4 Diskussion
 

4.1 Identifizierung der Mutation

Die Suche nach Keimbahnmutationen in HNPCC-Patienten ist methodisch nicht unproblematisch, da die Ursache der Erkrankung in einem von mindestens fünf Genen lokalisiert sein kann, und da das Spektrum der bis dato identifizierten Mutationen weit gestreut ist. Jedoch ermöglicht die Kenntnis des Genotyps von Personen aus HNPCC-Familien eine individuelle, gezielte Betreuung des Patienten [41,123]. Die unter 1.1 erwähnten Daten zugrundegelegt, sterben jährlich bis zu 1.500 Personen in der BRD an einem dem Lynch-Syndrom assoziierten Karzinom. Durch eine kolonoskopische Entfernung von Polypen wird die Entstehung von Malignomen verhindert. Es wird sozusagen die Adenom-Karzinom-Sequenz unterbrochen und die Inzidenz des kolorektalen Karzinoms auf diese Weise um 76 bis 90% gesenkt [232]. Personen aus Familien mit klinisch manifestem Lynch-Syndrom müssen nach den Leitlinien der „American Cancer Society" in die Hochrisikogruppe zur Entwicklung eines kolorektalen Karzinoms eingeordnet werden [30]. Gerade in diesen Fällen ist eine präsymptomatische Diagnose durch molekulargenetische Untersuchungen von außerordentlich großem Wert, da einerseits Personen mit einem mutationspositiven Genotyp regelmäßig kolonoskopiert werden müssen, um Adenome rechtzeitig zu erkennen. Andererseits können Familienmitglieder mit mutationsnegativem Genotyp auf diese unangenehme Untersuchung verzichten, bzw. an Vorsorge-untersuchungen für Durchschnittsrisiko-Patienten teilnehmen [30]. Es ist somit von entscheidender Wichtigkeit, daß Ergebnisse solch molekulargenetischer Untersuchungen eindeutig zu interpretieren und bestenfalls unmißverständlich sind.
Die in dieser Arbeit in Exon 11 des hMSH2-Gens identifizierte Transversion von Guanin zu Thymin führt zu einem Austausch des für Glutamin kodierenden Basentripletts GAA durch die Basenfolge TAA, die für einen Translationsstop kodiert. Bei Codon 580 findet sich somit in vier von acht klonierten Proben der Indexpatientin II.5 ein vorzeitiges Stopcodon, welches normalerweise in der Wildtypsequenz bei Codon 935 liegt [103]. Einem von solch einer mutierten Sequenz translatiertem Protein würden 355 Aminosäuren, bzw. 38% im Bereich des C-terminalen Endes fehlen. Genau in diesem Bereich, zwischen Codon 615 und 788, ist die größte Homologie zwischen menschlicher und Hefensequenz zu finden (77%) [103]. Funktionell ist der C-Terminus des hMSH2-Proteins für die Bindung von Basenfehlpaarungen im Rahmen der Mismatch-Reparatur-Aktivität verantwortlich [227, 228]. Der Karzinogenese von HNPCC-Tumoren zufolge, prädisponiert eine Keimbahnmutation in einem Mismatch-Reparatur-Gen zur Entwicklung von kolorektalen Karzinomen [1]. Die in der vorliegenden Arbeit identifizierte Glu580à Stop Mutation in hMSH2 ist bei Indexpatientin II.5 im Blut, somit in peripherem Gewebe, und im Tumorgewebe in der Hälfte der untersuchten klonierten Sequenzen, also heterozygot, nachgewiesen worden. Gepaart mit der Tatsache des Protein-verkürzenden Charakters der Sequenzalteration, der zum Verlust des funktionell wichtigen C-Terminus führt, muß diese als für das Lynch-Syndrom ursächliche Keimbahnmutation angesehen werden. Gestützt wird dies durch die Tatsache, daß das Auftreten der Mutation bei allen Familienmitgliedern mit dem Phänotyp vereinbar ist.
Da die Mutation einen verkürzenden Effekt auf die Aminosäuresequenz des translatierten Proteins hat, ist die Möglichkeit, daß diese Sequenzvariante ein nicht krankheitsassoziierter Polymorphismus ist, sehr unwahr- scheinlich. Auch wenn ein Fall im BRCA2-Gen beschrieben ist, wonach sich eine Nonsense-Mutation im nachhinein als nicht krankheitsassoziierter Polymorphismus herausstellte, so ist dies doch sehr selten und bei Mismatch-Reparatur-Genen nicht beschrieben worden [134].
Solche zu Proteinverkürzungen führenden Veränderungen der Basensequenz machen 90% aller publizierten hMSH2- Keimbahnmutationen aus, wobei der Anteil der Nonsense-Mutationen bei 23% liegt [170]. Somit ist auch aufgrund der Charakteristik der Mutation eine typische und somit eher wahrscheinliche Veränderung gefunden worden. Besonders im Falle des hMLH1-Gens wird bei einem fraglichem Zusammenhang zwischen einer Missense-Mutationen und dem Lynch-Syndrom von verschiedenen Autoren argumentiert, daß die Mutation in konservierten Bereichen liege, oder der Genotyp mit dem Phänotyp korreliert, bzw. die Sequenzalteration in gesunden Probanden nicht nachweisbar sei [23,27,110,156,170,202,225]. Solche Argumentationen für sich genommen sind als verhältnismäßig unsicher anzusehen. Jedoch im vorliegenden Fall können sie die zu vermutende Ursächlichkeit der Nonsense-Mutation als Nebenaspekt erhärten. Desweiteren unterstützt die im Tumorgewebe von erkrankten Familienmitgliedern nachgewiesene und unter 4.1.1. im folgenden näher behandelte Mikro- satelliteninstabilität den kausalen Zusammenhang zwischen der Glu580à Stop Mutation und der Disposition der Familie.
Die im Rahmen dieser Arbeit gefundene Mutation ist bisher nicht beschrieben worden. Das Exon 11 von hMSH2, worin sich die Sequenzalteration findet, zählt zu den von Mutationen seltener betroffenen Bereichen des Gens [170]. Bei Durchsicht der ICG-HNPCC-Mutationsdatenbank ist auffällig, daß drei von vier der in Exon 11 aufgeführten Mutationen in Familien aus der BRD gefunden wurden. In diesem Zusammenhang von einem Mutations-„Cluster" zu sprechen würde zu weit führen, da die Anzahl von vier beschriebenen Mutationen gering und damit statistisch kaum aussagefähig ist. Es bleibt somit abzuwarten, ob Zusammenhänge zwischen betroffener Genregion und geographischer Herkunft der Person nachgewiesen werden können.
 

4.1.1 Der funktionelle Aspekt der Mutation

Über die Anzahl der zu untersuchenden Mikrosatelliten zur sicheren Bestimmung des Mikrosatellitenstatus herrschte lange keine Einigkeit. Ebenso war die Interpretation der Mikrosatelliten in der Diskussion, inwiefern wieviele Marker Abnormalitäten zeigen müssen, um von einer Instabilität auszugehen zu dürfen [15,42].
Zur möglichst sicheren Interpretation wurden für diese Arbeit die Empfehlungen der deutschen HNPCC-Gruppe von Bocker et al. (1997) übernommen, wonach fünf gut definierte Loci mit unterschiedlichem Aufbau untersucht werden sollen [15]. Wenn hiervon nur einer der untersuchten Loci eine Mikrosatellieninstabilität zeigen, sollen weitere fünf Marker analysiert werden. Von einer Mikrosatelliteninstabilität kann dann ausgegangen werden, wenn mehr als 20% der untersuchten Marker Abnormalitäten zeigen. Die in dieser Arbeit untersuchten Mikrosatelliten können in drei Gruppen eingeteilt werden. BAT 25, 26 und 40 sind „Monorepeats", bei Mfd 26, 41 und 49 handelt es sich um einfach aufgebaute „Direpeats", und D2S123, D18S58, D3S1293 und Mfd 27 sind komplexe „Direpeats" [42]. Diese Empfehlungen zugrunde gelegt müssen die beiden hier untersuchten Kolonkarzinome der Familie eindeutig als hoch mikrosatelliteninstabil, mit 80%- bzw. 100%-igem Auftreten von Marker-Instabilitäten. Nach Dietmaier et al. (1997) sind mit BAT 26 und 40, D2S123 und D18S58 zugleich auch die sensitivsten und spezifischsten Mikrosatellitenmarker untersucht worden [42].
Der molekularbiologische Nachweis einer Mikrosatelliteninstabilität unterstreicht die klinische Diagnose des Lynch-Syndroms in dieser Familie, da eine Instabilität solcher Loci in über 90% aller HNPCC-Fälle, aber nur in 10-15% von sporadischen kolorektalen Karzinomen nachweisbar ist [89,110].
Der Karzinogenese von HNPCC nach müssen die Mikrosatelliteninstabilitäten als durch die identifizierte Keimbahnmutation in hMSH2 verursachten Befunde interpretiert werden, womit der funktionelle Aspekt der Mutation bestätigt wäre [1,103,113]. Vollkommene Sicherheit hinsichtlich dieses Zusammenhangs besteht allerdings nicht, da Parsons et al. (1995) Mikrosatelliteninstabilitäten in Normalgewebe von Patienten mit Keimbahn-mutationen in Mismatch-Reparatur-Genen nachgewiesen haben [166]. Methodisch zwar nicht mit Parsons Arbeit vergleichbar, jedoch mit dem gleichen Ziel, den Mikrosatelliten-status im peripheren Blut der Familienmitglieder zu bestimmen, wurde zusätzlich BAT 26 untersucht, der bisher einzige als quasi-monomorph von Hoang et al. (1997) publizierte Mikrosatellitenmarker (Daten nicht gezeigt) [71,237]. Durch seinen quasi-monomorphen Charakter besteht nicht die Notwendigkeit des Vergleichs von Tumor- mit Normalgewebe. Es zeigt sich bei allen untersuchten Personen ein sehr ähnliches, monomorphes Bandenmuster der Mikrosatelliten (nicht gezeigt), so daß von einer unspezifischen Mikrosatelliteninstabilität nach Parsons et al. (1995) nicht ausgegangen werden muß, und die Kausalität der hMSH2 Mutation hierdurch zusätzlich gefestigt erscheint [166].
 

4.1.2 Auswahl und Einflüsse des analytischen Systems

Es ist auffällig, daß die Mutation mit Hilfe der für diese Indikation häufiger verwendeten Methoden nicht detektier- bar war [170]. Der analytische Ansatz, nach genomischer Amplifizierung der Exons inklusive angrenzender Intronsequenz, das PCR-Produkt zu klonieren und anschließend sechs bis acht Klone zu sequenzieren, ist zur Identifizierung von Mutationen in Lynch-Familien bisher nicht beschrieben worden. Nur dieses Prozedere, zugleich die aufwendigste aller durchgeführten Methoden, führte allerdings zur Identifikation der Mutation. Trotzdem ist die Sequenzvariante methodisch glaubhaft, da bei der Sequenzierung als Referenzmethode von der größten Sensi- tivität und Spezifität (98%) ausgegangen werden kann [40]. Durch eine vorherige Klonierung der PCR-Produkte wird die Auswertbarkeit der Sequenzierung gesteigert, da unterschiedliche Klonpopulationen beide möglichen Allele einzeln repräsentieren und somit Mutationen oder Polymorphismen mit heterozygotem Genotyp nicht wie bei der Direktsequenzierung vom PCR-Produkt durch Doppelsignale im Sequenzausdruck identifiziert werden müssen (siehe Abb. 3.11). Auch die Wahrscheinlichkeit einer Fehlinterpretation eines Taq-DNA-Polymerase- Einbaufehlers während der PCR als Mutation, wird durch eine Klonierung mit folgender Sequenzierung gesenkt, da kein Querschnitt aller DNA-Kopien sequenziert wird [179]. Trotzdem würde ein solcher Einbaufehler als frühes Ereignis während einer PCR in einer großen Zahl von Klonen auffindbar sein; dies wird jedoch methodisch durch eine Wiederholung des Versuchs nahezu ausgeschlossen. Zusätzlich muß von einem statistisch geringen Risiko einer Fehlinterpretation ausgegangen werden, da eine relativ große Menge an DNA zur Analyse eingesetzt wurde [96].
Daß die Heteroduplex- und SSCP-Analyse die Mutation nicht identifizieren konnte, (Abb 3.3 und 3.8) ist methodisch erklärbar, da die Sensitivität zur Detektion von Punktmutationen unter optimalen Bedingungen bei beiden Methoden mit ungefähr 80% angegeben wird [39,40,46,63,194]. Es wurden zwar optimale Fragmentgrößen bei den Analysen eingesetzt, allerdings sind die Versuchsbedingungen, z.B. die Umgebungs- temperatur oder die Laufpufferkonzentration, nicht maximal variiert worden, so daß nicht von optimalen Bedingungen ausgegangen werden kann. Hierfür spricht auch die in der SSCP-Analyse mitgeführte DNA-Probe der Zellinie DU 145, deren PCR-Produkt von Exon 2 des hMLH1-Gens, zur Kontrolle der Methode mit untersucht, kein auffälliges Wanderungsverhalten in der SSCP-Analyse zeigte (Seite 62, Abb. 3.8, Spur E3).
In einer Untersuchung von 32 HNPCC-Familien von Weber et al. (1997) und 14 Lynch-Patienten durch Beck et al. (1997) können mit Hilfe von SSCP-Analyse der Exons von hMSH2 und hMLH1 und folgender Sequenzierung der „auffälligen" Exons 18, bzw. sieben Sequenzvarianten identifiziert werden [10,224]. Das bedeutet, daß nur in 50% der Fälle Mutationen oder Polymorphismen identifizierbar waren. Methodisch sind die Untersuchungen von Weber et al. (1997) und Beck und Mitarbeitern (1997) mit dieser Arbeit vergleichbar, so daß ein methodisches Versagen der SSCP-Analyse rein statistisch nicht verwunderlich ist. Im Verhältnis zum Aufwand der Amplifikation von 35 Exons, erscheint der Ansatz der SSCP-Analyse mit folgender Direktsequenzierung des PCR-Produkts nicht ausreichend, um mit einer zufriedenstellenden Wahrscheinlichkeit Keimbahnmutationen in HNPCC-Patienten zu detektieren.
Trotz eindeutig positivem Ergebnis der als methodische Kontrolle parallel untersuchten Probe T 33, in Form einer zum Frameshift führenden Deletion des APC-Gens im IVSP-Test (Seite 58, Abb. 3.5, Spur E3 und 4), konnte auch diese Detektionsmethode die Mutation in hMSH2 nicht identifizieren (Seite 58, Abb, 3.5, Spur B), auch wenn der IVSP-Test für ähnliche Fragestellungen als erfolgversprechend beschrieben wurde [56,76,92,107,110, 116, 117,176,231]. Da die Detektionsfähigkeit des Tests unter anderem vom Abstand zwischen dem T7- modifiziertem Primer und der Lokalisation der Mutation abhängig ist, erscheint es theoretisch möglich, daß das verkürzte Protein derart klein ist, daß es im SDS-Page Gel nicht mehr nachweisbar ist. Dies ist als Ursache der fehlenden Mutationsdetektion hier auszuschließen, da nach Identifikation der Mutation der IVSP-Test mit hochprozentigeren Gelen und kürzeren Laufzeiten wiederholt wurde, um das verkürzte Protein MSH2-2 der vermuteten Größe von 8.4 kDa nachweisen zu können. Jedoch war auch hier keine zusätzliche Bande erkennbar (nicht gezeigt). Trotzdem erscheint es unter Umständen zweckmäßig eine größere Zahl an Vorwärtsprimern in einem IVSP-Test zu verwenden, so daß weiter überlappende Fragmente entstehen. In Anbetracht der Tatsache, daß der überwiegende Teil der Mutationen in den Mismatch-Reparatur-Genen einen proteinverkürzenden Charakter hat, scheint sich der IVSP-Test als Screeningmethode anzubieten [170,117]. Trotzdem ist der Anteil der Mutationen, die durch einen IVSP-Test detektierbar sind, geringer als der Anteil der verkürzenden Mutationen am Gesamtspektrum der gefundenen Sequenzveränderungen. Das bedeutet, daß 90% aller hMSH2- und 70% aller hMLH1-Mutationen einen proteinverkürzenden Effekt haben, jedoch mittels IVSP-Test nach Liu et al. (1996) insgesamt nur in 70% der HNPCC-Fälle Mutationen detektierbar sind, nach Luce et al. (1995) liegt dieser Anteil sogar nur bei 50% [110,116]. Ebenso wie bei der SSCP-Analyse, entspricht diese diagnostische Schwäche den Beobachtungen dieser Arbeit. Kohnen-Corish et al. (1996) merken hierbei an, daß die Interpretation des auf RNA basierenden IVSP-Tests zusätzlich durch physiologisch auftretende Spleißvarianten in hMLH1 und hMSH2 erschwert wird [92]. Als weiterer Nachteil kommt hinzu, daß die Mutationsdetektion indirekt stattfindet, d.h. daß defekte Allele bzw. solche, die kaum oder gar nicht exprimiert sind, im IVSP-Assay erst gar nicht auffällig werden [33,92,107,163].
Das methodische Prozedere des genomischen Amplifizierens der Exonstrukturen von hMSH2 und hMLH1 mit folgender Klonierung und Sequenzierung ist wohl der erfolgversprechendste Ansatz zur Mutationsdetektion, wenn zuvor größere Deletionen von Exons durch Amplifizierung der entsprechenden cDNA ausgeschlossen wurde. Jedoch ist dies zugleich auch der arbeitsaufwendigste Ansatz und somit kaum als Routinemethode durchführbar. Es bleibt zu spekulieren, ob der Anteil von 25-86% der HNPCC-Patienten, bei welchen eine Keimbahnmutation mit herkömmlichen molekularbiologischen Methoden identifizierbar ist, durch den gekoppelten Ansatz von genomischer Amplifikation mit Klonierung und Sequenzierung zu steigern ist [10,156].
 
 

4.2 Nebenbefunde
 

Hackman et al. (1997) berichten von einem bisher einzigartigen Beispiel einer Person mit zwei kausalen Keimbahnmutationen in hMLH1, was allerdings in der Fallbeschreibung nicht verwunderlich ist, da beide Eltern aus zwei verschiedenen Lynch-Familien stammen und sie jeweils das mutierte Allel weitervererbt haben [64]. Bis auf diese Ausnahme ist sonst nur mit einer Keimbahnmutation in HNPCC-Familien zu rechnen, so daß nach der Identifikation und Verifizierung der Glu580à Stop Mutation in hMSH2 alle weiteren Sequenzunterschiede als Polymorphismen zu werten sein dürften. Auch nach erfolgreicher Detektion der Mutation sind alle weiteren Exons von hMSH2 und hMLH1 untersucht worden, so daß von einer kompletten Erfassung aller bei Indexpatientin II.5 vorhandenen Polymorphismen oder auch Spleißvarianten in hMSH2 und hMLH1 ausgegangen werden kann.
 

4.2.1 Polymorphismen

Es sind in den Genen hMSH2 und hMLH1 in nur einer Person relativ viele Unterschiede der Basenabfolge im Vergleich zu Wildtypsequenz identifiziert worden. Die Mehrzahl dieser detektierten Polymorphismen befindet sich in Intronbereichen, wobei in diesen Fällen fast automatisch von nicht krankheitsassoziierten Veränderungen ausge- gangen werden kann, wenn die Sequenzunterschiede nicht im Bereich der Spleißstellen oder der „branch-site" lokalisiert sind. In Tabelle 3.1 sind die gefundenen Ergebnisse zusammengefaßt.
Die Längenvariabilität des Poly-A-Trakts in Intron 5, der dem Mikrosatellit BAT 26 entspricht, erscheinen zunächst auffällig, da es sich in diesem Falle um eine Mikrosatelliteninstabilität im peripheren Blut, also Normal- gewebe, handeln könnte [71]. Ohne darauf näher einzugehen berichtet Bubb et al. (1996) schon von solch einem Fall [26]. Im Zusammenhang mit der Arbeit von Parsons et al. (1995), die von einer Mikrosatelliteninstabilität im peripheren Blut bei Existenz einer Keimbahnmutation ohne zweite somatische Mutation berichtet, könnte man im vorliegenden Fall ebenfalls eine Mikrosatelliteninstabilität im Normalgewebe vermuten [166]. Unterstützt wird diese Vermutung durch die zusätzlich identifizierte Längenvariabilität eines Poly-T- und Poly-TA-Traktes in Intron 11 von hMLH1 (Seite 66 f, Tab 3.1, Abb. 3.11). Gegen eine Mikrosatelliteninstabilität im peripheren Gewebe sprechen jedoch die bereits auf Seite 76 erwähnten, monomorphen Befunde des Mikrosatelliten BAT 26 im peripheren Blut von allen Familienmitgliedern und den Normalproben. Desweiteren scheinen Längendifferenzen von 5 bp in Mikrosatelliten durchaus noch einen Normalzustand zu repräsentieren, legt man die bei Mikro- satellitenanalysen in Acrylamidgelen zu findende Anzahl von drei bis sieben Banden zugrunde, wie es in der vorliegenden oder auch in publizierten Arbeiten zu finden ist [15,71,72,108].
Die in der kodierenden Sequenz liegenden Sequenzalterationen in Exon 8 und 17 von hMLH1 (Seite 66 f, Tab. 3.1, Abb. 3.11) mit dem daraus folgenden Aminosäurenaustausch in Exon 8 können als Polymorphismen angesehen werden, da diese bereits von Liu et al. (1995), bzw. Buerstedde et al. (1995) als solche beschrieben wurden [27,109,202]. Der ebenfalls in der kodierenden Sequenz in Exon 3 von hMSH2 liegende Basenaustausch müßte homozygot vorliegen, da alle acht sequenzierten Klone eine Thymin zu Cytosin Transition aufzeigen. Für die Krankheit ist diese Veränderung allerdings ohne Belang, da es in Codon 133 zu keinem Aminosäurenaustausch kommt. Die restlichen Polymorphismen liegen sämtlichst in Intronsequenzen und dort auch nicht im Bereich der Spleißstelle oder der „branch-site", so daß die Veränderungen als irrelevant für die Erkrankung angesehen werden können.
Die Cytosin zu Guanin Transversion in Intron 1 von hMSH2 ist zuvor von Bubb et al. (1996) beschrieben worden [26]. Zur Beurteilung der hier homozygot erscheinenden Sequenzvarianten 6 bp in Intron 10 und in Intron 9 ist entscheidend, welche Wildtypsequenz als Referenz verwendet wird. Nach Kolodner et al. (1994) würde es sich hier um Polymorphismen handeln, wohingegen, die Sequenz von Liu et al. (1994) zugrunde gelegt, es sich in diesem Falle um den Wildtyp handeln würde [93,107]. Børresen et al. (1995) kommen zu dem Ergebnis, daß die hier gefundene Sequenz ein Polymorphismus mit einer Allelfrequenz von 0.2 sei [19]. Für die Fragestellung dieser Arbeit bedarf es jedoch nicht der Klärung dieser Unstimmigkeiten, die ohnehin als eher unbedeutend anzusehen sein dürften. Der zweite in Intron 10 identifizierte Polymorphismus ist ebenfalls schon beschrieben worden, wohingegen die verbleibenden drei, mit über 40 bp verhältnismäßig weit im Intron liegenden Polymorphismen in Intron 7 von hMSH2 und Intron 4 und 11 von hMLH1 bisher nicht in der Literatur zu finden sind [220,230]. Diese Veränderungen sind jedoch ebenfalls als nicht krankheitsassoziiert anzusehen, und somit für die gängigen Fragestellungen bei Lynch-Patienten ohne Belang.
 

4.2.2 Spleißvarianten

Der posttranskriptionelle Prozeß des alternativen Speißens von prä-mRNA ist bei den beiden Mismatch- Reparatur-Genen hMSH2 und hMLH1 in den vergangenen Jahren häufiger beschrieben worden. Über eine mögliche Funktion dieser Spleißvarianten ist jedoch nichts bekannt. Es ist erstaunlich, daß eine Deletion von Exon 9 und 10 in hMLH1 zum einen eine physiologische Speißvariante darstellt, zum anderen aber eine Mutation des Spleißstellen-Donors von Exon 9 mit daraus resultierendem Verlust von Exon 9 und 10 eine HNPCC verursachende Mutation sein kann [33,92]. Xia et al. (1996) zeigten, daß eine zuvor als Mutation interpretierte Deletion von Exon 13 des hMSH2-Gens eine physiologisch in Lymphozyten vorkommende, in 90% der untersuchten gesunden Probanden nachweisbare Spleißvariante ist, die allerdings nicht translatiert wird [234]. Neben einer weiteren in hMSH2 beschriebenen Spleißvariante zeigten Charbonnier et al. (1995) drei zusätzliche Transkripte in hMLH1 auf, die in unterschiedlichen Geweben wie Kolon, Magen, Brust, Blase und der Haut nachweisbar sind [33,143]. Alle diese, auch von Charbonnier et al. (1995) immer gemeinsam nachgewiesenen Spleißvarianten, konnten auch im Rahmen dieser Arbeit in Lymphozyten von Normalpersonen nachgewiesen werden, allerdings nicht im Kolongewebe (Abb3.1 und 3.2). Zusätzlich fiel eine vierte Variante auf, der ausschließlich das hMLH1 Exon 9 fehlte. Durch Sequenzierungen ist sowohl die Deletion des Exons (Abb 3.2) als auch das Fehlen einer Spleißstellen-Mutation in allen 16 Klonen nachgewiesen worden, so daß von einer zusätzlichen Spleißvariante ausgegangen werden muß. Diese Annahme ist durch Kohnen-Corish et al. (1996) bestätigt worden, die ebenfalls dieses alternative Spleißprodukt in hMLH1 identifizieren konnten [92].
Es wurde mehrfach angemerkt, daß solche Spleißvarianten sich negativ auf die Interpretierbarkeit von RNA-basierenden Mutationsdetektionsmethoden, besonders beim IVSP-Assay, auswirken [33,92]. Im hier vorliegenden Fall leidet die Interpretierbarkeit des IVSP-Tests allerdings nicht. Da ohnehin ein ganzes Bandenmuster durch vorzeitige Translationsabbrüche beim IVSP-Test entsteht (Seite 58, Abb 3.5) und eine Normalprobe mit der Indexpatientin II.5 verglichen wurde, basiert eine Interpretation der Befunde auf einem Vergleich des Bandenmusters. Hierbei geben nur unterschiedliche Muster Anlaß zur weiterführenden Diagnostik. In Abbildung 3.5 ist erkennbar, daß die Anzahl der Banden bei Fragment hMLH1-I mit den Spleißvarianten (Seite 58, Spur C) augenscheinlich nicht höher ist als bei anderen Fragmenten, die keine alternativ gespleißten Produkte beinhalten.
 
 

4.3 Familienscreening
 

Für die Durchführung des Familienscreenings zur Bestimmung des individuellen hMSH2 Mutationsstatus bei Codon 580 bestehen unterschiedliche Möglichkeiten. Die Analytik sollte möglichst einfach, schnell und kostensparend durchführbar sein, zugleich aber auch ein größtmögliches Maß an Spezifität und Sensitivität aufweisen. In der Literatur finden sich unterschiedliche Ansätze zum Screening in HNPCC-Familien. Es handelt sich hierbei jedoch fast immer zugleich um die Methoden, mit deren Hilfe die Mutation in den Indexpatienten identifiziert wurde, im Sinne von Heteroduplex-, SSCP- oder IVSP-Analysen, gefolgt von selektiver genomischer Sequenzierung [27,76,84,130,133,139,202, 209, 225]. Frogatt et al. (1995) und Van de Water et al. (1994) berichten jeweils von Lynch-Familien, bei denen aufgrund einer Punktmutation eine neue Schnittstelle einer Restriktionsendonuklease entsteht [55,214]. Die Autoren haben sich diese Tatsache zunutze gemacht, indem sie durch eine Amplifizierung des entsprechenden Genbereichs mit folgendem Restriktionsverdau Aussagen über das Vorliegen einer Mutation machen können.
Sekundär kann solch eine Schnittstelle im Rahmen einer PCR-basierten RFLP-Analyse eingefügt werden. Diese von Kumar et al. (1988) für das ras-Gen entwickelte Methode ist mittlerweile bei unterschiedlichsten Genen für solch eine Fragestellung erfolgreich etabliert worden [98,99,151,153,204,213]. So konnte erstmalig der Versuch unternommen werden, mit einem PCR-RFLP-Test eine definierte Mutation in hMSH2 zu detektieren, da diese Methode den oben genannten Kriterien eines Screeningtests sehr gut gerecht wird.
Da alle Negativkontrollen im RFLP-Assay lediglich eine Bande bei 133 bp aufwiesen und somit korrekterweise ein mutationsnegatives Bild zeigten, auf der anderen Seite Indexpatientin II.5 mit der heterozygoten Glu580à Stop Mutation, wie erwartet, eine Doppelbande im Agarosegel zeigte, konnte der RFLP-Test als zuverlässig angesehen werden. Durch die im Vorwärtsprimer als ergänzende Verdaukontrolle integrierte Restriktionsschnittstelle, bestand zusätzliche Sicherheit über den methodisch korrekten Ablauf der RFLP-Analyse. Zur Vermeidung von groben Fehler wurden jeweils zwei, zeitlich getrennt entnommene Blutproben von allen untersuchten Patienten analysiert. Aufgrund der weittragenden Konsequenz der Befunde ist zusätzlich der fragliche Bereich des Exons 11 von hMSH2 aller Probanden sequenziert worden. Unter Berücksichtigung der klinischen Befunde wurden die Ergebnisse auf Plausibilität überprüft. Das so durchgeführte Prozedere mit den durchweg logisch erscheinenden und erklärbaren Ergebnissen kann somit als funktionstüchtig für ein Familienscreening angesehen werden.
In Abbildung 3.13 ist erkennbar, daß alle getesteten Familienmitglieder, mit den Ausnahmen III.5 und III.7, die Glu580à Stop Mutation im heterozygoten Zustand tragen (Seite 69, Spuren 1-9). Diese Genotypen sind nicht widersprüchlich zu den jeweiligen Phänotypen der einzelnen Probanden. Bei Personen, aufgrund deren Anamnese eine Mutation zu vermuten wäre, wie dies bei II.5, II.3 und III.8 der Fall ist, ist der RFLP-Test positiv. Der positive Mutationsbefund bei Proband II.4 könnte, angesichts seines Alters von 58 Jahren, bei nicht vorhandener Krankheitsmanifestation, Anlaß für Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Befunde geben. Jedoch die Zahlen von Aarnio et al. (1995) zugrunde gelegt, wonach bei HNPCC-Patienten das Risiko im Alter von 60 Jahren an einem kolorektalen Karzinom zu erkranken, bei 55-60% liegt, erscheint der mutationspositive Genotyp bei II.4 durchaus plausibel [2]. Auffällig ist jedoch die Häufigkeit des mutationspositiven Genotyps insgesamt in der Familie. Aus dem positiven Mutationsstatus von III.2 kann auf eben solch einen bei II.1 rückgeschlossen werden, woraus ein mutationspositiver Genotyp bei allen fünf Nachkommen in Generation II folgt. Von einem ebenfalls heterozygoten Genotyp bezüglich der Glu580à Stop Mutation in hMSH2 bei Person I.1 kann aufgrund der bisher bekannten Mutationsspektren ausgegangen werden [170]. Eine solche Situation, in der alle fünf Nachkommen das mutierte Allel tragen, tritt mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit von 0.031 ein, eine gleichberechtigte Vererbung beider Allele vorausgesetzt, wovon aufgrund fehlender Hinweise und Publikationen zum momentanen Zeitpunkt ausgegangen werden muß. Eine statistische Wahrscheinlichkeit von 3,1% sollte jedoch nicht ausreichen, um die Plausibilität der Ergebnisse und die Methodik des RFLP-Assays als solche in Frage zu stellen, zudem alle zuvor erwähnten Ergebnisse als eindeutig und schlüssig anzusehen sind.
Für Generation III bleibt festzuhalten, daß alle gefundenen Genotypen mit den Befunden aus der Elterngeneration vereinbar sind. Das verwundert nicht aufgrund der Tatsache, daß alle Personen aus Generation II positiv für die hMSH2 Mutation sind, und somit beide genotypischen Varianten, mutiert oder Wildtyp, möglich sind. Trotz allem, wichtig für die Glaubhaftigkeit der Untersuchung ist die Bestimmung des positiven Mutationsbefundes in Patientin III.8, die bereits im Alter von 28 Jahren an einem Karzinom des Zökums erkrankte. Die Mikrosatelliteninstabilität im Tumorgewebe des Kolons weist in ihrem Fall auf eine durch ein defektes Mismatch-Reparatur-System verursachte Karzinogenese hin. Das in situ Karzinom der Cervix Uteri derselben Patientin hingegen war in allen zehn untersuchten Mikrosatelliten stabil. Bei dieser Neoplasie muß somit von einem sporadisch aufgetretenen Ereignis ausgegangen werden.
Aufgrund der durchweg plausiblen und reproduzierbaren Ergebnisse des RFLP-Assays, die zusätzlich durch Direktsequenzierungen der fraglichen hMSH2-Sequenz bestätigt wurden, konnten die Familienmitglieder einem abschließenden genetischen Beratungsgespräch der Abteilung für Humangenetik des Universitätskrankenhauses Eppendorf in Hamburg zugeführt werden. In diesem Rahmen konnte den Personen III.5 und III.7 mitgeteilt werden, daß für sie kein erhöhtes Risiko im Vergleich zur Normalbevölkerung besteht, an einem kolorektalen Karzinom zu erkranken. Den restlichen Familienmitgliedern jedoch wurde ein Vorsorgeprogramm, mit ein- bis zweijährigen Kolonoskopien, nach allgemeinen Empfehlungen angeraten [28,30]. Die weitere Betreuung, auch die im Rahmen der Krebsvorsorge, wird von der fast allen gemeinsamen Hausärztin, wie bereits vor der genetischen Untersuchung, durchgeführt.
 
 

4.4 Überlegungen zu genetischen Tests und Beratungen
 

Über das Für und Wider sogenannter Gentests wird seit längerer Zeit in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Im Falle des Lynch-Syndroms wird eine hier bestehende Problematik von den betreuenden Ärzten nicht mehr in Erwägung gezogen. Die Bestimmung des Mutationsstatus bei HNPCC-Patienten ist in den USA schon fester Teil der Betreuung von HNPCC-Familien, was aus den Therapieempfehlungen u.a. des „National Cancer Institute" erkennbar ist, welche für „Träger von HNPCC-assoziierten Mutationen" gelten [28]. Ungeachtet dessen werden genetische Beratungen ohnehin schon seit langer Zeit bei Risikofamilien, die zu entsprechenden Erbkrankheiten disponiert sind, durchgeführt, auch wenn die Möglichkeit der genetischen Untersuchung nicht besteht. Es geht vielmehr um die Aufklärung des Patienten über erbliche Belastungen und daraus folgenden Konsequenzen. Ein zusätzlich durchgeführter Gentest ermöglicht somit lediglich eine spezifischere Beratung hinsichtlich des individuellen Risikos, relativ unabhängig von statistisch-mathematischen Werten.
Ob ein Gentest erfolgversprechend, sinnvoll und auch moralisch vertretbar ist, hängt entscheidend von der richtigen Indikationsstellung und dem korrekten Ablauf der Untersuchung ab. Bellacosa et al. (1996) merken zu Recht an, daß ein breites Bevölkerungsscreening als Einsatzgebiet für solche Gentests zum momentanen Zeitpunkt aus unterschiedlichen Gründen auch gar nicht durchführbar sei [11]. Zum einen ist dies methodisch kaum realisierbar, zum anderen führen Brown und Kessler (1995 und 1996) auch ökonomische Gründe an, wonach solche Gentests aktuell kaum finanzierbar seien [24,25].
Jedoch sind solche Erbgutuntersuchungen zur präsymptomatischen Identifikation von disponierten Patienten in Hoch-Risiko-Kollektiven, wie im vorliegenden Fall, als äußerst geeignet anzusehen. Dieser Ansicht sind auch offizielle US-amerikanische Organisationen wie das „National Institute of Health", welche ergänzend darauf verweisen, daß derartige Untersuchungen, zumindest zum momentanten Zeitpunkt, ausschließlich von Forschungslaboratorien durchgeführt werden sollten [146]. Am Beispiel der Gene BRCA1 und 2 zeigt sich deutlich diese Problematik. Dort besteht für jede Frau die Möglichkeit, durch kommerziell angebotene Tests ein Mutationsscreening, vom Hausarzt vermittelt, durchführen zu lassen [75]. Wie Hubbard und Lewontin (1996) anmerken, werden durch solche falsch indizierten Untersuchungen vor allem unbegründete Erwartungen der Patienten geweckt, da die Aussagekraft der Analytik als Sceeninguntersuchung sehr begrenzt ist [75]. Die Forderung nach einer Durchführung in speziellen Forschungslaboratorien wird unterstützt durch Ergebnisse von Giardiello und Mitarbeitern (1997), welche bei ihren Untersuchungen zu Einsatz und Interpretation von kommerziellen APC-Gentests durch Ärzte unbefriedigende Ergebnisse erhielten. Hiernach sind lediglich 18.6% der Patienten vor dem Test genetisch beraten worden, und ein Drittel aller Ärzte hat das Ergebnis des Tests falsch interpretiert [61]. Besonders wichtig für die Fragestellung der richtigen Indikation eines Gentests scheint neben der Wahl des Personenkollektivs auch die Existenz von therapeutischen Konsequenzen zu sein. Ein Beispiel für das Fehlen von adäquaten Behandlungsmöglichkeiten stellt die Chorea Huntington dar, so daß selbst in Hoch-Risiko-Patienten eine molekulargenetische Untersuchung als fragwürdig anzusehen ist [127,205,207]. Dagegen stellen FAP und HNPCC Erbkrankheiten dar, bei denen ein Gentest durchaus therapeutische Konsequenzen nach sich ziehen kann [122].
In der Durchführung von genetischen Beratungen kann auf die Erfahrung mit anderen Erbkrankheiten wie Phenylketonurie, APC oder das Multiple Endokrine Neoplasie (MEN)-Syndrom zurückgegriffen werden [34,171]. Das Beratungskonzept sollte initial eine ausführliche Aufklärung über die Erkrankung vorsehen, die nach Lynch et al. (1996) auch in Form eines Gruppengesprächs stattfinden kann [124,172]. Erst im Anschluß sollte der Patient sich entscheiden, ob er eine genetische Untersuchung durchführen lassen will. Die Mitteilung des Testergebnisses sollte dann in einem ausgiebigen Einzelgespräch erfolgen [124]. Die Betreuung der Patienten durch erfahrene Ärzte ist hier von entscheidender Wichtigkeit. Der beratende Arzt muß sich über den eventuell entstehenden psychologischen Streß des Patienten bewußt sein, der nicht nur bei Personen mit positiven Testergebnissen z.B. als Depression, Angst oder Ärger auftreten kann. Auch mutationsnegative Patienten zeigen häufig Reaktionen wie Schuld- oder Schamgefühle und empfinden Verunsicherung [105,193]. Wie Lynch und Mitarbeiter (1996) anmerken, ist hier für eine gute genetische Beratung und die etwaige weitere Betreuung des Patienten eine enge Zusammenarbeit zwischen dem klinisch tätigen Arzt und dem Humangenetiker nötig [123].
Es ist zu begrüßen, daß alle hier aufgeführten Überlegungen in den unlängst herausgegebenen „Richtlinien zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen" der Bundesärztekammer Erwähnung finden [6]. Bachmann und Kollegen (1998) stellen in diesen Leitlinien klar, daß Gentests in ein interdisziplinäres Behandlungs- und Beratungskonzept eingebettet gehören.