4.2.3.3. Homerische Grabhügel als Mittel aristokratischer Selbstdarstellung
Der attische Grabkult des 8. bis frühen 5. Jahrhunderts v. Chr. ist in den letzten Jahren gerade im Hinblick auf seinen gesellschaftlichen Hintergrund heftig diskutiert worden.[1] Der Entstehung der Polis und den Auswirkungen dieser neuen politischen Ordnung auf die gesellschaftlichen Eliten hoffte man durch das reichlich vorhandene archäologische Material aus den Gräbern auf die Spur zu kommen.
Ziel dieser Arbeit ist es, die Tumulusbestattungen Attikas als Teil eines sozialen Codes zu verstehen, der es den Eliten erlaubte, ihren jeweiligen Status zu demonstrieren. Es ist hierbei von Interesse, unter welchen Umständen man auf das monumentale Tumulusgrab zurückgriff, welche Assoziationen mit ihm verbunden wurden und ob sich durch Beigaben oder Grabplastik noch weitere statusträchtige Bezugssysteme bestimmen lassen.
Ein Überblick über die Forschungssituation würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und es sollen daher nur die Publikationen berücksichtigt werden, deren Ergebnisse sich direkt auf das hier vorgelegte Material beziehen lassen. Es stehen dabei zwei Aspekte im Vordergrund: Zum einen die Bestimmung der gesellschaftlichen Position, die die in einem Tumulusgrab Bestatteten im Leben innehatten und zum anderen deren Lebensideal, wie es sich an der Ausstattung der Gräber ablesen läßt.
Unbestritten ist bisher die Interpretation der attischen Tumulusgräber als Bestattungen der begüterten Schichten. Die am weitesten verbreitete Deutung sieht in den Grabhügeln die Familiengräber der großen attischen Geschlechter, so der Eupatriden in Athen.[2] Diesem Ansatz hat erstmals Felix Bourriot in seiner umfangreichen Arbeit über die attischen Familien mit dem Argument widersprochen, daß diese Grabstellen bestimmte Merkmale nicht aufweisen, die für Familiengrabstellen unbedingt bindend seien.[3] Er fordert als Charakteristika für die Erkennung von Genosgräbern Mehrfachbestattungen, eine lange Belegungsdauer und eine Grabform, die Macht, Einfluß und Reichtum wiederspiegelte. Grundsätzlich entsprächen Tholoi, Kammergräber und Tumuli diesen Merkmalen, doch Bourriot verwirft im Verlauf seiner Untersuchung alle drei möglichen Grabformen und kommt zu dem Ergebnis, daß es in der Archaik keine solchen Familiengrabstellen gegeben hat.[4] Die Tumuli in Vourva, Velanideza und Athen verwiesen durchaus auf Wohlstand und Einfluß, seien aber nicht die Gräber der führenden attischen Familien, sondern von Neureichen.
Dem ist entgegenzuhalten, und Bourriot selbst war hier ein Vorreiter, daß ein allzu starres Konzept von Familie für die Archaik nicht anzuwenden ist. Jedes Mitglied der Elite suchte eine einflußreiche Position zu erringen und sich innerhalb der aristokratischen Tätigkeitsfelder Krieg, Jagd, Sport, Politik und den verschiedenen Disziplinen des Symposions auszuzeichnen. Er konnte sich dabei auch auf die eigene Familie, seine Hetairoi und weitere Personen, die seine Interessen teilten stützen. Zu festen Machtkonstellationen kam es dabei nicht.[5] Ist die Familie also nicht als die ausschlaggebende Machtbasis anzusprechen und entspricht die erreichte gesellschaftliche Position vor allem den persönlichen Verdiensten, ist auch keine Grabform zu erwarten, die den Einzelnen dem Clan unterstellt, bzw. in die er sich betont einordnet.
In diesen gesellschaftlichen Rahmen fügt sich die archaische Kerameikos-Nekropole sehr gut ein, in der jedes Grab - anscheinend ohne erkennbare Regeln - für sich den besten Platz beanspruchen konnte. Und auch die unterschiedlichen Bestattungsformen, die innerhalb eines einzelnen Tumulus, beispielsweise Vourva, belegt sind, deuten auf eine sehr individuelle Herangehensweise an das gesellschaftliche Ereignis Bestattung hin. Gerade die von Bourriot und anderen herausgearbeiteten Charakteristika der archaischen Gesellschaft, lassen die attischen Tumuli mit ihrer starken, durch das Epos naheliegenden, Assoziation an das Einzelgrab als eine besonders geeignete Bestattungsform der Elite erscheinen.
Daß es sich hierbei um die alte landbesitzende Elite handelt, legt die topographische Verteilung der attischen Tumuli nahe, die sich zum großen Teil in den Landgemeinden befinden und nicht in den städtischen Friedhöfen, wie man es für die Grabstellen der urbanen Neureichen, d. h. etwa Händler und Handwerker erwarten würde.
Houby-Nielsen hat 1995 in einer Untersuchung über den Kerameikos archaischer und klassischer Zeit versucht, Tumulusgräber einer besonderen Gruppe innerhalb der attischen Oberschicht zuzuordnen.[6] Ebenso wie Bourriot geht Houby-Nielsen von der schwachen Stellung der archaischen Familie als Basis des persönlichen Prestiges aus. Sie arbeitet bestimmte Sets von Beigaben heraus, deren Zusammenstellung sich nach dem Geschlecht und der sozialen Stellung des Bestatteten richten. In den männlichen Toten in Grabhügel G, deren Beigaben aus Klinen, Lekythoi und Lydia bestehen, möchte sie daher nicht die Angehörigen einer Familie sehen, sondern die Mitglieder einer symposiac association.[7] Auch der Tumulus von Velanideza wird von Houby-Nielsen in diesem Sinne gedeutet: Da die Beigaben in diesem Fall äußerst spärlich sind, stützt sie sich auf die wahrscheinlich zugehörige Grabstele des Lyseas, die bereits von Loeschke 1879 als Darstellung eines Priesters angesehen wurde, der durch seinen roten Chiton, ein Ährenbündel (oder Lorbeer?) und den Kantharos in den Händen als Anhänger des Dionysos gekennzeichnet sei.[8] Houby-Nielsen bezeichnet den Tumulus von Velanideza daher als Grabstätte eines Priestergeschlechts.
Eine Deutung, wie sie auch schon anhand literarischer Quellen für den Rundbau am Eridanos vorgeschlagen wurde.[9]
Der Ansatz von Houby-Nielsen ist fruchtbar, weil er die große Bedeutung des öffentlichen Lebens für die Erringung von Prestige betont, den Sepulkralbereich als gesellschaftlich relevantes Medium der Selbstdarstellung ausweist und auf die geschlechtsspezifische Ausstattung von Toten hinweist. Ihre These, nach der jeder Tumulus einem religiösen Verein oder einem Club zugewiesen wird, kann jedoch nicht aufrecht erhalten werden. Gerade auch die von ihr genannten Beispiele weisen Anomalien auf, die sich mit ihrer Interpretation nicht decken. So dominiert in Hügel G zwar das Schachtgrab mit männlicher Bestattung, daneben sind aber auch zwei Kinder und eine Frau im Hügel beerdigt worden. Wie passen diese Personen zur Gruppe der Symposiasten? Houby-Nielsen rettet ihre Hypothese, indem sie bei einigen Symposiasten die Mitbestattung eines oder mehrerer Familienmitglieder annimmt. Die Unterscheidung zwischen einem echten Familiengrab und einem Symposiastengrab mit Familienmitgliedern kann jedoch unter diesen Umständen nicht mehr methodisch einwandfrei geleistet werden.
Für die Brandbestattungen in Velanideza waren anthropologische Untersuchungen, die eine Aussage über die Altersstruktur oder die Geschlechtszugehörigkeit der Toten zuließen, nicht möglich. Einen Hinweis mag aber die Stele des Aristion geben, die zusammen mit der Lyseas-Grabstele dem Tymbos zugeschrieben wird und keinen Priester, sondern einen Krieger zeigt. Auch hier gehören die Gräber also nicht erkennbar einer Gruppe von Gleichgestellten an.
Lehnt man aber die von Bourriot gegebene Interpretation der attischen Tumulusgräber als Bestattungen der nouveaux riches ebenso wie Houby-Nielsens These von den Priester- und Symposiastengrabstellen ab, liegt es nahe, in der familiären Bindung das einigende Element der Mehrfachbestattungen unter einem Tumulus zu sehen. Der aufgeschüttete Grabhügel wäre dann das optische Mittel bei einer Vielzahl von Einzelgräbern den familiären Zusammenhalt darzustellen.[10] Doch unter welchen Umständen sollte sich der einzelne auf die Familie bezogen haben, die zwar die Basis bei der Erringung von Sozialprestige darstellte, aber allein als Bezugspunkt für den gesellschaftlichen Status noch nicht ausreichte? Auch ist die bloße Anzahl der Tumulusgrabstätten in Attika und Athen nicht so groß, daß man davon ausgehen könnte, daß diese Grabform für die Oberschicht in ihrer Gesamtheit verbindlich war.
Bei der Durchsicht der archaischen Grabskulptur fällt die Jugendlichkeit der Dargestellten auf. Schmaltz sieht in den Reliefs, den Epigrammen und den Grabstatuen eine Illustration zum Grundmotiv des allzu frühen Todes.[11] Männer und Frauen befinden sich im Alter der Bewährung. Bei den Männern stehen die männliche Schönheit und militärische Tapferkeit im Vordergrund; die Frauen sind festlich geschmückt und starben unverheiratet. Es ist plausibel, daß gerade dieser frühe Tod, noch vor der eigentlichen Bewährung innerhalb der aristokratischen Konkurrenzkämpfe, eine Bestattungsart wählen ließ, die auf eine rühmende Abstammung hindeutete. Teile der Aristokratie könnten im Verweis auf ruhmreiche Vorväter ein Mittel gesehen haben, ihren eigenen Geltungsanspruch hervorzuheben. Die Grabstelle mit dem altertümlichen Tumulus wäre dann der Beleg für einen konservativen, aristokratischen und auf Abkunft angelegten Zug des attischen Adels, der ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. auch absichtlich als Mittel der Abgrenzung gegenüber den aufstrebenden kakoi benutzt werden konnte.[12]
Aufwand, Größe, Verteilung der Gräber und eine Belegungsdauer von drei bis vier Generationen sprechen dafür, in den attischen Tumuli die Bestattungen der konservativen adligen Elite - vornehmlich der Landbesitzer - zu sehen.[13] Diese Aristokratie verfügte auch über weit die Landesgrenzen überspannende familiäre und freundschaftliche Beziehungen, die sich möglicherweise in der Beigabe von ostgriechischen Luxuswaren in einigen Gräbern in Athen widerspiegeln.
Einem aristokratischen Kontext fügen sich auch die keramischen Funde der hier vorgelegten Tumuli ein: Das Repertoire der Bildthemen zeigt unter anderem Tierfriese in allen Ausprägungen, Symposia, Viergespanne, Krieger- und Götterdarstellungen.[14]
Doch auf welche Lebensideale verweist diese gesellschaftliche Elite in ihren Gräbern und verändern sich die entsprechenden Referenzmodelle innerhalb des hier interessierenden Zeitraums? Ein Kennzeichen der Bestattungen des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr. ist die Dürftigkeit der Beigaben innerhalb des eigentlichen Grabes. Gab es noch in der geometrischen Zeit Bestattungen mit verhältnismäßig reichen Schmuck-, Keramik- und Waffenbeigaben, so läuft diese Tradition noch in spätgeometrischer Zeit aus.[15] Schmuck- und Waffenfunde hören in der Archaik völlig auf und die Beigaben erhalten nun ihren Platz in der Peripherie des Grabes.
Mit dem vermehrten Auftreten der Opferrinne ab dem 2. Viertel des 7. Jahrhunderts verschob sich der eigentliche Wirkungsrahmen der Beigaben: Sie verschwanden nicht mehr bei der Totenverbrennung in der Brandschüttung oder wurden dem Toten direkt beigeordnet, sondern waren bis zur Aufschüttung des Hügels und ihrer rituellen Zerstörung prestigeträchtig oberirdisch in einem Holzgestell auf vielen Metern Länge ausgestellt.[16] Während der ganzen Bestattungszeremonie konnte die Menge der Gaben von den anwesenden Trauergästen gesehen und erweitert werden. Das Inventar der Opferrinnen umfaßte Keramikgefäße, Thymiaterien, Spielsteine, Kleintiere, Muscheln und Modelle von tönernen Wagen und Tonaltärchen.
Houby-Nielsen hat das Material der Opferrinnen im Rahmen einer Arbeit über das Repräsentationsverhalten der attischen Eliten des 7. Jahrhunderts untersucht.[17] Sie versteht die athenischen Grabsitten als Vehikel eines Kommunikationsprozesses innerhalb der Angehörigen der Elite und stellt eine Veränderung innerhalb der Zusammensetzung der keramischen Beigaben fest. Man legte die Keramik seit protoattischer Zeit nicht nur in die an der Peripherie des Grabes angesiedelten Opferrinnen, sie erhält auch einen anderen Charakter. Hohe Thymiaterien und aufwendig gearbeitete Misch-, Gieß- und Trinkgefäße interpretiert Houby-Nielsen als Verweise auf eine verbreitete Symposionkultur im 7. Jahrhundert v. Chr., die den Oberschichten - analog zum Befund der homerischen Epen - als Rahmen für die Klärung von Prestige- und Statusfragen diente. Die Koppelung von Symposion und Grabkult erklärt sich aus dem hohen Stellenwert, den der Oikos innerhalb dieser Konkurrenz innehatte. Seine Leistungsfähigkeit bot die Grundlagen für den Erhalt der einmal erreichten Position und sie ist am besten durch das Ausrichten von großen Trinkgelagen zu demonstrieren.
Ein neuralgischer Punkt ist dann der Tod des Aristos. Wiederum muß der Oikos den Status durch ein würdiges Begräbnis sichern, das in einer angemessenen Totenklage, dem Aufbahren des Toten, dem Bewirten der Trauergäste, dem feierlichen von Musik und Eulogien begleiteten Auszug des Trauerzuges und einem bedeutenden Grabmal seinen Ausdruck findet. In einer Zeit ohne geschriebenes Erbrecht bewies sich darüber hinaus in der reibungslosen Organisation der Beerdigung der Anspruch der Erben auf den gesellschaftlichen Stand und den Besitz des Verstorbenen.[18]
Diese Form der Statusdemonstration weicht nach Houby-Nielsen im 6. Jahrhundert v. Chr. der neuen Polisideologie. Konkret zeige sich diese Entwicklung an der rückläufigen Zahl von Opferrinnen und der neuen sparsamen Ausstattung der großen Gräber mit kleinen Ölgefäßen.[19] Hierin ließe sich eine neue Richtung innerhalb der athenischen Aristokratie fassen, die dem Wertekatalog der klassischen Polis vorgreife.
Gegen eine Wandlung des aristokratischen Wertekanons ist zu sagen, daß gerade auch der von Houby-Nielsen angesprochenen Hügel G durch die Beigabe von bernsteinverzierten Klinen weiterhin auf das Symposion verweist. Und auch Gefäße mit kostbarem Salböl sind im Kontext des Banketts belegt.[20] Die veränderte Akzentuierung bei der Ausgestaltung der Bestattungen muß andere Gründe haben.
Einen ganz ähnlichen Standpunkt wie Houby-Nielsen vertritt auch DOnofrio in einer Arbeit über die Aufstellungsweise archaischer attischer Grabplastik.[21] Vom Tumulus mit Kuros/Kore-Statue bis hin zur Grabstele sieht sie eine Tendenz, das Grab mit einer dauerhaften rühmenden Aussage zu verbinden. Im Kuros spiegelt sich nach DOnofrio dabei eine episch-heroische, in der Stele aber die Programmatik der Polis. Doch gerade der von DOnofrio in Gestalt der Stele des Aristion und des Kroisos-Kuros aufgestellte Gegensatz leuchtet nicht ein: Während der als Phalanxkämpfer gerüstete Aristion sich dem Ideal des Politen unterwirft, soll Kroisos durch seine Nacktheit die Assoziation des homerischen Helden hervorrufen. Dieser Gegenüberstellung widerspricht aber die dem Kroisos zugehörende Inschrift, die seinen Einsatz unter den Vorkämpfern, also gerade seinen Tod als Mitglied der Phalanx, betont.[22]
Wie schon Houby-Nielsen betont DOnofrio zu stark den Polisgedanken, d. h. die Unterordnung des einzelnen Bürgers im Staatswesen, der im 6. Jahrhundert sicher noch nicht so ausgeprägt war wie im 5. Jahrhundert. Es ist fraglich, ob die ohne Zweifel zu beobachtenden Veränderungen im Sepulkralbereich zwischen dem 8. und dem 6. Jahrhundert v. Chr. überhaupt mit der Polis zu verknüpfen sind. Die Bildung einer Gemeinschaft von gleichberechtigten Bürgern im Rahmen der Polisinstitutionen ist schließlich erst das Ergebnis der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in der Archaik, die im 6. Jahrhundert zu den solonischen Reformen und der Tyrannis des Peisistratos führten.
Viel eher sollte man den Wandel im Zusammenhang der Differenzierung des attischen Adels sehen, der bildliche und symbolische Ausdrucksformen hervorbrachte, die später teilweise von der klassischen Polis vereinnahmt wurden.[23] Es wird jedenfalls deutlich, daß im Verlauf des 6. Jahrhunderts der Tumulus allein nicht mehr als Grabmonument ausreichte und von weiterem Grabschmuck zur Erweiterung seines Aussagegehaltes begleitet werden mußte. Im Spannungsfeld zwischen dem konservativen Wertesystem des Adels und den neuen Anforderungen der Polis läßt sich der Tumulus durch seine Betonung von Traditionen mit der auf Abgrenzung gegenüber den Kakoi bedachten Aristokratie verbinden.
Die Grabinschriften und -statuen der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. stellen die Tugenden und Verdienste der Einzelperson in den Vordergrund. Der Vorübergehende wird aufgefordert einzuhalten und den Verlust dieses vorbildlichen Menschen zu beklagen und sein Angedenken zu bewahren. Als hervorstechende Qualitäten werden Merkmale aufgelistet, die den einzelnen in der Gruppe auszeichneten, wie Schönheit, Tüchtigkeit (Areté) und Selbstbeherrschung (Sophrosýne).[24] Koren und Kuroi haben eine ganz ähnliche Funktion. Auch sie konzentrieren sich auf gesellschaftlich relevante Eigenschaften des Verstorbenen. Verweisen die reich geschmückten und gekleideten Mädchenfiguren auf die wenigen öffentlichen Auftritte von Frauen in Festprozessionen und bei Bestattungen, so assoziiert man mit der gespannten Schrittstellung und der Jugendlichkeit des Kuros unter anderem seine Eignung zum Phalanxkämpfer.[25] Die Grabfiguren stellen den oder die Verstorbene im wichtigsten Alter dar: Die Frau demonstriert Eigenschaften, die sie als hochgestellte (angehende) Ehefrau auszeichnen, der Mann beweist seine Eignung zu allen Tätigkeiten des aristokratischen und bürgerlichen Lebens.
In Kapitel 4.1.2. wurde bereits auf die Grabluxusgesetzgebung eingegangen, die - so das gängige Verständnis - der wuchernden Formenvielfalt und der massenhaften Verwendung von Grabskulpturen einmal im frühen 6. Jahrhundert v. Chr. und dann wieder nach 500 v. Chr. Grenzen gesetzt hat.
Ein erneutes Eingehen auf diesen Punkt lohnt sich, da hierzu gerade in jüngster Zeit neue Ansätze diskutiert werden, die der Beurteilung der Gesetze neue Perspektiven eröffnet haben. Cannon hat die zyklische Natur von Aufwendungen im Sepulkralbereich beschrieben und herausgearbeitet, daß erhöhte Aufwendungen für Bestattungen nur bis zu dem Zeitpunkt einen Zuwachs an Prestige erbringen, wie sie noch nicht von gesellschaftlichen Emporkömmlingen übernommen wurden oder eine Steigerung nicht mehr sinnvoll ist um Unterschiede zu verdeutlichen.[26] Morris bezieht diese Untersuchung auf das von Cicero erwähnte post aliquanto-Gesetz, das einen solchen Höhepunkt markiert, an dem Prestigegewinn nur noch durch Selbstbeschränkung erreicht werden kann.[27] Hatte Solon im Jahre 594 v. Chr. die Bestattungsfeierlichkeiten stark eingeschränkt und durch diese Maßnahme für einen Bedarf an aussagekräftigen Grabmonumenten gesorgt, so führten die Beschränkungen bei der Errichtung des Grabmonuments selbst dazu, daß das Grab für einige Zeit als privates Repräsentationsforum der städtischen Eliten in den Hintergrund trat, obwohl Tumulusbestattungen ausdrücklich durch das post aliquanto-Gesetz bis zu einer Größe von 30 Tagewerken erlaubt waren.[28] Die so entstandene Lücke wurde in der Folgezeit von den Staatsgrabmalen der Polis ausgefüllt, die den gesetzlich verankerten Rahmen deutlich sprengten und durch die Aufnahme der Grabform Tumulus in die Nachfolge des archaischen Adelsgrabes traten.[29]
Faßt man den Befund zusammen, so erhält man folgende Abfolge: Innerhalb der griechischen Aristokratie läßt sich die Vorstellung eines Prunkgrabes in Form von monumentalen Tumuli seit den homerischen Epen fassen. In Athen stammt der früheste archäologische Beleg (Rundbau am Eridanos) aus dem Beginn des 7. Jahrhunderts, aus Attika sind entsprechende Zeugnisse erst für das Jahrhundertende (Vari 1) bekannt. Der Höhepunkt dieser Entwicklung wird im Kerameikos mit Hügel G, Südhügel und dem archaischen Rundbau um die Mitte des 6. Jahrhunderts erreicht. Die je circa 5 m hohen Hügel G und Südhügel werden jedoch bei weitem von den überall im attischen Land verteilten Tumulusbestattungen übertroffen; so der 8 m hohe Hügel in Amarousion.
Der überwiegende Teil der Tumuli überdeckt mehrere Bestattungen, scheint aber ursprünglich für ein bestimmtes Grab errichtet worden zu sein. Ob im Zuge von Nachbestattungen eine weitere Aufhöhung erfolgte, ist durch mangelnde Schichtbeobachtung nicht mehr nachzuweisen.
Das Nebeneinander von älteren und jüngeren Bestattungen, die drei bis vier Generationen umfassen können, unter einem gemeinsamen Hügel kann bisher nur als Grabstelle von verwandten Personen gedeutet werden. Dabei ist zu beobachten, daß keinesfalls alle Familienmitglieder eine Bestattung erhielten. Alter und Geschlecht spielten hierbei eine entscheidende Rolle, wobei Männer und Frauen im für die Gemeinschaft wichtigsten Alter die aufwendigsten Bestattungen bekamen.
Vom 7. zum 6. Jahrhundert v. Chr. verändert sich die Struktur der Grabhügel im Kerameikos stark. Eine erste Phase kommt circa 580 v. Chr. zu einem Abschluß. Sie führt zur Ausbildung von flachen Hügeln mit großer Grundfläche aber geringer Höhe. Der Ort der Beigaben wechselt in dieser Zeit vom Grab selbst zur oft mehrere Meter langen Opferrinne, die sich in der Peripherie des Hügels befindet. Diesem Trend zur Veräußerlichung des Totenkultes (Kübler) entspricht auch der Befund zu den Trauerzügen und Totenfeieren, der sich indirekt aus den solonischen Gesetzen des frühen 6. Jahrhunderts gewinnen läßt. Die eigentliche Ehrung des Toten besteht in aufwendig in Szene gesetzen Bestattungsfeierlichkeiten und erfolgt nicht vorrangig durch ein Grabmonument.
Als Reaktion auf die Beschneidung der öffentlichen Wirksamkeit der Bestattung, kommt es in nachsolonischer Zeit zu einem Bedeutungszuwachs bei den Monumenten selbst. Wiederum ist es das Tumulusgrab, das der Aristokratie besonders wirksam erscheint. Um die Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. werden insgesamt drei monumentale Grabhügel im Kerameikos gebaut (Südhügel, Hügel G, archaischer Grabbau). Anstelle der Beigaben konzentrierte man sich jetzt auf die Größe der Aufschüttung und vor allem den Bauschmuck. Stelen, Koren, Kuroi, bemalte Tafeln, Architekturelemente und Inschriften betonten die Individualität und Vorbildhaftigkeit des bzw. der Bestatteten.
Beigaben und Grabschmuck der attischen und athenischen Tumulusgräber geben Hinweise auf die gesellschaftliche Stellung der Grabherren. Die in der Nekropole von Vari gefundene Keramik zeigt neben mythischen Themen auch profane Sujets wie Wagenfahrten, Reiterdarstellungen, Tierfriese und Symposien. Auf das Symposion zielt ebenso das Inventar der Opferrinnen im Kerameikos ab, das im 7. Jahrhundert eine Fülle von entsprechenden Gefäßen zum Mischen, Servieren und Trinken von Wein enthält. Und auch die in ihrem Umfang erheblich vekleinerten Inventare der Grabhügel des 6. Jahrhunderts zeigen, daß das Bankett weiterhin als statussträchtig angesehen wurde. In diesen Zusammenhang passen Räucherständer, ostgriechische Parfümgefäße und die in Hügel G und dem Südhügel gefundenen Elfenbein- und Bernsteinschnitzereien, die als Intarsien von Bankettklinen interpretiert werden.
Alle diese Einzelbeobachtungen lassen darauf schließen, daß es konservative Mitglieder der Aristokratie waren, die durch die Wahl des Tumulus ein politisches und ideologisches Statement abgaben.[30] Bereits in Kapitel 4.1.1. wurde ausgeführt, daß Homer den besonderen Bedeutungsgehalt dieser Gräber am besten wiedergibt: Die lang anhaltende Erinnerung soll den Ruhm bzw. die Erinnerung an den hohen gesellschaftlichen Stellenwert des/der Toten bewahren.
Die besondere Struktur der archaischen Gesellschaft verlangte es dem einzelnen Aristos ab, sich seinen Rang erst zu verdienen. Die materielle Basis lieferte ihm der eigene Oikos, da man nicht von vornherein auf die Unterstützung der gesamten Familie zählen konnte. Tumulusgräber sind daher auch keine Gruftanlagen nach traditionellem Verständnis, in denen automatisch jedes Familienmitglied seinen Platz erhielt und dem größeren Ganzen untergeordnet wurde. Sie sind ganz im Gegenteil als Aussage des einzelnen Oikos über die soziale Stellung des individuellen Verstorbenen und - was noch viel wichtiger ist - den Anspruch des Erben auf eine ähnliche Position zu verstehen.
Doch dieses Weltbild war im 6. Jahrhundert längst nicht mehr unumstritten. Ein Teil der aristokratischen Führer setzte ihm einen Gegenentwurf vor, in dem der Rang des einzelnen nicht mehr von Abkunft und Besitz, sondern von seinen Qualitäten als Polit bestimmte sein sollte. Solon hatte einen abstrakten Wert, die Wohlfahrt der Stadt, im Sinn und so einigte sich die athenische Aristokratie im Verlauf des 6. Jahrhunderts zweimal auf eine freiwillige Beschränkung des Grabluxus, dessen Ausmaß soziale Spannungen erzeugt hatte. In einem ersten Schritt beschnitt man das Ausmaß der Bestattungsfeierlichkeiten um danach die Grabmonumente selbst zu beschränken. Daß es zu dieser Entwicklung kam, spiegelt den zunehmenden Einfluß der Polis, die den ästhetisch wirksamen Teil der aristokratischen Symbole schließlich selbst übernahm und das Staatsgrab entwickelte.
[1] Einen besonderen Anteil an der Wiederbelebung der Diskussion kommt I. Morris, Burial and Ancient Society: The Rise of the Greek City-State (1987) zu. Vgl. J. K. Papadopoulos, To Kill a Cemetery: The Athenian Kerameikos and the Early Iron Age in the Aegean, JMA 6, 1993, 175 ff.
[2] J. Whitley, AJA 98, 1994, 224. Eine Zusammenfassung der Forschungsgeschichte findet sich bei F. Bourriot, Recherchers sur la nature du genos (1976) 837 ff.
[3] F. Bourriot, Recherches sur la nature du genos (1976) 831 ff. 849.
[4] Zum Tumulus: F. Bourriot, Recherches sur la nature du genos (1976) 901 ff.
[5] E. Stein-Hölkeskamp, Adelskultur und Polisgesellschaft. Studien zum griechischen Adel in archaischer und klassischer Zeit (1989) 10 mit Literatur.
[6] S. H. Houby-Nielsen, Burial Language in Archaic and Classical Kerameikos, Proceedings of the Danish Institute at Athens 1, 1995, 129 ff.
[7] Houby-Nielsen 1995, 161.
[8] Houby-Nielsen 1995, 162; A. Loeschke, AM 4, 1879, 37.44; G. M. A. Richter, The Archaic Gravestones of Attica (1961) 48 schließt sich Beazley an, der in dem Abgebildeten den stolzen Besitzer eines siegreichen Rennpferdes, dessen Bild sich in der Predella befindet, sehen möchte. Wie N. Himmelmann-Wildschütz, Erzählung und Figur in der archaischen Kunst (1967) jedoch überzeugend dargelegt hat, sind derartige 1:1 Übertragungen von Bild und Bedeutung bei der Interpretation archaischer Kunst nicht statthaft. Vielmehr speisen sich diese Bilder aus einer ganzen Reihe möglicher standesgemäßer Lebensideale (Priester, Symposiast, Krieger etc.) und sind nicht eindimensional mit einer gewissen Ausschließlichkeit auf den Lebensbereich des Toten anzuwenden. Konkret heißt das für Lyseas, daß er ganz allgemein als Mitglied der Oberschicht gekennzeichnet ist. - Auch der Kantharos ist nicht ausschließlich auf Dionysos zu beziehen. Einige Vasenbilder mit Symposionsszenen zeigen ihn. So ein sf. Skyphos, FO: Vourva, AM 15, 1890, Taf. 12, 2 (um 570 v. Chr.); rf. Schale Herakles und Iolaos ?, AO: Madrid, NM Inv. 11676, CVA Espagne 2 Taf. 60 (spätes 6. Jh. v. Chr.)
[9] U. Knigge, Kerameikos XII 1980, 75 f.
[10] C. M. Antonaccio, The Archaeology of Early Greek Hero-Cult, Diss. Princeton (1987) 362.
[11] B. Schmaltz, Verwendung und Funktion attischer Grabmäler, MarbWPr 1979, 35 f. Auch bei den bärtig Dargestellten verrät häufig die Inschrift, daß die Weihung durch den Vater erfolgte und es sich bei dem Verstorbenen mithin um einen jungen Mann gehandelt hat.
[12] E. Stein-Hölkeskamp, Adelskultur und Polisgesellschaft (1989) 92.160 A 31.231. Bei Theognis wird die edle Abkunft, Eugeneia, zum ersten Mal als entscheidender Faktor bei der Zuordnung zur gesellschaftlichen Spitze betrachtet. Homer kennt zwar auch lange Ahnenreihen, ihnen kommt jedoch keine automatisch legitimierende Funktion bei der Bestimmung des persönlichen Ansehens zu. Vgl. E. Stein-Hölkeskamp, a. a. O. 22 ff.
[13] Zur Belegungsdauer vgl. F. Bourriot, Recherches sur la nature du genos (1976) 938.
[14] Beispielsweise die Keramik aus Vari: AA 1937, Abb. 8 ff.; AA 1940, Abb. 6 ff. Vgl. hierzu J. Whitley, AJA 98, 1994, 223 ff. Keramische Funde dieser Güte finden sich noch in den mykenischen Tholoi in Thorikos und Menidi.
[15] A. Bräuning, Untersuchungen zur Darstellung und Ausstattung des Kriegers im Grabbrauch Griechenlands zwischen dem 10. und 8. Jahrhundert v. Chr. (1995) 20 ff. Bräuning schätzt Gräber als reich ein, die ein Keramikservice, einen Bronzekessel, Waffen und Metallgegenstände enthalten. Bereits in der spätgeometrischen Zeit finden sich aus dieser Liste nur noch Bronzekessel und Keramikservice. Vgl. die Liste a. O. 22 A 63.
[16] K. Kübler, Die Nekropole des späten 8. bis frühen 6. Jahrhunderts, Kerameikos VI (1959) 87 f. Die Opferrinnen erreichen im mittleren 7. Jahrhundert ihre größte Ausdehnung mit bis zu 12 m Länge. Zur bildnerischen Rekonstruktion des Aussehens einer solchen Opferrinne s. S. Houby-Nielsen, The Archaeology of Ideology in the Kerameikos: New Interpretations of the Opferrinnen, in: R. Hägg (Hrsg.), The Role of Religion in the Early Greek Polis, KB Athen 1992 (1996) 53 Abb. 5.
[17] S. Houby-Nielsen, Interaction Between Chieftains and Citizens? 7 th Cent. B. C. Burial Customs in Athens, ActaHyp 4, 1992, 343 ff.
[18] Die Anwesenheit am Grab wurde auch noch im 4. Jahrhundert v. Chr. zur Begründung eines Anspruches herangezogen. Vgl. Demosth. XLIV 32 ff.
[19] S. Houby-Nielsen, Interactions Between Chieftains and Citizens? 7th Cent. B. C. Burial Customs in Athens, Acta Hyp 4, 1992, 362 ff.
[20] Die hier im Zentrum stehenden Gräber (Hügel G und Südhügel) enthalten Lydia und Lekythen, keine kleinen Kugelaryballoi, die häufig auf Vasenbildern mit Palästraszenen zu sehen sind und die ein Reinigungsöl enthielten. Parfum hingegen, wie es in Lydia abgefüllt wurde, überliefert Xenophanes, fr. 1 in: H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker I (1934) 126 f. Dort wird den Symposiasten das Salböl allerdings in einer Phiale gereicht.
[21] A. M. DOnofrio, Korai e kouroi funerari attici, AnnAStorAnt 4, 1982, 135 ff., dies., Aspetti e problemi del monumento funerario attico arcaico, AnnAStorAnt 10, 1988, 83-96.
[22] W. Peek, Griechische Grabgedichte (1960) Nr. 46 Bleib stehen und erhebe die Klage am Grabmal des toten Kroisos, den unter den Vorkämpfern der stürmische Ares einst fällte.
[23] Hierbei ist beispielsweise an die lange Reiterkavalkade auf dem Parthenonfries zu denken, die sicher stark aristokratische Assoziationen hervorrief.
[24] Vgl. W. Peek, Griechische Grabgedichte (1960) Nr. 23 ff.; B. Fehr, Kouroi e korai. Formule e tipi dellarte arcaica come espressione di valore, in: S. Settis (Hrsg.), I Greci II (1996) 785-843.
[25] L. A. Schneider, Zur sozialen Bedeutung der archaischen Korenstatuen, HBA Beiheft 2 (1975) 31 ff.; D. Steuernagel, Der gute Staatsbürger: Zur Interpretation des Kuros, Hephaistos 10, 1991, 35 ff.
[26] A. Cannon, The Historical Dimensions in Mortuary Expressions of Status and Sentiment, Current Anthropology 30, 1989, 437 ff.
[27] I. Morris, Law, Culture and Funerary Art in Athens, 600-300 B. C., Hephaistos 11/12, 1992/3, 42 f.
[28] Die im Vergleich geringen Abmessungen der nach 500 v. Chr. in Athen erbauten privaten Tumulusgräber könnten dieser Vorgabe entsprochen haben. Vgl. die Auflistung bei I. Morris, Death-Ritual and Social Structure in Classical Antiquity (1992) 132 A 5.
[29] J. Whitley, The Monuments That Stood Before Marathon, AJA 98, 1994, 213 ff.
[30] M. Müller, Grabmal und Politik in der Archaik in: W. Hoepfner u. a. (Hgg.) Die griechische Polis. Architektur und Poltik (1993) 67 ff.