Titel: Risikofaktoren und protektive Faktoren für Depression und Angst bei Menschen mit seltenen Erkrankungen
Sprache: Deutsch
Autor*in: Swaydan, Jasmin
Schlagwörter: Seltene Erkrankung; Risikofaktoren; protektive Faktoren; Angst
GND-Schlagwörter: DepressionGND
AngststörungGND
RisikofaktorGND
ResilienzGND
PsychosomatikGND
Psychosoziale MedizinGND
Erscheinungsdatum: 2023
Tag der mündlichen Prüfung: 2023-11-27
Zusammenfassung: 
Hintergrund: Obschon die Wahrscheinlichkeit, von einer bestimmten seltenen Erkrankung betroffen zu sein sehr gering ist (< 1:2000), leben weltweit ca. 300 Millionen Menschen mit irgendeiner seltenen Erkrankung. Seltene Erkrankungen gehen mit einem erhöhten Risiko für Depression und Angst einher, im Gegensatz zu häufigeren chronischen Erkrankungen liegen für seltene Erkrankungen jedoch deutlich weniger Forschungsergebnisse vor. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um einen systematischen Review mit dem Ziel, die aktuelle Forschungslage zu Risikofaktoren und protektiven Faktoren für Depression und Angst bei seltenen Erkrankungen darzustellen. Die Kenntnis von Risikofaktoren und protektiven Faktoren kann womöglich neue Ansatzpunkte für weitere Forschungsfragen und gezieltere, auf die Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten abgestimmte Unterstützungsangebote liefern.
Methoden: In einem ersten Schritt wurde in den drei Datenbanken MEDLINE, PsycINFO und PSYNDEX von Mai bis Juni 2018 eine systematische Literatursuche durchgeführt. In einem zweiten Schritt wurden bis April 2020 zusätzlich die elektronische Datenbank des „Orphanet Journal for Rare Diseases“ durchsucht, ebenso wurden weitere relevante Studien über die „cited by“-Funktion von PubMed und über die Literaturverzeichnisse bereits eingeschlossenen Studien identifiziert. Es wurden Beobachtungsstudien eingeschlossen, die als primäre Messgröße Risikofaktoren und/oder protektive Faktoren für Depression und/oder Angst bei Erwachsenen mit seltenen genetischen Erkrankungen betrachteten. Die Studien durften maximal 20 Jahre alt sein (d.h. nicht früher als im Jahr 2000 publiziert) und mussten in deutscher oder englischer Sprache vorliegen. Anhand eines ersten und zweiten Screeningprozesses in EndNote wurden die Suchergebnisse auf Eignung überprüft, die Qualität der eingeschlossenen Studien wurde mithilfe der Instrumente des „National Heart, Lung, and Blood Institute“ bewertet.
Ergebnisse: Es wurden 49 Beobachtungsstudien über 16 verschiedene Erkrankungen eingeschlossen, davon hatten zehn ein longitudinales Design. Der überwiegende Anteil der Studien (29 Studien) wies eine mittlere Qualität auf. Der Anteil von Patientinnen und Patienten mit depressiven Symptomen bzw. mit ängstlichen Symptomen reichte von 0% bis 66% bzw. von 0% bis 87,5% und war im Vergleich zu Kontrollgruppen in der Regel größer. Bezüglich möglicher Risikofaktoren und protektiver Faktoren für Depression und Angst zeigte sich sowohl bei der gemeinsamen als auch bei der getrennten Betrachtung von Querschnitt- und Längsschnittstudien ein gemischtes Bild, zumeist ließ sich keine klare Richtung von Zusammenhängen ausmachen. Überwiegend kein Zusammenhang mit Depression oder Angst ergab sich für patientenbezogene Faktoren (Alter, Geschlecht, Bildung, Beziehungsstatus), krankheitstypische Symptome, Krankheitssubtyp, Zeit seit der Diagnose bzw. Krankheitsdauer und soziale Unterstützung. Überwiegend kein Zusammenhang mit Depression wurde für die Krankheitsprogression, kognitive Funktionen, das Verweigern von lebensverlängernden Maßnahmen und religiöse Bewältigung ermittelt. Einen überwiegend positiven Zusammenhang mit Depression und Angst zeigten körperliche Beeinträchtigungen, geringe Lebenszufriedenheit und -qualität, Emotionen wie Hoffnungslosigkeit und der Wunsch nach einem beschleunigten Tod. Schmerzen waren mit mehr Depression assoziiert. Mehr Vertrauen in das eigene Potential und eine wahrgenommene Kontrolle über die Erkrankung waren in mehreren Studien mit weniger Depression assoziiert. Für das Emotionsmanagement wurde von einem Großteil der Studien, die dieses untersuchten, eine Assoziation mit weniger Depression detektiert.
Diskussion: Menschen mit seltenen Erkrankungen scheinen nicht genau den gleichen Risikofaktoren für eine Depression oder Angst zu unterliegen, wie sie für Menschen ohne diese seltenen Erkrankungen bekannt sind. Es zeigte sich eine klinische Heterogenität der Expositionen, der Endpunkte und teilweise auch der Populationen, obschon nur 16 unterschiedliche Erkrankungen betrachtet wurden. Nahezu jede der in diesem Review eingeschlossenen Studien beobachtete depressive Symptome bei den Patientinnen und Patienten, doch nur ein kleiner Teil fragte nach suizidalen Gedanken. Dies deutet auf eine Forschungslücke im Bereich von Depression und Angst bei Menschen mit seltenen Erkrankungen hin. Zukünftige Studien im Forschungsfeld der seltenen Erkrankungen sollten longitudinal designt sein und Faktoren untersuchen, die mit der psychischen Verfassung in Beziehung stehen könnten. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf psychosoziale Faktoren gelegt werden, da diesen in der Versorgung begegnet werden kann, während patientenbezogene Faktoren wie z.B. das Alter oder das Geschlecht nicht veränderbar sind. Neben der Frage nach depressiven Symptomen sollten auch Fragen nach suizidalen Gedanken und -Handlungen gestellt werden, da suizidale Absichten bekanntermaßen sowohl ein Symptom als auch eine Folge von Depressionen sein können. Im klinischen Alltag sollte die betreuende Ärztin oder der betreuenden Arzt explizit nach depressiven oder ängstlichen Symptomen fragen. Neben einer medikamentösen Behandlung sollte der Fokus auf einer Psychotherapie liegen.

Background: Although the probability of being affected by a particular rare disease is very low (< 1:2000), approximately 300 million people worldwide live with some rare disease. Rare diseases are associated with an increased risk of depression and anxiety, but in contrast to more common chronic diseases, there is significantly less research evidence on rare diseases. The present work is a systematic review with the aim of presenting the current research on risk factors and protective factors for depression and anxiety in rare diseases. Knowledge of risk factors and protective factors may possibly provide new starting points for further research questions and more targeted support services tailored to the needs of patients.
Methods: In a first step, a systematic literature search was performed in the three databases MEDLINE, PsycINFO, and PSYNDEX from May to June 2018. In a second step, the electronic database of the "Orphanet Journal for Rare Diseases" was additionally searched until April 2020, and further relevant studies were identified via the "cited by" function of PubMed and via the bibliographies of already included studies. Observational studies that looked at risk factors and/or protective factors for depression and/or anxiety in adults with rare genetic diseases as the primary outcome measure were included. Studies had to be no more than 20 years old (i.e., published no earlier than 2000) and had to be available in English or German. Search results were screened for eligibility using a first and second screening process in EndNote, and the quality of included studies was assessed using " National Heart, Lung, and Blood Institute" instruments.
Results: Forty-nine observational studies of 16 different diseases were included, ten of which had a longitudinal design. Most of the studies (29 studies) were of medium quality. The proportion of patients with depressive symptoms or with anxious symptoms ranged from 0% to 66% and from 0% to 87.5%, respectively, and was generally greater compared with control groups. Regarding possible risk factors and protective factors for depression and anxiety, a mixed picture emerged both when cross-sectional and longitudinal studies were considered together and separately; for the most part, no clear direction of associations could be detected.
Predominantly no association with depression or anxiety was shown for patient-related factors (age, sex, education, relationship status), disease-typical symptoms, disease subtype, time since diagnosis or disease duration, and social support. Predominantly no association with depression was observed for disease progression, cognitive functioning, refusal of life-prolonging measures, and religious coping. A predominantly positive association with depression and anxiety was revealed for physical impairment, low life satisfaction and quality, emotions such as hopelessness, and desire for hastened death. Pain was associated with more depression. More confidence in one's potential and perceived control over the disease were associated with less depression in several studies. For emotion management, an association with less depression was identified by most of the studies that examined it.
Discussion: People with rare diseases do not appear to be subject to exactly the same risk factors for depression or anxiety as are known for people without these rare diseases. There was clinical heterogeneity in exposures, outcomes, and, to some extent, populations, although only 16 different disorders were considered. Nearly every study included in this review noted depressive symptoms in patients, but only a small proportion asked about suicidal ideation. This suggests a gap in research in the area of depression and anxiety in people with rare diseases. Future studies in the rare disease research field should be longitudinally designed and examine factors that may be related to mental health. Particular attention should be paid to psychosocial factors, as these can be addressed in care, whereas patient-related factors, such as age or gender, cannot be changed. In addition to questions about depressive symptoms, questions about suicidal thoughts and actions should also be asked, as suicidal intentions are known to be both a symptom and a consequence of depression. In the clinical setting, the attending physician should explicitly ask about depressive or anxious symptoms. In addition to drug treatment, the focus should be on psychotherapy.
URL: https://ediss.sub.uni-hamburg.de/handle/ediss/10839
URN: urn:nbn:de:gbv:18-ediss-116812
Dokumenttyp: Dissertation
Betreuer*in: Löwe, Bernd
Enthalten in den Sammlungen:Elektronische Dissertationen und Habilitationen

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