1 Einleitung
 

1.1 Das kolorektale Karzinom

Mit jährlich 150.000 Neuerkrankungen stellt das kolorektale Karzinom in den USA die zweithäufigste, krebsassoziierte Todesursache dar [233]. Auch in der Bundesrepublik Deutschland sind kolorektale Karzinome, nach dem Mamma- bzw. Bronchialkarzinom, die zweithäufigste Todesursache der Tumorerkrankungen. Jährlich sterben in der BRD 30.000 Personen an diesem Malignom [78]. Das kummulative Risiko, im Laufe des Lebens an einem kolorektalen Karzinom zu erkranken, liegt bei ungefähr 5% [3]. Das Durchschnittsalter bei Diagnosestellung liegt bei 67 Jahren, mit einer folgenden durchschnittlichen Fünfjahresüberlebensrate von 45-50%, die vom lokalen Ausbreitungsgrad des Tumors, eingeteilt in Dukes-Stadien, stark abhängig ist [22,45].
Epidemiologische Studien stellen Umwelteinflüsse bei der Frage nach den Ursachen dieses Karzinoms in den Vordergrund. So wurde gezeigt, daß das relative Risiko, an einem kolorektalen Karzinom zu erkranken, in den USA und Westeuropa ungefähr 20 mal so hoch ist wie in Lateinamerika oder in Fernost [233]. Personen, die aus Orten niedrigen Risikos in Regionen mit hohem Erkrankungsrisiko umsiedeln, passen sich dem dortigen Risikoprofil an [65]. Die gängige Hypothese sieht die Ursachen hierfür in ernährungsbedingten Faktoren. So soll eine vermehrte Aufnahme von ballaststoffreicher, primär vegetarischer und fettarmer Nahrung das Risko zu erkranken vermindern [22]. Zigarettenrauchen und vermehrter Alkoholkonsum sind als pathogenetische Risikofaktoren identifiziert worden [62,132]. Protektive Wirkungen hingegen, durch eine vermutete Beeinflussung der DNA-Methylierung, werden nicht-steroidalen Antirheumatika und Butyrat zugeschrieben [16,60,159,217].
Doch neben äußeren Einflüssen spielt Vererbung eine große Rolle bei der Entstehung des kolorektalen Karzinoms [31,74]. So konnte gezeigt werden, daß Angehörige von Familien, in denen gehäuft kolorektale Karzinome auftreten, ein dreifach erhöhtes Risiko haben, ebenfalls an Darmkrebs zu erkranken [13,57]. Besonders ausgeprägt ist das Risiko, wenn die Karzinome in jungen Jahren oder bei mehreren Angehörigen auftreten [57,73,115,197]. Es wird davon ausgegangen das eine polygene Vererbung zu diesen familiären Häufungen von kolorektalen Karzinomen führt. Bisher konnten hierfür keine beteiligten Gene identifiziert werden, so daß über die Pathogenese solcher familiärer Häufungen zur Zeit nur spekuliert werden kann. Eine mögliche Erklärung könnte sein, daß für Enzymsyteme kodierende Gene sein, die karzinogene Substanzen entgiften, in erkrankten Personen alteriert sind [236]. So ist zum Beispiel gezeigt worden, daß sogenannte schnelle Azetylierer ein erhöhtes Risiko haben, an Darmkrebs zu erkranken [100,211].
Als Entstehungsmechanismus des kolorektalen Karzinoms wird heute immer mehr ein Zusammenspiel von Umwelteinflüssen und genetischer Disposition angenommen. Ein Hinweis hierauf zeigt eine im Mausmodell nachgewiesene Verknüpfung zwischen fettreicher Ernährung und der Expression von Lipasen bei der Entwicklung eines kolorektalen Karzinoms [43,128].
Über 90% aller Karzinome des Kolorektums sind solche sporadischen kolorektalen Karzinome, multifaktorieller oder familiärer Genese [29,126]. Hiervon abzugrenzen sind die unter 1.1.2 ausführlicher beschriebenen, autosomal-dominant vererbten Erkrankungen, die mit einem erhöhten Darmkrebsrisiko einhergehen, bei denen die beteiligten Gene zumeist identifiziert sind.
 

1.1.1 Die Karzinogenese des kolorektalen Karzinoms

Es wird davon ausgegangen, daß die Entstehung des Malignoms, die Karzinogenese, ein mehrstufiger Prozess ist, der sich mindestens aus drei Stufen zusammensetzt: Initiation, Promotion und Progression [54,226]. Im Falle des Kolonkarzinoms ist davon auszugehen, daß dieses aus einem zuvor bestehenden benignem Adenom entsteht [144,201]. Diese sogenannte Adenom-Karzinom-Sequenz ist im Normalfalle ein sich über Jahre erstreckender Prozess, wobei das Adenom in Form eines Polypen kontinuierlich dysplastischer, villöser und größer wird [50,201]. Die Adenome entstehen aus normaler Mukosa durch monoklonale Expansion einer einzigen Zelle [48,173]. Fearon und Vogelstein haben 1990 ein Modell entwickelt, welches die genetische Basis des kolorektalen Karzinoms als einen mehrstufigen Prozeß erklärt [50]. Wie in Abbildung 1.1 gezeigt, können den unterschiedlichen Zeitpunkten der Tumorentstehung zumindest grob einzelne genetische Veränderungen zugeordnet werden. Hiernach wird die Adenomentstehung durch eine Mutation beider Allele des Tumorsuppressorgens APC oder der Mutation eines Allels bei gleichzeitigem Verlust des anderen initiiert. Die Methylierungsveränderungen der DNA als frühes Ereignis der Adenom-Karzinom-Sequenz sollen ebenfalls an der Initiierung des Adenoms beteiligt sein [175,219]. Das K-ras Onkogen sei hiernach verantwortlich für die weitere Konversion vom kleinen zum größeren, dysplastischeren Adenom und fördere die Wahrscheinlichkeit der späteren Metastasierung [50,160,219]. Deletionen im p53-Gen sind dann verantwortlich für die Weiterentwicklung vom dysplastischen Adenom zum invasiven Karzinom [8,50,88,149,219].
 
 

Abb. 1.1: Karzinogenese des sporadischen kolorektalen Karzinoms. Modifiziertes Model nach Fearon und Vogelstein (1990), aktualisiert von Toribara und Sleisenger (1995). Dargestellt sind die einzelnen molekulargenetischen Ereignisse, die zur Entstehung eines Karzinoms führen. Die abgebildete Reihenfolge ist dabei weniger wichtig als die Akkumulation der einzelnen Ereignisse [50,210]
 

Wichtiger als die eigentliche Reihenfolge ist aber eher die Akkumulation der einzelnen Ereignisse. So sind laut Fearon und Vogelstein (1990) mindestens fünf Ereignisse zur Entstehung eines Karzinoms nötig. Zur Adenomentstehung hingegen reichen weniger molekulargenetische Ereignisse. Darüberhinaus sind noch weitere Abnormalitäten im Tumorgewebe identifiziert worden. Zum Beispiel lassen sich durchschnittlich vier bis fünf Allelverluste im Genom einer Tumorzelle nachweisen [49,50]. Desweiteren sind eine Überexpression des Gens c-Myc, eine verminderte Expression des BGP-Gens und in 15% der Fälle Mutationen im MCC-Gen in kolorektalen Karzinomen nachweisbar [147,150,183]. Noch weitere Gene, wie NM23, DRA und RB1 stehen im Verdacht, an der Tumorentstehung beteiligt zu sein [136,191,229]. Inwiefern alle diese Gene tatsächlich eine Rolle spielen, ist bis heute nicht geklärt.
 

1.1.2 Sporadische und familiäre Formen von Darmkrebs

Neben den unter 1.1.1 beschriebenen, als sporadisch zu bezeichnenden kolorektalen Karzinomen, gibt es noch eine Reihe von unterschiedlichen Syndromen, die mit erhöhten Risiken, an einem Karzinom des Kolons zu erkranken, vergesellschaftet sind. Diese zunächst klinisch definierten, ausschließlich autosomal-dominant vererbten Syndrome werden in ihrer Gesamtheit für ungefähr sechs Prozent aller kolorektalen Karzimone verantwortlich gemacht (Abb. 1.2) [14,126,197].
 
 


Abb. 1.2: Die Heterogenität der kolorektalen Karzinome. Dargestellt ist die große Gruppe der sporadischen kolorektalen Karzinome eher multifaktorieller oder eher familiärer Genese, die gemeinsam für über 90% aller Karzinome des Kolons verantwortlich sind. Dahinter ist die kleine inhomogene Gruppe der vererbten Karzinom-Syndrome des Kolons. CED: Chronisch entzündliche Darmerkrankungen, sonstige Abkürzungen sind dem Text zu entnehmen. Nach Lynch et al. (1996) [126].
 

Dem bereits unter 1.1.1 erwähnten APC-Gen werden neben seiner Bedeutung bei der Karzinogenese von sporadischen kolorektalen Karzinomen mehrere Syndrome zugeschrieben. Eine Keimbahnmutation in dem Gen beschleunigt den Prozess der Tumorentstehung. Aus der Lokalisation dieser Mutation innerhalb der Sequenz des Gens resultiert das Krankheitsbild der Familiären Adenomatösen Polyposis Coli (FAP), die abgeschwächte Form der FAP (AFAP) oder das Gardner Syndrom [14,90,123]. Die FAP zeichnet sich durch hundert bis tausende adenomatösen Polypen im Darmkanal aus, die primär im distalen Kolon oder Rektum beginnen [14,123]. Bei einer Penetranz von 100% beträgt das durchschnittliche Erstmanifestationsalter 39 Jahre [123]. Die AFAP, früher auch AAPC oder HFAS genannt, das für „Hereditary Flat Adenoma Syndrom" wegen des makroskopisch flachen Erscheinungsbildes steht, zeichnet sich ebenfalls durch multipel auftretende Polypen im Kolon aus, die allerdings eine Gesamtzahl von 100 im Normalfall nicht übersteigt [14,123,126]. Das durchschnittliche Erstmanifestationsalter beträgt hier 55 Jahre. Bei dem 1953 erstbeschriebenen Gardner Syndrom handelt es sich um eine FAP verbunden mit außerkolischen Manifestationen, die sich als Epidermoidzysten, Osteome des Unterkiefers oder Desmoid-Tumore äußern [14,59,123].
Desweiteren wurde das „Hereditary Non-Polyposis Colorectal Cancer" (HNPCC) Syndrom beschrieben, welches im Unterschied zum FAP durch ein erhöhtes Risiko der kolorektalen Karzinomentstehung ohne erhöhte Anzahl von Kolonpolypen definiert ist [118,121]. Im weiteren Sinne Bestandteil des HNPCC-Komplexes ist das Muir-Torre Syndrom, welches durch syn- oder metachrones Auftreten von kolorektalen Karzinomen mit gut- oder bösartigen Talgdrüsen- und Hauttumoren definiert ist [9,37,93]. Beim Turcot Syndrom, bei dem primäre Gehirnneoplasien mit einem kolorektalen Karzinom kombiniert sind, ist, je nach histologischem Aufbau des Gehirntumors, eine Mutation im APC-Gen oder in einem dem HNPCC-Komplex zugehörigen Gen zu finden [67].
Die letzte Gruppe von Syndromen in diesem Zusammenhang definiert sich durch den allen gemeinsamen hamartösen Aufbau der Polypen. Das Peutz-Jeghers Syndrom, die Familiäre Juvenile Polyposis, das Gorlins und das Cowden Syndrom sind allesamt sehr seltene Erkankungen [14,123]. In diesem Zusammenhang müssen auch die chronisch entzündlichen Darmerkrankungen Colitis ulcerosa und Morbus Crohn erwähnt werden. Besonders bei ersterer Erkrankung kann über eine familiäre Belastung mit gesteigertem Entartungsrisiko spekuliert werden [21,222].
 
 

1.2 DNA-Reparatursysteme

Die Erhaltung der DNA-Basenabfolge ist für alle Lebewesen von entscheidender Bedeutung, da in das Genom eingefügte Fehler zu zellulären Dysfunktionen führen können. Ohne entsprechende Reparatursysteme würden Fehler im Genom von Keimzellen akkumulieren, so daß daraus entstehende Organismen vermutlich nicht oder nur begrenzt lebensfähig wären. Die Fehler der DNA-Sequenz können nach ihrem Entstehungsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt werden, womit zugleich eine grobe Einteilung der Reparatursysteme möglich ist [35,186]. Erstens ist eine Schädigung des Erbguts durch äußere Einwirkungen in Form von mutagenen Chemikalien, thermischen Einflüssen oder ionisierenden- und UV-Strahlen möglich. Zweitens sind Schädigungen durch Fehlpaarungen von Basen im Verlauf der Replikation oder asymetrisches „Crossing-over" denkbar. Alle DNA-Reparatursysteme sind bei den Modellorganismen, Saccharomyces cerevisiae und Escherichia coli, am detailliertesten untersucht [186]. Beim E. coli Bakterium sind bis heute 100 verschiedene Gene identifiziert worden, die an der Reparatur von DNA-Schäden beteiligt sind [111]. Es stellt sich die Frage, inwiefern die beim E. coli Bakterium aufgeklärten Mechanismen auf den Menschen übertragbar sind. Die humanen Äquivalente der bakteriellen Proteinkomponenten von Reparatursystemen sind bis heute nur teilweise bekannt. Komplizierend kommt hinzu, daß eine klare Trennung verschiedener Reparatursysteme im Grunde gar nicht möglich ist, da manche Komponenten von unterschiedlichen Systemen verwendet werden.
Die Nukleotid-Exzisions-Reparatur (NER), auch uvrABC-System nach den prokaryontischen Haupt- komponenten benannt, ist ein entscheidendes System zur Reparatur von durch äußere Einflüsse verursachten DNA-Schäden. Es dient der Beseitigung von größeren und kleineren DNA-Addukten, indem die fehlgepaarten und daran angrenzende Nukleotide komplett entfernt und in der Folge resynthetisiert werden [18,186]. Ein in diesem Zusammenhang häufig aufgeführtes Beispiel ist die durch UV-Strahlen induzierte Thymindimerbildung innerhalb eines DNA-Stranges [186]. Neben diesem, bei Eukaryonten aus mindestens 12 Komponenten bestehendem System, existiert die Basen-Exzisions-Reparatur [192]. Sie hat unter anderem die Aufgabe, in der DNA fehlerhaft durch Desaminierung von Cytosin auftretende Uracilbasen zu entfernen und durch Cytosin wieder zu ersetzen. Eine nicht entfernte Uracilbase würde bei folgenden Transkriptionen zu einer Blockierung der Polymerase führen [35,186,200]. Anders als beim NER-System wird hier, anstatt ganzer Nukleotide, lediglich eine Base exzidiert.
Die DNA-Replikation ist die zweite wichtige Fehlerquelle. Dort existiert neben der ständigen Selbstkontrolle der DNA-Polymerase, die diese durch Korrekturlesen durch ihre 3‘-5‘ Exonukleaseaktivität gewährleistet, ein weiteres sequenzprotektives System, die Mismatch-Reparatur (MMR) [38,141]. Dieser unter 1.2.1 näher beschriebene Enzymkomplex beseitigt nicht nur die replikationsbedingten, fehlgepaarten Basen, sondern verhindert zusätzlich ein ungleiches „Crossing-over" während der Meiose [36,141,180].
Ein Beispiel für eine Verknüpfung von Reparatur-Systemen ist die transkriptions-gekoppelte Reparatur (TCR). Dieses bei Säugerzellen in vitro identifizierte System stellt eine hochkonservierte Variante der Nukleotid- Exzisions-Reparatur dar, die besonders schnell Basenfehlpaarungen transkriptionsaktiver DNA korrigiert. Es ist eine Abhängigkeit der TCR von Komponenten der Mismatch-Reparatur beschrieben worden, so daß von einer gemeinsamen Nutzung von Proteinen unterschiedlicher DNA-Reparatursysteme ausgegangen werden muß [104,137].
Praktische Relevanz für die Humanmedizin erlangen diese DNA-Reparatursysteme durch ihre Beteiligung an der Entstehung von unterschiedlichen Krankheitsbildern, z.B. der Xeroderma Pigmentosum, des Cockayne’s Syndroms, der Ataxia Telangiectasia oder der Fanconi Anämie [97,208]. Diesen Erbkrankheiten liegen Gendefekte einzelner Komponenten der Reparatursysteme zugrunde, so daß diese nicht fehlerfrei funktionieren und somit zur Entwicklung maligner Tumoren führen.
 

1.2.1 Das Mismatch-Reparatur-System

Die Hauptfunktionen des Mismatch-Reparatur-Systems (MMR) sind zum einen die Korrektur von während der Replikation entstandenen Fehlern, im Sinne von einfachen Basenfehlpaarungen oder auch größeren Insertions- Deletions-Schleifen, verursacht durch Verrutschen („slippage") der DNA-Polymerase. Zum anderen soll das Reparatur-System ungleiches „Crossing over" während der Meiose verhindern oder korrigieren [36,178,180, 198]. Neben der bereits erwähnten Beteiligung am TCR-System wird der Mismatch-Reparatur eine wichtige Rolle bei der Zellzyklus-Regulation im Zusammenhang mit der durch alkylierende Substanzen verursachte DNA-Schäden zugeschrieben. Hiernach soll das Mismatch-Reparatur-System nach Exposition mit alkylierenden Substanzen einen Zellzyklus-Stop in der G2-Phase mitbewirken oder an der Regulation der Apoptose beteiligt sein [51,69,85]. Das in E. coli Methyl-gesteuertes-Mismatch-Reparatur genannte System ist zunächst bei Prokaryonten beschrieben worden. Die Hauptkomponenten dort sind MutH, MutL und MutS [141]. Aus dieser Namensgebung erklärt sich die Nomenklatur der eukaryontischen Bestandteile des Reparatur-Systems. hMSH2, humanes MutS Homolog und hMLH1, entsprechend humanes MutL Homolog sind die entscheidenden Bestandteile des Mismach-Reparatur-Systems beim Menschen [106,212].
 
 

Abb. 1.3: Eukaryontisches Mismatch-Reparatur-System. A: DNA-Replikationsgabel. Die Pfeile stellen die Richtung des neu synthetisierten Stranges dar. Der Knick in der schematisierten DNA kennzeichnet die Basenfehlpaarung. B-E: Ausschnitt aus A. hMSH2 und GTBP/hMSH6 binden als Heterodimer die fehlgepaarten Basen. Nach Anlagerung des hMLH1/hPMS2 Heterodimers wird der eingekerbte Strang exzidiert und in der Folge neu polymerisiert und ligiert [180].
 

hMSH2 bindet als Heterodimer zusammen mit einem weiteren MutS Homolog, hMSH3 oder hMSH6, auch GTBP (Guanin-Thymin bindendes Protein) genannt, die DNA-Fehlpaarung. Hierbei entscheidet die Art des DNA-Fehlers über den Bindungspartner (Abb 1.3) [44,53,161]. In der Folge lagert sich ein weiteres Hetero- dimer, bestehend aus hMLH1 und hPMS2 („human postmeiotic segregation"), an die durch die Basenfehlpaarung verursachte Kerbe („nick") der DNA und dem hMSH2 Komplex [106,181]. Daraufhin werden die Fehlpaarung und daran angrenzende Nukleotide exzidiert und neu synthetisiert. Der genaue Mechanismus hierfür ist beim Menschen aber kaum bekannt. Beim E. coli Bakterium sind hierfür unter anderem verschiedene Exonukleasen, die Polymerase III und die DNA-Ligase verantwortlich, welche mit hemimethylierter DNA sowohl aus einer 3‘- als auch aus einer 5‘-Position heraus die Sequenz neu synthetisieren können [141]. Bei Säugern konnte diese bidirektionale Möglichkeit der DNA-Resynthese auch nachgewiesen werden, allerdings ohne Verwendung von hemimethylierter DNA, die in dieser Form beim Menschen nicht zu finden ist [47,180]. Die exakte Aufgabe des hMLH1/hPMS2 Komplexes konnte bisher, ebensowenig wie die Funktion von hPMS1 und hPMS3-8, nicht geklärt werden (Tab. 1.1)

MutS Homolog
Größe (kDa)
Chromosom
Referenz
hMSH2
105
2p22-21
[52,103]
hMSH3
127
5q11-13
[58]
hMSH5
93
6p22-21
[53]
hMSH6
153
2p16-15
[161]
MutL Homolog
Größe (kDa)
Chromosom
Referenz
hMLH1
85
3p23-21
[23,162]
hPMS1
106
2q31-33
[148]
hPMS2
96
7p22
[148]
hPMS3-8
variiert
7q11,7q22
[72]
 
Tab. 1.1: Humane MutS und MutL Homologe des Mismatch-Reparatur-Systems. Angegeben ist die Größe des Proteins in Kilodalton und die chromosomale Lokalisation der Gene [53].
 
 

1.3 Das Lynch-Syndrom (HNPCC)

Das Lynch-Syndrom, erstmals von Alfred Warthin am Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben, zeichnet sich durch ein siebenfach erhöhtes Risiko, an einem kolorektalen Karzinom oder auch anderen Malignomen zu erkranken, aus [121,221]. Wie am Namen „Hereditary Non-Polyposis Colorectal Cancer" (HNPCC) zu erkennen, geht diese Erkankung, in Abgrenzung zur Familiären Adenomatösen Polyposis Coli (FAP), nicht mit einer großen Anzahl von Dickdarmpolypen einher [121]. Dieses zunächst als „Cancer Family Syndrome" von H.T. Lynch beschriebene Krankheitsbild wurde später nach ihm benannt [118,119]. Zur Abgrenzung und Standardisierung des Syndroms sind die sogenannten Amsterdam Kriterien definiert worden [215]. Hiernach müssen folgende Mindestanforderungen erfüllt werden, um die Diagnose eines Lynch-Syndroms in einer Familie stellen zu dürfen:

  • mindestens drei Verwandte sind an einem kolorektalen Karzinom erkrankt, zwei davon müssen Verwandte ersten Grades sein
  • die Erkrankung muß in mindestens zwei Generationen auftreten
  • mindestens eine Person muß bei Erstmanifestation unter 50 Jahre gewesen sein.
  • Es wird angenommen das 1-5% aller kolorektalen Karzinome im Rahmen eines Lynch-Syndroms auftreten. Dies würde bedeuten, daß HNPCC die häufigste Form von vererbbaren Darmkrebs darstellt [86,174,196]. Klinisch zeichnet es sich durch eine frühe Erstmanifestation des Karzinoms im Durchschnittsalter von 44 Jahren, jedoch mit großer Streubreite, aus [121,125,214]. Neben einer Prädominanz des Karzinoms im proximalem Kolon ist das Auftreten von multiplen syn- oder metachronen Kolorektaltumoren auffällig [2,121,125]. Das Vererbungsmuster des Lynch-Syndroms folgt einem autosomal-dominanten Erbgang mit einer Penetranz von 70-80% [2,7,189,190, 216].
    Histologisch sind schlecht differenzierte, muzinöse oder Siegelringzellkarzinome, mit diploider Zellstruktur, typisch [121,125,135]. Die Adenome entstehen bei Lynch-Patienten mit der gleichen Wahrscheinlichkeit und nach dem gleichen Mechanismus wie in den sporadischen Fällen. Trotzdem weisen sie Unterschiede auf. Die Polypen sind villöser, größer und aggressiver, was auf eine beschleunigte Adenom-Karzinom-Sequenz hindeutet [80,121]. Schon in 24% aller Adenome sind instabile Mikrosatelliten zu finden. Dieser Anteil steigert sich über 54% bei fortgeschrittenen Adenomen bis zu 92% in manifesten Karzinomen von Lynch-Tumoren [1,79,110,168]. Karzinome von Lynch-Patienten sind prognostisch günstiger zu beurteilen als sporadische Fälle. Dies zeigt sich bei der Fünfjahresüberlebensrate, die bei Lynch-Patienten 65% und bei sporadischen Fällen 45% beträgt [119,125,188]. Ursachen hierfür könnten der diploide Charakter der Tumore oder auch die Tatsache der seltenen Metastasierung von HNPCC-assoziierten Karzinomen sein [82,121].
    Das zusätzliche Auftreten von extrakolisch gelegenen Tumoren unterteilt den HNPCC-Komplex. Das aus- schließliche Vorkommen von kolorektalen Karzinomen bezeichnet das Lynch-Syndrom I. Im Unterschied hierzu zeichnet sich das Lynch-Syndrom II durch ein vermehrtes Auftreten extrakolischer Tumore aus [121]. In absteigender Häufigkeit sind dies: Endometrium-, Magen- und Dünndarm-Karzinome. Desweiteren kommen Neoplasien des biliären- und Urogenitaltraktes, sowie des Ovars und der Haut im Rahmen des Muir-Torre Syndroms oder des Gehirns beim Turcot Syndrom vor [9,66,67,93,125]. Über die Zugehörigkeit weiterer Malignome zu diesem Komplex herrscht aktuell keine Einigkeit [2,101,120,125,129].
     

    1.3.1 Die Karzinogenese des Lynch-Syndroms

    Mikrosatelliten sind sich wiederholende, sogenannte repetetive Sequenzen, hauptsächlich in Form von (A)n/(T)n oder (CA)n/(GT)n Basenabfolgen, deren Länge mindestens 26 Nukleotide beträgt. Über das menschliche Genom sind ungefähr 100.000 solcher (CA)n-Motive verteilt. Ihre Funktion ist unbekannt, so daß sie als Abfall („junk")-DNA bezeichnet wird [113,223]. Mechanismen, die zu Instabilitäten, also Längenvariationen der Mikrosatelliten führen, sind ein ungleiches „Crossing-over" während der Meiose oder ein Verrutschen der DNA-Polymerase während der Replikation [195,199]. Strand et al. (1993) konnten zeigen, daß in Hefen und Bakterien solche repetitiven Sequenzen um das 100 bis 700-fache instabiler werden,wenn Mismatch- Reparatur-Komponenten mutiert sind [198]. Solch eine Mikrosatelliteninstabilität (MSI) ist in 92% aller Lynch-Tumore zu finden [1,110,168]. Dagegen ist eine MSI nur in 10-15% aller sporadischen kolorektalen Karzinome nachweisbar, wobei ein proximal gelegener Tumor eher Instabilitäten zeigt als ein distaler [77,121,206]. Es konnte gezeigt werden, daß beim Menschen Keimbahnmutationen in den Mismatch- Reparatur-Genen hMSH2, hMLH1, hPMS2, hPMS1 und GTBP/hMSH6 für diese Mikrosatelliteninstabilität verantwortlich sind [23,52,103,148,161,162]. Die Arbeitshypothese zur Karzinogenese der HNPCC- assoziierten kolorektalen Karzinome geht von einer Tumorsuppressorgen-Charakteristik der Mismatch- Reparatur-Gene aus [91]. Hiernach haben die eine heterozygote Keimbahnmutation in einem Mismatch- Reparatur-Gen tragenden Zellen eine fast normale Reparaturaktivität [81,165]. Eine Inaktivierung des zweiten Allels führt dann zu einem „Mutator-Phenotype", d.h. das Mismatch-Reparatur-System ist nicht mehr ausreichend in der Lage, Fehler zu korrigieren. Damit können Mutationen sowie instabile Mikrosatelliten, im Sinne eines „replication error positive" (RER+) Phänotyps, akkumulieren [1,103,112]. Als Mechanismus, der zur Inaktivierung des zweiten Allels führt, ist bei hMLH1 ein Verlust der Heterozygotie (LOH) nachgewiesen worden [70]. Bei den anderen Genen muß von einer inaktivierenden, somatischen Zweitmutation ausgegangen werden, auch wenn bis heute nur wenige solcher Mutationen beschrieben sind [103,164,170]. Über den Pathomechanismus der Akkumulation von Mutationen in den Onkogenen und Tumorsuppressorgenen der sporadischen Kolorektalkarzinogenese, p53, ras oder APC herrscht keine Einigkeit. Es sind sowohl vermehrte, als auch unveränderte oder verringerte Mutationshäufigkeiten dieser Gene in Lynch-Kolontumoren beschreiben worden [1,32,102,114]. Entscheidend für die Tumorentstehung bei HNPCC scheinen eher die durch den RER+ Phänotyp verursachten Mutationen in repetitiven Sequenzen von Gen-kodierenden Bereichen zu sein. Zum Beispiel weisen 90% aller HNPCC-Tumore solch eine Mutation des Gens für den „Transforming growth factor-b type II"-Rezeptor (TGF-b -II) auf, der die normale Zellproliferation kontrolliert [4,131,167]. Ein weiteres Beispiel ist das BAX-Gen, welches an der Regulation der Apoptose beteiligt ist [157]. Es konnte gezeigt werden, daß in über der Hälfte aller kolorektalen Karzinome von HNPCC-Patienten Mutationen in einem repetitiven Bereich der kodierenden Sequenz des Gens nachweisbar sind [177,235].
    Ein klares Modell zur Karzinogenese der kolorektalen Karzinome bei HNPCC existiert zur Zeit nicht. Es ist zu vermuten, daß die Mutation eines Mismatch-Reparatur-Gens ein frühes Ereignis in der Tumorentstehung ist, welches für sich alleine nicht in der Lage ist, Krebs zu verursachen. Viel eher ist beim Lynch-Syndrom die beschleunigte Entwicklung des Karzinoms auf dem Boden eines sozusagen sporadisch entstandenen Adenoms anzunehmen, ein grundlegender Unterschied zur Familiären Adenomatösen Polyposis [80]. Dort führt eine APC-Mutation zur beschleunigten Adenomentstehung. Die Weiterentwicklung zum Karzinom hingegen, findet im Zeitablauf eines sporadischen kolorektalen Karzinoms statt [90].
     

    1.3.2 Prädisponierende Mutationen

    Seit dem Erkennen des Zusammenhangs zwischen Keimbahnmutationen in Mismatch-Reparatur-Genen und HNPCC ist eine große Zahl von Familien mit Lynch-Syndromen molekulargenetisch untersucht worden. Dabei sind bisher über 130 verschiedene Mutationen in über 200 Familien beschrieben worden [170].Von der „International Collaborative Group for HNPCC" (ICG-HNPCC) werden die publizierten Mutationen in einer Datenbank verwaltet, die im Internet unter der Adresse „www.nfdht.nl" einsehbar sind. Anhand der molekular- biologischen Untersuchungen können in ungefähr 70% der untersuchten HNPCC-Fälle Keimbahnmutation identifiziert werden, die mit dem Phänotyp der Erkrankung vergesellschaftet sind und somit als ursächlich für die Karzinomentstehung angesehen werden können [110]. Weit über 90% der Mutationen sind in hMSH2 und hMLH1 beschrieben, wohingegen in hPMS1 nur eine, in hPMS2 zwei und in GTBP/hMSH6 drei Keimbahnmutationen identifiziert wurden [5,67,110,140,148,170].
    Mit zwei Ausnahmen, in Form großer genomischer Deletionen in hMLH1 und hPMS2, handelt es sich bei allen Veränderungen in den Mismatch-Reparatur-Genen um Punktmutationen [170]. Als Nonsense- und Frameshift- Mutationen haben diese Sequenzalterationen überwiegend einen das so translatierte Protein verkürzenden Charakter [148,155,170,203]. Bei hMLH1 ist auffällig, daß 32% der Mutationen die Spleißstellen der Exon- grenzen betreffen, und daß es sich bei einem weiteren Drittel um Missense-Mutation handelt [170]. Daß eine Missense-Mutation für die Erkrankung ursächlich ist, wird in den Publikationen durch das Vorkommen der Veränderung in konservierten Bereichen der Gensequenz, dem Fehlen in der Normalbevölkerung und der klaren Verknüpfung von Geno- und Phänotyp erklärt [169,170]. Die Mutationen sind über den kodierenden Bereich breit gestreut; mehr als 80% aller publizierten Sequenzveränderungen sind Einzelfälle [170]. Bisher einmalig konnte für eine in Finnland bei verscheidenen Familien nachweisbare Mutation in hMLH1 ein Gründereffekt nachgewiesen werden [142,154,155]. In hMSH2 und hMLH1 ist je eine Mutation bekannt, die weltweit 14 beziehungsweise neunmal vorkommt [170]. Bei diesen Veränderungen könnte es sich um „hot-spots" handeln, Sequenzabschnitte mit einer hohen Rate von de novo-Mutationen.
    Über Korrelationen zwischen Art und Ort der Mutation auf der einen und der klinischen Ausprägung der Krankheit auf der anderen Seite wird bisher nur vage spekuliert. So vermuten Vasen und Mitarbeiter (1996), daß ein Lynch-Syndrom II eher bei hMSH2 Mutationen auftritt [216]. Zum anderen spekulieren Wijnen et al. (1996) über eine Korrelation zwischen dem Auftreten von mutierten Spleißstellen und dem Vorkommen von extrakolischen Tumoren [231].
     

    1.3.3 Früherkennung bei HNPCC-Risikofamilien

    Anhand von Familienanamnese und Vererbungscharakteristik kann eine Familie mit Lynch-Syndrom durch Erfüllen der Amsterdam Kriterien identifiziert werden. Problematisch ist die Tatsache der vielfach kleinen Familien in Industrieländern und die unklare Zugehörigkeit von extrakolischen Neoplasien bei dem Lynch-Syndrom II [125,210]. Ist die klinische Diagnose Lynch-Syndrom gesichert, müssen regelmäßig Vorsorgeuntersuchungen veranlaßt werden. Die ICG-HNPCC und die Amerikanische Krebsgesellschaft empfehlen ab dem Alter von 20-25 Jahren alle zwei Jahre eine hohe Kolonoskopie, ab dem Alter von 40 Jahren eventuell auch jährlich [30,125]. Von der ICG-HNPCC zusätzlich empfohlen sollte bei weiblichen Patientinnen ab einem Alter von 30-35 Jahren ein- bis zweijährlich eine intensivierte, gynäkologische Untersuchung des Uterus und der Ovarien erfolgen. Wenn Magen und Harntrakt familienanamnestisch mitbetroffen sind, sollten ab einem Alter von 30 Jahren ergänzend auch ein- bis zweijährlich eine Gastroskopie und Urogenitalsonographie erfolgen [125].
    Andere auch etablierte Methoden zur Früherkennung von kolorektalen Karzinomen scheiden aus vielerlei Gründen bei HNPCC-Patienten aus. Der Test auf okkultes Blut im Stuhl ist bei Hochrisikopatienten von vornherein nicht ausreichend und wird als Teil des Screeningprogramms für HNPCC-Patienten auch gar nicht erwähnt [210]. Digitale Palpation des Rektums und flexible Sigmoidoskopie reichen nicht aus, da mehr als zwei Drittel aller Karzinome proximal der Milzflexur im Kolon liegen und diese Bereiche mit einem Sigmoidoskop nicht einsehbar sind [121,210]. Dies ist zugleich der Grund, warum nur eine hohe Kolonoskopie die Methode der Wahl ist, da mit ihrer Hilfe der komplette Dickdarm untersucht werden kann und somit der Primärlokalisation der malignen Prozesse Rechnung getragen wird [210]. Vor der Entdeckung der Mismatch-Reparatur-Gene galten diese Empfehlungen für alle Mitglieder einer Hochrisikofamilie [121]. Seit der Möglichkeit von molekular- genetischen Tests sehen die Leitlinien zur Betreuung von HNPCC-Patienten nach der Verifizierung der Hochrisikosituation Gentests vor [30,125]. Wenn diese eine kausale Keimbahnmutation erkennen lassen, entscheidet der Genotyp des Patienten über das weitere Verfahren. Mutationsnegative Personen können, mit allen Konsequenzen hinsichtlich der Vorsorgeuntersuchungen, in die Gruppe mit durchschnittlichem Darmkrebsrisiko eingeordnet werden. Lediglich diejenigen mit positivem Testergebnis sollten an oben genannten Vorsorge- untersuchungen teilnehmen. Einige Autoren empfehlen oder schlagen für Patienten mit nachgewiesenen Keimbahn- mutationen ergänzend eine prophylaktische subtotale Kolektomie und bei Frauen nach abgeschlossener Familienplanung eine prophylaktische totale Hysterektomie mit bilateraler Salpingoophorektomie vor [125,126]. Über das Vorgehen der prophylaktischen Organentfernung herrscht allerdings keine Einigkeit, da nicht bewiesen ist, daß sich durch derartige Maßnahmen ein lebensverlängernder Effekt für den Patienten erzielen läßt [28].
     

    1.3.4 Methodische Überlegungen zu genetischen Untersuchungen

    Zur molekularbiologischen Mutationssuche in HNPCC-Familien wurden in den letzten Jahren mehrheitlich DNA-basierende Methoden wie Sequenzierung genomischer DNA, SSCP-Analyse, Heteroduplex-Analyse und Denaturierende Gradientengel Elektrophorese (DGGE) verwendet [170]. Daneben stehen aber auch RNA-basierte Methoden wie RT-PCR, IVSP-Assay und Sequenzierung von cDNA zur Verfügung [170]. Die von Lynch und Smyrk (1996) und auch von Liu et al. (1996) empfohlene 3-Schritt Vorgehensweise ist wie folgt:
    Das jüngste, betroffene HNPCC-Familienmitglied soll primär untersucht werden. Zuerst wird die kodierende Region von hMSH2 und hMLH1 mittels RT-PCR aus RNA von peripheren mononukleären Blutzellen amplifiziert. Mit den cDNA-Fragmenten soll in der Folge ein IVSP-Test durchgeführt werden. Ist dann noch keine Mutation detektierbar, so wird das cDNA-Amplifikat sequenziert [109,110,125]. Bei Familien, die nicht die Amsterdam-Kriterien erfüllen, sollte zur Erhärtung der Verdachtsdiagnose Lynch-Syndrom, zunächst ein Mikrosatellitenstatus erhoben werden [110].
    Da 90% aller Keimbahnmutationen in hMSH2 und hMLH1 zu finden sind, sollten diese beiden Gene zunächst untersucht werden [170]. Aufgrund der Tatsache, daß die Mutationen über die gesamte Sequenz verteilt sind, ist ein Ansatz wie der des IVSP-Tests richtig, da er relativ schnell den Mutationsstatus der gesamten kodierenden Sequenz bezüglich aller zu Proteinverkürzungen führenden Mutationen klärt [110,176]. Nachteilig sind die durch mögliche physiologische Spleißvarianten entstehenden falsch-positiven Ergebnisse [33,92,143,234]. Die Sequenzierung von cDNA detektiert jedoch nicht die in über 30% der Fälle auftretenden Spleißstellenmutationen in hMLH1 [170]. Diese werden bei Sequenzierungen von genomischer DNA als Exonstrukturen inklusive angrenzender Intronbereiche erfaßt. Diese Art der Mutationsanalytik ist zwar besonders sensitiv, aber zugleich auch außerordentlich zeitintensiv. Damit existiert zur Zeit keine einheitliche Vorgehensweise zur Mutations- detektion in HNPCC-Familien.
     
     

    1.4 Problemstellung und Ziel der Arbeit

    Das Ziel der vorliegenden Arbeit war es, eine Familie mit klinisch manifesten Lynch-Syndrom molekulargenetisch zu untersuchen und bei positiven Mutationsbefunden eine Familienberatung in die Wege zu leiten. Wie aus Abbildung 1.4 ersichtlich werden die Amsterdam-Kriterien von dieser Familie erfüllt. Mit Ausnahme von Person II.2, die ein Endometriumkarzinom im Alter von 50 Jahren entwickelte, hatten alle betroffenen Familienmitglieder hauptsächlich rechtsseitig gelegene Karzinome des Kolons. Person I.1 hatte neben zwei Karzinomen des Kolons eine weitere maligne Neubildung im Magen im Alter zwischen 68 und 72 Jahren. II.1 und II.5 hatten kolorektale Karzinome mit Erstmanifestationen vor dem 50 Lebensjahr. Person II.3 hatte vom 40. bis 62. Lebensjahr insgesamt fünf Karzinome des Kolorektumbereiches. Die zuletzt erkrankte Person III.8 ist im Alter von 28 Jahren an einem Zökumkarzinom operiert worden. Neben den strengen Amsterdam-Kriterien treten demzufolge auch weitere Nebencharakteristika wie proximale Lage im Kolon sowie syn- und metachrome Karzinome auf.
     
     

    Abb 1.4.: Stammbaum der Familie mit klinisch manifestem Lynch-Syndrom. Dargestellt sind vier Generationen. Kreise bezeichnen weibliche, Rechtecke bezeichnen männliche Personen. Schwarz markiert sind Erkrankte. Der Querbalken in den Personensymbolen bezeichnet bereits verstorbene Familienmitglieder. Der Pfeil weist auf die primär untersuchte „Indexpatientin".
     

    Aus logistischen Gründen wurde Person II.5 primär untersucht und deshalb im folgenden als „Indexpatientin" bezeichnet. Sie erkrankte zunächst im Alter von 45 Jahren an einem rechtsseitigen Kolonkarzinom. Ein Jahr später mußte sie wegen eines neu aufgetretenen Malignoms des Dickdarms erneut behandelt werden. Die Befunde des proximalen, metachronen Kolonkarzinoms mit einem Ersterkrankungsalter unter 50 Jahren machen diese Person zu einer geeigneten Indexpatientin.
    Es sollte ein Weg gefunden werden, mit Hilfe von einfachen, schnellen aber zugleich auch sicheren Methoden die ursächliche Mutation zu identifizieren, um eine etwaige Analyse in Zukunft eventuell unter routinierteren Bedingungen durchzuführen.
    Sollte eine Keimbahnmutation auffindbar sein, würden im Sinne eines Familienscreenings alle weiteren Familien- mitglieder selektiv auf die Mutation untersucht werden. Ließe sich der funktionelle Aspekts einer solchen Mutation durch eine Bestimmung des Mikrosatellitenstatus in Tumorgewebe von betroffenen Familienmitgliedern bestätigen, so könnte dann eine genetische Beratung der einzelnen Personen hinsichtlich individueller Risiken erfolgen.