Titel: Jeruslamer Tagebücher. Die Kongregation der "Weißen Väter" in St. Anna und ihre Sichtweisen auf Juden und Muslime (1878-1914/15)
Sprache: Deutsch
Autor*in: Klein, Anna
Schlagwörter: Missionsgeschichte; Antijudaismus; Antisemitismus; Antimuslimischer Rassismus; Interreligiöse Beziehungen
GND-Schlagwörter: Katholische TheologieGND
Interkulturelle TheologieGND
Interreligiöser DialogGND
Systematische TheologieGND
KirchengeschichteGND
AntisemitismusGND
IslamfeindlichkeitGND
Erscheinungsdatum: 2019
Tag der mündlichen Prüfung: 2019-10-07
Zusammenfassung: 
Die vorliegende Untersuchung ging entlang des exemplarischen Zugriffs auf die unveröffentlichten Ordenstagebücher der sogenannten „Weißen Väter“ an ihrem Missionsstandort St. Anna/Jerusalem der Frage nach, welche Sichtweisen von Jüd:innen und Muslim:innen – letztere als das „Missionsobjekt“ der Kongregation – in der Tendenz während des Zeitraums von 1878 bis 1914/15 transportiert wurden: Welche Konstruktionen von (religiöser) Alterität werden jeweils vorgenommen? Wo finden sich Bezüge zu historisch gewachsenen juden- und islamfeindlichen Bildern? Wo kommen affirmative Sichtweisen zum Vorschein und welche Wirkung entfalten sie im Denken der Missionare? Gibt es eine Entwicklung in den jeweiligen Wahrnehmungsweisen oder bleiben sie statisch? Worin unterscheiden sich die Textkorpora zu Jüd:innen und Muslim:innen? Für die Analyse der Tagebücher wurden Anleihen bei der Linguistik, näherhin bei der „Pragmatischen Stilanalyse“ genommen.
Hinsichtlich der Jüd:innen betreffenden Texte, die einen nur sehr kleinen Teil der Tagebücher ausmachen, ist zu konstatieren, dass sie fast durchweg pejorativen Charakter haben. Jüd:innen werden nach religiösen und politisch-wirtschaftlichen Gesichtspunkten beurteilt: 1. Sie werden als „religiöser Antitypus“ gekennzeichnet und diffamiert; 2. sie werden als verderbliche „wirtschaftlich-soziale Realität“ wahrgenommen und transportiert. Dabei stehen die Weißen Väter ganz auf dem Boden des christlichen Antijudaismus, bedienen sich aber zugleich das Ende des 19. Jahrhunderts kennzeichnender antisemitischer Ressentiments. Im Gegensatz zu „klassischen“ antijudaistischen und antisemitischen Zeugnissen operieren sie nicht mit „hermeneutischen“, sondern mit realen Jüd:innen und suchen auf diese Weise, eine persuasive Wirkkraft bei den Lesenden zu entfalten. Nimmt man die jeweiligen Vertextungsstrategien einzelner Texte genauer in den Blick, wird das Ziel der Persuasion deutlich entlarvt. Die Texte sagen folglich nicht nur etwas über die den christlich geprägten Antijudaismus stützenden Konstanten, sondern auch über die Möglichkeiten einer „Sprache der Judenfeindschaft“ aus. Als Gründe für die auf antijudaistische, stellenweise sogar antisemitische Attribute zurückgreifende Abwertung von Jüd:innen wurden Abgrenzung zwecks Bestätigung bzw. Stärkung der eigenen Identität, das Herausstellen christlicher Superiorität und eine Jüd:innen und Christ:innen als Minderheiten im Osmanischen Reich verbindende (zunehmende) Konkurrenzsituation herausgearbeitet. Somit haben wir es bei den pejorativen Texten der Weißen Väter zu Jüd:innen mit einem Wechselspiel zwischen antijudaistisch-antisemitischen Denkformen und den sie leitenden Interessen als einer religiösen Minderheit im Osmanischen Reich zu tun. Und auch die als marginal einzustufenden affirmativen Texte über Jüd:innen kommen nicht ohne eine entsprechende Kontrastierung aus. Auffällig ist, dass abweichende, würdigende Sichtweisen ausschließlich dort zum Tragen kommen, wo persönliche Kontakte zu Jüd:innen aufgebaut werden. Davon unbenommen bleiben die Sichtweisen der Jerusalemer Missionare auf Jüd:innen als Gesamtgruppe herabsetzend.
Dies gilt im Wesentlichen auch für die Wahrnehmungsweisen von Muslim:innen. Im Unterschied zu den Jüd:innen behandelnden Tagebucheinträgen weisen diejenigen über Muslim:innen allerdings keine so eindeutig pejorative Tendenz auf, sondern liefern Anhaltspunkte für gelungene interreligiöse und interkulturelle persönliche Begegnungen. Die Sichtweisen der Weißen Väter auf Muslim:innen wurden analog zu denen über Jüd:innen in zwei Kategorien unterteilt: 1. pejorative Sichtweisen, die ihrerseits in zwei Unterpunkte gegliedert wurden: Muslim:innen als Bedrohung bzw. Feinde der Christ:innen und Muslim:innen als religiöser Antitypus; 2. würdigende Sichtweisen, die zum Einen von guter Nachbarschaft mit Muslim:innen in Jerusalem, und zum Anderen von der positiv konnotierten muslimischen Marienverehrung zeugen. Hinsichtlich des ersten als pejorativ eingestuften Motivs konnte gezeigt werden, dass es sich auch hier um eine Wechselwirkung handelt: Einerseits stehen die Missionare mit ihnen in der Tradition gängiger „christlich-abendländischer“ islamfeindlicher Stereotype, andererseits werden sie dank antichristlicher Agitationen im Osmanischen Reich, also einer konkreten Bedrohungssituation, in ihren Vorurteilen bestätigt und tradieren sie selbst weiter. Diese offenbaren eine aus Europa mitgebrachte Ignoranz sowie ein ausgeprägtes Gefühl von religiöser und Kultursuperiorität. Die von den Weißen Väter tradierten affirmativen Sichtweisen auf Muslim:innen sind wiederum zweifach untergliedert: Die an die christliche Tradition angelehnte Marienverehrung wird hervorgehoben und kann als Kontrast zum von den Weißen Vätern abgewerteten muslimischen „Nabi Mūsa“-Fest gesehen werden. Die Begegnungen mit Menschen muslimischen Glaubens stellen die zweite würdigende Textgruppe dar; sie bezeugen eine prinzipielle Offenheit der Missionare für muslimische Individuen – und entsprechen damit einem wesentlichen Element des eigenen missionarischen Anspruchs. Ein „Begegnungslernen“ im heutigen Sinne findet hingegen nicht statt: Aus den affirmativen Sichtweisen auf einzelne Muslime wurden keinerlei Konsequenzen für die Wahrnehmungsweisen auf „die“ Muslim:innen als Gesamtgruppe gezogen.
Zum formalen und inhaltlichen Vergleich beider Textgruppen: 1. Die Muslim:innen betreffenden Tagebucheinträge weisen keine so sorgfältig „durchkomponierte“ Vertextungsstrategie wie diejenigen zu Jüd:innen; 2. Die Sichtweisen der Weißen Väter auf Jüd:innen und Muslim:innen sind im Wesentlichen kongruent zu den christlichen Sichtweisen auf Jüd:innen und Muslim:innen in der jeweiligen Beziehungsgeschichte: Während erstere fast durchweg pejorativer Art sind, stellen sich letztere in ihrer Gesamtheit deutlich ambivalenter dar.

The present study of the unpublished mission diaries kept by the so-called “White Fathers” at their mission in St. Anne’s Church, Jerusalem explores the views of Jews and Muslims – the latter as “mission object” of the congregation – they convey in the period from 1878 to 1914/1915. In the process, it asks what constructions of (religious) alterity were undertaken in both cases. Where can references to established anti-Jewish and Islamophobic images be found? Where do affirmative views emerge and how do they influence the missionariesʼ thinking? Do the respective modes of perception change over time or remain static? In what ways do the texts about Jews differ from those about Muslims? The analysis of the records draws on linguistics, more specifically on “pragmatic style analysis”.
With regard to the texts concerning Jews, which make up only a very small part of the mission diaries, it should be noted that they are almost all pejorative in character. Jews are judged on the basis of religious and political-economic criteria: 1. they are stigmatised as a “religious antitype”; and 2. they are perceived and portrayed as a pernicious “socio-economic reality”. Here the White Fathers stand firmly in the tradition of Christian anti-Judaism, but also exploit the anti-Semitic feelings that arose at the end of the nineteenth and the beginning of the twentieth centuries. Unlike "classical" anti-Judaist and anti-semitic testimonies, they operate not with "hermeneutic" but with real Jews and in this way seek to have a persuasive effect on their readers. The goal of persuasion becomes clear when one takes a closer look at the respective strategies of individual texts. In this way, they reveal much not only about the abiding features of Christian anti-Judaism but also about the possibilities of a "language of animosity towards the Jews". This study shows that the denigration of Jews using anti-Judaist and in some cases even anti-semitic attributes was motivated by a need to differentiate in order to confirm or strengthen one's own identity and highlight Christian superiority, and a (growing) competitive situation that connected Jews and Christians as minorities in the Ottoman Empire. Thus, the pejorative texts of the White Fathers about Jews are characterised by an interplay between anti-Judaist or anti-semitic forms of thought and the interests that guided this order as a religious minority in the Ottoman Empire. And even in the relatively few affirmative texts about Jews there are signs of depreciation. It is noteworthy that deviating, valorising views are only found where personal contacts with Jews are established. But on the whole, this does not affect the views of the Jews held by the Jerusalem missionaries.
The same essentially also applies to the perceptions of Muslims. In contrast to the texts that deal with Jews, those about Muslims do not, however, have a clear pejorative tendency, but point to successful interreligious and intercultural personal encounters. The White Fathersʼ views on Muslims can be divided into two categories analogous to those on Jews: 1. pejorative views, which in turn can be subdivided into two sub-categories: Muslims as a threat or enemies of Christians, and Muslims as a religious antitype; 2. valorising views, which on the one hand testify to good neighbourly relations with Muslims in Jerusalem, and on the other to the positively connoted Muslim veneration of Mary. With regard to the first motif, which is classified as pejorative, the study shows that here too an interaction operates: On the one hand the missionaries stand in the tradition of common “Christian-Western” Islamophobic stereotypes, on the other hand thanks to anti-Christian agitations in the Ottoman Empire, a concrete threat situation, they are confirmed in their prejudices and continue to pass them on. These prejudices reveal an ignorance brought along from Europe as well as a pronounced feeling of religious and cultural superiority. The affirmative views on Muslims conveyed by the White Fathers are also subdivided into two parts: The Marian veneration based on the Christian tradition is emphasised over the Muslim “Nebi Mūsa” festival devalued by the White Fathers. The encounters with people of Muslim faith represent the second valorising text group; they testify to a fundamental openness on the part of the missionaries to Muslim individuals – and thus correspond to an essential element of their own missionary aim. However, a “learning from encounters” (Begegnungslernen) in today's sense does not take place: no consequences were drawn from the affirmative perspectives on individual Muslims for the modes of perception of “the” Muslims as a whole.
With regard to the form and content of both text groups: 1. the texts concerning Muslims do not reveal the same carefully structured text strategy as those concerning Jews; and 2. the views of the White Fathers on Jews and Muslims correspond essentially to the Christian views on Jews and Muslims in the respective relationship history. Yet while the former are almost all of a pejorative nature, the latter are clearly more ambivalent in their entirety.
URL: https://ediss.sub.uni-hamburg.de/handle/ediss/11157
URN: urn:nbn:de:gbv:18-ediss-121223
Dokumenttyp: Dissertation
Betreuer*in: Christine, Büchner
Enthalten in den Sammlungen:Elektronische Dissertationen und Habilitationen

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