4.1.3. Zusammenfassung: Grab und Gesellschaft der geometrischen und archaischen Zeit nach den literarischen Quellen
Stellt man die homerischen Epen, wie von der oral poetry-Forschung gefordert, in den Kontext der zeitgenössischen Gesellschaft, so kann man aus ihnen auf den sozialen Hintergrund der Gräber des späten 8. Jahrhunderts v. Chr. schließen. Die epischen Helden stehen unter ständigem Leistungsdruck, Position und Besitz lassen sich nur durch andauernde Statuskämpfe klären, ihr Rang ist keineswegs ausschließlich durch Abstammung und Familie vorbestimmt.[1] In dieser Situation bieten gerade auch die Begräbnisse Raum für die Bestimmung der eigenen Position.
Obwohl grundsätzlich jeder ein Anrecht auf ein Grab mit Tymbos und Stele hat, wird auch hier die Hierarchie definiert. Elpenor bestimmt seine Stellung innerhalb der Gefolgschaft des Odysseus selbst, indem er sich durch das aufs Grab aufgepflanzte Ruder als ein Mitkämpfer und ein Mitglied der Mannschaft charakterisiert. Erheblich detaillierter wird die Darstellung, wenn es um das Totenbegängnis eines der besonders bedeutenden Kämpfer des Epos geht. Ihm zu Ehren ruhen die Kämpfe und unter der Leitung seines besten Freundes, des Heerführers oder seiner Familie beteiligt sich die ganze Gruppe an den Trauerfeierlichkeiten, die viele Tage dauern können. Einige nur, indem sie den Scheiterhaufen vorbereiten, andere dadurch, daß sie den Toten waschen und einkleiden. Schon während dieser Arbeiten bildet sich eine Hierarchie aus. So nehmen die Myrmidonen einen anderen Stellenwert ein als das Gefolge der anderen Basileis oder die Basileis selbst. Der Höhepunkt der Feier sind die Agone zu Ehren des Toten, an denen nur die Ranghöchsten teilnehmen und in deren Verlauf es zu heftigen Reibereien kommen kann.
Der Grabhügel selbst entspricht dem Status des Toten und ist die letzte Ehrung für die im Leben errungenen Verdienste des Verstorbenen. Er wird an prominenter Stelle errichtet, um den Nachfolgenden ein Denkmal zu sein und Anlaß zu bieten, über den Ruhm des Verstorbenen zu sprechen und sich seiner zu erinnern.
Diese Funktion hat auch später noch Gewicht, da sie in der griechischen Sepulkraldichtung der Archaik angesprochen wird. Hier übernehmen es die Inschriften an den Monumenten, den Betrachter mit den nötigen Informationen zu versorgen und ihn aufzufordern, den Verstorbenen zu betrauern.[2] Die Inhalte der Inschriften unterscheiden sich dabei nicht von dem schon bei Homer ausgebildeten Repertoire an Tugenden und Lobpreisungen.[3]
Auf den kompetitiven Zug des Grabkultes reagierten auch die griechischen Grabluxusgesetze. Solons Reformen zielten darauf ab, das Konfliktpotential innerhalb der attischen Oberschicht zu entschärfen. Teil dieser Politik waren Beschränkungen des Grabluxus. Sein Gesetz schützte die Grabanlagen insgesamt und verhinderte, daß es in diesem Bereich zu unziemlichen Prachtäußerungen kommen konnte. Weder ausgedehnte Totenfeiern noch teure Beigaben oder aufwendige Grabmonumente waren statthaft. Umgekehrt wird aus den Beschränkungen klar, daß die Bestattungsfeierlichkeiten der älteren Zeit ein wichtiger Kristallisationspunkt des gesellschaftlichen Standes einer Familie waren.[4]
Neben der Anlage des Grabes durch die Familie gab es schon früh die Möglichkeit, den Verstorbenen auf Kosten der Polisgemeinschaft ehrenvoll zu bestatten. In diesem Fall war dann der Luxus des Grabmals durch die ausführende Körperschaft sanktioniert. Das Menekrates-Monument auf Korfu zeigt, zu welch aufwendigen Bauten eine Polis am Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. bereit war, um einem verdienten Proxenos einen Kenotaph zu setzen.
Die Vielfalt der literarischen Quellen zu den Tumulusgräbern vom 8. bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. beleuchtet schlaglichtartig den gesellschaftlichen Kontext dieser Bestattungen: Am weitesten ist dabei das Bild der griechischen Verhältnisse zu differenzieren. Das Grab der Oberschichten erscheint hier als ein Bereich mit großer öffentlicher Wirkung. Es drückt gesellschaftliches Ansehen aus und kann als Ehrung an verdiente Einzelne verliehen werden, die sich durch besonderes Wohlverhalten gegenüber dem Demos als ganzem oder einer Gruppe ausgezeichnet haben. Andererseits legt diese Öffentlichkeit viel Wert darauf, daß die Einigkeit der Gemeinschaft nicht durch übermäßiges Herauskehren von Statusattributen gefährdet wird. In Athen beschnitten die Grabluxusgesetze des Solon fast vollkommen den Sepulkralbereich als Ort der Repräsentation.
Diesem dynamischen Prozeß stehen die Nachrichten über Tumulusgräber im nichtgriechischen Ausland gegenüber, nach denen der Aspekt der wertenden und ehrenden Öffentlichkeit keine Rolle spielte. Hier hielt man sich im Sepulkralbereich an bestehende Traditionen oder betrachtete das Prunkgrab als persönliche Auszeichnung durch den Ranghöchsten, den König.
Hieraus leitet sich auch der Unterschied in den Dimensionen ab, da dem Ideal der griechischen Polisbürgergemeinschaft herausragende Denkmäler für Einzelne widersprechen, während die Ideologie des Königtums gerade den Kult um den charismatischen Einzelnen propagiert und in Monumente umsetzt.[5]
[1] B. Qviller, The Dynamics of the Homeric Society, SymbOslo 56, 1981, 109 ff. bes. 115 f.; K.A. Raaflaub, Homer und die Geschichte des 8. Jhs v. Chr. in: J. Latacz (Hrsg.), 200 Jahre Homerforschung (1991) 233 f. Der Verfasser prägt in diesem Zusammenhang den Begriff Proto-Adel; J. Whitley, Social Diversity in Dark Age Greece, BSA 86, 1991, 348; K.-W. Welwei, Athen. Vom neolithischen Siedlungsplatz zur archaischen Großpolis (1992) 91 f.
[2]U. Ecker, Grabmal und Epigramm (1990) 233 Die besondere Leistung der archaischen Grabinschrift gegenüber dem Grabmal, von dem in den homerischen Gedichten die Rede ist, ist die Schriftlichkeit des Totenlobs. Sie macht die Rühmung des Verstorbenen unabhängig von der Sage und dem Erzählen der Lebenden.
[3] Ein Vergleich zwischen den Inhalten bei Homer und denen der griechischen Sepulkraldichtung findet sich bei U. Ecker, Grabmal und Epigramm (1990) passim; W. Peek, Griechische Versinschriften (1960) 373 gibt eine Liste der immer wieder genannten Tugenden.
[4] E. Stein-Hölkeskamp, Adelskultur und Polisgesellschaft. Studien zum griechischen Adel in archaischer und klassischer Zeit (1989) 117 rekonstruiert eine solche Totenfeier; Zu den gesellschaftlichen Mechanismen, die zu einem Rückgang oder einer Reglementierung des Grabluxus führen können vgl. A. Cannon, The Historical Dimensions in Mortuary Expressions of Status and Sentiment, Current Anthropology 30, 1989, 437 ff.
[5] In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß bisher keine Palastanlage und kein Prunkgrab eines griechischen Tyrannen bekannt geworden ist. Zu diesem Bereich I. Morris, Death-Ritual and Social Structure in Classical Antiquity (1992) 150 A 20 mit Literatur.