Ozeanisch induzierte Erdrotationsschwankungen

- Ergebnisse eines Simultanmodells für Zirkulation und Gezeiten im Weltozean -

Maik Thomas


Zusammenfassung
Lange Version
Mit einem baroklinen Simultanmodell für Zirkulation und Gezeiten wurden die transienten Einflüsse des Weltozeans auf für die Erdrotation relevante Integralgrößen untersucht. Unter Verwendung realistischer atmosphärischer Antriebe und des vollständigen lunisolaren Gezeitenpotentials fanden hierbei nichtlineare Wechselwirkungen zwischen Zirkulation und Gezeiten, aus Auflast und Selbstanziehung der Wassermassen resultierende Sekundäreffekte sowie atmosphärischer Druckantrieb und sterisch bedingte Ausdehnungsprozesse Berücksichtigung. Neben einer lokalen wie auch physikalischen Separation ozeanischer Einflüsse auf die Erdrotation war somit erstmals eine Prüfung der Zulässigkeit der traditionell bei globalen numerischen Ozeanmodellen vollzogenen Trennung von Zirkulation und Gezeiten möglich.
Die Güte der reproduzierten gezeiten- und zirkulationsbedingten Massen- und Strömungsverteilungen wurde zunächst anhand unabhängiger Lösungen geprüft und die Wirkung der bei der Zirkulationsmodellierung neu einbezogenen Prozesse auf die momentane ozeanische Massenverteilung demonstriert. Während eine merkliche Beeinflussung der Gezeitendynamik durch die simultan modellierte Zirkulation sich vornehmlich bei halb- und ganzjährigen Tiden infolge ihrer Nähe zu saisonalen meteorologischen Perioden äußerte, führen nichtlineare Wechselwirkungen zwischen Zirkulation und Gezeiten zu Modifikationen der instantanen Meereshöhen, die regional etwa 8% der absoluten vom Simultanfeld verursachten Auslenkungen erreichen, weshalb eine Approximation des instantanen Simultanfeldes durch lineare Überlagerung der Hauptkomponenten ozeanischer Dynamik nur in erster Näherung zulässig ist.
Analysen von fünf Langzeitsimulationen für den Zeitraum von 1949 bis einschließlich 1994 dienten der Identifikation und Schätzung einzelner der transienten ozeanischen Dynamik unterliegenden Komponenten im Hinblick auf ihre relative Bedeutung bei der Anregung von Erdrotationsschwankungen. Die Abhängigkeit des Verhältnisses massen- und strömungsinduzierter Drehimpulsänderungen von der Zeitskala der Variation wurde am Beispiel einer Spektralzerlegung des Gezeitenfeldes aufgezeigt. Im weltozeanischen Mittel gewinnen die durch Strömungen verursachten Variationen integraler Größen umso mehr an Bedeutung, je höherfrequent die betrachteten Variationen sind. Die Zerlegung der weltozeanischen Gezeitendrehimpulse in die auf die einzelnen Ozeane entfallenden strömungs- und massenbedingten Anteile stellte ein insofern anomales Verhalten des Indischen Ozeans heraus, als dass in letzterem infolge unterschiedlicher Resonanzbedingungen nahe ganztägiger Perioden strömungsbedingte Drehimpulsvariationen die masseninduzierten um etwa eine Größenordnung überwiegen. Das Verhältnis von strömungs- zu massenbedingten Drehimpulsen (und damit Anregungen von Rotationsschwankungen) hängt folglich empfindlich von den lokal vorherrschenden Resonanzbedingungen ab, die im numerischen Modell maßgeblich gesteuert werden durch die räumliche Diskretisierung ozeanischer Becken.
Zur Schätzung der Größenordnung des Fehlers, der aus der Degeneration der Massenerhaltungsgleichung zur Imkompressibilitätsbedingung bei auf z-Koordinaten formulierten numerischen Modellen resultiert, wurde ein in Raum und Zeit variabler Algorithmus zur sterischen Korrektur getestet. Die durch sterische Expansions- und Kontraktionsprozesse der Wassersäule verursachten Anregungen liegen um zwei bis drei Größenordnungen unterhalb des totalen Signals der thermohalinen und windgetriebenen Zirkulation, da die für die Drehimpulsschwankungen verantwortlichen Höhenanomalien sich trotz der asymmetrischen Land-Wasser-Verteilung weitgehend kompensieren.
Die Gültigkeit der invers barometrischen Approximation, die eine Vernachlässigung atmosphärischer Druckanomalien bei der Modellierung der baroklinen ozeanischen Zirkulation zur Quantifizierung ozeanischer Anregungen von Rotationsschwankungen rechtfertigt, wurde durch Einbeziehung von atmosphärischen Druckantrieben geprüft. Die Simulationen weisen auf eine Reaktion des Ozeans hin, die instantan zu über 90% die Anomalien des Atmosphärendruckes statisch kompensiert; Abweichungen vom invers barometrischen Verhalten treten vornehmlich in küstennahen Randbereichen und unter dem Einfluss von Meereis auf, wo Anteile des atmosphärischen Drucksignals bis zum Ozeanboden transmittiert werden. Infolge der engen Korrelation von Atmosphärendruck und Wind führen die mit dem Druck einhergehenden Deformationen der Meeresoberfläche jedoch zu einer maßgeblichen Verstärkung der ozeanischen Drehimpulsfunktionen, wobei den druckinduzierten Anregungen eine ähnliche quantitative Bedeutung beizumessen ist wie der Summe aus thermohalinen und windgetriebenen Anregungen. Wenngleich die Wirkung des Atmosphärendruckes vornehmlich eine statische ist und die durch horizontale Druckgradienten verursachten barotropen Strömungskomponenten von untergeordneter Bedeutung sind, erreichen die nicht invers barometrischen (dynamischen) Komponenten doch eine weitaus höhere Bedeutung für die Anregung von Rotationsschwankungen als die derzeit vieldiskutierten sterischen Effekte.
Effekte von Auflast und Selbstanziehung der Wassermassen, die bisher lediglich bei der Simulation des barotropen Gezeitenfeldes einbezogen wurden, fanden erstmals auch bei der Simulation der allgemeinen ozeanischen Zirkulation Berücksichtigung. Der hier verwendete massenproportionale Parametrisierungsansatz lieferte Beiträge, die beim Massenterm etwa 5%, beim Strömungsterm etwa 10% der totalen zirkulationsbedingten Anregung ausmachen. Obwohl die von nichtlinearen Wechselwirkungen zwischen Zirkulation und Gezeiten ausgehenden Modifikationen der integralen Größen deutlich diejenigen des Sekundärpotentials unterschreiten, kommt den Nichtlinearitäten bei der Anregung von Rotationsschwankungen eine höhere Bedeutung zu als sämtlichen Zonaltiden mit Perioden, die einen Monat überschreiten. Den hier erfolgten Modellschätzungen ist folglich zu entnehmen, dass auf Zeitskalen von Monaten bis Jahren einerseits die Differenz aus linearer Überlagerung und simultaner Modellierung von Zirkulation und Gezeiten größer ist als ein Summand der Addition, andererseits das "Sekundärpotential" zu markanteren Rotationsschwankungen führt als die primären Zonaltiden.
Nach Schätzung der Anregungsbeiträge einzelner Komponenten der ozeanischen Dynamik durch sukzessive Hinzunahme von Prozessen wurde in Umkehrung dieses synthetischen Vorgehens am Beispiel von ozeanisch induzierten Tageslängenvariationen aufgezeigt, inwieweit der derzeitige Entwicklungsstand umgekehrt eine Identifikation und grobe Lokalisierung von die Erdrotation beeinflussenden Prozessen erlaubt. Hiernach ist dem Pazifik sowohl infolge seines immensen Anteiles am weltozeanischen Wasservolumen als auch infolge der Ost-West-Ausdehnung in äquatornahen Bereichen eine dominierende Rolle bei der Anregung von Tageslängenvariationen zuzuschreiben.
Da die beobachteten Änderungen der Erdrotation stets die Wirkung aller geosphärischen Massenverlagerungen und Relativbewegungen reflektieren, ist eine aussagekräftige Beurteilung der Güte der modellierten ozeanischen Effekte prinzipiell erst möglich, wenn die Einflüsse aller relevanten Teilsysteme gemeinsam betrachtet werden. Bereits die Bilanzierung der Teilsysteme Atmosphäre und Ozean stellte heraus, dass bei einer derartigen Überlagerung stets die dynamische Konsistenz von wechselwirkenden Teilsystemen vorauszusetzen ist, da andernfalls Prozesse, die sich in der Realität kompensieren, infolge von Phasendifferenzen in den einzelnen Systemen irreale Anregungskomponenten erzeugen. Als besonders empfindlich erwies sich hierbei die Wirkung des Atmosphärendruckes, der im ozeanischen System vornehmlich durch Deformation der Meeresoberfläche die genannten massiven Erhöhungen der Drehimpulsfunktionen nach sich zog, die nur durch entgegen gerichtete dynamisch konsistente atmosphärische Druckfelder balanciert werden können. Bei der zur Bilanzierung des Gesamtsystems notwendigen Einbeziehung weiterer Einflussfaktoren ist deshalb die Konsistenz der physikalischen Flüsse an der gemeinsamen Grenzfläche benachbarter Systeme eine wichtige, wenn nicht gar zwingende Voraussetzung.
Die erfolgreiche simultane Langzeitsimulation von lunisolaren Gezeiten sowie thermohaliner, wind- und druckgetriebener ozeanischer Zirkulation unter Einbeziehung weiterer, bislang weitgehend vernachlässigter Sekundäreinflüsse darf insgesamt als wichtiger Schritt in Richtung einer operationellen Modellierung weltozeanischer Dynamik gewertet werden. Die Übereinstimmung zahlreicher Charakteristiken von geodätisch beobachteten mit den von Modellatmosphäre und -ozean gemeinsam verursachten Horizontalanregungen brachte zum Ausdruck, dass der theoretische Modellansatz, bei dem ausschließlich beobachtete Monatsmittel der Meeresoberflächentemperaturen und Eisbedeckungen zum Antrieb des Atmosphärenmodells herangezogen wurden, geeignet ist für eine realitätsnahe Reproduktion der zeitlichen Variabilität integraler Größen und damit zur Aufdeckung von für die Erdrotation relevanten geophysikalischen Prozessen.
 

Kurzversion

Mit einem Simultanmodell für Zirkulation und Gezeiten des Weltozeans wurden auf Zeitskalen von Tagen bis Jahrzehnten verschiedene ozeanische Prozesse und Effekte im Hinblick auf ihren Einfluss auf die Erdrotation geschätzt. Berücksichtigung fanden die thermohaline und windgetriebene Zirkulation, lunisolare Gezeiten, sterische Expansionsprozesse, statische und dynamische Effekte des Atmosphärendruckes, das Sekundärpotential infolge von Auflast und Selbstanziehung der Wassermassen sowie nichtlineare Wechselwirkungen zwischen Zirkulation und Gezeiten.
Für den eiligen Leser lassen sich in grober Näherung die Schätzungen hinsichtlich des Einflusses einzelner Komponenten der totalen ozeanischen Dynamik auf die Anregung von Rotationsschwankungen unter Verwendung der die Anregung repräsentierenden Drehimpulsfunktionen ci, i=1,2,3 zusammenfassen mittels der Relation:
cithermohal.+windgetr. Zirk.»ciAtm.-druck >ciLSA >ciNichtlin. >ciGezeiten >cister. Effekte,

wobei die Anregungen durch Atmosphärendruck bei Überlagerung mit der Atmosphäre weitgehend kompensiert werden.


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