Titel: Experimentierfeld der Gegenwartskunst in China: Beijings Kunstviertel 798
Sprache: Deutsch
Autor*in: Thiedig, Stefanie
Schlagwörter: Kunstviertel 798; Gegenwartskunst; Beijing; Sevenstar Group; Yishu hui; Taikang Collection
Erscheinungsdatum: 2022
Tag der mündlichen Prüfung: 2023-07-06
Zusammenfassung: 
Ausgangspunkt dieser Arbeit ist das Kunstviertel 798 in Beijing, das als Experimentierfeld von Gegenwartskunst in China aus der Perspektive des Ortes und seiner Akteur·innen betrachtet wird. Aufgrund der eher stichprobenhaft vorhandenen Forschungsliteratur ist es notwendig, zunächst den Ort und seine Akteur·innen selbst vorzustellen. Dafür bildet die Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Ortes von der einst staatlichen Industrieanlage zum heutigen Kunstviertel 798 unter der Verwaltung der Sevenstar Group die Grundlage. Im Zuge dessen werden anschließend die im Kunstviertel zwischen 2002 und 2020 ansässigen Galerien behandelt. Mit einer umfangreichen Datenanalyse kann die Bedeutung des Ortes für die Kunstszene in China belegt werden. Zum einen wird offenbar, dass knapp drei Viertel der Gesamtzahl an Ausstellungen in ganz Beijing zwischen 2002 und 2020 im Kunstviertel 798 und in seiner unmittelbaren Umgebung stattfanden. Sowohl für Produzent·innen als auch für Besucher·innen war und ist ein Hauptort für die Kunst bei den Dimensionen der Stadt sehr komfortabel. Zum anderen werden etwa die verschiedenen kommerziellen Hochphasen sichtbar. Fünfundzwanzig der insgesamt vierhundert Galerien sind für Einzelbetrachtungen ausgewählt und vorgestellt.

Die Künstler·innen, die den Ort seit 1995 geschaffen und 2006 mithilfe staatlicher Intervention gerettet hatten, zogen im Laufe der Zeit aus, viele von ihnen blieben dem Viertel mit seinen vielfältigen Möglichkeiten als Ausstellungsraum aber treu. Die Sevenstar Group, die als Verwaltung anfangs nur die Vermietung im Blick hatte und das Areal 2005 gewinnbringend veräußern wollte, vollzog in Verheißung auf die Marktkraft von Kunst und Kultur vermehrt ab 2015 einen erstaunlichen Wandel hin zur Kulturproduzentin. War die Unternehmensgruppe bereits zuvor die entscheidende Akteurin im Viertel, sah sie nun das Potential der Kunst. Entsprechend werden daraufhin zwei Fallbeispiele detailliert präsentiert: eine Kunstzeitschrift aus den Jahren 2012 bis 2018 und eine Ausstellung von 2019.

Eine weitere Grundlage dieser Arbeit, die für die ausgewählten Fallbeispiele als Hintergrund dient, bildet die Einführung in die Gegenwartskunst in China im historischen Kontext. Dieser Überblick steht der gesamten Arbeit voran und kann auch separat konsultiert werden. Er ist unterteilt in Kunstgeschichte, Kunstmarkt und Kunstpolitik sowie die sogenannte „Rote Kunst“. Die größte Herausforderung der vorliegenden Arbeit bildet die Quellenlage, die, abgesehen vom Einführungsteil, zu einer Mehrzahl aus ephemerer Literatur besteht, aus zahlreichen Onlinematerialien sowie aus Publikationen, die zeitlich und lokal begrenzter Verteilung unterlagen. Entsprechend sind die Quellen genau beschrieben und durchleuchtet und teilweise im Anhang wiedergegeben.

Für die Kunstzeitschrift „Yishu hui“ beschäftigte die Sevenstar Group die Redaktion, und der Sammlungsausstellung von Taikang stellte sie das Gebäude. Bei beiden kann die Bedeutung der Sevenstar Group kaum überschätzt werden, denn beiden gewährte sie freien Gestaltungsspielraum. Hier wird deutlich, wie weit die in China stets gegenwärtigen, immer auch restriktiv auslegbaren Rahmenbedingungen gedehnt werden können, wenn der oder die Akteur·in dies zulässt. In beiden Fällen werden anhand der Materialien zunächst ausführlich jeweils die organisatorische Ausgangslage beschrieben und das Ansinnen bei „Yishu hui“ mit einer Daten- und bei Taikang mit einer Textanalyse vorgestellt. Daraufhin werden bei beiden Bildbetrachtungen vorgenommen, bei „Yishu hui“ handelt es sich um ein Fokusthema und bei Taikang um eine von neun Sektionen der Ausstellung sowie weitere ausgewählte Arbeiten. Der Ansatz von „Yishu hui“ erscheint zunächst recht oberflächlich, geht dann aber durch die Wahl der besprochenen Ausstellungen, vor allem aber durch die Aussagen der interviewten Künstler·innen in die Tiefe und behandelt Themen wie Tyrannei und Landflucht. Die Ausstellung von Taikang wird in der kuratorischen Stellungnahme als Darstellung der „Roten Kunst“ in der Gegenwartskunst beschrieben. Mit zunehmender Auseinandersetzung wird deutlich, wie politisch der historische Kontext für die zeitgenössische Kunstpolitik gemeint ist. Der Bogen wird von Mao Zedongs „Reden in Yan’an“ von 1942 zu Xi Jinpings „Rede“ über Kunst von 2014 gespannt, in denen beide die Kunst in den Dienst der Politik stellen. Bildlich ist dies widerlegt, die Ausstellungswerke bieten ein offenes Bild der Gegenwartskunst, frei in ihrem Ausdruck und international in ihrem Auftritt. Die Begleitmaterialien zeichnen jedoch ein anderes Bild und könnten, zumindest nach der hier vorgenommenen Lesart, eine Warnung für die Kunst der Gegenwart vor zu großer politischer Einflussnahme beinhalten.

The starting point of this study is the art district 798 Art Zone in Beijing, which is observed as a field of experimentation of contemporary art in China from the perspective of the place and its actors. Due to the rather incidental research literature available, it is necessary to first introduce the place and its actors themselves. Therefore, the account of the history of the site’s development from a former state-owned industrial plant to today’s 798 Art Zone under the administration of the Sevenstar Group establishes the groundwork. This is followed by an outline of the galleries located in the art district between 2002 and 2020. With an extensive data analysis, the importance of the location for the art scene in China can be documented. On the one hand, it becomes evident that almost three quarters of the total number of exhibitions in the whole of Beijing between 2002 and 2020 took place in 798 Art Zone and its immediate surroundings. For both creators and visitors, a main location for art was and is very convenient given the dimensions of the city. On the other hand, several commercial peaks become visible. Twenty-five of the total of four hundred galleries are subsequently selected and presented for individual observation.

The artists who had created the place since 1995 and saved it in 2006 with the help of state intervention moved out over time, but many of them remained allegiant to the district with its diverse possibilities as an exhibition space. The Sevenstar Group, which as an administration initially only had renting in mind and wanted to sell the area for a profit in 2005, with the prospect of the market power of art and culture made an astonishing transformation into a cultural producer especially from 2015 onwards. While the group had already been the decisive player in the neighbourhood, it now saw the potential of art. Respectively, two case studies are then presented in detail: an art magazine from the years 2012 to 2018 and an exhibition from 2019.

Another basis for this study, which serves as a background for the selected case studies, is the introduction to contemporary art in China in its historical context. This overview precedes the entire work and can also be consulted separately. It is divided into art history, art market and art politics as well as into the so-called “Red Art”. The greatest challenge of the present work is the situation of its sources, which, apart from the introductory section, consist to a majority of ephemeral literature, of numerous online materials as well as of publications that were subject to temporally and locally limited distribution. Accordingly, the sources are described and examined explicitly, and some are reproduced in the appendix.

For the art magazine “Yishu hui”, the Sevenstar Group employed the editorial staff, and for the exhibition of the Taikang Collection, it provided the building. In both cases, the importance of the Sevenstar Group can hardly be overestimated, for in both it granted free scope of action. Here it becomes clear how far the surrounding conditions, which are always present in China and can always be interpreted restrictively, may be stretched if the actors involved allow it to. In both cases, the materials are first used to describe the initial organisational situation and then to introduce the aspirations presented. In the case of “Yishu hui” this is done with a data analysis and in the case of Taikang with a text analysis. This is for both followed by an examination of art works, for “Yishu hui” taking a magazine feature and for Taikang one of nine sections of the exhibition and other selected works. The approach of “Yishu hui” seems rather superficial at first, but then, becoming noticeable through the choice of exhibitions discussed, and above all through the statements of the artists interviewed, it goes into depth and deals with themes such as tyranny and migration from rural areas. Taikang’s exhibition is described in the curatorial statement as a representation of “red art” within contemporary art. With progressing examination, it becomes clear how political the historical context is meant to be for contemporary art politics. The link is drawn from Mao Zedong’s “Talks at Yan’an” of 1942 to Xi Jinping’s “Talk” on art of 2014, in which both place art in the service of politics. Visually, this is proven otherwise, for the exhibition works offer an open view of contemporary art, free in its expression and international in its appearance. The accompanying materials, however, draw a different picture and could, at least according to the reading made here, contain a warning for contemporary art against too much political influence.
URL: https://ediss.sub.uni-hamburg.de/handle/ediss/10389
URN: urn:nbn:de:gbv:18-ediss-110939
Dokumenttyp: Dissertation
Betreuer*in: Friedrich, Michael
Enthalten in den Sammlungen:Elektronische Dissertationen und Habilitationen

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