Titel: | Entwicklung und biomechanische Evaluation eines körpergetragenen Unterstützungssystems (Exoskelett) für Arbeiten in und über Kopfhöhe | Sonstige Titel: | Development and biomechanical evaluation of a wearable support system (exoskeleton) for working tasks at head level and above | Sprache: | Deutsch | Autor*in: | Argubi-Wollesen, Andreas | Schlagwörter: | Exoskelett; Biomechanik; Arbeitsplatzergonomie; Ergonomie; Exoskeleton; Ergonomics | GND-Schlagwörter: | SportwissenschaftGND Biomechanische AnalyseGND Exoskelett <Maschine>GND ArbeitswissenschaftGND ErgonomieGND Mensch-Maschine-SystemGND |
Erscheinungsdatum: | 2021-02 | Tag der mündlichen Prüfung: | 2021-07-01 | Zusammenfassung: | Einleitung In der industriellen Produktion sowie dem Baugewerbe sind manuelle Lastenhandhabungen und Montagetätigkeiten trotz steigender Automatisierungen weiterhin Bestandteil des Arbeitslebens (Parent-Thirion et al., 2017). Arbeitsplätze mit einem hohen Anteil an Tätigkeiten in und über Kopfhöhe mit hohen Lastgewichten und hohen Wiederholungszahlen beinhalten ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Schulterbeschwerden wie einem Impingement-Syndrom oder Tendinopathien (Kennedy et al., 2010; Linaker & Walker-Bone, 2015). Die Reduktion muskuloskelettaler Belastungen ist mit industriellen Exoskeletten möglich. Die Verbindung einer rigiden äußeren Struktur mit einer im Exoskelett verbauten Aktuatorik leitet z.B. Kräfte von schwächeren auf stärkere Körperregionen um (Rukina, Kuznetsov, Borzikov, Komkova & Belova, 2016). Untersuchungen an industriellen Exoskeletten — marktverfügbar oder noch in Entwicklung —für Tätigkeiten in und über Kopfhöhe zeigen auf, dass über ihren Einsatz von einer generellen Entlastung der Schultermuskulatur auszugehen ist (Theurel & Desbrosses, 2019). Bislang sind jedoch nur eingeschränkte Kenntnisse über die biomechanischen Auswirkungen in der Verwendung solcher Exoskelette verfügbar. Es fehlen Daten sowohl über das Ausmaß der durch Exoskelette erbrachten Entlastung bei spezifischen Gelenkpositionen in speziellen Arbeitsabläufen als auch zu hervorgerufenen Beeinflussungen der Kinematik in komplexen Bewegungsabläufen der Arbeitstätigkeit. Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Programms „Interdisziplinärer Kompetenzaufbau im Schwerpunkt Mensch-Maschine-Interaktion vor dem Hintergrund des demographischen Wandels“, entwickelte das interdisziplinäre Forschungsprojekt „smartASSIST – Smart, Adjustable, Soft and Intelligent Support Technologies“ an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg das Exoskelett „Lucy“ für industrielle Anwendungen. Die biomechanischen Analysen dieser Dissertation dienen der nutzerzentrierten Evaluation des Exoskeletts „Lucy“, um Kenntnisse über seine Wirkungsweise zu erhalten und Verbesserungspotenziale zu identifizieren. Das Zentrum der Analyse bildeten (1) mögliche Einflüsse des Exoskeletts auf Bewegungsabläufe, (2) gelenkspezifische Verortung muskulärer Entlastungen der Schultermuskulatur sowie (3) Beeinflussungen der posturalen Stabilität. Ergänzende Untersuchungen zum Tragekomfort und dem subjektiven Entlastungsempfinden führten zur Abschätzung der Nutzerakzeptanz und Praxistauglichkeit. Methode Die Laborstudie verglich zwei aus der Industrie- und Bauhandwerk abgeleitete Arbeitstätigkeiten mit und ohne Exoskelett (einhändiges Nieten über Kopfhöhe und beidhändiges Schleifen mit einem Langhalsschleifer) mittels einer optischen, dreidimensionalen kinematischen Analyse (Vicon) der Schultergelenkswinkel (Schulterelevation, -flexion und -abduktion) sowie einer elektromyografischen Analyse der muskulären Aktivität einzelner Muskelpartien (M. deltoideus anterior, M. trapezius pars descendens und M. erector spinae). Ein Handgriffkrafttest, ein Fragebogen zum subjektiven Belastungsempfinden (BORG-Skala) und ein qualitatives Interview zum Tragekomfort ergänzten die biomechanische Analyse. Insgesamt N=29 männliche Probanden (Alter:27,3 Jahre ± 6,6 Jahre, Masse: 82,1 kg ± 12,8 kg) ohne Schulter- oder Rückenbeschwerden absolvierten die Arbeitsaufgaben. Ein statistical parametric mapping (SPM) Verfahren verglich die kinematischen Daten sowie die muskuläre Aktivität zwischen unterstützter und nicht-unterstützter Bedingung über den zeitlichen Verlauf der durchlaufenen Arbeitszyklen. Die Analyse des posturalen Schwankens erfolgte mittels einer 95-%-Konfidenzellipse des Center of pressure (COP) auf einer Kraftmessplatte über die gesamte Länge der jeweiligen Arbeitsaufgabe. Eine Kovarianzanalyse (Alter, Körperhöhe, Körpermasse und Handgriffkraft als Kovariate) prüfte Unterschiede in der Schulterelevation, des posturalen Schwankens sowie des subjektiven Belastungsempfindens zwischen den Bedingungen mit und ohne Exoskelett. Eine qualitative Inhaltsanalyse der Interviews ermittelte probandenübergreifend positive und negative Aspekte des Tragekomforts des Exoskeletts. Ergebnisse Während die Kovarianzanalyse für beide Arbeitsaufgaben keine signifikante Elevation der Schulter nachwies, zeigte die SPM-Statistik für die Arbeitsaufgabe „Nieten“ eine Phase der signifikanten Erhöhung der Schulterflexion in der Aufwärtsbewegung ab ca. 50° (22 – 66 %). In dieser Phase stieg die Abduktion ebenfalls signifikant (23 – 34 %). Die SPM-Statistik des beidhändigen Schleifvorgangs ergab signifikante Veränderungen der Gelenkwinkel, sowohl für die durch die Aktuatorik unterstützte dominante Schulter als auch für die nicht aktuierte Seite. Die Abduktion der nicht aktuierten Schulter erhöhte sich durch das Exoskelett über den gesamten Bewegungsablauf signifikant (0 -31 %; 33 – 100 %), während sich die Flexion für diese Schulter in einzelnen Phasen reduzierte (28 -34 %; 58 – 76 %). Auf der aktuierten Seite stieg hingegen die Schulterflexion signifikant über weite Bereiche des Schleifvorgangs (15 - 84 %). Bezogen auf die Abduktion wechselten sich Phasen signifikanter Reduktion (0 – 20 %; 79 – 100 %) mit einer Phase signifikanter Erhöhung (39 – 61 %) ab. Die muskuläre Aktivität des M. deltoideus anterior reduzierte sich über weite Strecken des Nietvorgangs (19 – 77 %). Die Aktivität des M. erector spinae erhöhte sich beim Nietvorgang zwischen 65 % und 79 % des Zyklus. Im Schleifvorgang reduzierte sich die Aktvität des M. deltoideus anterior der dominanten Schulter in vier Bewegungsphasen (33 – 39 %; 69- 73 %; 77 – 80 %; 81 – 84 %). In der gleichen Arbeitsaufgabe stieg die Aktivität des M. erector spinae signifikant in zwei Bewegungsabschnitten zwischen 26 – 27 % sowie 44 – 62 %. Unterschiede des posturalen Schwankens sowie des subjektiven Belastungsempfindens ließen sich zwischen unterstützter und nicht-unterstützter Aufgabenbedingung nicht feststellen. Die qualitative Inhaltsanalyse der Interviews ermittelte sechs relevante Bewertungscluster: (1) Entlastung durch das Exoskelett, (2) Tragekomfort des Exoskeletts, (3) Bewegungsbeeinflussung durch das Exoskelett (Feinmotorik), (4) Bewegungsbeeinflussung durch das Exoskelett (Grobmotorik), (5) Belastung durch das Exoskelett sowie (6) Verbesserungsvorschläge. Die meisten Nennungen der Testpersonen bezogen sich auf die deutlich empfundene Entlastung durch das Exoskelett in der Arbeitsaufgabe „Nieten“. Die Analyse offenbarte darüber hinaus mehrere Kritikpunkte am Tragekomfort. So empfanden viele Probanden die textilen Schnittstellen zwischen Exoskelett und Träger als unangenehm. Insgesamt bewerteten die Testpersonen zudem die Bewegungsfreiheit in der Arbeitsaufgabe „Schleifen“ als ungenügend. Diskussion Die Analyseergebnisse zeigen für beide Arbeitstätigkeiten mit dem Exoskelett „Lucy“ signifikante Reduktionen der muskulären Beanspruchung in der Schultermuskulatur. Vor allem in der Arbeitsaufgabe „Nieten“ ergab sich diese Belastungsreduktion über weite Strecken der Arbeitshandlung. Gleichzeitig blieb die posturale Stabilität in beiden Arbeitsaufgaben vom Exoskelett unbeeinflusst, wenngleich eine geringe Erhöhung der Aktivität der unteren Rückenmuskulatur zu verzeichnen war. Obwohl die Analyse keine signifikante Reduktion des subjektiven Belastungsempfindens mit Exoskelett hat aufzeigen können, belegen zahlreiche Aussagen aus den qualitativen Interviews, dass insbesondere in der Arbeitsaufgabe „Nieten“ teils deutliche Entlastungen durch das Exoskelett spürbar wurden. Die kinematische Analyse belegt demgegenüber die unzureichende Bewegungsfreiheit mit Exoskelett in der Arbeitsaufgabe „Schleifen“. In der vorliegenden Entwicklungsstufe des Exoskeletts ist daher von einer Verwendung für beidhändige Schleifaufgaben (und vergleichbare Arbeitstätigkeiten) abzuraten. Diese Einschätzung wird durch das Ergebnis der Probandenbefragung gestützt. In der Gesamtbetrachtung ist hingegen festzuhalten, dass eine Verringerung muskuloskelettaler Schulterbeschwerden durch die Verwendung des Exoskeletts „Lucy“ für Nietprozesse in und über Kopfhöhe (und vergleichbare Tätigkeiten) vermutet werden kann. Dieser direkte Zusammenhang muss in weiteren (Longitudinal-) Studien abschließend belegt werden. Die Ergebnisse der Studie untermauern das Potential exoskelettaler Systeme zur Reduktion von muskuloskelettalen Beschwerden. Gleichzeitig unterstreichen sie, dass vor einer Implementierung in die Praxis eine Überprüfung und Evaluation der Systeme an konkreten Arbeitskontexten und -bedingungen vorgenommen werden muss. Der Systemaufbau und der Reifegrad der Exoskelette definieren das jeweils mögliche Einsatzgebiet in der Praxis. Introduction In the construction industry and at industrial workplaces, manual labour, including manual load carrying, is still very common, despite the increased level of automatization (Parent-Thirion et al., 2017). Labour requiring a large number of activities at and above shoulder level, especially when involving lots of repetition or heavy load, increases the risk for shoulder issues like tendinopathies or impingement-syndrome (Kennedy et al., 2010; Linaker & Walker-Bone, 2015). Occupational exoskeletons might help in reducing physical workload. Their rigid structure, in combination with actuators, transfers forces from weaker to stronger body parts (Rukina, Kuznetsov, Borzikov, Komkova & Belova, 2016). Research on industrial exoskeletons for the upper limbs do show that their use can lead to a load reduction of the shoulder area (Theurel & Desbrosses, 2019). Nevertheless, the biomechanical effects on the users are still largely unknown. Up to this date, there is a lack of data on the amount of relief caused by exoskeletons at specific joint angles when performing manual tasks or their overall influence on the kinematics of these tasks. The interdisciplinary research group „ martASSIST – Smart, Adjustable, Soft and Intelligent Support Technologies“, based at Helmut-Schmidt-University Hamburg, has developed an industrial exoskeleton named „Lucy“. The research group’s development work is a part of a research program, „Build-up of an Interdisciplinary Expertise regarding Human-Machine interaction in face of demographic change“, funded by the Federal Ministry of Education and Research (BMBF). The biomechanical analysis of this dissertation will add valuable data for the evaluation of the exoskeleton „Lucy“, in order to gain insights into its effects on the user, and in order to identify potential areas of improvement. The focus of this analysis is threefold: (1) the exoskeleton’s potential impacts on motion trajectories, (2) identification and localization of reduction in muscular activity at the shoulder and (3) implications of the exoskeleton’s impact on postural stability. Additionally, in order to generate insights into the exoskeleton’s user acceptance and its fitness for purpose, test subjects have been interviewed about their comfort level wearing the exoskeleton as well as their personal assessment of how much the exoskeleton aided them while performing the test tasks. Methods This laboratory study compared two model tasks based on real-life scenarios typically occurring in construction and manufacturing (one-handed riveting above head level and two-handed grinding), performed both with and without wearing the exoskeleton. Both scenarios were evaluated using optical, three dimensional kinematic analysis (Vicon) of the shoulder joint angles (flexion and abduction), as well as shoulder elevation. Additionally, an electromyographic analysis of the activity of three muscle groups was conducted (M. deltoideus anterior, M. trapezius pars descendens and M. erector spinae). A grip force test, a Borg-Scale questionnaire of the perceived exertion and a qualitative interview assessing comfort levels while wearing the exoskeleton complemented the biomechanical analysis. Twenty-nine male test subjects (N=29, age:27.3 years ± 6.6 years, body mass: 82.1 kg ± 12.8 kg) without reported shoulder or back pain went through both scenarios, performing the model tasks with and without the exoskeleton. Kinematic and electromyographical data of both scenarios were compared by a statistical parametric mapping (SPM). Postural sway throughout the length of each trial, measured on a force plate, was analysed as a parameter of postural stability. The area representing the 95-%-ellipse of confidence of the movement of the center of pressure (COP) was used as a parameter of postural sway. Differences in shoulder elevation, postural sway and perceived exertion with and without exoskeleton were compared using an analysis of co-variances (age, body height, body mass and grip force as co-variants). Aspects of individual comfort and discomfort were extracted from interviews by qualitative data analysis (QDA). Results Analysis of co-variances showed no significant difference in shoulder elevation between conditions. The statistical parametric mapping revealed an increase in shoulder flexion (22 – 66 %) and abduction (23 – 34 %) with the exoskeleton during riveting. Bimanual grinding showed significant differences in shoulder angles for both shoulders between conditions even though one shoulder did not receive support through the exeokeleton’s actuators. Abduction of the non-supported shoulder was increased throughout the movement (0 – 31 %; 33 – 100 %) whereas shoulder flexion decreased in some sections (28 – 34 %; 58 – 76 %). Shoulder flexion of the supported shoulder increased significantly for most of the cycle (15 - 84 %). On the same side, abduction angles increased significantly for one section (39 – 61 %) and decreased in two other sections (0 – 20 % and 79 – 100 %). During one-handed riveting, muscular activity of the M. deltoideus anterior was reduced significantly by the exoskeleton through most of the cycle (19 – 77 %). Activity of the M. erector spinae increased during riveting with the exoskeleton between 65 % and 79 % of the cycle. During bimanual grinding, muscular activity of the M. deltoideus anterior was reduced by the exoskeleton in four sections of the cycle (33 – 39 %; 69- 73 %; 77 – 80 %; 81 – 84 %). For the same task, activity of the M. erector spinae increased between 26 to 27 % and 44 to 62 %. No significant difference occurred between conditions for postural sway and perceived exertion. Qualitative data analysis of the interviews revealed six clusters of user assessment of the exoskeleton: (1) physical relief given by the exoskeleton, (2) personal comfort wearing the exoskeleton, (3) influence of the exoskeleton on kinematics (fine motor skills), (4) influence of the exoskeleton on kinematics (gross motor skills), (5) increased load due to the exoskeleton and (6) suggestions for improvement. Most test subjects mentioned the relief felt when using the exoskeleton, especially when performing the riveting task. Qualitative data analysis also showed some negative aspects of wearing the exoskeleton . Mostly the textile human-machine interfaces attracted most criticism. Additionally, test subjects reported insufficient range of motion whilst wearing the exoskeleton performing the bimanual grinding task. Discussion Results showed significant reduction in shoulder muscular activity for both tasks while using the exoskeleton. This reduction of muscular activity occurred especially prominently in the riveting task. Postural stability was not compromised by the exoskeleton, although higher muscular activity of the muscles of the lower back were detected. The perceived exertion did not show any significant difference between conditions. Nevertheless, the qualitative interviews revealed that especially during riveting, a substantial relief in physical load has occured due to the exoskeleton. The kinematic analysis confirmed the insufficient range of motion for the bimanual grinding task while wearing the exoskeleton. Therefore, at this stage of development, the use of the exoskeleton in this and other comparable, bimanual tasks is counter-productive. On the other hand, the analysis of the riveting process with the exoskeleton supports its use in similar work scenarios (work at head level and above). Musculoskeletal shoulder issues could be positively affected by the exoskeleton in these work scenarios. The causality of reduction of muscular activity by use of exoskeletons and a decrease of musculoskeletal issues has to be further reviewed in longitudinal studies. Nevertheless, the results of this study support the assumption that exoskeletons have the potential to significantly reduce the development of musculoskeletal disorders at the workplace. At the same time, this study corroborates the need for thorough exoskeleton evaluation as a basic prerequisite for their implementation at the workplace. Their practical fields of application are defined by their design, structure and level of maturity. |
URL: | https://ediss.sub.uni-hamburg.de/handle/ediss/9166 | URN: | urn:nbn:de:gbv:18-ediss-94736 | Dokumenttyp: | Dissertation | Betreuer*in: | Mattes, Klaus Weidner, Robert |
Enthalten in den Sammlungen: | Elektronische Dissertationen und Habilitationen |
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Dissertation_Andreas_Argubi-Wollesen.pdf | a3952063c23f6ea4953889cf2673ab4f | 14.41 MB | Adobe PDF | Öffnen/Anzeigen |
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