2. Betrachtungen der urbanen Wirklichkeit und das Problem der Methodologie

2.3. Die empirische Grundlage: urbane Gruppen und ihre Sprachen

Die Forschungsprojekte und die angewandten Methoden

Die Studie »Bilinguale Kinder in monolingualen Schulen«

Die Studie »Türkisch in gemischt-sprachlichen Jugendgruppen«

Exkurs: eine graphentheoretische Auswertungsmethode

Die Verlässlichkeit und Gültigkeit heuristischer Sozialforschung





2.3. Die empirische Grundlage: urbane Gruppen und ihre Sprachen

Die Forschungsprojekte und die angewandten Methoden

Die dieser Arbeit zugrundeliegenden Daten wurden im Rahmen zweier Forschungsprojekte erhoben. Diese Forschungsprojekte wurden durch die »Deutschen Forschungsgemeinschaft« (DFG) im Rahmen des Forschungsschwerpunktprogramms »Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung - FABER« gefördert. Das erste Projekt wurde von 1991 bis 1994 unter dem Titel »Bilinguale Kinder in monolingualen Schulen« im Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Hamburg unter der Leitung von Prof. Dr. Ingrid Gogolin und Prof. Dr. Ursula Neumann durchgeführt. Der Autor war als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Zeit von 1993 bis 1994 zuständig für die Erforschung der ausserschulischen und ausserfamiliären Lebenswelten der Kinder. Das zweite Forschungsprojekt »Türkisch in gemischtkulturellen Gruppen von Jugendlichen im schulischen und ausserschulischen Kontext« war ein von der DFG im gleichen Schwerpunktprogramm geförderte Vorstudie, die der Autor als verantwortlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Zeit von 1995 bis 1996 durchführte. Dies Projekt war unter Leitung von Prof. Dr. Auer im Fachbereich Germanistik der Universität Hamburg, Fachgebiet allgemeine Sprachwissenschaft angesiedelt.


Die Studie »Bilinguale Kinder in monolingualen Schulen«

In dieser Studie ging es insbesondere um die Modalitäten sprachlicher Erziehung in der Einwanderungsgesellschaft. Während sich ein grosser Teil des Forschungsprojektes auf die von Lehrern betreute Klassensituation im Unterricht8 konzentrierte, ging es in der vom Autor durchgeführten Studie um die Gestaltung des Sozialraums ausserhalb des Unterrichts durch die Kinder dieser Untersuchung. Wir fragten insbesondere nach den Möglichkeiten, die halb- bzw. nicht-betreute Situationen für den Gebrauch von Sprachen eröffneten. Wir wollten herausfinden, ob Kinder im ausserschulischen, ausserfamiliären Bereich in sprachlich-gemischten Konstellationen interagierten oder ob sie es vorziehen, sprachlich "unter sich" zu bleiben. Das Forschungsteam näherte sich den sprachlichen Interaktionskonstellationen von Kindergruppen, die wir beim Spiel ausserhalb von Unterricht und Elternhaus angetroffen haben, an. Dies wiederum gab uns Hinweise auf die Verteilung der Sprachen im sozialen Raum im Umfeld einer urbanen Grundschule.


Die Ausgangsannahme für diesen Teil der Untersuchung war, dass Kinder sich in Orten, in denen sie einer unterschiedlich intensiven Betreuung ausgesetzt sind bzw. überhaupt nicht betreut werden, in sprachlicher Hinsicht unterschiedlich verhalten. Wir stellten uns ferner die Frage, inwiefern sich Kindergruppen bezüglich der sprachlichen Zusammensetzung unterscheiden, wenn sich die Kinder ausserhalb von betreuten Situationen im schulischen Raum und oder elterlicher Aufsicht bewegen. Der einschlägigen Literatur folgend, vermuteten wir zunächst, dass Kinder aufgrund von sprachlich-kulturellen Gemeinsamkeiten in Gruppen zusammenkommen. Um dieser These nachgehen zu können, führten wir im Schuleinzugsgebiet der Untersuchungsschule eine Reihe von Datenerhebungen durch. Dabei gingen wir von der Schule als Zentrum aus und begaben uns bis an die Grenzen des Schuleinzugsgebiets.


Der Hof im Zentrum der Schule bildete den Ausgangspunkt unserer Untersuchung. Dieser Schulhof ist gekennzeichnet durch halb-betreute Situation, da sich hier trotz der Anwesenheit von Aufsichtspersonen den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit bietet, sich nach eigenen Vorstellungen in Gruppen zusammenzufinden und freier als im Klassenzimmer zu interagieren. Der Schulhof wird umgrenzt von einem Drahtzaun an einer Seite, von dem Schulgebäude selbst und der Turnhalle an der anderen Seite. Er gliedert sich in mehrere Bereiche: ein in der Pause nicht zugängliches sogenanntes Biotop mit Teich, in dem Schülerinnen und Schüler unter Aufsicht einer Lehrkraft Beobachtungen anstellen; einen Sandplatz mit Klettergeräten; einen weiteren Sandplatz mit Holzturm (hier genannt »die Sandburg«), Hängebrücke und einer niedrigen Mauer zum Sitzen; schliesslich einen asphaltierten Platz für Ballspiele und Tischtennisplatten.


Während der Exploration stellten wir drei Bereiche auf dem Schulhof fest, an denen sich in den Pausen viele Kindergruppen aufhielten: vor der Turnhalle, auf dem Fussballfeld und um die »Sandburg« herum. Um feststellen zu können, wie diese Gruppen sich »sprachlich« zusammensetzen, wurde zunächst eine Aufzeichnung per Videokamera durchgeführt9. Eine Auswertung der Gesamtaufnahme war jedoch aus Gründen der Komplexität (grosse Kinderzahl, hohe Fluktuation) und der Schwierigkeit, viele Kinder aufgrund der (für den Gesamtüberblick andererseits notwendigen) grossen Distanz vom Aufnahmeort nicht identifizieren zu können, nicht möglich10. Daher entschieden wir uns, durch die Einführung einer statischen Komponente (Photographie) die Komplexität im Einzelbild zu reduzieren, zugleich aber durch dichte Bildserien noch Hinweise auf die Mobilität in den Kindergruppen zu erhalten. Wir nahmen in Anlehnung an die Methode Hoffmeyer-Zlotniks11 von festgelegten Standpunkten aus zu festgelegter Zeit Photoserien auf. Da wir den gesamten Schulhof nicht vollständig aufnehmen konnten, konzentrierten wir uns bei den Photoaufnahmen auf die genannten Bereiche, die sich in der Explorationsphase als besonders informationsträchtig erwiesen hatten. Als Gesamtstichprobe über den Verlauf einer Woche fertigten wir 100 Photographien von Gruppen auf dem Schulhof an. Die Problematik einer durch die Photographie konstruierten Realität, wie sie in der Methodenliteratur kritisch angemerkt wird, sollte durch die bewusste Variation von Perspektiven, Beobachtern und Auswertungsmethoden aufgefangen werden12.


Mit Lehrerinnen, Lehrern und dem Sozialpädagogen der Schule wurden vorbereitende Interviews durchgeführt, in denen sie danach gefragt wurden, welche Bedeutung sie dem Merkmal »Sprache« als gruppenkonstituierendem Merkmal beimessen. Die Interviews ergaben, dass daneben die Kriterien »Klasse« (im Sinne von Schulklasse) und »Geschlecht« als weitere wichtige Kriterien bei der Konstituierung von Gruppen fungieren, weshalb wir uns entschieden, diese in den Auswertungsprozess mit aufzunehmen. Der eigentliche Auswertungsprozess ging wie folgt vonstatten: Nachdem den Kindern vom Untersuchungsteam auf den Photoaufnahmen Kennziffern zugeordnet worden waren, wurden die Bilder den Schülerinnen, Schülern und dem Sozialpädagogen des »Spielezentrums«13 mit der Bitte vorgelegt, die Zuordnung von Namen, Sprachen, Geschlecht und Klassen zu treffen. Bei den Angaben über die Sprachen der Kinder handelt es sich nach dieser Methode freilich um Zuschreibungen durch die an der Auswertung der Aufnahmen beteiligten Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, sowie durch den Sozialpädagogen des Spielezentrums14 . Eine selbständige Prüfung oder gar Messung der tatsächlichen Sprachkompetenz der Kinder haben wir nicht vorgenommen, weil das im Rahmen der Untersuchung weder möglich war noch unseren Fragen gemäss. Die erhaltenen Angaben werten wir als Indizien, die über die sprachlichen »Verhältnisse« der Kinder, bzw. über ihre sprachliche Lebenspraxis Auskunft geben. Sie lassen jedoch weder auf verfügbare Fähigkeiten schliessen, noch darauf, welchen Status die jeweilige Sprachangabe für das betreffende Kind hat, also ob es sich z.B. um die Muttersprache handelt oder um Sprachkenntnisse, die in der weiteren Umgebung angeeignet wurden. Die so gewonnenen Informationen wurden in ein Schema15 übertragen; so wurde es möglich, sowohl die räumliche Verteilung der verschiedenen Konstellationen auf dem Schulhof als auch die Konsistenz von Gruppen zu ermitteln. »Experteninterviews« mit dem pädagogischen Personal der Schule dienten der Validierung unserer Zuordnungen. Nachdem die Kinder in betreuten und halbbetreuten Situationen auf dem Schulhof und in der Freizeiteinrichtung »Kindertreff« beobachtet wurden, richteten wir unsere Aufmerksamkeit auf das weitere Schuleinzugsgebiet. Dabei ging es uns um die Frage der Gestaltung des Sozialraums durch die Kinder, insbesondere in sprachlicher Hinsicht.


In den die Schule umgebenden Quartieren wurden, methodisch inspiriert vom in der Kasseler Arbeitsgruppe »Geographie und Planung« vorgestellten Konzept der »Stadtspaziergänge«16, Begehungen durchgeführt. In der Explorationsphase zu unserer Untersuchung wurden die »Stadtspaziergänge« durch unterschiedliche Beobachter und Beobachterinnen17 durchgeführt; ihre Ergebnisse in Form von Gedächtnisprotokollen schriftlich festgehalten. Dabei richteten wir unsere Aufmerksamkeit auf Orte, an denen sich Kinder im Grundschulalter aufhielten. Bestandteil der Exploration war die Entwicklung einer Methode, mit der die angetroffenen Kinder über ihre sprachliche Praxis befragt werden konnten. Auf der Grundlage der Protokolle aus der Explorationsphase legten wir eine Route durch das Schuleinzugsgebiet fest, um möglichst alle Orte, zu passieren, an denen wir vermuteten, Kinder für die Einbeziehung in die Hauptuntersuchung anzutreffen. Diese Route wurde in wechselnder Richtung während eines Monats zu unterschiedlichen Uhrzeiten regelmässig begangen; die dabei gemachten Beobachtungen wurden ebenfalls in Form schriftlicher Protokolle festgehalten.


Wenn wir während dieser vorbereitenden Arbeiten Kindergruppen antrafen, versuchten wir zunächst ohne weitere mediale Unterstützung, diese in Gespräche zu ziehen. Offene Fragen, so war intendiert, sollten die Kinder dazu bewegen, über ihre Praktiken und Gewohnheiten im Freizeit- und Sprachverhalten Auskunft zu geben. Dabei stellten sich eine Reihe von Problemen heraus: etwa die Schwierigkeit, Grundschulkinder für die Zeit der Befragung als Gruppe zusammenzuhalten oder das Problem, die einzelnen Kinder zu Äusserungen über die Gruppe zu motivieren. Mit methodischer Phantasie entwickelten wir das Verfahren einer »Photobefragung«, zu der wir das Mittel des Polaroid Photos benutzten: Nach Einverständnis der Gruppe photographierten wir sie; das rasch entwickelte Photo verwendeten wir als Kommunikationsanlass, mit dem wir die einzelnen Kinder zu weiteren Äusserungen über die Gruppe und die Gruppenmitglieder ermunterten. Als sehr hilfreich stellte sich zusätzlich das distanzierende Moment durch die Photoaufnahme heraus, da die Kinder jetzt nicht mehr nur über sich selbst berichteten, sondern auch über andere Kinder auf den Photos. Ausserdem weckte das Photo ihr Interesse und ihre Neugierde; die Methode enthielt also ein motivierendes Moment. Anhand eines Fragebogens, der offene und geschlossene Fragen enthielt, sprachen wir mit den Kindern über ihre Spielgewohnheiten und Spielorte, über die vorgefundene Gruppenzusammensetzung, über ihre in der Gruppe verwendeten Sprachen, ihr Sprachverhalten, ihren Sprachunterricht sowie über Orte, die sie aufsuchen und solche, die sie meiden. Zum Schluss hatten die Kinder die Möglichkeit, uns über weitere Dinge, die ihnen wichtig erschienen, zu informieren. Alle Antworten wurden im Fragebogen selbst protokolliert18. Befragt wurden mit dieser Methode insgesamt 144 Kinder, die in 31 Gruppen angetroffen worden waren.


Im Anschluss an die einzelnen Befragungen wurden zusätzlich Gedächtnisprotokolle vom Befragungsteam, das eine weibliche Person und den Autor umfasste, erstellt. Diese Protokolle enthalten die zwei unterschiedlichen Perspektiven auf die jeweilige Situation, welche die Mitglieder des Teams besitzen19. Zunächst wurde das Datenmaterial anhand der Kriterien Sprache, Klasse (i.S.v. Schulklasse) bzw. Alter und Geschlecht der einzelnen Kinder in den Gruppen quantitativ beschrieben. Sodann wurden die Daten einer qualitativen Auswertung unterzogen: Die Äusserungen aller Kinder wurden auf ihre Gemeinsamkeiten hin analysiert, um übergreifende strukturelle Bezüge in ihrer Wahrnehmung der »kindlichen Stadtlandschaft« zu beschreiben.


Nach der Darstellung der Methoden der Untersuchung zur "ausserschulische und ausserfamiliären Lebenswelt der Kinder" gehe ich jetzt zur Untersuchung "Türkisch in gemischt-kulturelle Jugendgruppen" über, welche die Hauptdatengrundlage der Arbeit darstellt. Es ging in dieser Studie ebenfalls um die Bedeutung der Sprache in Gruppen. Es handelte sich jedoch um Jugendliche.


Die Studie »Türkisch in gemischt-sprachlichen Jugendgruppen«

Die Fragestellung der Studie "Türkisch in gemischt-kulturellen Jugendgruppen" war zu Beginn des Forschungprojektes im Jahre 1995 nur grob umrissen. Zunächst galt es die Frage zu beantworten, ob es denn eine grössere Gruppe von Jugendlichen nicht-türkischer Herkunft gibt, die Türkisch in gemischt-sprachlichen Jugendlichennetzwerken zur Interaktion benützen. Über die Struktur von gemischt-sprachlichen Jugendlichennetzwerken war bisher kaum etwas bekannt. Beim Einstieg ins Forschungsfeld war jedoch die Annahme gerechtfertigt, dass sie sich in ihrer Struktur, Grösse und Qualität sehr stark unterscheiden könnten. Um ein möglichst umfassendes Bild von den existierenden Mustern zu erhalten, wurde auch hier der Weg über die Schulen gewählt. Unterschiedliche Schulen wurden gewählt, die in Gebieten liegen, in denen Aufgrund der Bevölkerungszusammensetzung, zu vermuten war, dass solche Netzwerke dort vermutlich aufzufinden sind. So diente die erste Phase der Untersuchung dem Feldzugang. Die Schulen, im weiteren Verlauf als Schule A, B und C gekennzeichnet, wurden so ausgewählt, das sie nach Schultyp, nach Schuleinzugsgebiet und nach Schulphilosophie variierten. Die Vorgespräche mit den Schulleitern und Lehrern der ausgewählten Schulen wurden entweder in der Form eines qualitativen Interviews20 durchgeführt oder als rezeptive Interview21 nach den Gesprächen protokolliert. Nachdem die in Frage kommenden Klassen ausgewählt wurden, wendeten wir zu Beginn der zweiten Phase, am Beginn des neuen Schuljahres 1995/96, zwei verschiedene Methoden innerhalb der Klassen an: das sogenannte Sprachbeziehungsinterviews und qualitative Interviews. Alle anwesenden Schülerinnen und Schülern der ausgewählten Klassen wurden mit diesen Methoden befragt. Der Schuljahresbeginn erwies sich als geeigneter Zeitpunkt, da wir eine noch relativ offene Schul- und Unterrichtssituation vorfanden, in der wir nicht allzusehr in den Schulalltag eingriffen. Nach Absprache mit den Klassenlehrerinnen und -lehrern wurde uns am Vormittag ein Zeitraum zur Verfügung gestellt, in der wir paarweise (bzw. Dreiergruppen) Schüler und Schülerinnen aus dem Unterricht heraus in separate Räume holen konnten, um mit ihnen die Interviews durchzuführen. Desweiteren nahm der Autor, als verantwortlicher Feldforscher, während dieses Schuljahres an unterschiedlichen Aktivitäten der Jugendlichen innerhalb und ausserhalb der Schule teil. Diese teilnehmenden Beobachtungen22 wurden vom Autor protokolliert und finden sich im Anhang wieder.


Die Aufgabe, wie sie im Antrag für dieses Forschungsprojekt23 formuliert wurde, bestand zum einem in der Frage nach dem sprachlichen Umfeld von Jugendlichen in gemischt-sprachlichen Jugendgruppen, zum anderen aber auch in der Frage nach der Struktur der Freundschaftsnetzwerke24 der Jugendlichen. Daher sollten die Sprachbeziehungsinterviews und die qualitativen Interviews dem Forschungszusammenhang dazu verhelfen, sich einen Überblick über die sprachliche Situation und die Beziehungen der Jugendlichen untereinander zu verschaffen. Uns interessierte dabei die die Interkation innerhalb der Klasse, wie aber auch ausserhalb der Schule. Nach der Auswahl eines Netzwerkes von Jugendlichen aus einer der Schulen folgte eine intensivere Beschäftigung mit den Jugendlichen dieses Netzwerkes selbst. Mit ihnen wurde auch ein qualitatives Experiment25 durchgeführt. Nun eine kurze Beschreibung der angewandten Methoden.









Exkurs: eine graphentheoretische Auswertungsmethode

In den Sprachbeziehungsinterviews haben wir es mit einer überschaubaren, begrenzten Gruppe zu tun, wodurch die nun folgenden mathematischen Operationen sinnvoll erscheinen. In der Auswertung dieser Fragebögen wurden Versuche zur Aufdeckung der Struktur der erhobenen Daten unternommen, die aus der mathematischen Netzwerkanalyse stammen. In den Sprachbeziehungsinterviews liegen die Informationen in einer Form vor, die qualitativ-heuristischen Untersuchungen zu Beziehungsstrukturen der Jugendlichen untereinander schwer zugänglich sind. Es erscheint daher sinnvoll, aus diesen Fragebögen andere Darstellungen dieser Informationen herzuleiten; dazu ein wenig Mathematik29.


Im Folgenden seien der Einfachheit halber die Namen der Jugendlichen mit v1, ..., vn bezeichnet (im Fall der Sprachbeziehungsinterviews wäre n = 61). Die vorliegende Form der Daten liesse sich dann beschreiben durch die Grundmenge {v1, ..., vn} und eine Menge von geordneten Paaren {(v1,{v11, ..., v1j1}),...,(vn ,{vn1, ..., vnjn})}. In diesen Paarmengen steht nun an erster Stelle der Name des befragten Jugendlichen und an zweiter die Menge derjenigen Namen, die dieser nennt. Dies lässt sich leicht in eine Liste {(vi,vj) | vj e {vi1, ..., viji}} schreiben, in der die Paare alle in den Fragebögen enthaltenen Beziehungen "vi nennt vj" stehen. Jetzt lassen sich die Daten in einer graphischen Form darstellen: die Elemente der Grundmenge, die vi, werden als Punkte aufgezeichnet und jedes Paar (vi,vj) als Pfeil von vi nach vj eingetragen. Ein solches Gebilde heisst in der Mathematik (gerichteter) "Graph", die Punkte "Knoten" und die Pfeile "Bögen". Haben die Bögen keine ausgezeichnete Richtung, so heissen sie "Kanten" und das ganze Gebilde ist dann ein ungerichteter Graph. Für die weiteren Untersuchungen werden die Richtungen nicht in Betracht gezogen, sodass jede Kante vivj nun die Relation "vi nennt vj oder vj nennt vi" bezeichnet. Jeder Knoten, der mit einem Knoten v durch eine Kante verbunden ist, heisst "Nachbar" von v.


Diese Darstellung der Daten als Graph kann immer noch recht unübersichtlich sein, weshalb noch eine weitere Transformation zweckmässig ist. Diese Umformung ist eine algorithmische und der sogenannten "Breitensuche" ("breath first search") angelehnt. Dazu wird als Datenstruktur ein "stack" angelegt, der im Folgenden mit Q bezeichnet wird. Ein »stack« ist wie eine Warteschlange: hinten werden die Daten hinein reingesteckt und vorne wieder herausgeholt. Der Algorithmus lässt sich dann wie folgt beschreiben, wobei das Zeichenpapier in Zeilen aufgeteilt ist:


  1. Q = {v1} (Q wird {v1} zugewiesen) und v1 in die unterste Zeile des Papiers gemalt.

  2. Ist Q nicht leer, so entferne den ersten Knoten aus Q, der jetzt mit "v" bezeichnet werde; ansonsten stoppt der Algorithmus.

  3. Mit allen Nachbarn w von v wie folgt:




  1. Weiter mit 2.


Schliesst man jetzt noch die Kreise, indem die mehrfach aufgemalten vi identifiziert werden, haben die Daten der Fragebögen mit etwas Geschick (was die Wahl des Anfangsknoten angeht) eine anschauliche Darstellung ihrer Struktur gefunden. Zu beachten ist dabei noch, dass der algorithmische Teil dieser Umwandlung wiederholt werden muss, wenn der zu Grunde liegende Graph in mehrere Komponenten, d.h., es sind unzuzammenhängende Teile, zerfällt. Die Breitensuche muss dann in jeder Komponente mit jeweiligem Anfangsknoten erfolgen.


Die Verlässlichkeit und Gültigkeit heuristischer Sozialforschung

Die aus der Analyse des Materials heraus entwickelten Anordnungen und Gestalten mussten des öfteren verworfen und von neuem gesucht werden bis der Gegenstand seine heutige, zeitlich begrenzt gültige Form fand. Dieser Veränderungsprozess des Gegenstands während der Forschung ist gewollt und gewollt sind auch die verschlungenen Wege, die es manchmal bedarf um sich ihm angemessen zu nähern. Die auf die Lebenswelt bezogene Forschung stösst häufig an die Grenzen von Methoden, wenn sie sich einem Gegenstand nähert. Oft sind es zufällige pragmatische Erwägungen, mit welchen es gelingt, Methoden an den Gegenstand und das Feld anzupassen. Für jede wissenschaftliche Studie stellt sich allerdings, neben allen pragmatischen Erwägungen, auch die Frage nach ihrer Verlässlichkeit und Gültigkeit. Wodurch zeichnet sich aber soetwas wie Wissenschaftlichkeit aus? Gerhard Kleining gibt folgende Kennzeichnung.

Alle wissenschaftlichen Forschungsverfahren und deren Ergebnisse sollen prüfbar sein, die Offenlegung der Methodologie ist ein Kennzeichen des Wissenschaftlichkeitsanspruches.30

Wie lässt sich dann Verlässlichkeit und Gültigkeit, Begrifflichkeiten die sich im allgemeinen auf das quantitative Forschungsparadigma beziehen, für die qualitativ orientierte Forschung bestimmen?

Die Prüfverfahren sind bei qualitativ-heuristischer Sozialforschung der hier zugrunde liegenden Methodologie immanent, d.h. sie sind integriert in den Forschungsprozess und ergeben sich durch die regelgerechte Anwendung der Forschungsverfahren selbst. Sie unterscheiden sich in dieser und in anderer Hinsicht von den Prüfverfahren der deduktiven Sozialforschung und durch ihre Systematik von den Plausibilitätskontrollen der hermeneutischen.31

Wenn die Prüfverfahren der hier angewendeten Methodologie immanent sind, so genügt es zu überprüfen, ob die Forschungsverfahren tatsächlich regelgerecht angewendet wurden. Dazu sehen sie im Folgenden eine Tabelle mit Angaben über die in den beiden Untersuchungen verwendeten Methoden.


Tabelle 2: Liste des erhobenen Materials

Methoden Kinderstudie Jugendlichenstudie
Photobeobachtung 100
Experteninterviews 2 3
Stadtspaziergänge 15
Photobefragung/teiln. Beob. 33 8
Sprachbeziehungsinterviews


61
qualitative Interviews 28
rezeptive Interviews 2
qualitatives Experiment 1


Die erhobenen Daten sind unterschiedlicher Art. Neben den qualitativen Daten wurde auch Daten erhoben und verwendet, die man landläufig als quantitativ bezeichnen kann (Photobeobachtung, Sozialstrukturdaten, u.ä.). Neben der Datenart,wurden auch die Methoden variiert. Dabei wurde besonders darauf geachtet, dass dem Grundgedanken der qualitativen Heuristik, nämlich dem Dialogprinzip32, gefolgt wird. Zur Erinnerung: die bewegte Abfolge von Frage - Antwort - Frage, oder anders ausgedrückt dem Wechsel von »expressiven« und »rezeptiven« Verfahren, wie sie zum Beispiel das »Experiment« und die »Beobachtung« darstellen. Wichtig ist, dies als Einheit von Zusammenhängen zu begreifen.

"Werden die Teile getrennt, verlieren sie ihren sozialen Charakter. Das Experiment ist ohne (rezeptive) Beobachtung blosse Aggression; die Beobachtung, die nicht mehr "aufmerksam" oder "aktiv" ist, gerät zur Passivität, zur widerstandslosen Offenheit gegenüber potentieller Zerstörung."33

So haben auch die verwendeten Methoden unterschiedlichen Charakter. Sie beinhalten Experiment und Beobachtung. Neben der Datenform und den Methoden wurden auch die befragten Gruppen variiert. Zunächst variieren die Gruppen nach Orten. Die drei Schulen A, B und C variieren in der Schulform (Haupt/Realschule; Gymnasium), der Schulphilosophie (multilinguales oder monolinguales Selbstverständnis), dem Schuleinzugsgebiet (Kleingewerbe, Arbeitermilieu, Etablierte) und dem Verhältnis von Angehörigen der »Mehrheits- und Minderheitssprachen«. Die 75 Jugendlichen, von denen Daten erhoben wurden, verteilen sich gleichmässig in den auf die Schulen (A= 25, B=24 und C=26). Von diesen 75 Jugendlichen sind 38 weiblich und 37 männlich. Die Geburtsjahrgänge umfassen die Jahre 1978 mit 3, 1979 mit 20, 1980 mit 32 und 1981 mit 11 Jugendlichen. Die Altersgruppe umfasste also zum Untersuchungszeitpunkt die 14- bis 17-jährigen, mit der Gewichtung auf die 15- bis 16-jährigen. Von 9 waren 7 nicht anwesend und von 2 gaben hier zu den statistischen Fragen keine Daten an. Von 68 Jugendlichen, die Angaben machten, sind 42 in Hamburg und 26 ausserhalb von Hamburg geboren. Folgendes Interviewmaterial bildet nun den Schwerpunkt der Analyse: 61 Sprachbeziehungsinterviews, sowie 28 Gruppeninterviews aus drei Schulen mit insgesamt 61 Jugendlichen. Das Tonmaterial umfasst ca. 410 Minuten. Die Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler beträgt 75. Angaben von 14 Schülerinnen und Schüler konnten nur über die Klassenliste oder Aussagen von Mitschülerinnen und Mitschüler gewonnen werden34.


Da die Sprachen in ihrer Beziehung zur Gesellschaft hier im Mittelpunkt stehen, war es auch unabdingbar diese zu variieren. So finden sie folgende, von den Jugendlichen mehr oder weniger gesprochenen Sprachen im Sample: Deutsch, Türkisch, Bosnisch, Russisch, Albanisch, Arabisch, Kurdisch, Twi, Serbokroatisch, Kroatisch, Polnisch, Portugiesisch, Spanisch, Italienisch, Jugoslawisch, Ungarisch, Persisch und Yoruba, so die Bezeichnungen der Jugendlichen selbst für ihre Sprachen.


Noch eine Bemerkung zur Darstellung der Forschungsergebnisse. Zur Erinnerung: die Konzeptionalisierung einer »Grounded Theory« aus dem heterogen zusammengestellten Sample erfordert die Distanzierung vom Datenmaterial35. Es empfiehlt sich daher, sich des Unterschieds zwischen der Feldarbeit, also der Datenaufnahme, der Analyse und der Darstellung zu vergegenwärtigen, um sich damit auch der gegenseitigen Durchdringung der einzelnen Schritte bewusst zu werden36. Sie haben es also hier mit der Darstellung des Forschungsprozesses zu tun, die sich aber von der Vorgehensweise im Forschungsprozess selbst unterscheidet; denn Zirkuläres wird als Lineares dargestellt. Die Entwicklung einer »Grounded Theory«, die sich ihrer Begrenztheit und Zeitlichkeit bewusst ist, muss selbst an Grenzen stossen, an denen Aussagen nicht mehr möglich sind. Der Autor hofft daher, dass es ihm gelungen ist, die Darstellung so begrenzt zu haben, dass Aussagen, die aufgrund der Forschungsarbeit gemacht werden, eine Evidenz besitzen, dass aber spekulative Aussagen, die über das Forschungsfeld hinausgehen, vermieden werden, weil sie erst durch weitere Forschung evident gemacht werden können.

8 Die Untersuchung der betreuten Klassensituation war eines der der zentralen Inhalte der Froschungsprojekts. Dazu und zu den anderen Ergebnissen des Projekts: s.Veröffentlichung des Forschungsprojektes. Weitere Ergebnisse die Unterrichtssituationen betreffend können sie nachlesen in: Gogolin & Neumann (1997)

9 Den Versuch der Aufzeichnungen per Videokamera hatten wir unternommen, weil wir auch eine Auswertung des Materials im Hinblick auf die Mobilität in den Konstellationen vornehmen wollten, die mit beweglichen Aufnahmen leichter zu erfassen gewesen wäre.

10 Einige weinige Sequenzen der Videoaufnahmen konnten wir in unsere Auswertung mit aufnehmen. Dabei bestätigten sich die Ergebnisse der Photoaufnahmen.

11Hoffmeyer-Zlotnik veröffentlichte 1977 eine Untersuchung im Berliner Stadtteil Kreuzberg, bei der die übergeordnete Fragestellung das Mass der Integration des türkischen Bevölkerungsanteils war. In diesem Rahmen führte er u. a. Stadtteilbegehungen und nicht-teilnehmende Beobachtungen per Photographie durch. Da der Zeitpunkt der Untersuchung inzwischen 15 Jahre zurückliegt und einer anders gelagerten Fragestellung nachgegangen wird, beziehen wir uns im vorliegenden Text lediglich auf die methodische Vorgehensweise.

12 siehe dazu: Flick, Uwe (1995): Qualitative Forschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften. Reinbek, 228 u. 83

13 Im »Spielezentrum«, einem mehrere Klassenräume umfassenden Raum im Schulgebäude, können sich die Kinder während der Schulzeit ausserhalb des Unterrichts unter Betreuung eines Sozialpädagogen aufhalten.

14 Zeiher & Zeiher (1994) gehen in ihrer Untersuchung zum sozialen Leben im Alltag von Grossstadtkindern ebenfalls auf die »Herkunft« von Kindern, die auf Spielplätzen in den untersuchten Berliner Stadtteilen zusammenkommen, ein. Die Unterteilung in »deutsche« und »andere Herkunft« erfolgt allerdingsnur durch die Einschätzung der Beobachter, ohne die darin liegende Problematik der Zuschreibung zu reflektieren (Zeiher & Zeiher 1994: 97f.).

15 Zu jedem aufgenommenen Sektor des Schulhofs wurden Tabellen angefertigt, in die Informationen (Name, Sprachen, Klasse, Geschlecht) aus den einzelnen Photoaufnahmen nach zeitlicher Abfolge eingetragen wurden. Ersichtlich wurden durch dieses Verfahren nicht nur die Stabilität der Gruppen, sondern auch die Bewegung ihrer einzelnen Mitglieder auf dem Schulhof.

16 Jüngst, Peter & Oskar Meder: Zur Grammatik der Landschaft - über das Verhältnis von Szene und Raum. (1986: 3-9)

17 Ich möchte an dieser Stelle nochmals ausdrücklich Angelika Shams danken, die mit mir zusammen, als studentische Hilfskraft, diese Datenerhebung mit durchgeführt hat.

18 Diese Protokolle sind nicht im Anhang enthalten, das sie vertrauliche Daten und Ortsnamen enthalten, die nicht ohne weiteres anonymisiert werden konnte. Diese Protokolle sind aber über den Autor einsehbar.

19 vgl. zur Funktion solcher Feldnotizen Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung. Band 2: Methoden und Techniken. (1989: 84f)

20 Der Fragebogen kann im Anhang auf S.5 eingesehen werden.

21 Kleining: (1994: 123-147)

22 Flick, Uwe: Qualitative Forschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften. (1995: 152-166)

23 Neuantrag auf Gewährung einer Sachbeihilfe (im Rahmen des Schwerpunktes FABER), Typoskript 1994

24 Gruppenstrukturen / Netzwerke / networks: Schlieben-Lange (1991: 98, 145)

25 Kleining: (1994: 149-177). Die Abschrift dieses »qualitativen Experiments« finden sie auf S. 265 ebenfalls im Anhang.

26 Im Anhang können sie diese Fragebögen finden.

27 Diese Befragung wurde von I. Jäger ausgewertet. Die Ergebnisse sind nachzulesen in Gogolin & Neumann: (1997: 130)

28 Kleining: (1994: 27)

29 Die mathematischen Grundlagen der folgende Darstellung kann in: Jungnickel, Dieter: (1992: 94-96) detaillerter nachgelesen werden.

30 Kleining (1995: 280)

31 Ebd.

32 Ebd. 250

33 Ebd. 257

34 Zur genaueren Verteilung der Interviews sehen sie bitte die Tabelle im Anhang

35 Glaser, Barney G.: Basics of grounded theory analysis. (1992: 11)

36 Ebd. 14