geführte Debatte liesse sich hier sehr gut untersuchen, den die Rolle, die »Türkische« Unternehmungen spielen hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen103.

An das »Schanzenviertel« schliesst sich nördlich ein weiteres Viertel an; die Quartiere sind zwar durch einen Bahndamm getrennt, der aber durch mehrere Brücken durchlässig ist. Der »Sternschanzenpark« bildet die städtebauliche ebenso wie die historische Grenze zu den hier untersuchten Strassenzügen. Zwischen diesem Viertel und dem nördlich gelegenen Stadtteil Eimsbüttel sind die Grenzen fliessend. Historisch gehörte dieses Viertel zum »Schanzenviertel«; es ist aber heute in Teilen dem Verwaltungsbereich Eimsbüttel zugeschlagen. In der Nähe dieses Quartiers befindet sich auch die Untersuchungsschule C. Es gab hier grössere Bereiche mit Kriegsschäden aus dem zweiten Weltkrieg, und es hat hier schon vor Jahren eine Sanierung stattgefunden, so dass hier heute grössere Bereiche mit sozialem Wohnungsbau und saniertem Altbau anzutreffen sind. Betrachtet man die Bevölkerungszusammensetzung in diesen Blöcken, so unterscheidet sich der sogenannte »Ausländeranteil« von dem der umliegenden Blöcke. Er ist verhältnismässig gering in diesem Gebiet, wenn man ihn vergleicht mit den umliegenden nicht-sanierten Altbaugebieten.

Überquert man von dort aus eine Strasse, die zu den verkehrsreichsten Strassen Hamburgs zählt, in Richtung Westen, so befindet man sich in den Quartieren von »Sankt Pauli-Nord«. Während die »Reeperbahn« auch die historische Grenze unterschiedlicher Bebauungsphasen ausmacht und gesäumt wird von Pornokinos, Restaurants, Spielhallen und Varietés, zeichnet die »Holstenstrasse« einen breiten Streifen von Kriegszerstörungen des 2. Weltkriegs quer durch die ehemalige Altstadt von Altona nach. Sie wird gesäumt von Hochhäusern und Wohnblocks des sozialen Wohnungsbaus der Nachkriegszeit. In dieser Umgebung befinden sich auch die Untersuchungsschulen A und B. Ausgehend von diesen Streifen des Wohnungsneubaus lassen sich weitere Grenzen in »Sankt Pauli-Nord« ausmachen: es sind dies die Verwaltungslinien von 1937 und die alte historische Grenze zwischen Altona und Sankt Pauli.

In den so abgesteckten Strassenzügen sind aus der Erwachsenensicht folgende Möglichkeiten für die Nutzung durch Kinder gegeben: Im westlichen Karolinenviertel gibt es, ebenso wie im angrenzenden »Schanzenviertel«, sehr wenige Orte für Kinder, aber ein hoher Anteil von Gewerbeflächen. Dies sind im wesentlichen die Strassen selbst, Hinterhöfe, zwei Spielplätze und der Schulhof der Faberschule. Allerdings wurden häufiger Kindergruppen, die die Strassen entlang spazierten, beobachtet. Der Charakter der Strassenzüge des Schanzenviertels, durch eine Vielzahl von Kleingewerbe verschiedenster »nationaler« Provenienzen bestimmt, spiegelt die Konsumgewohnheiten der Anwohner wider: wohnbereichsbezogene, billige Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungsangebote, wie Restaurants, Gemüseläden, Hairstyle-Laden, Schlachterei, Import-Export-Läden usw. Im »Schanzenviertel« gab es historisch keinen abgegrenzten Raum für Kinder. Es war und ist auch heute noch ein Ort der alltäglichen Erledigungen, des Konsums und des Flanierens. So erstaunt die Beobachtung von spazierenden Kindern nicht. Sie durchwandern, ebenso wie die Erwachsenen, das Gebiet, ohne das es feste Spielorte gibt, an denen sie sich aufhalten. Der Raum der Erwachsenen und der Kinder ist hier nicht getrennt, sondern wird, als »Raum des Konsums«, von beiden genutzt. Der »Raum des Konsums«, den Kinder und Erwachsene nutzen, zeigt seit der Vertreibung der offenen Drogenszene aus Sankt Georg, einen weiteren Aspekt eines »Raumes des Konsums«: den Handel und den Konsum von, als illegal erklärten, Suchtstoffen. Die Forderungen nach »Schutzräumen« für Kinder und die Initiativen bestimmter Gruppen von Bewohnern und Gewerbetreibenden zur Vertreibung »schwarzafrikanischen Dealer«104 lässt die Frage nach dem Verbleib bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, in diesem von so unterschiedlichen Gruppen genutzten »Räumen«, unbeantwortet.


Sprachliche Räume

An fast allen Orten in der Stadtlandschaft Sankt Pauli trafen wir Kindergruppen an, die angaben, nur Deutsch oder Deutsch und Türkisch sprechen zu können. Somit bildet unsere Untersuchungssample die demographischen Verhältnisse im Quartier ab, denen zufolge Türkisch die verbreitetste Minoritätensprache ist. Als weiteres gruppenkonstitutierendes Merkmal erhielten wir die Angabe, dass miteinander verwandte Kinder in den Gruppen anzutreffen waren.

Jenseits der Dominanz des Deutschen und des Türkischen ergaben unsere Stadtspaziergänge Hinweise auf viele weitere Sprachen, die in Kindergruppen vertreten waren. Zunächst wurden häufig die Sprachen genannt, die den ehemaligen sogenannten Hauptanwerbeländern zu zuordnen sind. Bei diesen Nennungen fehlten allerdings jugoslawische Sprachen. Eine Angabe aus den Interviews mit den Sozialpädagoginnen im »Kindertreff« könnte hierfür eine Erklärung bieten: Laut ihren Erfahrungen komme es in jüngster Zeit vor, dass Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien sich weigerten, ihre Sprache zu gebrauchen, da sie nicht wünschen, als »Roma« angesehen zu werden. In dieser Bemerkung schwingt mit, dass das Stadtquartier eine ununterbrochene Geschichte von Einwanderung aufweist. In Zusammenleben der Bewohner vollziehen sich, wie es scheint, die in Migrationskonstellationen oft beobachteten Solidarisierungs-und Ausgrenzungsmechanismen zwischen »alteingesessenen« Zuwanderern und Neuankömmlingen.105 Wie sich gezeigt hat, haben Jugoslawisch, neben Türkisch und Deutsch eine herausgehobene Rolle in den Lebenswelten der untersuchten Jugendlichen. Wir haben im Rahmen unserer Befragung nicht zuverlässig ermitteln können, wie sich die Merkmale differenzieren, die den Kindern zur Kennzeichnung der »Aristokratie« unter den Bewohnern dienen. Die wenigen Hinweise, die wir besitzen, weisen jedoch darauf, dass es sich um Kombinationen von Sprache, Staatsangehörigkeit und Anssässigkeitsdauer im Quartier handelt. Den Auskünften nach kristallisiert sich die Ausgrenzung durch alle anderen, jenseits ansonsten bestehender interner Hierachisierungen, bei der Gruppe der Roma. Zu kleinen Experimenten während unserer Stadtspaziergänge, beispielsweise der Bitte um Identifizierung von Kindern auf Photos, die an anderen Orten des Quartiers aufgenommen worden waren, schälte sich zum Beispiel heraus, dass Kindern, die nicht definitiv erkannt wurden, sondern als »fremd« gekennzeichnet wurden, von anderen Kindern die Zuschreibung zugeeignet wurde, es handele sich um Roma; dies wurde gelegentlich verknüpft mit der Aufzählung negativer Eigenschaften, die, wie man wisse, diese Bevölkerungsgruppe besitze.

Es zeigt sich also in der Ausweitung unserer Stadtspaziergänge, dass die kindliche Stadtlandschaft im Feld unserer Untersuchung von einer Vielzahl von historisch gewachsenen Strukturen gekennzeichnet ist, die in ihrer Gesamtheit das Viertel als »Viertel des Übergangs« aufscheinen lassen. Dieser Charakter des Übergangs, den ich nicht nur historisch für die Stadtlandschaft Sankt Pauli und Altona beschrieben habe, sondern sich in der Lebenswelt der Jugendlichen auf unterschiedliche Weise wiederfindet, wird mich in Kapitel 5 nochmals unter dem Aspekt des ethnographischen Konzepts der »Liminalität« beschäftigen.

»Ethnisch-sprachlich« gekennzeichnete Merkmale sind in die Wahrnehmung-und Lebenswelt der Kinder eingemengt. Sie fungieren bei Gelegenheit als Mittel der Ein- und Ausgrenzung, aber wir haben nicht den Eindruck gewonnen, dass ihnen übermässig hohe Bedeutung zugemessen wird. Vielmehr scheint es, als öffneten bzw. schlössen sich den Kindern Räume ihrer Stadtlandschaft eher nach anderen Grenzmarkierungen: den Folgen von Städtebau und Stadtplanung einerseits, den Folgen der traditionellen Nutzung des Hafenrandgebiets für die Erwachsenenvergnügungen andererseits. Im nachfolgenden Abschnitt dieses Kapitels gehen wir der Frage weiter nach, wie sich das Merkmal »Sprache« in der Lebenspraxis der Kinder in Sankt Pauli wiederfindet, indem wir vermittelst der quantitativen Auswertung unserer bildgestützten Untersuchungen ermitteln, wieweit dieses Merkmal die Zusammensetzung von Kindergruppen beeinflusst.


Sprache konstituiert Gruppen im Raum

Gehen wir in den nördlichen Teil des Schanzenviertels, so kann uns eine Beobachtung in unserer Fragestellung weiterhelfen. Kennzeichnend hier sind zunächst die Vielzahl homogener Gruppen (homogen nach Geschlecht; Sprache und der Schule, in die sie gehen) und die geringe Anzahl von Sprachen (im wesentlichen Türkisch und Deutsch) die uns dort mitgeteilt wurden. Eine dort angetroffene Gruppe liess sich bereitwillig photographieren und beantwortete unsere Fragen. Einige Gruppenmitglieder waren mehr daran beteiligt, andere weniger. Zum Schluss, als wir schon im Begriff waren uns wieder zu entfernen, kamen zwei der Jungen auf uns zu und wollten ihre Namen, die sie uns angegeben hatten, wieder geändert haben. Einer der Jungen, der sich als Grieche, mit griechischem Vornamen, vorgestellt hatte, bestand darauf einen türkischen Vornamen zu haben und auch türkisch zu sprechen. Ein Freund, der genannt wurde, sollte aus dem Protokoll gestrichen werden. Der zweite Junge gab zunächst an, auch ein wenig Kurdisch zu sprechen. Auf unsere Nachfrage, wo er das gelernt hätte, meinte er, er habe dies von einem Freund gelernt. Als wir Kurdisch als Sprache notierten, schien ihm dies nicht recht zu sein. Er meinte, er könne es doch gar nicht richtig, sondern nur einzelne Wörter, er sei kein Kurde. Nach Ende des Gruppengesprächs kam er zu uns und verlangte mit Nachdruck, dass die Information über seine Kurdisch-Kenntnisse aus dem Protokoll gestrichen werden. Dies gibt uns Hinweise auf eine interne Homogenisierung der Gruppe zu Türken, da sich einige ihrer Mitglieder gegenüber den Gruppen der Griechen und Kurden abgrenzen. Es liegt nahe dieses Gebiet als so etwas wie einen »ethnischen« Sprachraum zu fassen, in dem die dominierende Sprache wie auch die interne Gruppenzusammensetzung überwiegend einheitlich wahrgenommen wird, konzentriert auf das Türkische. Es mag sein, dass solche Vorgänge auch Hinweise darauf enthalten, dass die türkische Sprache in einem Prozess der gesellschaftlichen Aufwertung begriffen ist106. Dieses spezifische Verhältnis des Türkischen und des Deutschen (und eingeschränkt der Sprachen des ehemaligen Jugoslawien), die sich in dieser Studie schon andeutet, untersucht die heuristische Vorstudie, auf die sich der Hauptteil der Forschungsarbeit im folgenden stützt. Eine ausführliche linguistische Analyse der sprachlichen Interaktionen unter den Kindern ist in der Arbeit meiner Kollegin Inci Dirim nachzulesen107.

Die Situation in »Sankt Pauli-Nord« hebt sich davon ab. Dort war eine Vielfalt von Sprachen in den von uns befragten Gruppen kennzeichnend. Neben Deutsch und Türkisch, die so gut wie immer vertreten waren, gaben die Kinder Sprachen aus den Anwerbeländern sowie auch Malaiisch, Polnisch, Albanisch, Romanes oder »Zigeunerisch« (so die Bezeichnung ihrer Sprache durch die Kinder selbst) an. Aus den Kindergruppen selbst haben wir hier keine weiteren Hinweise auf die spezifische Rolle der Sprache in »Sankt Pauli-Nord«.


Das historische Werden des Übergangs108

Am Beispiel der Stadtlandschaften St. Pauli und Alton lässt sich die »räumliche Gerinnung« eines historischen Prozesses beschrieben. Die Entdeckung der Amerikas und damit die Eröffnung eines westlichen Horizontes bildet in mehrfacher Hinsicht einen wichtigen Aspekt in der historischen Entwicklung der Struktur der untersuchten Stadtlandschaften. Warum? Die »Hanse« (Lübeck, Hamburg, Wismar, Rostock, Bremen) entwickelte sich aus den seit dem 11. Jahrhundert bestehenden genossenschaftlichen Zusammenschlüsse »deutscher« Kaufleute109. Der Handel war nach Nordosten ausgerichtet; auf die Schiffahrtswege der Nord- und der Ostsee110. Mit dem Mythos der Entdeckung der Amerikas öffnete sich ein neuer Horizont, der Westen. Mit der Veränderung der Gesamtstruktur der Handelswege wurde Hamburg nun Verkehrs- und Handelsknotenpunkt111. Im Gefolge des Dreissigjährigen Krieges bekam die Hansestadt Konkurrenz durch eine Stadtneugründung112. Altona zeichnete sich durch eine im Vergleich zu Hamburg »modernere« Struktur aus. Diese Konkurrenzsituation wurde über zweihundert Jahre später durch den zweiten deutsch-dänischen Krieg von 1864 politisch aufgehoben. Die Verwaltungs-»Einheit« wurde erst 73 Jahre später mit dem »Gross-Hamburg-Gesetz« durch die Nationalsozialisten geschaffen. Diese Konkurrenzsituation ist historisch geronnen in den »genordeten« Strukturen der Stadtlandschaften, der Ausrichtung der städtebaulichen Entwicklungsachsen nach Norden. Das nationale »Projekt der Einheit der Deutschen« zeigt sich in den städtebaulichen Ordungs- und Strukturierungsvorstellungen der Hamburger Verwaltungsinstitutionen. Diese lassen sich als Auseinandersetzung zwischen einer historisch gewachsenen »Nord-Ost«-Polung und einer funktionalen Ordnung, die sich an der »Ost-West«-Achse ausrichtet. Dieser Widerspruch könnte auch als ein Widerspruch zwischen den Lebenswelten, die diese Stadtlandschaften bevölkern und den Ordnungskategorien einer, sich immer mehr zentralisierenden staatlichen, Struktur konzeptionalisiert werden. In Hamburg hat sich zunächst die Neugestaltung als Stadterweiterungs- und Wohnungsbaupolitk durchgesetzt. Seit dem Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre dieses Jahrhunderts wird eine »behutsame Stadterneuerung« bevorzugt. Der Frage, welcher Gestalt diese Stadtentwicklung folgt, soll in Kapitel 4 weiter nachgegangen werden. Hier nur soviel: es deutet sich an, dass die abstrakte Vorstellung der Stadt als ein in sich widerspruchsloses Ganzes, wie man sie in den Behörden antrifft, als konkrete Ausgrenzung in den »Lebenswelten« der Bewohner der Stadtlandschaften sich auswirkt113.


Historische Schichten

Das heutige Sankt Pauli wird begrenzt und durchzogen von verkehrsreichen Strassen, die zum Teil auch als Verbindungsstrassen zwischen Autobahnen und Innenstadt dienen. Im Osten wird das Gebiet durch einen auch ausserhalb von Hamburg bekannten Park, »Planten un Blomen«, begrenzt. Wo heute der Park liegt, war früher die vorgelagerte Festungsanlage der Stadt Hamburg, die nur über wenige Stadttore (»Millerntor«, »Holstentor«, »Dammtor«) zu erreichen war. Die Bebauung des Gebiets zwischen der damals zu Dänemark gehörenden Stadt Altona im Westen und der alten Hansestadt Hamburg im Osten erfolgte von Altona aus, da vor den Festungsanlagen von Hamburg aus ein Bauverbot bestand. An die historische Stadtgrenze von Hamburg, schliesst sich bis heute eine grosse unbebaute Fläche: das »Heiligengeistfeld«, die zu einem Park umgebauten »Wallanlagen«. Diese Fläche wird genutzt für Zirkusdarstellungen, sonstiges Schaustellergewerbe und für ein Volksfest, das dreimal jährlich stattfindet: den sogenannten »Hamburger Dom«. Im Süden bilden die Elbe und die Hafenanlagen die Grenze Sankt Paulis. Mitten durch den Stadtteil verläuft die heute kaum mehr sichtbare historische Grenze zum ehemals dänischen Altona. Die »Reeperbahn«, die das »Millerntor« der Stadt Hamburg mit dem Grenztor (»Nobistor«) von Altona verbindet, scheidet verschiedene Besiedlungsphasen. Während der südlich der »Reeperbahn« gelegene Teil mit seinem Strassengewirr und den engen Gassen auf eine ältere Bebauungsgeschichte verweist, ist das nördlich gelegene Gebiet (unser engeres Untersuchungsgebiet) später bebaut worden. Es ist gekennzeichnet durch breitere, rechtwinklig voneinander abgehende Strassen und geometrisch geordnete Häuserblocks. Der Verlauf der Strassenzüge in diesem Teil Sankt Paulis orientiert sich am historisch älteren Strassennetz von Altona.

In der Bebauungsgeschichte des nördlichen Sankt Pauli lassen sich zwei weitere Bebauungsphasen unterscheiden: die erste vom Hamburger Brand (1842) bis zur Öffnung des »Holstentores«.114 Die zweite Bebauungsphase begann mit der Geschäftigkeit der Gründerjahre ab 1880 und dauerte bis zur vollständigen Eingemeindung Sankt Paulis nach Hamburg im Jahre 1894. Seither ist, wie es das heutige Gesicht des Viertels noch zeigt, in grossen Teilen kaum eine Veränderung der Bebauungsstruktur geschehen.

Auch die Häuserblocks in der Umgebung der Untersuchungsgrundschule verweisen auf die unterschiedlichen Bebauungsphasen nach der Parzellierung des Geländes im Jahre 1842. Innerhalb von siebzig Jahren hatte dieses Gebiet seine heutige Bebauungsform mit Wohnblocks und Gewerbegebäuden erhalten. Deutlich wird, dass die Bautätigkeit ein Reflex auf die Veränderung der wirtschaftlichen Struktur und die Industrialisierung ist. Während für die südlich gelegenen Teile von Sankt Pauli der Hafen mit seinen Werften die Haupterwerbsmöglichkeiten bestimmten, entwickelte sich am Ende des 19. Jahrhunderts im nördlichen Teil, dem Schanzen- und Karolinenviertel, neben Kleingewerbe ein Schlachthof mit Zuliefererbetrieben als bestimmender Wirtschaftsfaktor. Da auf dem nahegelegenen »Neuen Pferdemarkt«, nach der Auslagerung aus der Hamburger Innenstadt, schon seit 1826 Viehhandel betrieben wurde, knüpfte man mit der industriellen Viehschlachtung an die vorhandene Infrastruktur an. Weitere wichtige Unternehmen siedelten sich an: 1912 die Füllfederhalterfabrik Montblanc und die Gewürzfabrik Laue. Die nahegelegene Strasse »Schulterblatt« war schon früh geprägt durch Kaufhäuser, Geschäfte, Tanzlokale, Kinos und Varietétheater. Das »Flora-Theater«115 wurde während der zweiten Bebauungsphase 1888 gebaut und beherbergte Varieté, Kinderaufführungen und Ringkämpfe116. Die Untersuchungsschule C liegt im benachbarten Bezirk Eimsbüttel, in den dieses Quartier in Richtung Nordosten übergeht.

Zerstörungen, die zum grössten Teil während des 2. Weltkrieges stattfanden, kennzeichnen das ehemalige Grenzgebiet zwischen Altona und Sankt Pauli. Grosse Teile des alten Zentrums von Altona wurden zerbombt, es wird heute durch eine verkehrsreiche Strasse durchzogen. Bombenschäden gab es auch in anderen Gebieten des Stadtteils, jedoch veränderte sich durch sie die Bebauungsstruktur als solche nur unwesentlich.


Die Konstruktion des Nationalstaates: Durchsetzung des abstrakten Raumes und der homogenen Ordnung

Südlich der ehemaligen Stadtgrenze von Hamburg, dem »Millerntor«, überragt eine monumentale Bismarck-Statue Sankt Pauli und Altona. Sie symbolisiert den Abschluss des Konstruktionsprozesses eines nationalstaatlichen Deutschland unter der Vorherrschaft Preussens. Auch auf die Entwicklung Sankt Paulis, und damit eng verbunden die Rolle Altonas, hatten diese Vorgänge Auswirkungen.

Der Name »Altona« soll von einem Gasthaus, mit dem Namen »All’to nah« (hochdt. »all zu nah«) stammen, welches 1536 sich an der Grenze zwischen der Grafschaft Holstein-Schauenburg und den Hamburgischen Gebieten befand. 224 Jahre, von 1640 bis 1864, war Altona dänisch und wurde, in Konkurrenz zu Hamburg, zuerst zu einer Handels- und Hafenstadt, später zu einem Industriestandort ausgebaut117. Während Hamburg eine mittelalterliche Gewerbeverfassung und ein kompliziertes System von Stapelrecht118 und Zollvorschriften hatte, genoss Altona einen Freihafenstatus und Zollvergünstigung. So wurde Altona zur zweitwichtigsten Stadt nach Kopenhagen im Königreich Dänemark. Mit der Aufhebung des Zollprivilegs (1853) und der Eroberung von Schleswig und Holstein durch die Preussen (1864) verlagerte sich die Industrie und der Handel nach Hamburg oder nach dem damals noch selbständigen Ottensen. So verlor Altona seine Bedeutung als Industriestandort.

Wie setzte sich die Bevölkerung in diesen Quartieren zusammen? Für unseren Zusammenhang wichtig ist die Tatsache, dass es sich bei Altona und seinem angrenzenden Gebiet, St. Pauli um historisch gewachsene Einwandererstadtteile handelt. Altonas Aufstieg begann um 1600 mit der Einwanderung von sephardischen Juden und nicht-lutherischen Niederländern. Die Strassen Grosse und Kleine Freiheit im heutigen St. Pauli, berühmt geworden durch den Film “Grosse Freiheit Nr.7” mit Hans Albers, gehörten damals zu Altona und erhielten ihre Namen, weil hier ein Handwerkerviertel für Eingewanderte entstanden war, die nicht der Zunftordnung unterworfen waren.

Der »Hamburger Berg«, die spätere Vorstadt Sankt Pauli, war seit dem 13. Jahrhundert besiedelt worden und wurde 1833 Hamburg angegliedert. Der Stadtteil bekam beschränkte Selbstverwaltung, aber unterschiedliche Zoll-, Steuer- und Rechtsvorschriften tasteten die Rolle Sankt Paulis als Ausweichfläche für die Entwicklung der Hansestadt wenig an. Weder Hamburg noch das dänische Altona waren zu Beginn Teil des 1834 unter preussischer Vorherrschaft gegründeten deutschen Zollvereins. Erst 1888 wurden Altona und St. Pauli dem deutschen Zollverein angeschlossen. Bis dahin war es für viele Arbeiter aus Hamburg und Ottensen billiger in diesen Quartieren zu leben. Während Ottensen sich zu einer Industriestadt (Lebensmittelfabriken, Brauereien, Glas-und Flaschenindustrie, metallverarbeitende Betriebe) entwickelte, wurde Altona zu einer Wohnstadt.

Der Machtantritt Bismarcks 1862 fiel in eine Phase beschleunigter ökonomischer Veränderungen, die ihren Niederschlag in der Veränderung der städtebaulichen Struktur von Sankt Pauli fand. Während sich zwischen 1842 und 1859 eine Bebauungsphase für Sankt Pauli beschreiben lässt, die durch ökonomische Expansion und Umstrukturierung der Stadt Hamburg und ihre einseitige Öffnung nach Sankt Pauli in gekennzeichnet war, lässt sich für die Folgezeit bis zur Reichsgründung von 1871 eine Phase der kriegerischen Expansion beschreiben, in der die Hansestadt eine Rolle spielte. Mit dem deutsch-dänischen Krieg von 1864 wurden Schleswig-Holstein und Altona preussisch. 1881 trat Hamburg, 1888 Altona unter dem Druck Bismarcks dem Deutschen Zollverein bei. 1894 wurde Sankt Pauli nach Hamburg eingemeindet. Die zweite Bebauungsphase in Sankt Pauli fällt mit der Phase der nationalstaatlichen Konstruktion des Deutschen Reiches zusammen. Nach Altona wurde 1889/90 Ottensen, Bahrenfeld, Othmarschen und Övelgönne eingemeindet. Mit den ersten Bebauungsplänen (1896 und 1923) erhielt Altona seinen heutigen Charakter. Die zweite preussische Gebietsreform (1927) hatten weitere Eingemeindungen nach Altona zur Folge. Mit einem Staatsvertrag (1928) wurde die ersten Schritte zu einer über die bestehenden Landesgrenzen hinausgreifenden Entwicklung getan. Doch erst mit dem »Gross-Hamburg-Gesetz«119 von 1937 wurde auch »Gross-Altona«, neben anderen preussischen Städten und Gemeinden wie Wandsbek und Harburg-Wilhemsburg, ein Teil des heutigen Hamburg120. Mit diesen Veränderungen der Verwaltungsstrukturen wurden auch Teile von Altona Sankt Pauli zugeordnet.


Durchsetzung bürgerlicher Verhältnisse im Alltag

Der Modernisierungs- und Industrialisierungsprozess unter der Vorherrschaft Preussens als dem fortgeschrittensten Staat innerhalb des Deutschen Zollvereins hatte seine Auswirkungen auch auf Hamburg. Mit dem Beginn der Industrialisierung schritt der Prozess der Verdichtung von Unterschichtswohnquartieren weiter fort, die im Hinblick auf die Deckung des Arbeiterbedarfs entstanden121.

Nach dem Hamburger »Grossen Brand« in der Mitte des 19. Jahrhunderts, dessen Ursache auch in der katastrophalen Wohnsituation in den davon betroffenen Quartieren lag, lässt sich ein ordnendes, strukturierendes und kontrollierendes Eingreifen der Behörden auf die sich unter den gegebenen Bedingungen entwickelnden vielgestaltigen Lebenswelten feststellen. So ist ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ein starkes wohnreformerisches Engagement in Sankt Pauli zu verzeichnen. Die Wohnverhältnisse erschienen wohltätigen Angehörigen der bürgerlichen Schicht aus hygienischen, moralischen und nicht zuletzt politischen Gründen untragbar122. Die zu dieser Zeit errichteten Arbeiterwohnquartiere123 im Norden St. Paulis zeigen in ihrer Architektur und in den Wohnungsgrundrissen die Anschauungen ihrer bürgerlichen Planer und Erbauer von geordneten Leben. Auch die Architektur der Wohnterrassen, die sich in der Nähe der Untersuchungsgrundschule finden, war orientiert an der bürgerlichen Kleinfamilie und der Entfaltung von Privatheit und Intimität.

Die "kostenlose bzw. kostengünstige Überlassung der [...] Baugrundstücke durch den Hamburger Senat lässt auch erahnen, wie umfassend und dicht gerade im Wohnungssektor das Fürsorgenetz war, das Kapital-, Bürger- und Staatsinteressen zur Durchsetzung ihrer kulturellen Leitbilder über der Arbeiterbevölkerung ausbreiteten"124 .

Doch die Umsetzung der wohnreformerischen Absicht erwies sich letztenendes doch als kontraproduktiv. So weisen in der Musterwohnanlage »Jägerpassage«125 Nutzerspuren daraufhin, dass der familiengerechte Grundriss nicht immer im Sinne der Planer genutzt wurde126; es finden sich Spuren der Anpassung dieser vorgegebenen Wohnungsgrundrisse an die lebensweltlichen Bedingungen ihrer Bewohner. Die gebauten Wohnungen waren zwar relativ gross, implizierten aber aufgrund der wirtschaftlichen Lage ihrer Bewohner das von den Reformern zugleich kritisierte System des Schlafgänger- und Untermietwesens.127 Dieses erwies sich zwar als funktional, da auf die Zyklen der Land-Stadt-Wanderungen durch das Zusammenrücken flexibel reagiert werden konnte, aber die daraus sich ergebenen Familienstrukturen waren halboffen, schwer überschaubar, kaum kontrollierbar und entsprachen nicht dem bürgerlichen Leitbild der abgeschlossenen Kleinfamilie128 .

In Altona entwickelte sich nach den Eingemeindungen von 1889/90 im Westen ein Villenviertel und im Nordosten wurde grosse Mietshäuser mit bis zu sechs Geschossen und Hinterhöfen gebaut. In diesem Gebiet, der ehemaligen Altonaer Altstadt, befinden sich die Untersuchungsschulen A und B. Die Altonaer Altstadt entsprach mit ihren verdichteten Wohnquartieren nicht den Vorstellungen der sich entwickelnden Planungsinstanzen.

„Wie das Hamburger Gängeviertel galt auch die historische Altonaer Altstadt als unbedingt sanierungsbedürftig.“129

Der erste Bebauungsplan von 1896 galt bis zum ersten Weltkrieg und das Ziel war ähnlich motiviert wie das wohnreformerische Engagement in Sankt Pauli.

„Ziel der Bürgermeister von Ottensen und Altona war es, aus Altona eine Grossstadt werden zu lassen, in der besonders die Erwerbstätigen unter Bedingungen leben, »die die physische und sittliche Gesundheit und Tüchtigkeit derselben verbürgt«“130

Während Sankt Pauli seine heutige Struktur letztlich mit dem Ende der zweiten Bebauungsphase nach der Errichtung des Nationalstaates erhielt, ist das heutige Gesicht Altonas geprägt durch den zweiten Bebauungsplan von 1923. Die Altonaer Bodenpolitik und die Aktivitäten der Baugenossenschaft »Altonaer Spar-und Bauverein« hatte eine rege Bautätigkeit zur Folge. Viele Schul-und Verwaltungsbauten, wie auch Siedlungen wurden in dieser Zeit erbaut. So war die Situation von Altona und Hamburg in der Weimarer Republik folgende:

„Beide Städte waren mittlerweile zu einem Gebilde ohne erkennbare städtebauliche Grenzen zusammengewachsen.“131


Offizieller Urbanismus im 20. Jahrhundert

Die Phase der stärksten

“Verstädterung [des sich industrialisierenden Deutschlands, A.H.] setzte nach der Reichsgründung 1871 ein und dauerte bis zum Ersten Weltkrieg"132 .

Sie brach die vorherigen Formen der Städte auf:

"Die Mauern waren schon eingerissen, die Wälle wurden abgetragen, die Gräben zugeschüttet."133

Aus der vormodernen, funktional und sozial segregierten Stadt, die durch eine politische, ökonomische, soziale und räumliche Identität gekennzeichnet war, wurde ein tendenziell »diffuser Aktivitätsraum«. Die besondere Qualität der gesellschaftlichen Beziehungen, die als »städtisch« galten, wurde aufgeweicht. Ab der Wende zum 20. Jahrhundert mussten diese Beziehungen durch statistische und begriffliche Konstruktion hergestellt werden134. Innerhalb des städteplanerischen Diskurses wird ab 1918 auch für Hamburg eine grundlegend veränderte Wohnungsbaupolitik erörtert. Allerdings kann von

"einer eigenständigen Entwicklung Hamburgs [...] nach 1914 [...] kaum die Rede sein, sondern die Hamburger Stadtentwicklung und die Entwicklung des Wohnungsbaus wurden zunehmend von nationalen Rahmenbedingungen mitbestimmt.135

Die Veränderungen dieser Phase werden als Übergang vom Bauhandwerk zur modernen Architektur im Massenwohnungsbau gekennzeichnet136. Schon seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts wurde durch grossräumige Sanierungsplanungen eine die Stadtgrenzen übergreifende Siedlungspolitik angestrebt. Dadurch sollte Negativeffekten (Revolten, Streiks, »sittlichem Verfall«) entgegengewirkt werden137. Entsprechende Planungen und Verfahren gab es auch in Hamburg, wovon Sankt Pauli betroffen war.

Während des Nationalsozialismus spielten wiederum polit-ökonomische Zusammenhänge für die weitere Bebauung Altonas und Sankt Paulis eine Rolle. Im Rahmen der Schaffung einer grossen Wirtschaftseinheit und des Ausbaus Hamburgs zur »Führerstadt« sollte die gesamte Stadtstruktur zur Elbe hin umorientiert werden und die bisherige Nord-Süd-Ausrichtung, bestimmt durch die alten Stadtgrenzen, sollte in eine Ost-West-Richtung entlang der Elbe umgepolt werden138. In diesen »Nord-Süd-Ausrichtigungen« ist die historische Konkurrenzsituation von Altona und Hamburg festgehalten. Mit der Umorientierung der historischen Entwicklungsachsen hin zu einer funktionalen Ost-West-Ausrichtung sollte diese so aufgehoben werden.

Der Rüstungsboom durch den bevorstehenden Krieg und die Zentralisierungsmassnahmen führten zur städtebaulichen Wende und zu grossräumigen Sanierungsplanungen139. Mit der veränderten Kriegslage und den Bombardements von Hamburg kamen die Planungen schnell zum Stillstand.

In Sankt Pauli und Altona bot sich zu Kriegsende folgendes Bild: Die Kriegszerstörungen an etwa einem Drittel der Gebäude waren im Vergleich zu Zerstörungen in anderen Stadtteilen eher gering. Ein Grossteil der Häuser war zwar von Zerstörung getroffen, aber dennoch bewohnbar oder mit geringem Aufwand wieder bewohnbar zu machen140 . Daher blieb die alte Bebauungsstruktur in Sankt Pauli im wesentlichen erhalten. Der Bau einer mehrspurigen Strasse durch die ehemalige Altonaer Altstadt wie auch der soziale Wohnungsbau im Westen Sankt Paulis zeigen, dass dort, wo alte Wohngebiete durch den Krieg betroffen waren, der Neubau Priorität vor dem Wiederaufbau hatte141 . Die Planungsvorstellungen knüpften unmittelbar an die 1940 und 1944 im Rahmen der Generalbebauungspläne entwickelten Vorstellungen an. Kontinuität lässt sich sowohl personell als auch an formalen Ähnlichkeiten ausmachen, etwa in der unverändert an Schulbezirken orientierten Vorstellungen von der Entwicklung der Stadtlandschaft im Generalbebauungsplan 1947 und im Aufbauplan von 1950142.

Die Nachkriegszeit in Sankt Pauli war zunächst durch Improvisation gekennzeichnet. So gab es bis zu einem »Wohnwagengesetz« (1958), das die Nutzung eines Wohnwagens als festen Wohnsitz in Hamburg untersagte, eine 1200 Wohnstätten umfassende Wohnwagensiedlung auf dem »Heiligengeistfeld«. Wohnungen in teilzerstörten Häusern wurden durch die Eigenleistungen der Bewohner notdürftig repariert, man baute Schrebergartenhäuschen zum Wohnen aus oder hauste im Luftschutzbunker143 . Seit dem ersten Wohnungsbauprogramm (1948) bis

"in die 60er und frühen 70er Jahre hinein war die Hamburger Stadtentwicklungspolitik in erster Linie eine Stadterweiterungs- und Wohnungsbaupolitik."144

Öffentliche Infrastruktur, wie Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und dergleichen Einrichtungen, wurde nur gering finanziert145. Hauseigentümer alternder Mietshäuser stellten in

"der Erwartung baldiger Umnutzung und damit verbundener Bodenwertsteigerung" ihre Investitionen ein und "verdienten am Mietzins der nicht instandgesetzten, eher schlecht ausgestatteten und oft überbelegten Wohnungen."146

Wer es sich leisten konnte, zog in die Neubau- oder Eigenheimsiedlungen am Stadtrand. Zurück blieben die Alten und die immobilen Familien, häufig als Sozialhilfe- und Arbeitslosengeldempfänger. Dazu

"kamen in den 70er Jahren ausländische Arbeitnehmer als vermeintlich anspruchslose und anscheinend vorübergehende Bevölkerungsgruppe in die Altbauquartiere."147

Nachdem von der grossflächigen »Funktions- und Abrisssanierung« der sechziger und siebziger Jahre, die sich in einer Neubaueuphorie äusserte und den alten Wohnungsbestand vernachlässigte, Abschied genommen wurde, verfolgt man seit Anfang der achtziger Jahre das Konzept der »behutsamen Stadterneuerung«148; Sanierung des Altbaubestandes wurde nun seitdem in die Planungen aufgenommen149. Verschiedene Autoren kommen jedoch zu der Ansicht, dass die Stadterneuerungspolitik auch noch Ende der achtziger Jahre dieses Jahrhunderts durch die wirtschaftlichen Gesamtinteressen bestimmt ist und diese Vorrang vor Stadtteilinteressen haben150

Zusammenfassend lässt sich über die städtebauliche Entwicklung Sankt Paulis und Altonas folgendes sagen: Das Entstehen von neuen und die Veränderung älterer städtebaulicher sowie verwaltungstechnischer Strukturen und die aus den sozialen Bedingungen der Bewohner des Quartiers erwachsenen Lebenswelten verweisen auf ein Spannungsverhältnis zwischen den auf Struktur, Ordnung und Planung hin orientierten Obrigkeitsinteressen der verschiedenen Epochen und den lebensweltlichen Strukturen, die sich in Sankt Pauli entwickelten. So boten die verschiedenen Arten der Wohnverhältnisse Solidarisierungsmöglichkeiten, die auch den Reproduktionsbereich einbezogen, und so konnte die »halboffene« Familienstruktur als klassenmässige Sozialisations- und Kommunikationsinstanz dienen.151 Diese Familienstrukturen und die Art der Kommunikation wird folgenden Gegenstand der Darstellung sein.

Manchem aussenstehenden Betrachter, ebenso wie manchem Angehörigen aus Institutionen wie Politik und Verwaltung erschienen die Lebenswelten als »chaotisch«, »unstrukturiert« und »diffus«. Diese »chaotische«, »unstrukturierte« und diffuse Lebenswelt ist eine Erfahrung des Grossstadtlebens152. Sankt Pauli und die Altstadt von Altona erscheinen daher in der Literatur des 19. Jahrhunderts als Symbol des politischen Radikalismus, der Delinquenz und der Prostitution, also zu einer Zeit in der sich in der sich die Strukturen dieser modernen »Stadtlandschaften« gerade bildeten153. Zum Beispiel wurden die Bewohner und Bewohnerinnen von Sankt Pauli 1838 von einem Eduard Beurmann wie folgt beschrieben:

"Juden, Matrosen, Gauner, Seiltänzer, englische Reiter, Riesen, Zwerge, Wachsfiguren, wilde Bestien, königlich privilegierte Herkulese, schmutzige Altäre des Pandemos, Landdragoner zu Pferde und mit gezogenem Säbel bilden die hervorragenden Momente in diesem, ich möchte sagen, viehischen Chaos."154

In einem Text über die Revolution von 1848 wird Sankt Pauli folgendermassen charakterisiert:

Dort "sammelte sich eine Schicht, die mit dem Begriff »Lumpenproletariat« nur vage umschrieben ist, und die auch die Statistiken gar nicht erfassen konnten"155

In einem Bericht aus der Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts

"wird die besondere Unangepasstheit der Jugendlichen und der Frauen betont, regelmässig finden sich Angaben über Extrem niedrige Geburtenraten. [Die Rede ist von] Prostitution und Homosexualität in den Vierteln Sankt Georg-Nord und Sankt Pauli, sozial verankerten Lebensmitteldiebstählen grossen Stils im Schanzenviertel"156

Dass die heutige behördliche Wahrnehmung von solcher früheren nicht allzuweit entfernt ist, zeigt ein Bericht der Stadtentwicklungsgesellschaft (STEG) in Hamburg, in dem die »Gefährdung« des Viertels vor allem den dort lebenden Roma zuzuschreiben sei; nahegelegt wird, dass diese die »Drogenkriminalität« förderten und durch ihre »andersartigen« Lebensgewohnheiten für Konflikte unter den Bewohnern des Viertels sorgten157. Seit Beginn der hier vorliegenden Untersuchung haben sich die in der öffentlichen Wahrnehmung dem »Drogenhandel« zugeordneten Gruppen immer wieder verändert: »Roma«, »Kurden«, »Türken« und »Schwarze«.


Migration als Grundbedingung des Urbanen

Weil der Hamburger Hafen sich neben Bremerhaven zu einem der wichtigsten Auswanderungshäfen im 19. Jahrhundert entwickelte, liegt es nahe, die historische Entwicklung von Sankt Pauli und Altona auch unter dem Aspekt der Migration zu betrachten. Mehr als fünf Millionen Menschen aus Ost- und Südosteuropa, zum grössten Teil aus dem zaristischen Russland und Österreich-Ungarn, nutzten das kaiserliche Deutschland zwischen der Reichsgründung 1871 und dem Ersten Weltkrieg als Transitland und verliessen Europa über die Häfen Hamburg und Bremen, überwiegend in Richtung auf die Vereinigten Staaten von Amerika158. Damit schloss sich die Durchwanderung nahtlos an die Massenauswanderung aus den deutschen Kleinstaaten an, die mit dem Ende der napoleonischen Kriege nach 1816 und der Restaurationspolitik begonnen hatte. Die diversen Formen und Phasen der Migration gingen mit Verstädterung einher. Dem Rückgang der letzten grossen Auswanderung aus dem Deutschen Reich in den Jahren zwischen 1880 und 1893 folgte der Anstieg der Auswanderung aus Ost- und Südosteuropa, die erst mit dem Beginn des ersten Weltkrieges fast ganz aufhörte. Juden aus Ost- und Südosteuropa (»Aschkenasim«), die vor Pogromen und Verfolgung flohen, und Polen aus dem zaristischen Russland bildeten das Gros der Auswanderer159. Die seit dem 17. Jahrhundert ansässige jüdische Gemeinde (der jüdische Friedhof160 verweist mit seiner Einteilung in „portugiesisch-israelisch“ und „hochdeutsch-israelisch“ auf die Herkunft dieser Gemeinden aus dem Spanien und Portugal der Inquisition) nahm Teile der jüdischen Einwanderer und Einwanderinnen auf.

Mit dem Einsetzen der Massenauswanderung aus Ost- und Südosteuropa, die kräftig über die Auswandereragenturen der deutschen Schiffahrtsgesellschaften stimuliert wurde, intensivierten sich auch die Bemühungen Hamburger sowie preussischer Behörden und der deutschen Reedereien um die Regulierung und Kontrolle der »Durchwanderung«. In Hamburg, der vorläufigen Endstation der Wanderung in Europa, wurde die Gefahr der »illegalen« Einwanderung gesehen; dies veranlasste die Stadt zu regulativen Massnahmen. So wurden 1892 Auswandererbaracken errichtet, in denen ärztliche Untersuchungen, Desinfektionen und die Überprüfung der Auswandererpapiere unter der Verantwortung der Polizeibehörde durchgeführt wurden161. Die »preussische Abwehrpolitik« der staatlichen Behörden (zum einen sollte verhindert werden, dass aus »Durchwanderern« »illegale Einwanderer« wurden, zum anderen sollten mittellose und kranke »Durchwanderer« abgewehrt werden) sowie das kommerzielle Interesse der HAPAG162 an dem Frachtgut »Mensch«, führten zu einer Zusammenarbeit der Hamburger Obrigkeit mit den preussischen Behörden und der HAPAG, in deren Folge sich eine strikte »Durchwandererkontrolle« etablierte163. Der systematische Ausbau der Kontrollen begann mit der Verabschiedung des amerikanischen Einwanderungsgesetzes im Jahre 1882, dessen Vorschriften zum Massstab für die eigenen genommen wurden164.

Mit dem Entstehen einer modernen Transportinfrastruktur durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts veränderte sich auch die Anbindung von Sankt Pauli und Altona an andere Orte. Die Streckenlegung zum ersten Altonaer Bahnhof (1844: Verbindung Altona - Kiel) wurde noch politisch begründet: Hamburg sollte keinen Nutzen daraus ziehen. Nachdem Altona preussisch wurde, begann eine neue Streckenlegung. Nach dem Zollanschluss entstand die Streckenlegung, die weitgehend der heutigen entspricht.165

Die Durchwanderungsprozedur begann an privaten »Registrierstationen« der HAPAG (z.B. Ratibor/Galizien, Tilsit/Ostpreussen oder Posen/preuss. Polen) in den ost- und südosteuropäischen Ländern oder an den Grenzkontrollstationen des Deutschen Reiches. Von dort aus wurden die registrierten »Durchwanderer« über die neuentstandenen Eisenbahnlinien in Sonderzügen über Berlin-Ruhleben nach Hamburg oder Bremen gebracht. Der Bahnhof Sternschanze, der auf der 1866 in Betrieb genommenen Verbindungsbahn zwischen dem Hamburger Hauptbahnhof und dem damals eigenständigen Altona lag und bis 1962 als Fernbahnhof diente, bildete den Anschluss Sankt Paulis an das Eisenbahnnetz. Die »Durchwanderer« wurden zwischen 1892 und 1901 am »Amerikakai«, danach auf der »Veddel«, beide auf der Sankt Pauli gegenüberliegenden Elbseite, in Auswandererhallen bis zur Weiterfahrt untergebracht166. Die Auswandererhallen lösten die bis 1892 übliche private Unterbringung in den hafennahen Stadtteilen ab, wo sich bis dahin ein Netzwerk von Institutionen und Dienstleistungen (Logierhäuser, Gesundheitsdienste, Auswandererbehörden, u.a.) etabliert hatte167. Mit dem ersten Weltkrieg und der daraus folgenden Neuordnung Europas ging zwar die Massenauswanderung der Vorkriegszeit zurück, jedoch stieg der Anteil der deutschen Auswanderer nach 1921 wieder an. Nach 1933 erfolgte ein weiterer Schub an Auswanderern. Nachdem die Alliierten zunächst jegliche Auswanderung verboten, setzte die vorerst letzte Periode grösserer Auswanderung aus Deutschland nach 1946 ein; sie dauerte bis 1961. Seit 1959 wurden die bestehenden und die zwischenzeitlich neu gebauten Auswandererhallen, die hauptsächlich von deutschen Auswanderern nach 1945 genutzt wurden, schrittweise geschlossen168. Mit dem Aufkommen des Massenflugverkehrs änderte sich auch der Charakter der Auswanderung.

Ein Teil vergessener Geschichte erzwungener Migration zeigt noch schwache Spuren östlich des Karolinenviertels. Auf dem heutigen Hamburger Messegelände wurden ab 1936 Baracken für Fremdarbeiter errichtet. Da sie sich neben dem damaligen Tiergarten befand, wurde diese Einrichtung »Lager Zoo« genannt. Das »Lager Zoo« wurde während des 2. Weltkrieges durch die »Deutsche Arbeitsfront« (DAF) und das Werftunternehmen Blohm und Voss zu einem Zwangsarbeitslager ausgebaut. Ca. 1500 Menschen, zum grossen Teil aus Polen, der Ukraine und aus der UdSSR, waren dort interniert. Während des Krieges organisierten sich die Zwangsarbeiter im Lager, um einer drohenden Liquidation und dem Hungertod zu entgehen.

Mit der Öffnung des »Lager Zoo« nach der Befreiung wurde es zu einem »Assembly Centre« unter Aufsicht der englischen Alliierten. Nach dem die Repatriierung im Winter 1945 stillstand, wollten oder konnten die meisten Internierten nicht mehr in das Land ihrer Deportation zurückkehren. Mit der Grenzverschiebung Polens konnten auch viele Polen nicht mehr in ihre Herkunftsorte zurück, da diese nun zur UdSSR gehörten. Die offizielle Bezeichnung der Alliierten für alle Zwangsarbeiter, Fremdarbeiter und Häftlinge aus den Konzentrationslagern lautete »Displaced Persons (DP)«169.

Die Situation im Karolinenviertel im Mai 1945 schilderte ein Polizeireporter, noch ganz verhaftet in der nationalsozialistischen Wahrnehmung des »Asozialen«, folgendermassen:

"Die »Fremdarbeiter«, nunmehr mit dem grellweissen Vermerk aus Lein- und Ölfarbe auf dem Rücken ihrer Jacken »DP« [...] markiert, schworen nicht nur, sie hielten auch Rache. Während sich die Bewohner des an das Lager angrenzenden Karolinenviertels und rund um den Grindel buchstäblich verbarrikadierten, zogen Hunderte der DP's marodierend, plündernd und notfalls auch mordend in die weitere Umgebung"170

Eine Erhebung aus dem Jahre 1949 zählte immer noch 1000 »Displaced Persons«. Erst durch ein Wohnungsbauprogramm in zwei Randvierteln Hamburgs im Jahre 1957 fanden diejenigen endgültig eine Wohnung, die nicht ausgewandert waren. Unter denen, die in Hamburg blieben, waren einerseits viele durch die Zwangsarbeit Geschädigte und Kranke, unter diesen viele Akademiker, die aufgrund von Krankheit nicht ins Auswandererprogramm gelangten171.

Aber auch nach dem 2. Weltkrieg blieb St. Pauli ein Viertel, in dem stets Migration sichtbar blieb. Der seit den 50er Jahren einsetzende Trend zur Vollbeschäftigung setzte sich bis zur Rezession 1966/67 auch in Hamburg durch. Mit dem Mauerbau 1961 ging die Zahl der Erwerbstätigen auch in Hamburg zurück und grosse Teile der deutschen Arbeiterschaft wechselten von der Fabrik ins Büro. Mit der Anwerbung von Gastarbeitern seit den fünfziger Jahren sollte Arbeitskräftemangel ausgeglichen werden. Die angeworbenen Arbeiter ersetzten die Leerstellen, die beim beruflichen und sozialen Aufstieg der einheimischen Arbeiterschaft auftraten172. Da die Erteilung einer Einreisegenehmigung an den Nachweis von ausreichendem Wohnraum gebunden war (8 qm/Person nach dem Hamburger Baugesetz173), schufen die Arbeitgeber zunächst Wohnheime, die an den Arbeitsplatz gebunden waren (entsprechend einer Lagerverordnung von 1959174). Mit dem Nachzug der Familienmitglieder nach dem Anwerbestopp von 1973 wuchs der Bedarf an billigem und ausreichendem Wohnraum, den sie auch in Sankt Pauli fanden175. Es etablierten sich hier nennenswerte »communities« von Einwanderern, zunächst bevorzugt aus der Türkei, später aus allen möglichen Entsenderegionen. Daneben blieb St. Pauli Auffanggebiet für viele andere Migranten. So verzeichnete man hier seit 1989 eine grosse Zahl von Zuwanderern aus der damaligen DDR. Auch nutzten viele Hotels im Stadtteil die touristenarme Saison zur Unterbringung von Übersiedlern, Aussiedlern und Asylbewerbern. Einige Hotels stellten sogar ganzjährig auf das lukrative Geschäft mit Asylbewerbern um. Hinzu kamen auch zahlreiche Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, die bei Verwandten in Sankt Pauli und Altona Unterkunft fanden. Auch minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, vor allem aus dem Südosten der Türkei/Kurdistan und aus Länder des afrikanischen Kontinents fanden hier einen ersten Anlaufpunkt. Somit ist also Sankt Pauli in seiner gesamten Geschichte ein Ort der Migration und des Übergangs. Dies zeigt sich bis heute in der Bevölkerungsstatistik. Der Anteil nicht deutscher Staatsangehöriger an der Gesamtbevölkerung Sankt Paulis und der ehemaligen Altstadt Altona lag 1990 bei 47,4% im Nordosten Sankt Paulis und Altonas, 46,5% im Karolinenviertel, 40,2% im Nordwesten Sankt Paulis/Altonas und 31 % im Schanzenviertel/Altona176.

Der historische Entstehungsprozess dieser spezifischen Stadtlandschaften St. Pauli und Altona lässt sich mit Henri Lefebvre als Prozess der Urbanisierung darstellen. Für ihn gibt es eine Abfolge des Verstädterungsprozesses, der von der „politischen Stadt“ seinen Ausgang nimmt und über die Handelsstadt zur Industriestadt sich weiterentwickelt. Diese Industriestadt trat zu einem historischen Zeitpunkt in eine kritische Zone ein, in der durch die weitere Verstädterung eine neue Gestalt herausgebildet wird. Diese neue Gestalt gilt es zu erkennen. Lefebvre bezeichnet als offiziellen Urbanismus die Tätigkeit, die den Befehl zu menschlicher Behausung in Stein, Zement oder Metall auf das Gelände zeichnet177. Als urbanistische Illusion verbirgt aber dieser Urbanismus die zugrundeliegende Klassenlogik hinter den verfolgten Strategien. Wie sich an den hier untersuchten Stadtlandschaften zeigen lässt, ist die Herstellung eines städtischen Raumes eine urbanistische Illusion, eine staatliche Utopie, die den Weg der Erkenntnis des Urbanen versperrt. Denn es wird das Mittel zum Zweck, das Partielle zum Globalen und die Taktik zur Strategie erhoben178. Für Lefebvre ist das Urbane der Ort, an dem Konflikte ihren Ausdruck finden, der Ort der Begierde, wo Eros und Logos erneut zusammenfinden179. Für Lefebvre ist die Strasse der Ort, der das Stadtleben erst schaft. Dewegen betont er die Wichtigkeit der Strasse. Sie ist nicht nur Durchgangs- und Verkehrsplatz für Autos, sonder auch der Ort der Begegnungen und eine privilegierte Öffentlichkeit in der ein bewegtes Schauspiel zwischen Akteuren und Zuschauern alltäglich stattfindet180. Dieser urbanen Anordnung von Haus, Strasse und Institution in der Sichtweise unterschiedlicher Akteure ist das folgende Kapitel gewidmet.


84 vgl. Jüngst, Meder, Pfromm: Psychodynamik und Territorium. Zur gesellschaftlichen Konstitution von Unbewusstheit im Verhältnis zum Raum (1992: 11)

85 Lefebvre, Henri: Die Revolution der Städte, Frankfurt a.M. (1990: 165)

86 Jüngst, Meder, Pfromm (1986: 3)

87Die Schuleinzugsgebiete der Faberschule und den Schulen A, B und C sind Teil der Stadtteile Sankt Pauli und Altona, oder liegen an deren Rändern und werden im folgenden im Zusammenhang mit der Struktur von ganz Sankt Pauli und Altona beschrieben.

88 Hewitt, Roger: Sprache, Adoleszenz und die Destabilisierung von Ethnizität. (1994)

89 siehe dazu Kapitel 2 über die angewendeten Methoden

90 Lefebvre, Henri (1990): 138

91 Hamburger Abendblatt, 20./21: Nov. 93, S.3, Herv. i. Orginal. Über die Jahre gab es immer wieder Medienberichte über diese Quartiere: Der Spiegel: Nr. 16, vom 14. 4. 1997: 78 - 97; Nr. 50, vom 8.12.1997: 3; 86 - 107;

92 Stadtentwicklungsgesellschaft Hamburg [Hrsg.]: Bericht zur Situation der Roma im Karolinenviertel: (1993)

93 Glaser: (1992: 45)

94 Neues Hauslexikon Band 3. (1981: 566)

95 Der Kleine Duden, Fremdwörterbuch. (1991: 121)

96 Mackensen: Ursprung der Wörter. (1985: 416)

97 Neues Hauslexikon Band 10, 1981: 2003

98 Bommes & Scherr: Der Gebrauchswert von Selbst-und Fremdethnisierung in Strukturen sozialer Ungleichheit. (1991: 301)

99 Ebd.

100 Ebd.:291 - 316

101 Eine Selbstdarstellung liefert: QN - Karolinenviertel, Nummer 16, Januar 1998

102 Minoo Moallem: Fremdheit und Dabei/sein/wollen: Transnationalismus, Migration und unternehmerische Räume. (1996: 807-822)

103 siehe dazu die Arbeiten des »Zentrums für Türkeistudien«, Essen unter der Leitung von Faruk Sen.

104 Zur Auseinandersetzung mit Drogen im »Schanzenviertel« siehe: Erklärung der Roten Flora zu Drogenkonsum und -handel: gegen die herrschende Drogen- und Flüchtlingspolitik. Flugschrift Rote Flora, Dezember 1997.

105Vgl. als eine der gleichsam klassischen Untersuchungen dieses Sachverhalts die Fallstudie über Winston Parva, die Elias und Scotson zwischen 1958 und 1960 erhoben (siehe Elias & Scotson 1993). In diesem Fall handelte es sich nicht um »ausländische« Zuwanderung, sondern um Alteingesessene und Neuangesiedelte in einer kleinen englischen Gemeinde. Die Beobachtungen verwiesen jedoch auf das universal-menschliche Thema der Mechanismen, die Machtstrukturen sichern sollen, wobei Ansässigkeit über längere Zeit auf die Ansammlung von Macht zu weisen scheint. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Bourdieu 1976/1993, bes. S. 108f. Eine ausführliche Diskussion dieses Zusammenhanges finden sie in Kapitel 9 dieser Studie.

106 vgl. <Autorennachname>, <Autorenvorname>: <Titel>. (Typoscript: 1995)

107 vgl. ¡nci Dirim: Ausserschulische und ausserfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder: (1997). Die Datengrundlage umfasst sprachliche Interaktionen in einer teilweise betreuten Freizeiteinrichtung im gleichen Untersuchungsgebiet.

108 Dies ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung meines Beitrags „Geschichte der »Stadtlandschaft Sankt Pauli«“, veröffentlicht in Gogolin & Neumann: (1997: 179-1990)

109 Dtv-Atlas zur Weltgeschichte (1977: 183)

110 Das Gegenstück bildete der »Levante-Handel« (Genua, Pisa, Neapel im westlichen, Sizilien und Venedig im östlichen Mittelmeer), der nach »Südosten« ausgerichtet war. Diese Struktur lässt sich ebenfalls für das 11. Jahrhundert, nach den Kreuzzügen, der »Reconquista« und der damit zu Ende gehenden »arabischen« Mittelmeerherrschaft beobachten.

111 Landeszentrale Hamburg 1995: 2

112 Ich möchte darauf hinweisen, dass zu dieser Zeit auch Städte wie Mannheim, und auch viele Städte in den Amerikas gegründet wurden.

113 Die zugrundeliegende Vorstellung einer Stadt als „widerspruchsloses Ganzes“ könnte man einer überholten Wissenschaftsvorstellung zuordnen. So wurde in der Mathematik mit den »Sätzen von Gödel und Church« (siehe dazu: Sybille Krämer: Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriss. 1988: 138-156) die Unbeweisbarkeit ihrer Widerspruchsfreiheit bewiesen. Diese institutionellen Vorstellungen werden im folgenden noch gesondert betrachtet.

114 Bis 1859 war der einzige Zugang von Hamburg nach Sankt Pauli das südlich gelegene »Millerntor«.

115 Nach einer wechselhaften Geschichte (Kino, Baugrossmarkt, Musical-Projekt) dient es heute als alternatives Stadtteilzentrum »Rote Flora« in dem Veranstaltungen, Konzerte und Ausstellungen stattfinden.

116 Sankt Pauli Archiv e.V. (Hrsg.): Im Schatten des grossen Geldes. Wohnen auf St. Pauli. (1990)

117 Harms, Hans & Dirk Schubert: Wohnen in Hamburg - ein Stadtführer (1989: 109)

118 „im Mittelalter Recht verschiedener Städte, durchziehende Kaufleute zum Feilbieten ihrer Waren zu zwingen“ (Bibliographisches Institut: Neues Hauslexikon, 1981: 1814).

119 Erlassen durch den damaligen preussischen Ministerpräsidenten Göring, um zu einer grossen Wirtschaftseinheit zu gelangen (Harms & Schubert 1989: 37).

120 Ebd.: 37

121 Museum der Arbeit: Historische Stadtrundgänge. Von der Wohnung zur Werft - das Arbeiterquartier St. Pauli. (1992: 5)

122 Ebd.: 5

123 Es wurden sog. Terrassen- bzw. Passagenhäuser errichtet: reformorientierte Arbeiterwohnquartiere, mit denen grosse Teile von Sankt Pauli bebaut wurden. Von diesen sind heute nur noch wenige erhalten. Sie werden in der Literatur als Vorläufer des sozialen Wohnungsbaus bezeichnet (Moltmann, Günther: Hamburg als Auswanderungshafen. 1986: 86).

124 Ebd.

125 Eine ebenfalls aus der Zeit des reformorientierten Wohnungsbau stammende Passage, in der sich heute ein Wohnprojekt befindet.

126 Museum der Arbeit: (1992: 6)

127 Entsprechend dem jeweiligen Haushaltseinkommen wurden Betten, Teilräume oder Räume untervermietet.

128 Harms & Schubert: (1989: 31)

129 Harms & Schubert: (1989: 110)

130 Zit. nach Elligott, Anthony MC, Im Schatten Hamburgs. Altona vor dem ersten Weltkrieg, in: Sywottek, Arnold (Hrsg.), Das andere Altona. Beiträge zur Alltagsgeschichte, Hamburg 1984. Siehe: Harms & Schubert: 110.

131 Harms & Schubert: 112

132 <Autorennachname>, <Autorenvorname>: <Titel>. (1987: 107)

133 Ebd.: 109

134 Ebd.: 110

135 Harms & Schubert: (1989: 32)

136 Ebd.: 35

137 Hier sei auf die wissenschaftliche Beteiligung an der Legitimierung solcher Planungen nebenbei verwiesen. So erhielt der Soziologe Andreas Walther durch die Förderung von Ferdinand Tönnies 1927 einen Lehrstuhl für Soziologie an der Hamburger Universität. Walther formulierte in wissenschaftlichen Untersuchungen (so zum Beispiel: Walther, Andreas (1936): Neue Wege zur Grossstadtsanierung. Stuttgart) mit "dem sozial-biologistischen Vokabular, mit Begriffen wie Gesundung, Ausmerzung, Gemeinschaftsschädlichkeit" (Harms & Schubert 1989: 41) die Legitimation für Sanierungsmassnahmen, die später im Kontext nationalsozialistischer Bevölkerungs- und Sozialpolitik aufgegriffen wurden. Zur Legitimation der Sanierung des Gängeviertels (Neustadt) wurde "klar formuliert, dass die Zusammenballung sozialdemokratischer und kommunistischer Wählergruppen zerschlagen werden sollte".

138 Harms & Schubert (1989: 38). Kritiker der Stadtplanung bewerten dies folgendermassen: "Über einer Herrschaftstechnik, die unreglementierte städtische Bereiche als potentiellen Ausgangsort von Revolten fürchtet und gefügig macht, erhebt sich der Repräsentationswahn einer Handelsbourgeoisie, die selbst noch nicht weiss, auf welchem Weg sie ihren eigenen Tod eigentlich überlebt hat" (Hermann, Lenger & Reemtsma: Tabula rasa in mehreren Versuchen. Zur Geschichte des »städtebaulichen Konzepts«. 1987: 36).

139 Mit dem Konzentrationslager Neuengamme, ausserhalb von Hamburg gelegen und als Aussenlager des Konzentrationslager Sachsenhausen 1938 eingerichtet, hatte Hamburg einen Zuliefererbetrieb für billige Klinkersteine, die für den Ausbau der Stadt zur »Führerstadt« benötigt wurden. Von den ca. 106 000 Häftlingen, die zwischen 1938 und 1945 aus ganz Europa hierher verschleppt wurden, starben ca. 55 000, über die Hälfte der Häftlinge. Besonders Juden, von denen ca. 13 000 interniert waren und Roma bzw. Sinti mit 500 Internierten, hatten die härtesten Haft- und Arbeitsbedingungen (Rolle, Müller & Classen: Verbindungen. Wege in die Umgebung des Konzentrationslagers Neuengamme. 1992: 48).

140 Sankt Pauli Archiv: (1990: 44)

141 Harms & Schubert: (1989: 43)

142 Ebd.

143 Sankt Pauli Archiv: (1990: 51)

144 <Autorennachname>, <Autorenvorname>: <Titel>. (1993: 67)

145 Sankt Pauli Archiv: (1990: 53)

146 Alisch & Dangschat: (1993: 68)

147 Ebd.

148 Ebd.: 72

149 Sankt Pauli Archiv: (1990: 57)

150 (Alisch & Dangschat 1993: 74; Sankt Pauli Archiv 1990: 53; Witthöft 1990: 53. So ist z. B. Witthöft (1990: 53) der Meinung, dass Stadterneuerung "in Hamburg unter dem Aspekt der kapitalwirtschaftlichen Stärkung und Nutzung des Stadtraumes und aller städtischen Ressourcen [erfolgte]. Soziale und in jüngerer Zeit auch zunehmend ökologische Aspekte sind impulsgebend und nehmen einen relativ breiten Raum innerhalb der Massnahmenkataloge ein, erfolgen jedoch nur dann, wenn sie sich in die übergeordneten ökonomisch motivierten Aspekte integrieren und sich kapitalwirtschaftlich ausschöpfen lassen."

151 Harms & Schubert: (1989: 31)

152 Das Entstehen der Grossstädte ist eng verbunden mit dem Entstehen der Soziologie als institutionalisierte Wissenschaft. Eine interessante Studie, die sich mit dem Konstruktionsprozess der Industriestadt Chicago und der Institutionalisierung der Soziologie beschäftigt, die als »Chicagoer Schule« berühmt wurde, biete Martin Bulmer in seinem 1984 erschienenen Buch „The Chicago School of Sociology. Institutionalization, Diversity, and the Rise of Sociological Research.

153 Der Frage, ob die »Strasse« und das auf ihr gesprochene »Mündliche« als Ort »sozialen Neugestaltungen« beschrieben werden kann, gehe ich in Kapitel 7 nach. Durkheim beschrieb dies als ein Verhältnis von »Anomie« und »Kohäsion« und führte damit diese Kategorien in die, zu dieser Zeit neu entstehende, Soziologie ein. Die Frage der »Kohäsion« und der »Anomie« hatte ich in Kapitel 2 problematisiert und in Kapitel 9 zu meiner Untersuchung in Beziehung gesetzt. Eine interessante Sichtweise von Durkheim bietet Jennifer M. Lehman in ihrem 1993 erschienen Buch „Deconstructing Durkheim. A post-post-structuralist critique“.

154 zit. nach Manos, Helene: Soziale Lagen und soziale Fragen im Stadtteil Sankt Pauli. (1989: 92)

155 Ebd.: 94

156 Roth, Karl Heinz: Städtesanierung und »ausmerzende Soziologie«. Der Fall Andreas Walter und die »Notarbeit 51 der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft« 1934-35. In: Herman; Lenger; Reemtsma & Roth: »Hafenstrasse«. (1987:55)

157 vgl. STEG: Bericht zur Situation der Roma im Karolinenviertel. (1993: 26)

158 Just; Michael: Transitland Kaiserreich: Ost- und südosteuropäische Massenauswanderung über deutsche Häfen. (1992: 295)

159 Ebd. Die Spuren jüdischer Durchwanderung und jüdischen Lebens in Hamburg bzw. in Sankt Pauli genauer nachzuvollziehen, würde den Rahmen meiner Studie sprengen. Hier nur einige Hinweise: Während die Quellenlage zu den »sephardischen Juden« in Altona und Eimsbüttel, die im Gefolge der Inquisition im 15. Jahrhundert aus Portugal und Spanien kamen, etwas umfangreicher ist, ist über die »Aschkenasim« vor allem im Gebiet Sankt Pauli wenig Quellenmaterial aufzufinden. Spuren der Juden sind heute nur noch an einigen Gebäuden vom Ende des 19. Jahrhunderts sichtbar. An eine Synagoge, die vor dem Holstentor stand, erinnert beispielsweise kaum mehr etwas. Im Karolinenviertel ist noch das Gebäude der israelischen Töchterschule erhalten (Projektgruppe 1982: 33). Entlang am Grenzgebiet von Sankt Pauli und Altona finden sich manche Hinweise auf jüdisches Einwandererleben: eine Erinnerungstafel an die »Grosse Synagoge«, der jüdische Friedhof und die Carlebachstrasse, benannt nach dem geistigen Oberhaupt der Altonaer jüdischen Gemeinde, der mit seiner Familie 1942 in Riga ermordet wurde (Kulturbehörde 1993: 232f). Im Gebiet westlich des Nobistores befand sich ein traditionelles Zentrum jüdischen Lebens in Altona (ebd.: 230). Auch wird berichtet, dass es eine grosse Zahl von jüdischen Geschäften gab; so beispielweise das moderne jüdische Kaufhaus »Bucky« (Kulturbehörde 1993: 121; Projektgruppe 1982: 33). Die Lebenswelt der Juden in Sankt Pauli ist durch den Nationalsozialismus vernichtet worden; sie wurde bis heute nicht wieder belebt. Ebenso erging es den Lebenswelten der chinesischen Einwanderer des 19. Jahrhunderts in der »Chinatown« von Sankt Pauli (vgl. hierzu: Hucking & Laumer 1988).

160 Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, (1993:230)

161 Museum für Hamburgische Geschichte (1984: 14)

162 Die Geschäftsgrundlage der Schiffahrtslinien, wie der in Hamburg 1847 gegründeten "Hamburg Amerikanischen Packetfahrt-Actiengesellschaft" (HAPAG) war die Ausweitung des Nordamerikahandels und die Auswanderung, die die effektive Auslastung des Frachtraumes der Schiffe durch den Import von Waren und dem Export von Menschen garantieren sollten (Museum für Hamburgische Geschichte 1984: 5; Just 1992: 298).

163 Just 1992: 298

164 Ebd.: 299

165 Harms & Schubert (1989: 111)

166 Just (1992: 296)

167 Museum für Hamburgische Geschichte (1984: 15)

168 Ebd.: 16

169 Jacobmeyer, Wolfgang: Ortlos am Ende des Grauens: »Displaced Persons« in der Nachkriegszeit. (1992: 367)

170 zit. nach: Lütcke, Ernst: »Revier Blutbuche« 1945-1988. Reportagen über Hamburger Polizisten, die ihr Leben für Recht und Freiheit opferten. (1989: 16)

171 Galerie Morgenstern 1993

172 Rüsch, Heidi: Struktur und Funktion der Gastarbeiter auf dem Hamburger Arbeitsmarkt. (1971: 13)

173 Ebd.

174 Biehl, Karl Heinrich: Die volkswirtschaftliche Bedeutung ausländischer Arbeitnehmer in der Freien Hansestadt Hamburg 1960-80 unter besonderer Berücksichtigung der organisierten Beschaffung von Wanderarbeitern aus dem Ausland. (1985: 203)

175 ebd.: 208

176 Statistisches Landesamt 1992: 1

177 Lefebvre, Henri (1990): 161

178 Ebd.: 152

179 Ebd.: 186

180 Ebd.: 24